Technische Universität Dresden Philosophische Fakultät Institut für Soziologie Lehrstuhl für Empirische Sozialforschung Diplomarbeit: „Rechtsräume Asyl“ Soziologische Fallstudien in Dresden vorgelegt von: Betreuer der Diplomarbeit: Zweitgutachterin: Abgabetermin: 1 Gesa Busche Prof. Dr. Häder Prof. Dr. Löw 05.05.2003 EINLEITUNG 4 1 8 ASYL 1.1 Das Asylrecht: derzeitig in Deutschland 8 1.1.1 Stationen der AsylbewerberInnen 1.1.2 Übersicht zur Gesetzeslage in Deutschland 11 1.1.3 Das Asylbewerberleistungsgesetz 17 1.1.4 Die Unterbringung und Verteilung: Dritter Abschnitt des Asylverfahrensgesetzes 21 1.1.5 Die Wohnheimordnung in Sammelunterkünften 25 1.1.6 Räumliche Beschränkung: § 56 des Asylverfahrensgesetzes 28 1.1.7 Bezug zum Forschungsthema 29 2 8 RAUMSOZIOLOGIE 2.1 31 Bisherige sozialwissenschaftliche Ansätze eines Raum-Begriffs 31 2.1.1 Georg Simmel 31 2.1.2 Pierre Bourdieu 34 2.1.3 Bezug zum Forschungsthema 37 2.2 Auseinandersetzungen mit dem von mir angewendeten Raum als Begriff 37 2.2.1 Der Verhaltens- und Handlungsbegriff 40 2.2.2 Die Synthese in Vorstellungen, durch Wahrnehmungen, Erwartungen und Erinnerungen 44 2.2.3 Soziale Güter 55 2.2.4 Spacing 56 2.2.5 Körper und Leiber – als Teil der (Eigen-)Wahrnehmung und des Spacings 59 2.2.6 Orte 62 2.2.7 Exkurs 1: „Soziales Verhalten und Orte“ 65 2.2.8 Relationen 66 2.2.9 Bezug zum Forschungsthema 66 2.3 Räumliche, rechtliche und Verhaltens-Strukturen mit einigen Wechselwirkungen 68 2.3.1 Räumliche Strukturen 69 2.3.2 Wohnen als räumliche (Verhaltensweise und) Struktur 70 2.3.3 Räumliche und soziale Verhaltens-Strukturen 77 2.3.4 Einfluss und Umsetzung rechtlicher Strukturen auf räumliche 80 2.3.5 Exkurs 2: „Körper und Kontrolle“ 82 2.3.6 Bezug zum Forschungsthema 83 3 FORSCHUNGSDESIGN 3.1 85 Methodologie 86 3.1.1 Die Rolle der SoziologIn: Fremdheit als Prinzip 88 3.1.2 Interpretative Sozialforschung 89 3.1.3 Instrumente der Datenerhebung 91 2 3.1.4 Auswertung der Daten 92 3.1.5 Methodische Kontrolle 93 3.1.6 Fallstudien 94 3.2 Methodisches Vorgehen 95 3.2.1 Das Interview 95 3.2.2 Die Beobachtungen 97 3.3 Datengewinnung: Die Phasen im Feld 98 3.3.1 Annäherung an das Feld 99 3.3.2 Orientierung im Feld 100 3.3.3 Beginn der Forschung im Feld: Kontaktpersonen, erste Forschungsfragen 101 3.3.4 Phase der Assimilation: Auswahl der ProbandInnen, Pretest-Interviews, Modifizierung des Leitfaden der Befragung 3.3.5 3.4 102 Abgang aus der Gruppe 105 Datenauswertung: Die qualitative Inhaltsanalyse 106 3.4.1 Auszuwertendes Material 111 3.4.2 Themendimensionen der Auswertung: theoriegeleitet 112 3.4.3 Inhaltliche Überblicke der Interviews und Beobachtungen 115 3.4.4 Angleichung der Themendimensionen durch Empirie 116 3.4.5 Themenorientierte Zusammenfassung: Kategorienbildung 117 3.4.6 Ausprägungen(Unterkategorien) der Kategorien 131 3.4.7 Beschreibende und deutende Charakterisierung der Asyl-Räume 136 3.5 4 Selbstkritik am methodischen Vorgehen SCHLUSSKAPITEL: INTERPRETATIONEN DER ASYL-RÄUME 161 163 4.1 Interpretationen der Einflussfaktoren der Asyl-Räume 163 4.2 Die Eigenperspektive: Interpretation der Asyl-Räume 166 4.3 Die Fremdperspektive: Interpretation der Asyl-Räume 173 4.4 Fazit 177 LITERATUR 183 ANHANG 189 3 Einleitung Die Themen Flucht und Asyl haben in den letzten Jahren in politischen Diskursen an Bedeutung gewonnen. Sie sind Begriffe, die insbesondere im letzten Jahr durch die Auseinandersetzungen um ein neues Zuwanderungsgesetz in der öffentlichen Wahrnehmung einen höheren Stellenwert erlangt haben. Dieser Zuwachs an Aufmerksamkeit lässt vermuten, dass auch das Interesse und Wissen um die Lebenssituationen von AsylbewerberInnen bereichert wurde. Nach dem thematisch orientierten Lesen von Zeitungsartikeln und soziologischen Veröffentlichungen, durch Gespräche mit Bekannten und FreundInnen ist diese Annahme nicht bestätigt worden. Das lässt einerseits die Frage nach den Ursachen der „Tabuisierungen“ lebensweltlicher Einblicke der auf juristischer Ebene thematisierten Gruppe der AsylbewerberInnen aufkommen, andererseits auch die Frage nach den Eigenschaften und Charakterisierungen der Lebenswelt von AsylbewerberInnen. Mir sind aufgrund persönlicher Kontakte Einblicke in das Leben von AsylbewerberInnen, die meist in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht sind, gewährt worden. Nach mehreren Besuchen und unter Berücksichtigung des „blinden Fleckes“ öffentlicher Wahrnehmung entschied ich, meine Abschlussarbeit über die politisch definierte und gesetzlich determinierte Gruppe der AsylbewerberInnen zu schreiben. In der Soziologie fällt neben der geringen Bedeutung der AsylbewerberInnen eine Abwesenheit des „Raums“ als empirisch fassbarer Begriff auf, auf den ich durch Martina Löws Buch „Raumsoziologie“ gestoßen bin. Raum wird als empirisch fassbarer Begriff und als Teil des und Einflussgröße auf das Soziale definiert. Die Beschreibungen und Charakterisierungen von Räumen können m. E. in einigen soziologischen Fragestellungen Wesentliches über soziale Strukturen und Dynamiken aussagen, da alles Soziale raumgebunden ist. Momentan sind Räume auf internationaler Ebene bedeutsam in „Kämpfen“ um oder der Zerstörung von symbolisch aufgeladenen oder ressourcenreichen Orten bzw. Gebieten. Zwei Schwerpunkte, auf die ich mich konzentriere, sind einerseits, wie und mit welcher Aussagekraft, Räumliches erforschbar ist und andererseits, wie ich durch das Erforschen des Räumlichen die Lebenswelt der AsylbewerberInnen erfassen kann. Also wie Raum als Begriff empirisch umsetzbar ist. Dementsprechend lauten die Forschungsfragen, die das Asylthema und den Raum-Begriff beinhalten: Wie sind „Asyl-Räume“ in der Eigen- und der Fremdperspektive charakterisiert? 4 Wie können sie beschrieben, gedeutet und interpretiert werden? Der Rahmen, der die „Asyl-Räume“ umfasst, sind die Asyl-Gesetzgebungen, die das Leben Raumkonstitutionen der AsylbewerberInnen bis in alltagsorganisatorische Angelegenheiten regeln. Den formulierten Fragestellungen entsprechend beginne ich diese Arbeit mit Erläuterungen über die deutsche Asyl-Gesetzgebung. Besonders herausheben werde ich derzeitige asylverfahrensrechtliche Regelungen und Teile des „Asylbewerberleistungsgesetzes“, die eine direkte Einwirkung auf die Alltagsgestaltung und das Wohnen der AsylbewerberInnen haben. Diskussionen und Widersprüchlichkeiten in der Gesetzgebung werde ich kurz bearbeiten. Es ist nicht primäres Ziel der Arbeit, auf Differenzen der gesetzlichen Regelungen und deren Umsetzung oder auf gesetzesinterne Widersprüche näher einzugehen. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit dem Raum als Begriff: Raum wird als elementarer Bestandteil des Sozialen angenommen. Der modifizierte Löwsche Raum-Begriff ist empirisch erfahrbar und erforschbar und verweist auch auf abstrakte Phänomene und Strukturen. Mögen für einige Fragestellungen in der Soziologie Raumkonstitutionen wenig Relevanz haben, so ist deren Abwesenheit in fast allen Fragestellungen nicht nachvollziehbar und würde m. E. eine Bereicherung für mehrere Forschungsergebnisse bedeuten. Eine Annahme dieser Arbeit ist, dass räumliche, soziale und rechtliche Strukturen Arten von gesellschaftlichen Strukturen sind, die sich wechselseitig beeinflussen und in einer ständigen (Re-)Produktion durch soziale Aushandlungsprozesse erneuert werden müssen. Was nicht bedeutet, dass diese Strukturen in ständiger Bewegung sind und „beliebig“ verändert werden können. Sie sind vielmehr in hohem Maß abhängig von Verteilungen der Macht und der „bourdieuschen Kapitalien“ in einer Gesellschaft. In dieser Arbeit wird in erster Linie die Einwirkung der rechtlichen Strukturen auf räumliche in Form des Wohnens und damit auch auf soziale untersucht. Alle Strukturen sind miteinander verwoben, können und müssen analytisch getrennt untersucht werden. Somit ist staatliche Gewalt (wie alle Institutionen) entgegen Georg Simmels Annahme1 in räumlichen und sinnlich wahrnehmbaren Phänomenen erkennbar. Sie hat dort ihre Konkretisierung gefunden. Der Raum-Begriff impliziert, dass in jeder Situation seitens der an ihr beteiligten Personen diese definiert wird. Die Handlungen oder Verhaltensweisen der beteiligten Personen stehen in Wechselwirkung mit ihrer Situationsdefinition. Die Verhaltensweisen sind an die Situationsdefinition gekoppelt und können Einfluss auf die Situationsdefinition haben. 1 Vgl.: Kramme, Rüdiger/ Rammstedt, Angela/ Rammstedt, Otthein (Hg.): Georg Simmel – Aufsätze und Abhandlungen 1901 – 1908, Band 1, Frankfurt/ Main 1995, S. 132 - 183. 5 Das Wohnen als der Inbegriff des Privaten, des Intimen und der Heimat spielt einerseits aufgrund der Fremdheit der Kultur und des Landes für die AsylbewerberInnen eine besondere Rolle. Des weiteren ist die besondere Art des Wohnens in Gemeinschaftsunterkünften relevant. Im Kontext der konkreten Vorgaben, die Räumlichkeiten und Erfahrungsmöglichkeiten von AsylbewerberInnen bedingen, möchte ich den Auswirkungen des „Ausländergesetzes“, des „Asylbewerberleistungsgesetzes“, der „Verwaltungsvorschriften zur Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften“, der „Heimordnungen“ auf die Lebenswelt der dort Wohnenden nachspüren. Da ich Fremd- und Eigenperspektive der Asyl-Räume erfassen möchte, führe ich Interviews und schreibe Beobachtungsprotokolle. Um der Eigenperspektive der von mir zu untersuchenden Gruppe nachgehen zu können, führe ich offene Interviews und zur Ergänzung einer Fremdperspektive Beobachtungen im Forschungsfeld durchführen. Ich folge dem interpretativen Paradigma, das einerseits Offenheit dem Untersuchungsfeld und den Untersuchungsergebnissen gegenüber und andererseits Kommunikativität verlangt. Von den ForscherInnen wird Transparenz des Forschungsprozesses bzw. das Bestreben erwartet, den ProbandInnen die Möglichkeit zu bieten, ihre Wirklichkeitskonstruktionen zu schildern und ihr Relevanzsystem zu entfalten. Erst auf diese Weise und unter Anpassung der Sprachebene ist eine Erarbeitung der Eigenperspektive der AsylbewerberInnen auf ihre Lebenssituation in Deutschland möglich. Die Auswertungen der Interviews und der Beobachtungen erfolgt durch die modifizierte qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring. Einigen Aspekte räumlicher Erfahrungen und Eindrücke beziehe ich nicht ein, da der zeitliche Umfang Bildanalysen nicht erlaubt und somit nicht in die Auswertungen einfließen können. Ziel der Arbeit ist, eine Verbindung zu schaffen zwischen der Eigenperspektive und der Fremdperspektive der Asyl-Räume an Fallbeispielen in Dresden. Durch Interviews mit und Beobachtungen von iranischen AsylbewerberInnen, die sich in Aufenthaltsdauer in Deutschland, Geschlecht, Alter, Aufenthaltsstatus und Familienstand unterscheiden, werden die konkreten Charakterisierungen der „Asyl-Räume“ beschrieben, gedeutet und interpretiert. Die Fremdperspektive wird ebenfalls in ihren thematischen Schwerpunkten und der Wahrnehmung „von außen“ Eingang in Form der Auswertung von Beobachtungen finden. Die durch die Charakterisierungen verbundene gesellschaftliche Positionierung der AsylbewerberInnen im Pierre Bourdieuschen Sinne des „sozialen Raums“ in unserer derzeitigen Kultur folgt dem Verstehen des Sozialen im Sinne einer verstehenden Soziologie. Durch die 6 Analyse von vorhandenen Kapitalien, die Voraussetzungen für gesellschaftlich anerkannte Räume sind, können AsylbewerberInnen „verortet“ werden. Die Forschungsergebnisse eignen sich für weitere Forschungsarbeiten im Gebiet der Raumsoziologie und/oder inhaltlich zum Thema „Asyl“. Außerdem geben sie Ideen für Handlungsund Entscheidungsmöglichkeiten, die auf politischer Ebene produziert werden. Die Fremdperspektive ist beispielsweise sehr gering berücksichtigt. Besonders die Perspektiven der Personen, die sich im näheren Umfeld der AsylbewerberInnen befinden, wären interessant zu erforschen. 7 1 Asyl 1.1 Das Asylrecht: derzeitig in Deutschland 1.1.1 Stationen der AsylbewerberInnen Um die Möglichkeiten des Verlaufes von Asylverfahren der AsylbewerberInnen von der Ankunft in Deutschland bis zur Anerkennung als Asylberechtigte oder zur Abschiebung in das Heimatland darzustellen, ist es sinnvoll, vorerst einen Überblick zu den verschiedenen Stationen in Deutschland zu schaffen. Übersicht der „Stationen“ von AsylbewerberInnen2 Ankunft in Deutschland Polizeiliche Datenerfassung Bewerbung auf Asyl: Erstaufnahmeeinrichtung (max. 6 Wochen Aufenthalt) mit Erstinterview in Chemnitz Anerkennung als Asylberechtigte(r) Aufenthaltserlaubnis Erste Ablehnung Abschiebung in das Herkunftsland 2 Kirchenasyl Einspruch: Wiederaufnahme des Verfahrens mit Zweitinterview Im Jahr 2001 wurde über 6136 Anträge entschieden. Diese können, müssen aber nicht dieselben sein, die im selben Jahr gestellt wurden. Folgende Entscheidungen wurden getroffen: Anerkennung nach Artikel 16a des Grundgesetzes: 111 Abschiebeschutz nach § 51 des Ausländergesetzes: 850 Ablehnungen: 4171 Abschiebungshindernis nach §53 des Ausländergesetzes: 166 Dies bedeutet, dass ein sehr geringer Prozentsatz, nämlich rund 1,8%, der Asylverfahren mit dem Urteil „asylberechtigt“ beendet wurden, was eine Probandin bewilligt bekam. Die Ablehnungen stellen den größten Teil mit rund 68% der Asylanträge. Geduldet werden bis zum Ablauf der Duldungszeit, die einige Wochen bis einige Monate umfassen kann, etwa 17% der AsylbewerberInnen. Dies ist bei zwei meiner ProbandInnen entschieden worden. In: Sächsischer Landtag: Neunter Jahresbericht des Sächsischen Ausländerbeauftragten, Dresden 2002, S. 91. 8 Verlegung in eine Gemeinschaftsunterkunft: Warten bis zum Urteil Anerkennung als Asylberechtigte(r) (in Sachsen rund 1,8%) Zweite Ablehnung (in Sachsen rund 68%) Abschiebung in das Herkunftsland Aufenthaltserlaubnis Kirchenasyl Duldung (in Sachsen rund 17%) a) Bewerbung auf Asyl Der Begriff AsylbewerberIn beinhaltet den Begriff einer „Bewerbung“. Diese Bewerbung nehmen AusländerInnen vor, die aufgrund politischer Verfolgung in Deutschland Schutz suchen. Es zählen auch diejenigen dazu, die noch keinen förmlichen Asylantrag gestellt haben oder die nur Abschiebungsschutz und keinen Anerkennungsstatus anstreben oder deren Verfolgungsgründe ein asylrechtlich relevantes Schicksal nicht ergeben. Die Rechtsstellung eines/r Asylbewerbernden/r ist mit dem Asylgesuch erworben. Die Rechte ergeben sich unmittelbar aus dem Asylgrundrecht, das besagt, Asylsuchende müssen während ihrer Verfahrensdauer vor dem Zugriff des Verfolgerstaates geschützt werden und genießen folglich Einreiserecht und in dieser Zeit Aufenthaltsrecht. Wer nach erfolgloser Beendigung des Asylverfahrens in Deutschland oder einem weiteren sicheren Drittstaat (Liste dieser Staaten existent) erneut Asyl begehrt, gilt als Folge- oder ZweitantragstellerIn und ist grundsätzlich in derselben Situation wie beim Erstantrag. Ein Folgeantrag liegt bei unanfechtbarer Ablehnung eines bereits gestellten Asylantrages in Deutschland, ein Zweitantrag liegt vor, wenn in einem sicheren Drittland ein Asylantrag negativ beschieden wurde und nun in Deutschland gestellt wird. Das Bleiberecht wird in beiden Fällen eingeschränkt. Diskussionen gibt es in einigen europäischen Ländern zur Handhabung im „Graubereich“ des Flughafenverfahrens. Der Bereich ist per Definition nicht eindeutig national zugewiesen und es stellen sich Fragen nach dem anzuwendenden Recht (in Deutschland im „Flughafenverfahren“ geregelt: § 18 a des Asylverfahrensgesetzes).3 Das Flughafenverfahren wird für AsylbewerberInnen angewandt, die ohne Personaldokument oder aus sogenannten sicheren Herkunftsstaaten einreisen. Das Asylverfahren muss offiziell innerhalb von 19 Tagen abgeschlossen sein. 3 Vgl.: Marx, Reinhard: Kommentar zum Asylverfahrensgesetz, Neuwied/ Kriftel 1999, S. 191-281. 9 Im Kontrast zu AsylbewerberInnen sind Asylsuchende diejenigen, die noch nicht das Gebiet Deutschland betreten haben. Es können sich Asylsuchende an Grenzen Deutschlands oder in einem ungeklärten „Rechtsbereich“, vornehmlich den Flughäfen befinden. Die an den Grenzen können abgewiesen werden. Deutschland ist nur von sicheren Drittstaaten umgeben, so können alle flüchtenden Personen, die auf dem Landweg einreisen wollen, abgewiesen werden: §§ 18, 18a des Asylverfahrensgesetzes. b) Asylberechtigung Diese erhalten politische verfolgte Personen, die förmlich als Asylberechtigte anerkannt sind. Ihnen werden alle Asylrechte gewährt und erlangen die Rechtsstellung eines ausländischen Flüchtlings nach der Genfer Flüchtlingskonvention (§ § 2 I, 68 des Asylverfahrensgesetz). Die Asylanerkennung ist für die Geltendmachung des Asylgrundrechts unerlässlich, da sie Behörden und Gerichte bindet. Der anerkennende Staat ist einerseits verpflichtet, den/ die Asylberechtigte/n nicht aus dem Land zu weisen, andererseits muss er ihm/ ihr ein menschenwürdiges Dasein ermögliche für die Dauer der Verfolgung. Asylberechtigte haben die gleiche rechtliche Stellung wie ein ausländischer Flüchtling - § 2 I des Asylverfahrensgesetzes. Somit können sie sich in Schule, Politik, Beruf ebenso frei betätigen wie Deutsche.4 Sowohl AsylbewerberInnen als auch Asylberechtigte können ausgewiesen und/ oder abgeschoben werden, wenn sie eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellen. Dies ist in Deutschland ab drei Jahren Strafvollzug der Fall, so dass Asylberechtigte und AsylbewerberInnen mit einer solchen oder höher liegenden Strafe ausgewiesen und/ oder abgeschoben werden. Es sei denn es tritt § 51 (Abschiebungsverbot) oder § 53 (Abschiebungshindernisse) des Asylverfahrensgesetzes in Kraft aus Gründen der bevorstehenden Folter, Todesstrafe, leibliche Beeinträchtigungen im Heimatland. In diesen Fällen darf nicht abgeschoben werden aus humanitären Gründen. c) Aufenthaltsgenehmigung Sie setzt verwaltungsmäßig das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot mit Genehmigungsvorbehalt um. Sie ist momentan (04.12.2002) in vier verschiedene Arten im § 5 des Ausländergesetzes unterteilt: Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltsberechtigung, Aufenthaltsbewilligung und Aufenthaltsbefugnis. 4 Vgl.: Renner, Günter: Ausländerrecht in Deutschland: Einreise und Aufenthalt, München 1998, S. 80f. 10 Die befristete und unbefristete Aufenthaltserlaubnis dient der Legalisierung des Aufenthalts ohne Bindung an einen bestimmten Aufenthaltszweck. Trotz dieser Betonung unterliegt die Aufenthaltserlaubnis in den durch das Gesetz besonders geregelten Gruppen der Erwerbstätigkeit (§ 10 Ausländergesetz), des Familiennachzugs (§§ 17, 23 Ausländergesetz) und der Wiederkehr (§ 16 Ausländergesetz) besonderen Bestimmungen. Mit der Aufenthaltsberechtigung - § 27 Ausländergesetz – wird die weitere Verfestigung des Aufenthalts nach der befristeten oder unbefristeten Aufenthaltserlaubnis vollzogen. Die Aufenthaltsbewilligung (§§ 28, 29 Ausländergesetz) ist für Aufenthaltszwecke gedacht mit vorübergehendem Aufenthalt. Die Aufenthaltsbefugnis (§ § 30, 31 Ausländergesetz) gilt denen, die aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen in Deutschland verweilen dürfen.5 d) Duldung Eine Duldung umschreibt den Zustand, wenn eine Person abgeschoben werden soll, dies aber aufgrund verschiedener Gründe nicht vollzogen werden kann. Diese Gründe können in der Situation im Heimatland oder in der in Deutschland liegen, z. B. Krankheit oder fehlender Pass, Drohung der Todesstrafe oder körperlicher Beeinträchtigungen im Heimatland etc.. Sie gilt so lange, wie der entsprechende Zustand anhält, verändert er sich, wird die Abschiebung vollzogen.6 Sei wird erteilt, wenn eine Abschiebung aufgrund rechtlicher oder tatsächlicher Gründe unmöglich, ein Abschiebungsstopp in ein bestimmtes, gerade als politisch instabiles, „gefährliches“ Land besteht oder die zuständige Ausländerbehörde von der Abschiebung absieht.7 1.1.2 Übersicht zur Gesetzeslage in Deutschland Zur Einführung möchte ich auch in diesem Abschnitt zunächst einige wichtige Begrifflichkeiten im Überblick erklären8: Das Grundgesetz stellt die Basis aller weiteren Gesetzgebung dar. Die Artikel 1 bis 3 sind wohl bekannt, sie garantieren den Schutz der Menschenwürde, die Freiheitsrechte und die Gleichheit vor dem Gesetz. Des weiteren sind für AsylbewerberInnen die Artikel 16 und 16a, die sich mit Ausbürgerung, Auslieferung und dem Asylrecht befassen, von Interesse. Das Ausländergesetz befasst sich mit Einreise, Aufenthalt und Ausreise bzw. Abschiebung von ausländischen Personen allgemein. Diese sind für ihre „Umsetzbarkeit“ durch die Ver5 Vgl.: Renner, Günter: Ausländerrecht in Deutschland: Einreise und Aufenthalt, München 1998, S. 85f. Vgl.: Renner, Günter: Ausländerrecht in Deutschland: Einreise und Aufenthalt, München 1998, S. 630f. 7 Vgl.: Krais, Jürgen/ Tausch, Christian: Asylrecht und Asylverfahren, München 1995, S. 198ff. 8 Alle aufgeführten Gesetze, Rechte oder Vorschriften mit den Veränderungen des Zuwanderungsrechts lassen sich in: Deutsches Ausländerrecht, München 2002 nachlesen. 6 11 ordnung zur Durchführung des Ausländergesetzes ergänzt, um die Rechtsstellung bezüglich der Erwerbsarbeit zu regeln, ist die Verordnung über Aufenthaltsgenehmigungen zur Ausübung einer unselbständigen Erwerbstätigkeit aufgestellt worden. Außerdem sind Ausnahmeregelungen für „Gastarbeiter“ und Zugangsregelungen zu Sozialleistungen festgelegt. Neu ist die Sonderstellung der EU-BürgerInnen, die in vielen Bereichen ähnliche Rechte und Pflichten haben wie Deutsche. Das Asylverfahrensgesetz legt den Ablauf von Antragstellung bis zur Anerkennung oder Ablehnung der antragstellenden Person fest. Es beinhaltet neben allgemeinen Bestimmungen, den Ablauf des Asylverfahrens, von den Regelungen an der Grenze bis zu denen bei der Abschiebung. Die Unterbringung in den Erstaufnahmeeinrichtungen und Verteilung auf die Länder, Strafvorschriften und Ablauf des Gerichtsverfahrens sind im Asylverfahrensgesetz geregelt [siehe Kapitel I.1.4) und I.1.6)]. Die Genfer Flüchtlingskonvention ist international anerkannt und in einige nationale Gesetzgebungen eingegangen. Sie definiert den Begriff Flüchtling, als Asylberechtigte bzw. als aus begründeter Furcht verfolgte und somit geflohene Person (begründete Furcht wird im Asylverfahren geprüft). Es behandelt überblicksartig, aber richtungsweisend für Deutschlands Gesetzgebung bezogen auf diesen Themenbereich, die Rechtsstellung, Erwerbstätigkeit, Wohlfahrt und Verwaltungsmaßnahmen für Flüchtlinge. Das Asylbewerberleistungsgesetz beschäftigt sich mit den AsylbewerberInnen zustehenden Leistungen, bezüglich der Grundleistungen (Lebensmittel, Unterkunft, Heizung, Körperpflege etc.), der Gesundheitsvorsorge oder den Leistungenylt wt srs3015(g)9.71032(l)- -20.76 Td 12 Die Genfer Flüchtlingskonvention wurde 1953 in das bundesdeutsche Recht übernommen, diese befasst sich hauptsächlich mit dem Umgang bereits anerkannter AsylbewerberInnen, also Asylberechtigten außer des Abschnitts, in dem es um die Gründe der Anerkennung geht (Art. 16 a II Abs. 1 Nr. 2). In diesem Abschnitt wird festgelegt, dass jede Person asylrechtlichen Schutz genießt, die wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Überzeugung verfolgt wird.9 Deutschland beschränkte im Gegensatz zu anderen Ländern, die ebenfalls die Genfer Flüchtlingskonvention in ihre nationale Gesetzgebung aufnahmen, die Verfolgung auf „staatlich politische Verfolgung“ ein und schloss nicht- politisch oder geschlechtsspezifisch Verfolgte aus. Diese weiteren Asylgründe werden in der aktuellen Diskussion um ein neues Zuwanderungsrecht aufgenommen. Einer der Gründe war die eigene Geschichte, die Deutschland verpflichtete analog zu den Jüdinnen/ Juden Verfolgte aufzunehmen. In der deutschen derzeitigen Gesetzeslage wird eine uneingeschränkte Aufnahme politischer Flüchtlinge postuliert. Der Artikel 16 a des Grundgesetzes ist Basis für die Asylgewährung, die folgende Definition des Flüchtlings beinhaltet: „Ein Flüchtling ist eine Person, die aufgrund ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung begründete Furcht vor Verfolgung hat.“ So wird die Differenz zwischen der Flüchtlingsdefinition und dem politisch Verfolgten deutlich, der momentan einzige(r ) Asylberechtigte(r) ist, aber laut Bundesverfassungsgericht erfüllt jede Person mit berechtigter Furcht vor Verfolgung den Asyltatbestand, wobei Uneinigkeit unter den JuristInnen herrscht, ob bereits bestehende Beraubung oder die berechtigte Furcht vor diesem Zustand ausreicht, um Asyl zu gewähren. Das Verfassungsgesetz, das Verbindlichkeit besitzt im Gegensatz zum Völkerrecht, gibt politisch Verfolgten Asylrecht, als Zentrum das Aufenthaltsrecht, das mit einem Flüchtlingsausweis (Art. 28 Genfer Flüchtlingskonvention) oder einem Fremdenpass (§ 4 AusländerGesetz), mit unabhängiger und unbefristeter Arbeitserlaubnis gekoppelt ist. Politische Verfolgung, im Grundgesetz nicht näher beschrieben, basiert auf der Menschenwürde, wird geltend wenn die Menschenwürde verletzt wurde (Bundesverfassungs-Gesetz 54, 341, 357) durch wirtschaftliche oder berufliche Beeinträchtigungen oder begründete Furcht vor Verfolgung. Politische Verfolgung meint aufgrund politischer Überzeugung oder religiöser Grundentscheidung oder an für ihn unverfügbare Merkmale gezielte Rechtsverletzungen 9 Vgl.: Jarass, Hans D.: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland : Kommentar, München 2000, S. 403. 13 seitens des Staates, so dass die Person aus der übergreifenden Friedensordnung des Staates ausgegrenzt wird. Ebenso muss eine inländische Fluchtalernative ausgeschlossen werden.10 In vergangenen und aktuellen Diskussionen wurde unter JuristInnen über die Schrankenlosigkeit des Grundrechts diskutiert gegenüber der Gewährung von Schranken des/ der Gesetzgebers/ Gesetzgeberin oder gegenüber den Schranken der Menschenrechte und Flüchtlingskonventionen, die (§ 33 Abs. 2) die die Ausweisung von bereits anerkannten AsylbewerberInnen, wenn sie eine Gefahr für die Sicherheit, die Öffentlichkeit darstellen, ermöglichen.11 Solche Konflikte erfordern Lösungen, die der Jurist Heinrich Scholler durch den Art. 19 Abs. 2 des Grundgesetzes gelöst sieht, in dem auf Erhalt des Wesens des Asylrechts zu bestehen ist. Andere JuristInnen meinen, dass nur dem das Asylrecht verwehrt bleiben soll, der gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung verstößt. Das Bundesverfassungsgericht solle entscheiden, ob auch uneinschränkbare Grundrechte zugunsten des Werteerhalts Beschränkungen erfahren sollten bei der Gefahr für die Sicherheit des Landes oder der Allgemeinheit wegen eines besonders schweren Verbrechens.12 Konkretisiert hat sich diese Regelung in der Abschiebung von (auch bereits anerkannten) AsylbewerberInnen, deren Strafurteil drei Jahre überschritt. Scholler ist der Überzeugung, es sei eine Verletzung des Willkürverbots und der Menschenrechte, wenn aufgrund ihrer Rasse oder Religion Verfolgte kein Asyl gewährt bekommen. Durch die Reform des Asylrechts 1992 (Neues Asylverfahrensrecht) und 1993 (Asylrechtsreform) des Art. 16 Abs. 2 S. 2 des Grundgesetzes mit einem neuen Asylverfahrensgesetz ließ die Zahl (1992 war Höchststand der AsylbewerberInnen mit 438 191 erreicht13) erheblich schrumpfen. Ein wesentlicher Aspekt hierbei betraf die Flüchtlinge aus Rumänien, deren Anträge erheblich schrumpften nach einem Abkommen der Rückübernahme, das im November 1992 beschlossen wurde.14 Außerdem wurden die Einreisenden über „sichere Drittstaaten“, in denen – so wird angenommen – Menschenrechte und die Genfer Flüchtlingskonvention gewährleistet wird, nicht mehr aufgenommen. Es wurden alle Länder der EG, weitere sichere Drittstaaten und verfolgungsfreie Länder festgelegt, aus denen keine Flüchtlinge anerkannt werden. 10 Vgl.: Tilch, Horst (Hg.): Deutsches Rechts-Lexikon, Band 1, A-F, 2. Auflage, München 1992, S. 298f. Vgl.: Scholler, Heinrich: Die Verankerung des Asylrechts im modernen Staat in: Schubert, Venanz (Hg.): Wissenschaft und Philosophie, Band 19: Fremde – Migration und Asyl, St. Ottilien 1999, S. 338ff. 12 Vgl.: Tilch, Horst (Hg.): Deutsches Rechts-Lexikon, Band 1, A-F, 2. Auflage, München 1992, S. 299. 13 Vgl.: Renner, Günter: Ausländerrecht in Deutschland: Einreise und Aufenthalt, München 1998, S. 30. 14 Vgl.: Efionayi-Mäder, Denise u.a.: Asyldestination Europa – Eine Geographie der Asylbewegungen, Zürich 2001, S. 64f. 11 14 Außerdem wurde die Beschleunigung des Verfahrens innerhalb von sechs Wochen ermöglicht15, das heute im „Flughafenverfahren“ angewandt wird. Dies ist eine Grauzone, die in der Asylpolitik engagierte Nicht-Regierungs-Organisationen oder ähnliche Institutionen kaum überprüfen können und dort AsylbewerberInnen einer gewissen Willkür ausgesetzt sind. In den meisten Verfahren ist jedoch nach Herkunftsland immer noch mit mehrjährigen Aufenthalten zu rechnen und mit einer Verlegung nach genanntem Zeitraum in Sammelunterkünfte bzw. Gemeinschaftsunterkünfte. Das Asylverfahren wird durch das Asylverfahrens-Gesetz geregelt, das zunächst im Ausländergesetz enthalten war und sei 1982 im Asylverfahrensgesetz verankert ist. Das Verwaltungsverfahren läuft folgendermaßen ab: In erster Instanz entscheiden BearbeiterInnen des „Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge“ (BAFl) über Anerkennung oder Ablehnung. Hier ist ein Bundesbeauftragter angestellt, der sich am Antrag beteiligen kann. Es wird eine Anhörung stattfinden, die bei Fehlen des Anzuhörenden binnen eines Monats schriftlich abgegeben werden kann. Der Asylantrag ist bei der Ausländerbehörde des Bezirks zu stellen (§ 8 des Asylverfahrensgesetzes), er wird auch bei Anträgen an der Grenze weitergeleitet an die zuständige Behörde. Abgelehnte Anträge werden der zuständigen Ausländerbehörde weitergeleitet, die aufenthaltsbeendende Maßnahmen einleiten kann (§ 28 Asylverfahrens-Gesetz).16 Während der Zeit des Verfahrens haben AsylbewerberInnen Aufenthaltsrecht im Bezirk der zuständigen Behörde. Die AsylbewerberInnen werden nach einem deutschlandweiten Schlüssel auf die Bundesländer verteilt und sollen in der Regel in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht sein. Bei drohender Abschiebung bleibt dem/ der Antragsteller/ Antragstellerin ein Antrag, der innerhalb einer Woche gestellt werden muss, als Anfechtsklage mit Widerspruch (nicht bei „offensichtlich unbegründeter Ablehnung“), woraufhin das Verwaltungsgericht entscheiden wird. Berufung ist dann nur möglich, wenn dies im Urteil erwähnt wird, die Nichtzulassung der Berufung kann innerhalb eines Monats angefochten werden. Der Asylantrag ist unbeachtlich, wenn die Person in einem anderen Land bereits asylberechtigt ist, welches im Pass – sofern sie einen besitzt – der Person erkennbar sein sollte. Er ist ebenso unbeachtlich – die Grenzbehörden könne die Person abweisen –, wenn es ein Folgeantrag ist außer bei Erfüllung der Voraussetzungen des § 51 Abs. I bis III des Bundesverwaltungsgerichts.17 15 Vgl.: Scholler, Heinrich: Die Verankerung des Asylrechts im modernen Staat in: Schubert, Venanz (Hg.): Wissenschaft und Philosophie, Band 19: Fremde – Migration und Asyl, St. Ottilien 1999, S. 343f. 16 Vgl.: Tilch, Horst (Hg.): Deutsches Rechts-Lexikon, Band 1, A-F, 2. Auflage, München 1992, S. 299f. 17 Vgl.: Tilch, Horst (Hg.): Deutsches Rechts-Lexikon, Band 1, A-F, 2. Auflage, München 1992, S. 300. 15 Sonderregelungen erhalten unbegleitete minderjährige Flüchtlinge oder auch Familien, die bis zu ihrem 25. Lebensjahr die Möglichkeit haben, eine Schule in Deutschland zu besuchen, in der sie u.a. die deutsche Sprache lernen. Dies erweist sich als enormer Vorteil gegenüber denjenigen, die ihre Deutschkurse selbst bezahlen oder gar keinen erhalten. Aus diesem Grunde werde ich in meiner Untersuchung lediglich Erwachsene befragen, die nicht in Deutschland zur Schule gegangen sind, da sie in der Mehrheit sind, andere Chancen in Deutschland haben. Dass Deutschland eine große, wenn auch abnehmende Bedeutung in der Asylpolitik innerhalb Europas zukommt, lassen allein die Zahlen einer Untersuchung von Flüchtlingen aus vierzehn Staaten, in der fünf europäische Länder (Belgien, Schweiz, Deutschland, Österreich, Großbritannien) betrachtet wurden, erkennen. Im Zeitraum von 1992 bis 2000 sank der prozentuale Anteil der gesamten Asylanträge von 80% auf 30% ab.18 Die Diskussionen um eine Modifizierung der Asyl-Gesetzgebung, um ein noch immer nicht verabschiedetes Zuwanderungsrecht, zeigen bereits in der Vorbereitungsphase die kontroversen Einstellungen zum Thema AusländerInnen, Migration, Integration und Einwanderung.19 Inhaltlich verändert wäre im „alten Vorschlag“ des Zuwanderungsrechts hauptsächlich die Handhabung von AusländerInnen, die sich nicht (mehr) im Asylverfahren befinden. Eine entscheidende Änderung für Asylberechtigte, die sich zweifelsohne zu ihrem Vorteil gestaltet, dass sie künftig Deutschunterricht und Unterricht in Landeskunde u. ä. erhalten sollen, allerdings zu diesem Unterricht verpflichtet werden. Personen mit humanitärem Schutzstatus haben nur im Wege einer Kann-Regelung Zugang zu den Integrations- und Sprachkursen. Die Finanzierungsfrage, so ist abzusehen, wird einige Schwierigkeiten bereiten, es werden wahrscheinlich Mittel für andere Migrationsprojekte gestrichen werden. Die bisher unterschiedlichen Aufenthaltstitel werden unter „Aufenthaltserlaubnis“ zusammengefasst, die je nach Fall bis zu drei Jahren erteilt wird und nach Ablauf neu erteilt werden muss. Die Status der Duldung und die Formen der Aufenthaltsgenehmigung werden somit zusammengefasst. Beachtenswert ist, dass in der neuen Auflage des Zuwanderungsrechts die Flüchtlinge, deren Asylantrag als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt wurden und momentan häufig geduldet sind, künftig keine Aufenthaltserlaubnis mehr erhalten können. Sie werden künftig leichter abgelehnt und abgeschoben werden können.20 Aufenthaltstitel während des Asylantrags kann nur mit Zustimmung der obersten Landesbehörde und nur dann erteilt werden, wenn wichtige Interessen der Bundesrepublik Deutschland es erfordern, so im „Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von 18 Vgl.: Efionayi-Mäder, Denise u.a.: Asyldestination Europa – Eine Geographie der Asylbewegungen, Zürich 2001, S. 41. 19 Vgl.: Informationsbund Asyl/ZDWF e.V.: Asylmagazin 9/2002, Bonn 2002, S. 1f. 20 Vgl.: Pro Asyl e.V.: Viel Schatten, wenig Licht – Überblick über die wichtigsten Neuregelungen im Zuwanderungsgesetz, Ende August 2002, S. 17. 16 Ausländern im Bundesgebiet – Aufenthaltsgesetz“ §10. Mit erteilter Aufenthaltserlaubnis geht eine Erlaubnis zur Ausübung von Erwerbstätigkeit und selbständiger Arbeit einher. Wird ein Asylantrag unanfechtbar abgelehnt, kann der betreffenden Person nur eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen, die im bisherigen Recht unter „Abschiebungshindernisse“ stehen. Die oberste Landesbehörde kann für einen Zeitraum von einem halben Jahr für bestimmte Gruppen, die als gefährdet im Sinne von verfolgt, beeinträchtigt in Leib, Freiheit oder zur Wahrung der politischen Interessen der Bundesrepublik (hier nur mit Einverständnis des Bundesministeriums des Innern) eine Aufenthaltserlaubnis geltend machen (Aufenthaltsgesetz § 22).21 Die zukünftige Fassung des Zuwanderungsrechtes oder auch europaweite Entscheidungen, die in aktuellen Versionen große nationale Interpretationsspielräume lassen, werden nach Einschätzung der laufenden Diskussionen keine entscheidenden Änderungen bringen. So wird sich die Situation auch in Gemeinschaftsunterkünften kaum ändern. Detaillierter werde ich auf das Lebensumfeld der AsylbewerberInnen und deren Raumkonstitutionen bestimmende Gesetzesregelungen eingehen, die im empirischen Teil der Diplomarbeit Einfluss nehmen: Das Asylbewerberleistungsgesetz, die Unterbringung und Verteilung in die Wohnheime oder dezentralen Unterbringungen wie Wohnungen, die Wohnheimordnungen und die „Residenzpflicht“. 1.1.3 Das Asylbewerberleistungsgesetz Das Asylbewerberleistungsgesetz wird in den einzelnen Bundesländern in unterschiedlicher Weise umgesetzt, da es einige Interpretationsfreiheiten lässt. Der Überblick über die Leistungen, die AsylbewerberInnen zustehen, bezieht sich auf Regelungen in Sachsen bzw. der Stadt wie das Paradigma des Sachleistungsprinzips. Dies bedeutet, dass statt finanzieller Leistungen eine bestimmte Auswahl an Lebensmitteln und Kleidung als Sachgüter ausgehändigt werden. Einen Überblick der Leistungen zeigt folgende Tabelle: Die Leistungen im Überblick Bereich Zeitlicher Abstand Leistung Taschengeld Monatlich 40,- € ab 15. Lebensjahr vom Sozialamt Kleidung Halbjährlich (Gebraucht-)Kleiderausgabe nach Punktesystem Behandlung durch (Zahn-) Nach Bedarf Erforderlich: Krankenschein vom Sozi- 21 Vgl.: Zuwanderungsrecht in: Deutsches Ausländerrecht, München 2002, S. 20f. 17 ÄrztInnen Lebensmittel alamt Zweimal wöchentlich Auswahl auf Lebensmittelliste nach Punktesystem Die Leistungen, die AsylbewerberInnen während ihrer Prozesszeit zur Verfügung stehen, sind im Asylbewerberleistungsgesetz niedergeschrieben, auf das ich im folgenden näher eingehen werde, da dieses Gesetz sowohl die Unterbringung in den Gemeinschaftsunterkünften (noch spezifiziert für die einzelnen Länder in den „Verwaltungsvorschriften zur Unterbringung in den Gemeinschaftsunterkünften“) als auch sonstige Leistungen wie Taschengeld, Kleidung, Lebensmittel etc. regelt, die in mein Konzept einfließen werden. Derzeit umfassen die Grundleistungen (§ 3 des Asylbewerberleistungsgesetzes) monatlich von Beginn des 15. Lebensjahres 40,- € pro leistungsberechtigter Person bei Unterbringung im Gemeinschaftsunterkunft. Bei der Unterbringung außerhalb der Aufnahmeeinrichtungen können anstelle der vornehmlich als Sachleistungen zu entrichtenden Anschaffungen durch vergleichbare unbare Abrechnungen oder in Form von Geldleistungen zur Verfügung gestellt werden. Zuzüglich der notwendigen Kosten für Unterkunft, Heizung und Hausrat werden dem Haushaltsvorstand 180,- €, Haushaltsangehörigen bis zur Vollendung des 7. Lebensjahres 110,- € und für jedes weitere Haushaltsmitglied von Beginn des 8. Lebensjahres 155,- € im Monat entrichtet. Kleidung erhalten die AsylbewerberInnen im Zuge des Sachleistungsprinzips22 halbjährlich von einer zentralen städtischen Ausgabestelle. Jede Person verfügt über ein Budget von Punkten, die sie nicht überschreiten darf. Jedes Kleidungsstück ist durch das Sozialamt im Punktesystem veranschlagt. Die Auswahl der Kleidungsstücke ist begrenzt und häufig sind sie gebraucht. Arbeitsgelegenheiten sollen in den Aufnahmeeinrichtungen oder in kommunalen, gemeinnützigen Einrichtungen gestellt werden für Tätigkeiten, die sonst zu einem anderen Zeitpunkt oder gar nicht verrichtet worden wären. Arbeitsfähige, nicht erwerbstätige Leistungsberechtigte, die nicht mehr im schulpflichtigem Alter sind, sind verpflichtet, diese Arbeiten zu verrichten. Ihr Anspruch auf die Leistungen wird gestrichen, wenn sie unbegründet die zugeteilte Arbeit nicht ausüben. Die Aufwandsentschädigung beträgt 1,05 € in der Stunde. Diese Tätigkeiten stehen nicht in Widerspruch mit dem Verbot und Beschränkung einer Erwerbstätigkeit 22 Die verbindliche Vorschrift der Umsetzung des Sachleistungsprinzips sachsenweit musste die Landesregierung im Februar 2003 zurücknehmen, da im bundesweiten Asylbewerberleistungsgesetz § 2 Abs. 2 das Sachleistungsprinzip nur angewendet werden kann, wenn die örtlichen Verhältnisse dies bedingen. Die bundesweite Regelung hat in diesem Fall höheren Verbindlichkeitscharakter als die landesweite. In: Sächsischer Landtag: Antrag der PDS-Fraktion zum Thema: Herstellung einer gesetzeskonformen Verwaltungspraxis in Sachsen bei der Gewährung von Leistungen nach § 2 Abs. 2 AsylbLG, Dresden 28.02.2003. 18 - § 5.23 Bei vorhandenem eigenen Vermögen oder Einkommen sind diese zuerst aufzubrauchen, bevor der Anspruch auf Leistungen gestellt werden kann. Die jeweiligen Landesregierungen oder obersten Landesbehörden bestimmen die jeweiligen Ämter oder Behörden, die die Paragraphen umsetzen. Verwaltungsvorschriften z. B. werden landesweit oder regional festgelegt. Hilferegelungen für AusländerInnen sind denen für Deutsche untergeordnet. Hierbei wird in der Gesetzgebung zwischen den AusländerInnen stark differenziert und gerade EuropäerInnen sind in vielen Bereichen den Deutschen gleichgestellt. Diese Ungleichbehandlungen wurzeln in der Idee, Deutsche bilden eine lebenslange Solidargemeinschaft während AusländerInnen zeitlich begrenzt in Deutschland bleiben würden. Horrer stellt zur Diskussion, ob das Differenzkriterium „Staatsangehörigkeit“ in Ungleichbehandlungen noch tragbar ist, zumal EuropäerInnen nahezu gleichgestellt sind, so steuern wir gerade in Deutschland auf „Drei-Klassen-AusländerInnen“ zu: EuropäerInnen, Flüchtlinge oder kurzweilig in Deutschland verweilende AusländerInnen, AsylbewerbendInnen. Die Grundlagen der Neuregelung von 1993 des Asylbewerberleistungsgesetzes war die Veränderung des Sozialhilfegesetzes mit deutlichen Absenkungen der bislang gewährten Leistungen für AsylbewerberInnen. Das neue Gesetz wurde aus dem Bundessozialhilfegesetz ausgegliedert, womit die Problematik des Existenzminimums laut Stefan Horrer wieder aktuell wurde. Kritik damals und heute wird von SozialarbeiterInnen, RechtsanwältInnen und engagierten Gruppen laut. Der Autor siedelt sich selbst zwischen dem Sparzwang staatlicherseits, dem AusländerInnen- und Sozialrecht an und versucht die drei Komponenten „sinnvoll“ zu verbinden.24 Die Ausgliederung hatte eine Absenkung des Leistungsniveaus und die Ausweitung des Personenkreises zur Folge, die regelmäßig nur kurz und mit ungesichertem Status in Deutschland sich aufhalten. Das Motiv der ordnungsrechtlichen Ausgliederung des Gesetzes, nämlich den Schutz gegen Missbrauch, hat sein Ziel nicht erreicht, denn es ist weder Teil des Polizei- noch des Ordnungsrechts. Anerkannte Flüchtlinge seien wie AusländerInnen zu behandeln, aber erst mit sozialrechtlicher Gleichstellung, wenn sie eine Aufenthaltsbefugnis erteilt bekommen - § 30 des Ausländergesetzes. Das Leistungsniveau des Asylbewerberleistungsgesetzes muss ein soziokulturelles Existenzminimum auch für AsylbewerberInnen ermöglichen, um ein Leben in Würde führen zu können. Das Sozialhilferecht, in der die Bestimmung der Regelsatzhöhe 23 Vgl.: Deutsches Ausländerrecht, München 2002, S. 223. Vgl.: Horrer, Stefan: Das Asylbewerberleistungsgesetz, die Verfassung und das Existenzminimum, Berlin 2001, S. 26f. 24 19 festgelegt ist, stellt den normativen Rahmen zur Bestimmung des Existenzminimums, das explizit festgelegt wurde (Bundesverfassungsgericht). 25 Der Satz der Leistungen für AsylbewerberInnen liegt bei etwa 67% des Sozialhilfeniveaus bei einer dezentralen Unterbringung. Diese Inkongruenz kann weder mit dem regelmäßig niedrigen Lebensstandard in den Herkunftsländern noch mit dem verfassungsrechtlich garantierten und dem sozialhilferechtlich definierten Existenzminimum gerechtfertigt werden.26 Nun stellt sich die Frage, wie „in Würde“ definiert wird und welche Kriterien erfüllt sein müssen, um genau diese einer Person zu wahren. Mein Verständnis ist, das Erlernen der fremden Sprache, um Kontakte zu Einheimischen knüpfen zu können als einen Aspekt der „Würde“ zu definieren. Des weiteren sind auf mehrere Monate dieselben Lebensmittel oder die beschränkte Auswahl an Kleidungsstücken die Würde antastende Regelungen. Geringe ökonomische Ressourcen neben der Bezahlung der Lebensmittel, Kleidung oder Fahrkarten sollten gegeben sein. Dieses wird für AsylbewerberInnen in Sachsen, in dem das Sachleistungsprinzip Entfaltung findet, nicht erfüllt.27 Der in manchen politischen Diskussionen genannte Vergleichsmoment mit der sozialen, ökonomischen und sonstigen Situation im Herkunftsland ist m. E. irrelevant, da der Vergleichsund Möglichkeitshorizont aus der Perspektive der Einheimischen auch in der Gesellschaft liegt, in der wir uns befinden. Diese Entwicklungen, die auf immer weitere Kürzungen hinausliefen, ist aus der nicht vorhandenen Untergrenze erklärbar. So kann das Leistungsniveau, das AsylbewerberInnen zukommt, nicht verfassungswidrig sein. Mit dem Asylbewerberleistungsgesetz ist festgelegt worden, wie viel diesen kurzfristig in Deutschland lebenden AusländerInnen zusteht. Kompliziert werde dessen Legitimation bei länger als drei Jahre in Deutschland lebenden AsylbewerberInnen, denn in diesem Zeitraum (Zeit als Faktor des Existenzminimums) sind Bedürfnisse anzuerkennen, die den Sozialhilfesätzen entsprechen, meint Horrer. Sein Vorschlag ist, die Zeit des Asylverfahrens auf maximal ein Jahr zu beschränken, so wird auch der Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes („Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“) nichtig gemacht. Die Gruppe der Leistungs- 25 Vgl.: Horrer, Stefan: Das Asylbewerberleistungsgesetz, die Verfassung und das Existenzminimum, Berlin 2001, S. 27ff. 26 Vgl.: Horrer, Stefan: Das Asylbewerberleistungsgesetz, die Verfassung und das Existenzminimum, Berlin 2001, S. 68. 27 In einer Publikation zur Situation der Lebensmittelversorgung, der Bekleidung und Kosmetik der AsylbewerberInnen in Sachsen wurde festgestellt, dass auch Lebensmittel- und Kosmetiklisten kostenintensiv sind und teilweise von den AsylbewerberInnen aufgrund der Sprachprobleme nicht verstanden werden. Zur Kleidungsausgabe konnte festgestellt werden, dass die Qualität dieser nicht den Ansprüchen genügt. In: PDS-Fraktion im Sächsischen Landtag: Asyl in Sachsen, Dresden 2001, S. 21ff. 20 berechtigten muss also neu definiert werden, um den Anforderungen des Völkerrechts zu genügen.28 Das künftige Zuwanderungsrecht (nach dem „alten“ Vorschlag der SPD und der Grünen) hätte keine einschneidenden Veränderungen in Zuteilung und Ausmaß der Grundleistungen oder des Taschengeldes vor. Anspruch auf Sozialhilfe haben nach 36 Monaten Grundleistungen (§ 3) künftig keine AsylbewerberInnen bzw. Asylberechtigte, die die Dauer ihres Aufenthaltes rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben.29 1.1.4 Die Unterbringung und Verteilung: Dritter Abschnitt des Asylverfahrensgesetzes Die Länder sind verpflichtet, Aufnahmeeinrichtungen zu errichten und entsprechend ihrer Quote (Sachsen: Sollanteil 6,5%) genügend Unterbringungsplätze bereitzustellen - § § 44 45. Die landesinterne Verteilung aus der Aufnahmeeinrichtung ist durchzuführen, wenn das Bundesamt der zuständigen Landesbehörde mitteilt, dass nicht oder nicht kurzfristig entschieden werden kann, dass der Asylantrag unbeachtlich oder offensichtlich unbegründet ist. Wenn das Verwaltungsgericht eine Klage gegen die Entscheidung des Bundesamtes angeordnet hat oder wenn der/die Bundesbeauftragte gegen die Anerkennung des/ der Ausländers/ Ausländerin Klage erhoben hat, wird ebenfalls eine Verteilung der betroffenen Person stattfinden. Der Zuweisungsentscheidung ist unverzüglich Folge zu leisten (§ § 48 bis 50).30 Die AsylbewerberInnen werden zunächst in einer Erstaufnahmeeinrichtung untergebracht, in der sie zunächst sechs Wochen, längstens drei Monate untergebracht sein sollen. Diese Aufenthaltspflicht endet, wenn die Person geheiratet hat und so Anspruch auf eine Aufenthaltsgenehmigung hat, wenn sie unanfechtbar anerkannt ist oder in eine andere Unterkunft verwiesen wird. Sie dient einer Verfahrensbeschleunigung vor allem in offensichtlich unbegründeten Fällen, damit unverzüglich eine Abschiebung oder Ausweisung erfolgen kann.31 Ich beziehe mich im weiteren lediglich auf die Unterbringung in den Gemeinschaftsunterkünften32, in die AsylbewerberInnen nach der Erstaufnahme verwiesen werden. Diese werden in Rechtssprache Gemeinschaftsunterkünfte genannt. Es ist die Regel, dass die AsylbewerberInnen nach Aufenthalt in einer Erstaufnahmeeinrichtung in Gemeinschaftsunterkünften un- 28 Vgl.: Horrer, Stefan: Das Asylbewerberleistungsgesetz, die Verfassung und das Existenzminimum, Berlin 2001, S. 195ff. 29 Vgl.: Zuwanderungsrecht in: Deutsches Ausländerrecht, München 2002, S. 88. 30 Vgl.: Zuwanderungsrecht in: Deutsches Ausländerrecht, München 2002, S. 186f. 31 Vgl.: Krais, Jürgen/ Tausch, Christian: Asylrecht und Asylverfahren, München 1995, S. 253. 32 Für AsylbewerberInnen in Sachsen, von denen im Jahr 2003 1097 dezentral, also ein geringer Prozentsatz, untergebracht sind, gilt, dass im selben Jahr von 6917 gestellten Anträgen 4259 von Personen aus asiatischen Ländern (hauptsächlich Vietnam, Ukraine etc.) eingereicht wurden. In: Sächsisches Staatsministerium des Innern zum Thema: Dezentrale Unterbringung von Asylsuchenden, Dresden 19.03.2003. 21 tergebracht werden sollen. „Hierbei sind sowohl öffentliche Interessen als auch Belange des Ausländers zu berücksichtigen.“33 Die Verpflichtung, in einer Gemeinschaftsunterkunft zu wohnen, endet mit Anerkennung als Asylberechtigten/r oder ein Gericht das Bundesamt zur Anerkennung verpflichtet hat. Sie kann ebenfalls enden, wenn Rechtsmittel eingelegt worden sind, die AusländerInnen eine anderweitige Unterkunft nachweisen und der öffentlichen Hand keine Mehrkosten entstehen. Dieses Gesetz ist eine Sollanordnung und die Wohnverpflichtung wird mit der Auflagenordnung – § 60 II durchgesetzt. Der Begriff „Gemeinschaftsunterkunft“ ist im Gesetz nicht geregelt, lediglich dass gemeinschaftliche Wohnzwecke zugrunde liegen sollen. Es ist keine Gemeinschaftsunterkunft mehr, die seitens des Bundesverfassungsgerichts in ihrer Art der Unterbringung als verfassungsrechtlich unbedenklich eingestuft wurde, wenn auch andere Personen mit AsylbewerberInnen zusammen wohnen. Sie ist weder eine Obdachlosenunterbringung noch eine sozialhilferechtliche Unterbringungsleistung der Sozialhilfebehörde. Die Mindestbedingungen über Größe und Beschaffenheit der Unterbringung sind im Gesetz nicht geregelt, unterliegt also behördlichen Entscheidungen (der Ausländerbehörde) mit extrem weitem Spielraum. Die Behörde kann sich auch der Hilfe von Privaten bedienen, so lange sie ihre Fürsorgepflicht erfüllt, indem sie Auflagen schafft und regelmäßig kontrolliert, ob diese erfüllt werden. Stellt der/ die private BetreiberIn bekannt gewordenen Missstände nicht ab, muss die Behörde den Vertrag kündigen und die Wohnverpflichtung der betroffenen AsylbewerberInnen aufheben.34 In Sachsen ist die Unterbringung von AsylbewerberInnen folgendermaßen geregelt: Die Unterbringungsbehörden sind in oberster Instanz das Staatsministerium des Inneren, gefolgt von den Mittelbehörden, die Landratsämter und Bürgermeisterämter der Kreisfreien Städte als untere Unterbringungsbehörden. Die mittleren Unterbringungsbehörden weisen den unteren Unterbringungsbehörden die Personen zu. Sie werden nach einem Schlüssel verteilt, der sich aus dem Anteil der Wohnbevölkerung errechnet. Die Gemeinden sind verpflichtet die Personen aufzunehmen - § § 2, 3 des Sächsischen Flüchtlingsaufnahmegesetzes.35 Der Freistaat erstattet pro Person vierteljährlich eine Pauschale von 1201,54 € den Landkreisen und kreisfreien Städten. Die mittleren Behörden legen den zu erstattenden Betrag fest, welcher sich an dem Vorbetrag orientiert. Ferner werden pro Person und Vierteljahr zur De- 33 Vgl.: Marx, Reinhard: Kommentar zum Asylverfahrensgesetz, Neuwied/ Kriftel 1999, S. 836. Vgl.: Marx, Reinhard: Kommentar zum Asylverfahrensgesetz, Neuwied/ Kriftel 1999, S. 840. 35 Vgl.: Sächsisches Flüchtlingsaufnahmegesetz, Stand: 28.02.1994, S. 1f. 34 22 ckung aller entstandenen Kosten für die Unterbringung der Personen vierteljährlich 639,11 € erstattet - § 5 des Sächsischen Flüchtlingsaufnahmegesetzes.36 Nun lässt sich an Dresden ausrechnen, dass in den Stadtteilen wie Cotta, Plauen, Langebrück und Johannstadt, in denen sich Gemeinschaftsunterkünfte befinden, der Quadratmeterpreis bei mittlerer Ausstattung für Wohnungen zwischen 3,10 € und 3,90 € liegen bei einem Leerstand von Wohnungen in den Stadtteilen zwischen 5,4 % (Johannstadt-Süd) und 25,5 % (Cotta) liegt und in elf Stadtteilen in Dresden größer als 20% ist. Allein der Prozentsatz der leerstehenden Wohnungen lässt vermuten, dass der Umzug von AsylbewerberInnen in Wohnungen nicht nur problemlos in der Wohnungsfindung, sondern auch von Vorteil ist, da die Gebäude durch Bewohnung besser erhalten bleiben.37 Rechnung Unterbringung Quadratmeterzahl Kosten Gemeinschaftsunterkünften Mindestens 4,5 m² 213,04 € des Freistaates Sachsen Wohnung in Dresden 38,61 m² 213, 04 € Verrechnet man den Betrag, der alleine zur Unterbringung von AsylbewerberInnen monatlich zur Verfügung steht, kommt man auf rund 213,04 € monatlich pro Person. Berechnet man einen Quadratmeterpreis von durchschnittlich 3,50 € Kaltmiete, schlägt 1,50 € Betriebskosten auf und 20,- € monatlich für Strom (und Gas) auf, dann kommt man auf eine Wohnfläche von 38,61 m², die monatlich einer Person zur Verfügung stehen könnten.38 Der Verwaltungsaufwand könnte höher sein, da die Mitarbeitenden an mehreren Orten arbeiten müssten. Ein Hausmeister beispielsweise, der momentan in (fast) jedem Heim vorhanden ist, könnte wegfallen, da dieser in den Betriebskosten der Wohnungen „enthalten“ ist. Sozialpädagogische Betreuung bliebe oder könnte in andere Institutionen eingelagert werden, in andere Gebäude außerhalb der Wohnungen verlegt werden, um eine „Plattform“ für Treffen der AsylbewerberInnen untereinander und mit Deutschen zu schaffen. Das Argument, dass Gemeinschaftsunterkünfte, für einen kurzfristigen Aufenthalt gedacht sind und daher ein Umzug in eine Wohnung nicht „lohnenswert“ erscheint, zieht nicht aufgrund der überwiegend mehrjährigen Aufenthalte in den Heimen. Es lohnt sich bereits für einige Monate eine Wohnung zu beziehen, wie ich aus meiner Erfahrung berichten kann. 36 Vgl.: Sächsisches Flüchtlingsaufnahmegesetz, Stand: 28.02.1994, S. 3. Vgl.: Landeshauptstadt Dresden: Statistische Informationen – Stadtteilkatalog 2001, S. 26, 29, 71, 161, 167, 218. 38 Entgegen den Aussagen der Landesregierung können weder die Wohnungsmarktlage noch die Einsparung von Kosten als Argumente einer zentralen Unterbringung genannt werden. In: Sächsisches Staatsministerium des Innern zum Thema: Dezentrale Unterbringung von Asylbewerbern, Dresden 24.05.2000. 37 23 Positiv auswirken würde sich der Bezug von Wohnungen mit Sicherheit auf das Selbstwertgefühl und das Wohlbefinden der AsylbewerberInnen (siehe Interviews), die Gefahren (durch den größeren Kontrollverlust durch staatliche Seite), die PolitikerInnen in einer solchen Umstrukturierung wittern können, muss gesagt werden, dass auch in der jetzigen Form der Unterbringung die Probleme wie Drogenkriminalität und damit einhergehende Beschaffungskriminalität, Schwarzarbeit u. ä. in der Form stattfindet, wie sie es befürchten und aus Gründen, die nicht unverschuldet auf die – von ihnen befürwortete – Gesetzeslage rückführbar sind (Sachleistungsprinzip, Arbeitsverbot auch für Menschen, die mehrere Jahre hier leben). Ein weiteres Argument staatlicherseits, die AsylbewerberInnen in Gemeinschaftsunterkünften leben zu lassen, ist der damit in Verbindung gebrachte Rückgang der Zahlen der Asylanträge. Vielleicht wird auch vermutete, dass durch negative Berichte der bereits hier in Heimen lebenden Menschen, NachzüglerInnen (Verwandte, Bekannte, FreundInnen) aus der Heimat mit geringerer Wahrscheinlichkeit nach Deutschland kommen möchten. Eine Untersuchung zeigte, dass lediglich ein Viertel der Rückgänge der Asylanträge in den letzten zehn Jahren auf restriktive Vorkehrungen bezüglich Sozialhilfe oder Unterbringung rückführbar sind. Außerdem stellte man fest, dass der Versuch einer Flüchtlingsstromsteuerung durch faktisches Erwerbsverbot kaum Einfluss auf Zuwanderung hat.39 Die „Verwaltungsvorschrift zur Unterbringung von AsylbewerberInnen im Freistaat Sachsen“, geändert am 16.06.1992 soll die Aufnahme, Verteilung und Unterbringung von AsylbewerberInnen in Sachsen regeln. Die Zentrale Landesanlaufstelle in Chemnitz ist zuständig für Aufnahme und Verteilung. Sie verteilt nach einem monatlich festzusetzenden Abnahmekontingent, die Unterbringungsbehörden regeln – wie ihr Name vermuten lässt – die Unterbringungen. Die höheren Unterbringungsbehörden sollen darauf hinwirken, dass die unteren Unterbringungsbehörden die ihrer Abnahmequote entsprechende Platzzahl in Sammelunterkünften (staatliche Wohnheime, von den unteren Unterbringungsbehörden verwaltet und betrieben) oder in Ausweichunterkünften (private Wohnheime) gewährleisten können.40 Bei der Überstellung der Personen der Zentralen Landesanlaufstelle an die unteren Unterbringungsbehörden sollen in den Sammellisten folgende Informationen enthalten sein: Namen, Geburtsdatum, Familienstand, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, Religionszugehörigkeit, Fingerabdruck, voraussichtlicher Tag der Überstellung, Form der Überstellung (Transportart). Familiäre Beziehungen sollen angemessen berücksichtigt werden. Unterbringungsstatistiken 39 Vgl.: Efionayi-Mäder, Denise u.a.: Asyldestination Europa – Eine Geographie der Asylbewegungen, Zürich 2001, S. 76f. 40 Vgl.: Verwaltungsvorschrift zur Unterbringung von Asylbewerbern in Sachsen, Stand: 16.06.1992, S. 2. 24 werden monatlich an das Staatsministerium des Innern und das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge zugestellt. Die Unterbringungseinrichtungen sollen eine Orientierungsgröße der Wohnfläche mit 4,5 m² bei Vorhandensein eines Gemeinschaftsraumes, mit 6,0 m² ohne pro unterzubringende Person berücksichtigen. Der Pacht-, Miet-, Kauf-, Betreibervertrag soll durch die untere Unterbringungsbehörde vor Abschluss dem zuständigen Liegenschaftsamt und der zuständigen höheren Unterbringungsbehörde zur jeweiligen Zustimmung zugestellt werden. Über Verträge mit einer Laufzeit von über 5 Jahren muss die oberste Unterbringungsbehörde entscheiden.41 Die AsylbewerberInnen sind verpflichtet, sich in den Gemeinschaftsunterkünften voll verpflegen zu lassen, wenn dies nicht gewährleistet wird, wird ein entsprechendes Verpflegungsgeld entrichtet. Der Tagessatz beträgt für Personen über 6 Jahre 4,25 €, für Personen unter 6 Jahren 3,75 €. Als Aufstockungsbetrag werden monatlich von 5,- € bis 30,- € je nach Altersstufe gewährt. Dieser kann gekürzt oder gestrichen werden, wenn die Person unregelmäßig im Heim ist, die Mitarbeit im Wohnheimbetrieb abgelehnt wird oder der Aufstockungsbetrag innerhalb einer vorgegebnen Zeit nicht abgeholt wird. 1.1.5 Die Wohnheimordnung in Sammelunterkünften Die sächsische Landesregierung hat im Zuge der Verwaltungsvorschrift eine „Wohnheimordnung für Sammelunterkünfte (staatliche Wohnheime) für Asylbewerber“ entworfen. Die AsylbewerberInnen werden durch die untere Unterbringungsbehörde einem Heim zugeteilt, in dem sie sich aufhalten müssen, bis sie unwiderruflich als Asylberechtigte anerkannt sind. In diesem Zeitraum müssen sie sich an der Heimordnung fügen. Die Wohnheimverwaltung besteht aus der Heimleitung und weiteren MitarbeiterInnen wie HausmeisterIn, SozialarbeiterIn, die sich um die bei der Verwaltung des Heims anfallenden Tätigkeiten kümmern. Eigenmächtiger Tausch des Wohnheimplatzes oder Tausch der Einrichtungsgegenstände ist nicht erlaubt. Privates Inventar bedarf der Zustimmung der Heimverwaltung. Außerdem sind die Heimbewohnenden verpflichtet, auf einwandfreie hygienische Verhältnisse zu achten, Dolmetscher-, Küchentätigkeiten oder Reinigungsdienst (siehe Anhang XVI Bilder Nr. 1 bis Nr. 4) zu verrichten. Verboten ist in den Sammelunterkünften, also auch den Gemeinschaftsunterkünften, technische Veränderungen durchzuführen, der Umgang mit offenem Feuer, das Halten von Tieren jeglicher Art, ruhestörender Lärm oder das Aufstellen privater Gegenstände in Gemeinschaftsräumen. Das Anbieten von Waren und Dienstleistungen ist ebenfalls verboten.42 41 42 Vgl.: Verwaltungsvorschrift zur Unterbringung von Asylbewerbern in Sachsen, Stand: 16.06.1992, S. 3. Vgl.: Verwaltungsvorschrift zur Unterbringung von Asylbewerbern in Sachsen, Stand: 16.06.1992, S. 6. 25 Alle Arten politischer Tätigkeiten werden untersagt, wobei eine genaue Definition der politischen Tätigkeit fehlt. Dass Menschen, die aus politischen Gründen aus ihrer Heimat geflohen sind, nun nicht mehr politisch handeln sollen, ist je nach Politik-Begriff gar nicht oder begrenzt möglich. Sie steht paradox zur Asyl-Gesetzgebung, die lediglich politische Verfolgte als Asylberechtigte anerkennt. Die Zubereitung von Essen in Wohnheimen mit Gemeinschaftsverpflegung ist nur mit Ausnahmegenehmigung möglich. Diese Regelung ist angesichts der Unterschiede in Zubereitung und Zutaten des Essens in verschiedenen Kulturen eine Zumutung. Hinzu kommen Unterschiede der Religionen, die teilweise genaue Vorschriften der Essenzubereitung und -auswahl ihren GläubigerInnen als Rahmen geben. Die BesucherInnen sollen sich bei der Wohnheimverwaltung an- und abmelden, wenn Grund zur Annahme besteht, dass sie Waren oder Dienstleistungen anbieten, kommerzielle Werbung betreiben oder gegen eben genannte Verbote verstoßen wollen. Die Besuchszeiten sind, wenn keine Sonderregelung besteht, zwischen 08:00 und 22:00 Uhr. Bei Verstoß gegen die Besucherordnung können entsprechende Besuchende wegen Hausfriedensbruch angeklagt werden.43 Die mit dem Wohnen in Gemeinschaftsunterkünften einhergehenden Belastungen seien auch vor dem Hintergrund der völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands „grundsätzlich erforderlich, um im Interesse derjenigen Flüchtlinge, die letztlich bestandskräftig anerkannt würden, das Asylverfahren von Belastungen freizuhalten, für das es weder gedacht noch geeignet sei“44. Diese generalpräventive Zweckrichtung wird verständlicherweise von einigen JuristInnen mit Bedenken versehen. Für mich stellt sich vor allem die Frage der Hintergründe der von mir zitierten Aussage. Es wird in dieser Arbeit die Frage beantwortet werden, wie stark die Belastungen während des Asylverfahrens in Gemeinschaftsunterkünften einzuschätzen sind. Wenn das Bundesland über die Regelung hinausgehende Verpflichtungen schaffen will, muss es zusätzlich Gesetze erlassen, Verwaltungsvorschriften reichen zur Regelung dieser Frage nicht aus. Soweit Hausordnungen erlassen werden, können sie keine der einzelnen Person verpflichtende Ver- oder Gebote begründen. Dazu bedarf es stets der Anordnung durch die zuständige Ausländerbehörde. Die Behörde soll zwischen öffentlichen und privaten Interessen einen angemessenen Ausgleich finden und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachten, die einen Eingriff in die Privatsphäre nur zum Schutz der öffentlichen Sicherheit unerlässlich sind. Traumatisierten wird 43 44 Vgl.: Verwaltungsvorschrift zur Unterbringung von Asylbewerbern in Sachsen, Stand: 16.06.1992, S. 7. Vgl.: Marx, Reinhard: Kommentar zum Asylverfahrensgesetz, Neuwied/ Kriftel 1999, S. 840. 26 beispielsweise meist ermöglicht außerhalb einer Gemeinschaftsunterkunft zu wohnen, da die Belastungen für sie unverhältnismäßig erscheinen. Behörden genießen keine Dispositionsfreiheit, wenn es um die Verlegung einer Person von einer Unterkunft in eine andere geht, sie ist an Sinn und Zweck des Gesetzes gebunden, was allerdings eine möglichst flexible Unterbringung der AsylbewerberInnen erlaubt. Auf Familienzusammenführung wird Rücksicht genommen, sowie bei sexistischen oder rassistischen Belästigungen, Übergriffen oder Gesundheitsschädigungen Verlegungen oder Unterbringung in Wohnungen ermöglicht. Der Kostengesichtspunkt fließt, vermutlich immer stärker, in die Entscheidungen der Unterbringung ein. Das Willkürverbot verlangt, dass die individuelle Situation des/ der AsylbewerberInnen berücksichtigt wird und der Dauer und Art seines bisherigen Aufenthalts außerhalb der Unterkunft Rechnung trägt. Außerdem muss das bisherigen Maß der Integration in die bisherige Umgebung erfüllt werden. Gerade bei entlegenen Gemeinschaftsunterkünften ergeben sich Schwierigkeiten in kurzfristigen Arzt-/Ärztinterminen, Besorgung von Medikamenten oder Lebensmitteln. Generell ist der von Infrastruktur entfernte Unterbringung aber verfassungsrechtlich unbedenklich.45 Dass ein geringes bzw. kein Maß an Integration erfüllt oder seitens der Politik gefordert wird, ist in einigen Diskussionen mit sächsischen PolitikerInnen erkennbar, auch das Asylbewerberleistungsgesetz verhindere Integration, da weder sprachliche Förderung noch berufliche Perspektiven geboten werden. So wurde eine Sonderregelung für eine relativ kleine Gruppe geschaffen, die deutschlandweit von anderen HilfeempfängerInnen abgegrenzt werden.46 Beispiele aus Sicht der AsylbewerberInnen verdeutlichten die Belastungen, Anstrengungen und eine Unmöglichkeit der Finanzierung des eigenen Lebens auf „belastungsfreiem Niveau“. Eine Gemeinschaftsunterkunft, die z. B. mit einem Fußmarsch von anderthalb Stunden bis zur nächsten Straßenbahnhaltestelle verbunden ist, um ins Stadtinnere zum Einkaufen, Spazieren gehen, Bekannte treffen o. ä. zu kommen. Die notwendige Finanzierung einer Monatskarte für öffentliche Verkehrsmittel lässt AsylbewerberInnen dann lediglich 5,- € von ihrem monatlichem Taschengeld zum Eigenbedarf. Interessant ist, dass die zeitliche Begrenzung einer Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften begrenzt sein soll. Die Grenze ist nicht festgelegt, doch geht man von einem Richtwert von neun Monaten aus, da sonst der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht gewahrt bleiben kann im Hinblick auf die Belastungen durch das Wohnen in Gemeinschaftsunterkünften.47 45 Vgl.: Marx, Reinhard: Kommentar zum Asylverfahrensgesetz, Neuwied/ Kriftel 1999, S. 844. Vgl.: Horrer, Stefan: Das Asylbewerberleistungsgesetz, die Verfassung und das Existenzminimum, Berlin 2000, S. 84f. 47 Vgl.: Marx, Reinhard: Kommentar zum Asylverfahrensgesetz, Neuwied/ Kriftel 1999, S. 844. 46 27 Diese zeitliche Grenze, auch die Regelung einer dezentralen Unterbringung nach 36 Monaten Aufenthalt in Gemeinschaftsunterkünften wird häufig überschritten. Heimordnungen, die jegliche politische Tätigkeit untersagen, sind prinzipiell nicht wirkungskräftig, da das Recht auf politische Betätigung generell ein Freiheitsrecht ist und allen Deutschen und AusländerInnen zusteht. Die Einschränkungen des Rechts ist auf völker-, verfassungs- und gemeinschaftsrechtlicher Ebene zu finden, grundsätzlich unabhängig von der Ausübung der Religionsfreiheit.48 Der alte Vorschlag zum neuen Zuwanderungsrecht wird diesen Paragraphen oder diesen beeinflussende nicht verändern. 1.1.6 Räumliche Beschränkung: § 56 des Asylverfahrensgesetzes In § 56 des Asylverfahrensgesetzes ist die Aufenthaltsgestattung räumlich „auf den Bezirk der Ausländerbehörde beschränkt, in dem die für die Aufnahme des Ausländers zuständige Aufnahmeeinrichtung liegt.“49 Die Vorschrift kann mittel unmittelbaren Zwangs durchgesetzt werden, wird beim ersten Verstoß als Ordnungswidrigkeit, bei wiederholten Verstößen als Straftat eingestuft. Durch Auflage kann die räumliche Beschränkung ohne verfassungsrechtliche Bedenken weiter eingeschränkt werden. Es gibt Sonderregelungen zum vorübergehenden Verlassen des räumlich beschränkten Bereichs, um beispielsweise zu Gerichtsverhandlungen zu erscheinen, den Hohen Flüchtlingskommissar aufzusuchen oder manchmal um Familienangehörige zu treffen (§ § 57 und 58 des Asylverfahrensgesetzes). Die Verfassungskonformität der Vorschrift ist gewährleistet, da der räumliche Umfang der Beschränkung nicht die geschützte Freiheit einer Person nach Art. 2 II des Grundgesetzes beeinträchtige, so das Bundesverfassungsgericht. Für AsylbewerberInnen zumutbare Bedingungen beinhalten diese räumliche Beschränkung, sie wird allerdings als verfassungsmäßige Einschränkung der Handlungsfreiheit gesehen.50 Das Aufenthaltsrecht für AsylbewerberInnen ist von vornherein gesetzlich mit einer räumlichen Beschränkung verbunden. Diese begrenzt die Tätigkeits- und Handlungsmöglichkeiten der AsylbewerberInnen auf den asylverfahrensrechtlichen Zweck. Die Gesetzesvorschriften dürfen aber nicht so ausgelegt werden, dass innerhalb des räumlich beschränkten Bereichs alle Handlungen und Tätigkeiten des Asylsuchenden unter präventivem Erlaubnisvorbehalt stehen. Die Bestimmung über die räumliche Beschränkung wird erst bei Klarheit über die zuständige Aufnahmeeinrichtung festgelegt, bis dahin ist der Aufenthalt der AsylbewerberInnen nicht 48 Vgl.: Renner, Günter: Ausländerrecht in Deutschland: Einreise und Aufenthalt, München 1998, S. 365ff. Marx, Reinhard: Kommentar zum Asylverfahrensgesetz, Neuwied/ Kriftel 1999, S. 861. 50 Vgl.: Marx, Reinhard: Kommentar zum Asylverfahrensgesetz, Neuwied/ Kriftel 1999, S. 862f. 49 28 beschränkt. Bei Abwesenheit von einer Woche in der zugeteilten Aufnahmeeinrichtung kann eine Fahndung eingeleitet werden. Oder erscheint der Bewerbende nach Zuteilung in eine Gemeinschaftsunterkunft innerhalb von zwei Wochen nicht noch stellt er/sie einen Asylantrag, erlischt die Aufenthaltsgestattung - § 55 I 1. Die räumliche Beschränkung ist abhängig vom Aufenthalt in einer Aufnahmeeinrichtung, während der Dauer des Aufenthalts in einer solchen besteht Wohnpflicht. Nach Beendigung der Verpflichtung erfolgt über landesinterne oder länderübergreifende Verteilung die Zuweisung.51 Eine Duldung ist verbunden mit der räumlichen Beschränkung auf das Bundesland.52 Welche Konsequenzen der Verstoß gegen die Residenzpflicht haben kann, ist plastisch in einem Heft von Pro Asyl e.V. beschrieben worden. Bei einmaligem Verstoß gegen die Residenzpflicht haben Gerichte in den letzten Monaten Geldstrafen von teilweise 2556,- € (pro Person) verhängt. Hinzu kommen Freiheitsstrafen bei Wiederholungstaten, die sich von vier Monaten bis zu einem Jahr erstrecken können (Beispiel: Zuwiderhandlung gegen eine Aufenthaltsbeschränkung in vier Fällen). Im Vergleich gibt es Beispiele mit einer Freiheitsstrafe von einem halben Jahr, bei der eine Person mit Stuhl niedergeschlagen wurde, so dass diese ihre Sehfähigkeit auf einem Auge fast völlig verlor.53 1.1.7 Bezug zum Forschungsthema Dieses Kapitel der Diplomarbeit stellt einige Teile der aktuellen Gesetzgebung, also rechtliche Strukturen, zum Thema „Asyl“ dar. Die Gesetze bilden den Rahmen des Lebens in Gemeinschaftsunterkünften und determinieren dieses in Form und Inhalt, in Konstituierungen der Asyl-Räume. Es werden nicht nur das Wohnen durch die „Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften“, sondern auch andere Lebensumstände, der Umgang mit dem Körper und den Bedürfnissen bzw. die Begrenzung der Verhaltensmöglichkeiten durch das „Asylbewerberleistungsgesetz“ geregelt und somit kontrolliert. Eine selbständige Finanzierung oder freie Verfügung bzw. Aneignungsmöglichkeiten über ökonomisches Kapital werden durch ein faktisches Arbeitsverbot und das Sachleistungsprinzip verhindert. Dies sind für die Asyl-Räume aus der Eigen- und Fremdperspektive relevante Aspekte, die ich durch die Interviews und Beobachtungen empirisch erfassen werde. 51 Vgl.: Marx, Reinhard: Kommentar zum Asylverfahrensgesetz, Neuwied/ Kriftel 1999, S. 265f. Vgl.: Renner, Günter: Ausländerrecht in Deutschland: Einreise und Aufenthalt, München 1998, S. 342. 53 Vgl.: Die Residenzpflicht: Auf Ungehorsam steht Gefängnis in: Pro Asyl e.V.: Flüchtlinge haben keine Wahl, Frankfurt/ Main, April 2002, S. 32f. 52 29 Das Rechtliche wirkt auf das Räumliche. Durch die Regelungen der Bedürfnisse bezüglich Kleidung, Lebensmittel, Aufenthaltsorte, Kontaktpersonen, Behandlung bei ÄrztInnen werden Institutionalisierungen befördert und Strukturen geschaffen, die gesamtgesellschaftlich als Ausüben von Macht und Kontrolle deutbar sind. Die Umsetzung der Macht und Kontrolle mittels entsprechender Relationen oder Ortscharakteristika sind als Elemente der Empirie zu untersuchen. Die Qualitäten und Inhalte der aufgezählten Konkretisierungen der Gesetze geben die Stellung der AsylbewerberInnen in der Gesellschaft an. Sie können in ihrer spezifischen Zusammensetzung bei AsylbewerberInnen in der Lebenswelt als Distinktionsmerkmale für Einheimische dienen oder als symbolische Repräsentation der Zugehörigkeit zu einem „Milieu“. In ihnen sind die Kapitalien (nach Bourdieu) einer Person nachvollziehbar, die in ihrer spezifischen Zusammensetzung Wirtschaftlichkeit und Kriminalitätsbegrenzung sollen, so in Diskussionen des Landes Sachsen. Beide Aspekte sollen in der Untersuchung erfasst werden. Des weiteren möchte ich die Relationen der AsylbewerberInnen zu diesen konkreten, ihre tägliche Raumkonstitution bestimmenden Vorgaben untersuchen, als auch die Relationen zu Personen, die die Einhaltung der Gesetze und Regeln kontrollieren wie Heimmitarbeitende, SozialarbeiterInnen, andere AsylbewerberInnen, SozialamtsmitarbeiterInnen oder JuristInnen. 30 2 Raumsoziologie 2.1 Bisherige sozialwissenschaftliche Ansätze eines Raum-Begriffs In diesem Teil der Arbeit, in dem es um einen empirisch erfahrbaren Raum-Begriff geht, werde ich nicht auf Begriffsdefinitionen und -verwendungen von „Raum“ in Natur- und Technikwissenschaften eingehen. Sie haben sich in sozialwissenschaftlichen Ansätzen des RaumBegriffs niedergeschlagen und finden so indirekt ihren Eingang in Raum-Begriffe anderer Fachdisziplinen. Ich stütze mich in erster Linie auf den Raum-Begriff Löws, den sie in ihrem Buch über Raumsoziologie einführt. In diesem teilt sie in absolutistische und relativistische BehälterRaum-Modelle ein, die den soziologischen Raum-Begriff und Raum-Kategorie geprägt haben. Näher eingehen möchte ich auf Ansätze Georg Simmels und Pierre Bourdieus, Raum soziologisch einzuordnen, da sie den von mir verwendeten Raum-Begriff beeinflusst haben. 2.1.1 Georg Simmel Georg Simmel geht von einer Gestaltungslosigkeit des Raumes aus. Der Raum sei lediglich Grundlage und Bedingung zur Ausgestaltung dessen. Dies zeigt seine Auffassung von Raum als Behälter, der erst mal ohne Eigenschaften als Grundlage von möglichen Ausgestaltungen (durch Personen) dient. Raumkonstitution, so Simmel, sei eine Tätigkeit der Seele, womit er die Beeinflussung der Raumdefinition durch Kant (Raum als Kategorie) beweist. Der Raum selbst besitze keine Relevanz bei soziologischen Betrachtungen, sondern wird erst in seinen spezifischen Ausformungen beachtenswert.54 Anregend finde ich seinen Gedanken, den er im Abschnitt „Qualitäten des Raumes“ äußert: Die „Einheit der Räume“ gilt für bestimmte soziale Gruppen. Von einer „Einheit der Räume“ werde ich nicht ausgehen, da die Idee der Einheitlichkeit bei der vorzufindenden Komplexität und Vielfalt (der Räume) mir unpassend erscheint. Vielmehr werde ich die Merkmale der verschieden konstituierten Asyl-Räume in Typisierungen55 im empirischen Teil der Arbeit zusammenfassen. Diese Typisierungen sollen die Charakteristika der konstituierten Asyl-Räume beschreiben. Je nach Weite des Fokus, durch den 54 Vgl.: Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt/ Main 2001, S. 58f. Typisierung meint hier eine bestimmte Zusammenstellung von Merkmalen der Raumkonstitutionen. Die Merkmale stehen in Relation zueinander und gelten unter gewissen Rahmenbedingungen wie Kultur, Zeitpunkt. In dieser Arbeit werden sich die Typisierungen hauptsächlich auf Voraussetzungen zum Zugang bestimmter Räume in Form von „bourdieuschen“ Kapitalien, die eine Person zu einem bestimmten Zeitpunkt besitzt, beziehen. 55 31 ein soziales Gebilde betrachtet und analysiert werden soll (Gesellschaft, Kultur, Staat, soziale Schicht, Milieu, Geschlecht, Altersgruppe, Region, Stadt, Familie), sind Typisierungen gröber oder feiner ausgearbeitet. Mein Fokus fällt auf eine politisch definierte Gruppe, am ehesten vergleichbar mit dem „Milieu“, deren Räume sich, so meine Annahme, von NichtAsylbewerberInnen unterscheiden. Kurz geht Simmel ein auf Wirkungen von Weite des wahrgenommenen Raumes ein – hier wechselt er von einem abstrakten auf einen konkreten Raum-Begriff –, der seiner Meinung nach befreiende Wirkung auf die Menschen habe. Sobald Menschen sich im „freien Raum“, also außerhalb von Gebäuden oder „begrenzten“ Orten, aufhalten, empfänden sie Freiheit und Erlösung. Wenn das Auge in die Ferne schweife, finge die Seele an zu fliegen. Ein ähnliches Beispiel mit widersprüchlicher Interpretation der Raumwirkung der Weite findet sich in Richard Sennetts „Fleisch und Stein“. Er beschreibt in dem Kapitel, in dem es um die Folgen für Architektur und Stadtgestaltung während der Zeit der Französischen Revolution geht, dass offene, freie Plätze, die intentional als Zeichen der neuen Freiheit der Menschen gelten sollten, auf die Menschen beklemmend wirken würden.56 Diese entgegengesetzten Interpretationsweisen derselben Raumanordnung zeigen, wie subjektiv und an Erfahrungen gebunden Interpretationen von Raumqualitäten und ihren Auswirkungen auf die Menschen sind. Kontextgegebenheiten wie Zeitpunkt und Kultur sind notwendigerweise mitzudenken. Dunkelheit und Helligkeit als Raumqualitäten führt Simmel an, wobei er Dunkelheit, also Nacht-Räume, als beklemmend und befreiend zugleich beschreibt. In der Dunkelheit lägen zugleich Enge und Weite. Der Raum werde in der Dunkelheit zum Verschwinden gebracht, da visuelle Wahrnehmung stark begrenzt werden. Dadurch wird der Eindruck von Enge geschaffen, die Dunkelheit umhüllt die Person gänzlich. Gleichzeitig wird das Gefühl der Weite eines „unendlichen“ Raumes erzeugt, die Fantasie kann die Dunkelheit frei interpretieren. Das Verschwimmen der Grenzen, der Konturen erzeugt den Eindruck des Verschwinden des Raumes. Interessant sind Fragen nach Auswirkungen oder Ursachen von „einseitigen“ Konstitutionen der Tag-Räume bzw. der Nacht-Räume. Nacht-Räume sind in unserer Gesellschaft mit besonderen Zuschreibungen verbunden, mit ihnen werden bestimmte soziale Gruppen in Verbindung gebracht. Für die AsylbewerberInnen ist interessant, ob ihre Raumkonstitutionen stärker an Tag- oder Nacht-Räume gebunden sind und wie dies zu interpretieren ist. Inhalte sozialer Gestaltungen werden im Raum fixierbar und damit erkennbar, so Simmel. Ob wesentliche Gegenstände starr oder beweglich sind und in welcher Qualität der Bewegung sie 56 Vgl.: Sennett, Richard: Fleisch und Stein – Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation, Berlin 1995, S. 369ff. 32 sich befinden, bedinge den Raum im Sozialen. Als Beispiel möchte ich Gesetze, Regeln und Normen anführen, die als relativ starr und unbeweglich gekennzeichnet werden können. Durch sie werden Räume geformt und strukturiert. Dazu zählen Baunorm, Hausordnungen, Sitzordnung und Verhalten im Gerichtssaal, Diskussionsabläufe in öffentlichen Veranstaltungen etc., die situationsabhängig wenig Spiel-Räume lassen. Ich gehe von einer Wechselbeziehung zwischen Räumlichem und Sozialem aus, das Soziale kann das Räumliche beeinflussen, aber auch das Räumliche das Soziale. Die Gesamtheit sozialer Wechselwirkungen bezieht Simmel auch auf die sinnlich räumliche Nähe bzw. Distanz zu anderen Körpern (Gegenstände und menschliche Körper), die seiner Meinung nach diese Wechselwirkungen bestimmen. Das Maß der räumlichen Spannungskapazität sei abhängig vom Maß der Abstraktionsfähigkeit einer Gesellschaft, da erst über aufgebaute Vorstellungen Beziehungen auf Distanz erhalten werden können. Den Bezug zu Nähe und Distanz als Einflussfaktor auf die Gesamtheit sozialer Wechselwirkung ist z.B. für die Standorte der Gemeinschaftsunterkünfte relevant, die in dieser Arbeit allerdings nicht einfließen. Intellektualität stifte häufig Nähe zum sinnlich und räumlich Entfernten. Dies zeigt, dass Simmels Raum-Begriff nicht den Vorstellungs-Raum impliziert, da die Distanz sich auf physische Distanz beschränkt. Unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen pflegen unterschiedliche Umgangsarten mit z.B. physischer Nähe zueinander, was ein Charakteristikum einer sozialen Gruppe sein kann. Diese Arten der physischen Nähe sind m.E. Zeichen der gesellschaftlichen Stellung dieser (in Abhängigkeit gesellschaftlicher Strukturen und Machtverhältnisse). Simmel stellt die ständige Bewegung räumlicher Gegebenheiten heraus. Bewegung im Raum, Differenziertheit persönlicher und sozialer Daseinsinhalte seien voneinander abhängig, denn durch ständige Bewegung – als Reisender oder Nomade – seien die Differenzgefühle täglich gedeckt, da sie ständig Abwechslung und Neuigkeiten erleben. Bei Sesshaften müssen die Differenzgefühle anders gedeckt werden, d.h. die innere und/oder äußere Bewegung auf andere Weise geschaffen werden. Für AsylbewerberInnen kann keine ständige Bewegung festgestellt werden. Ihre Flucht ist von Bewegung gekennzeichnet, doch seit ihrem Aufenthalt in Deutschland sind sie an eine Stadt, an eine Gemeinschaftsunterkunft gebunden. Gerade in dieser starken erzwungenen Ortsgebundenheit ist interessant nach den Möglichkeiten der Differenzgefühle, der benötigten Bewegungen zu fragen. 33 2.1.2 Pierre Bourdieu Ich stütze mich in dieser Arbeit in vielen Teilen auf die Ausführungen Pierre Bourdieus. Der Begriff des „sozialen Raums“ bei Bourdieu bewegt sich auf einer metaphorischen Ebene. Der von mir verwendete Raum-Begriff ist in konkreten Situationen erfahrbar und sinnlich wahrnehmbar. Ich werde Aspekte der Raumkonstitution der AsylbewerberInnen als Rückschlussmöglichkeit auf das Soziale betrachten, mich auf einer anderen Ebene des Raum-Begriffs befinden. Der „soziale Raum“, der allein das Soziale nicht ausreichend beschreiben kann, existiert bei Bourdieu neben physischem und angeeignetem Raum. Diese drei Raum-Begriffe grenzt er analytisch voneinander ab. Soziale Positionen in diesem sozialen Raum, den auch er als „Behälter“ denkt und beschreibt, nimmt er als distinguiert, also sich gegenseitig abgrenzend, an.57 Ich gehe faktisch von einer Verzahnung, von Relationen zwischen materiellem und sozialem Raums aus, die analytisch trennbar sind. Eine Annahme ist, dass in den wahrnehmbaren Spuren, Soziales erkannt und erforscht werden kann. Bourdieu arbeitet in seinen Studien empirisch (z.B. in seinem Buch „Das Elend der Welt“) und schlussfolgert so von sinnlich Erfassbarem auf den abstrakten „sozialen Raum“. Von Bourdieu beschriebene Mechanismen und Einwirkungen des Sozialen und auf das Soziale werde ich im weiteren aufgreifen, da sie mir sinnvoll erscheinen. Bourdieu skizziert die soziale Welt als Abstraktum, als Metapher als mehrdimensionalen Raum, dem bestimmte Unterscheidungs- und Verteilungsprinzipien (insbesondere der Verteilung der Kapitalien) zugrunde liegen, nämlich die Gesamtheit der Eigenschaften, die innerhalb eines bestimmten sozialen Universums anzufinden seien. Diese Eigenschaften können den TrägerInnen Macht und Stärke (oder: Ohn-Macht und Schwäche) verleihen, anhand derer die AkteurInnen oder soziale Gruppen in ihrer relativen Stellung im sozialen Raum definiert seien.58 Die Verteilungsprinzipien beziehe ich auf die der Kapitalien59, die im Falle der AsylbewerberInnen in konkreter Weise zu- bzw. abgesprochen werden. Das bestimmte soziale Universum 57 Vgl.: Bourdieu, Pierre: Physischer, sozialer und angeeigneter Raum in: Wentz, Martin (Hg.): Stadt-Räume (Die Zukunft des Städtischen Band 2), Frankfurt/ Main/ New York 1991, S. 26-34. 58 Vgl.: Bourdieu, Pierre: Sozialer Raum und „Klassen“ – Zwei Vorlesungen, Frankfurt/Main 1985, S. 9ff. 59 Pierre Bourdieu entwickelte ein Konzept, in dem die Bedeutungen unterschiedlicher „Kapitalien“, die jede Person zu einem bestimmten Zeitpunkt besitzt. Die drei, auf die ich mich im weiteren beziehen werde, lauten: kulturelles, ökonomisches und soziales Kapital. Die Wertungen und Bedeutungen der Kapitalien in einer Gesellschaft sind wandelbar und spiegeln mit Verteilungsprinzipien auf einzelne soziale Gruppen u.a. die Machtverteilungen in ihr wider. Alle drei Kapitalien stehen in wechselseitiger Relation zueinander und bedingen sich gegenseitig. Qualität und Bedeutung, Verteilung und Wahrnehmung der einzelnen Kapitalien bi der Gruppe der AsylbewerberInnen soll Teil der Forschungsarbeit werden. Bourdieu führt aus, dass neben kulturellen (Kenntnisse und Fertigkeiten in Gepflogenheiten, Traditionen, Rituale, Sprache etc. einer Kultur), sozialen (Beziehungsnetzwerke, um an gewünschte Ressourcen o. ä. zu gelangen), symbolischen (Titel, Bildungsabschlüsse u.ä.) und ökonomischen (finanzielle und materielle Ressourcen wie 34 zu definieren, stößt aufgrund von Erweiterungen dieses Universums durch „neue Medien“ oder „Mobilität“ auf Schwierigkeiten in ihren Grenzdefinitionen. Des weiteren können bei Bourdieu die Relationen in den relativen Stellungen im sozialen Raum näher erläutert werden. Die Relationen zwischen den Positionen im sozialen Raum können die „Verteilungskämpfe“ konkretisiert werden. Auch wenn Bourdieu seinen Ansatz auf eine momenthafte, gegenwärtige Anordnung im sozialen Raum bezieht, so kommt die dynamische Komponente, die Bewegtheit, die soziales Leben auszeichnet, kurz. Es mag sein, dass gerade die Statik des Sozialen, die Bourdieu impliziert, gesellschaftskritisch ist und eine treffende Beschreibung der Gesellschaften, doch sind die Bewegungen der AsylbewerberInnen nach ihrer Anerkennung im „sozialen Raum“ erkennbar: Arbeitsmöglichkeit, eigene Wohnung u.ä.. Die Koordinaten und deren Werte im sozialen Feld bestimmen die Positionen der AkteurInnen im „sozialen Raum“. Auf der ersten Raumdimension siedelt Bourdieu den Besitz der Kapitalien in Abhängigkeit vom Gesamtumfang der Kapitalien an, auf der zweiten die Zusammensetzung der Kapitalien bezogen auf das Gesamtvolumen. Diesen Besitz und Zusammensetzung der Kapitalien werde ich für die AsylbewerberInnen erfassen und deren Bedeutung für ihre gesellschaftliche Stellung formulieren. Die Bedeutung der Kapitalien und ihrer Verteilung bezüglich der Macht und der Möglichkeiten, Einfluss auszuüben, ist groß. Erweitern möchte ich „die Verfügungsmöglichkeit der Kapitalien“ auf die Möglichkeiten, diesen Kapitalien Ausdruck zu verleihen, sie anzuwenden. Finanzen, Eigentümer etc.) Kapitalien auch weitere Teilungsprinzipien Geltung erlangen bei der „Stellung einer sozialen Gruppe im (abstrakten) sozialen Raum“. In: Bourdieu, Pierre: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital in: Kreckel, Reinhard: Soziale Ungleichheiten – Sonderband 2 der Sozialen Welt, Göttingen 1983. Für meine Untersuchungsgruppe, die der Dresdner AsylbewerberInnen, ist ersichtlich, dass auch diese anderen Teilungsprinzipien Bedeutung erhalten. Denn trotz beispielsweise umfangreicher kultureller (meist Beherrschung mehrer Sprachen, Kenntnisse der Gepflogenheiten von mindestens zwei Kulturen) Kapitalien nehmen die AsylbewerberInnen in unserer Gesellschaft keine mächtige Stellung im „abstrakten, sozialen Raum“ ein. Das kulturelle Kapital „Deutschkenntnisse“ beispielsweise wird seitens von Deutschen meist mit einem Lächeln abgetan, den Worten keine Ernsthaftigkeit durch das Zuhören verliehen, ungeduldig die „Rede“ unterbrochen. Dieses Kapital ist für Deutsche Grundbedingung, ein sehr verbreitetes Kapital, dessen Fehlen stark auffällt und verpönt ist. Ohne Deutschunterricht und ohne Kontakt zu Deutschen können sie dieses Kapital sich nicht aneignen. Engere Beziehungen zu Deutschen sind also schwer aufzubauen. Die in Gemeinschaftsunterkünften arbeitenden freiwilligen HelferInnen bleiben meist nur einige Monate im Heim und sind in einer HelferInnen-Position (PraktikantInnen, Zivildienst o. ä. ). Die AsylbewerberInnen befinden sich in diesen Relationen stets auf der abhängigen, machtlosen Position. Über ökonomische Kapitalien, die Einfluss auf Aneignung und Verfügung über die anderen Kapitalien in westlichen Industrieländern haben, verfügen AsylbewerberInnen maximal in ihrem Heimatland. Das ökonomische Kapital im Heimatland kann hier nicht zum Tragen kommen, zumal der „Währungsumtausch“ ihr beträchtliches ökonomisches Kapital zum Schrumpfen bringt, es wird ihnen nur ein bescheidenes Taschengeld zuteil (variiert zwischen 10,- bis 40,- € monatlich), ihre symbolischen Kapitalien wie Titel und Berufs- oder Schulabschlüsse werden ihnen meist nicht anerkannt, hilfreiches soziales Kapital besitzen sie in der Anfangsphase oftmals nicht. Gerade die Aneignung dieses für ihr Wohlbefinden, die Entwicklung ihrer Deutschkenntnisse und ihr „Ankommen“ in einem fremden Land sehr bedeutsames Kapital wird ihnen schwer gemacht. Das Teilungsprinzip der Staatsangehörigkeit, des Aufenthaltsstatus wird zur relevanten Größe, die das Leben der AsylbewerberInnen bestimmt. 35 Dies ist die zweite wesentliche Komponente bei der Verortung von Gruppen. Alle Fremdsprachenkenntnisse (kulturelles/symbolisches Kapital) werden ohne Wirkung auf das (Sozial) Leben bleiben, können sie aufgrund fehlender Kontakte nicht angewendet werden. Es wären z. B. soziale Kapitalien (Kontakte, Arbeitserlaubnis) oder symbolisches Kapital (Anerkennung der Titel und Abschlüsse in unserer Gesellschaft) notwendig, um eine Arbeitsstelle o. ä. zu bekommen, in der diese Fertigkeiten Geltung erlangen können. Die Stellungen der Klassen im sozialen Raum seien stets umkämpft. Die Klassen seien mit der Abgrenzung von anderen Klassen beschäftigt und kämpften beständig um den „sozialen Aufstieg“ oder den Erhalt der sozialen Stellung. Sozialen AufsteigerInnen, so Bourdieu, sehe man „ihre Kletterei“ an.60 Für die Gruppe der AsylbewerberInnen ist die Frage der Stellung nicht sehr bedeutsam bzw. sind die Kämpfe um sie nicht als „Kämpfe“ zu bezeichnen. Einerseits sind viele AsylbewerberInnen nur wenige Monate bis Jahre in Deutschland, andererseits können sie sich in einigen Aspekten nicht verorten oder um ihre Stellung kämpfen, weil ihnen Rechte und Kapitalien nicht zur Verfügung stehen, um eine von anderen sozialen Gruppen wahrgenommene Stellung erst einnehmen zu können. Diese wird ihnen per Gesetz zugeteilt, sie müssen sich „kampflos“ in diese begeben, welche in einer Hierarchie am unteren Ende zu finden ist. Die Relationen zwischen geografischem und sozialem Raum erwähnt Bourdieu. Damit bewegt er sich in Richtung meiner Annahme einer „Verzahnung“ von Sozialem und Physischem. Er beschreibt, diese beiden Räume seien niemals deckungsgleich, doch wiesen sie Ähnlichkeiten auf (z.B. Peripherie-Zentrum, Nähe-Distanz). Auf die Bedeutung des symbolischen Kapitals (Maß der Anerkennung durch ein soziale Gruppe) beim Kampf um die legitime Sicht von sozialer Welt verweist Bourdieu.61 Das Maß der Anerkennung der AsylbewerberInnen werde ich bezüglich ihrer „Sichtbarkeit“ in öffentlichen Medien anschneiden, aber nicht in dieser Arbeit erforschen. Dazu fehlen mir Ressourcen. Die Perspektive der AsylbewerberInnen bezüglich ihrer Einschätzung, wie und in welchem Maß sie anerkannt sind in Deutschland, wird einfließen. Dass Staat und machtvolle soziale Gruppen beim Erstellen der Rangordnungen sozialer Welt einflussreicher sind, fügt sich in meine Arbeit als Annahme ein. Ich gehe von einer Beeinflussung der rechtlichen Strukturen, die durch staatliche Machtinstitutionen (re-)produziert werden, auf räumliche und soziale aus, die ich als Rahmen der Arbeit betrachte. Diese Beeinflussung ist der Einfluss des Staates (manifestiert in Gesetzen) auf eine bestimmte soziale Gruppe in der sozialen Welt: Deutschland. 60 61 Vgl.: Bourdieu, Pierre: Sozialer Raum und „Klassen“ – Zwei Vorlesungen, Frankfurt/Main 1985, S. 13. Vgl.: Bourdieu, Pierre: Sozialer Raum und Klassen – Zwei Vorlesungen, Frankfurt/ Main 1985 S. 23f. 36 2.1.3 Bezug zum Forschungsthema Die Beschreibungen des Raumes mit seinen Qualitäten sind Grundlage der empirischen Auswertungen dieser Arbeit. Die von Simmel geäußerte Annahme, soziale Gestaltungen wirken auf das Räumliche, erweitere ich auf eine Wechselbeziehung zwischen Räumlichem und Sozialem. Bewegung möchte ich differenzieren in Bewegung der konkreten Körper und Bewegung von Sozialem, Räumlichem. Ich betrachte in Beobachtungen Bewegungen von in Situationen wahrnehmbaren sozialen Gütern oder Personen. Durch Interviews und durch Beobachtungen versuche ich Institutionalisierungen, Strukturen, also das primär Statische, Unbewegte, zu erforschen unter berücksichtigter Möglichkeit von Bewegungen derer. Bourdieus Begriffe des „sozialen, angeeigneten und physischen Raums“ enthalten wichtige Denkanstösse für diese Arbeit. Die Schwerpunktverlagerungen in Bezug zu seinem RaumBegriff, sind: Ich untersuche den wahrnehmbaren, den empirisch erfassbaren Raum, der von Personen in Situationen konstituiert wird in Wahrnehmungen, Vorstellungen etc., von dem ich u.a. auf Soziales schließen kann bzw. der von Sozialem beeinflusst ist. Aus diesen konkreten Raumkonstitutionen versuche ich Ordnungen, Gemeinsamkeiten von Aspekten der AsylRäume zu abstrahieren. Zum anderen sind Bourdieus „Stellungen im (abstrakt) sozialen Raum“ an kämpferische Abgrenzungen der Gruppen untereinander orientiert. Den AsylbewerberInnen fehlt der Spielraum und die Möglichkeiten zum Kampf, die Begrenzungen sind durch den starken Einfluss der rechtlichen Strukturen auf räumliche und soziale lassen keine Kämpfe zu. Mein Fokus wird in der Selbstbeschreibung der „Position der AsylbewerberInnen“ liegen. Auch hier erscheint der Gedanke, dass die Verteilung und Anwendbarkeit der Kapitalien gesellschaftliche Strukturen und damit die (Asyl-)Räume bestimmen. Des weiteren gehe ich von einer Einflussnahme der rechtlichen Strukturen (Staat) auf räumliche, soziale aus, die in dieser Untersuchung „einseitig“ Macht ausüben. 2.2 Auseinandersetzungen mit dem von mir angewendeten Raum als Begriff Der Raum als analytisch und empirisch erfassbarer Begriff war für die Soziologie nicht vorhanden. In der Theorie einen Überblick verschaffend und richtungsweisend verstehe ich Martina Löws Begriffsauffassung von Raum. Ihr Raum-Begriff ist empirisch erforschbar. 37 Erst möchte ich auf verschiedene allgemeine Aspekte des Raumes eingehen, bevor ich zur ausführlichen Diskussion des von mir modifizierten Löwschen Raum-Begriffs komme. Das Phänomen der Gleichzeitigkeit der Räume, die in medienvermittelten Räumen besonders einleuchtend seien, da sich der Körper in einem, die Gedanken und Vorstellungen in einem anderen Raume befänden, bemerkt Vilém Flusser als Zeichen von räumlichen und zeitlichen Grenzen, hinter denen der Sinn verloren ginge.62 In wie weit der Sinn verloren geht, ist diskussionswürdig, denn die Gleichzeitigkeit der Räume wird aus der Eigenperspektive der Raumkonstituierenden wahrscheinlich nicht als Sinnentleerung definiert. Diesem Gedanken Flussers kann Löw einen Raum-Begriff entgegenhalten, der nicht mehr örtlich beschränkt ist, sondern dessen Synthese sinnlich vollzogen und somit die Ortsgebundenheit des Raumes aufgelöst wird. Bleibe ich bei der Annahme, dass mehrere Räume gleichzeitig „betreten“ werden können und unterschiedlich charakterisiert sind (Bibliotheksraum und Chatraum zu gleicher Zeit sind von verschiedener Art), bedeutet diese Gleichzeitigkeit keine Sinnentleerung in der lebensweltlichen Perspektive. Es wird vielleicht Beliebigkeit oder „Möglichkeitsflut“ wahrgenommen werden, die faktisch aufgrund der Gebundenheit an die soziale Stellung selten vorhanden ist. Die Raumeinteilungen, -typisierungen in öffentlich und privat sind als Dichotomie schwer vertretbar, da sich derart definierte Bereiche und damit Begriffsumgrenzungen im Wandel befinden. Halböffentliche Institutionen, die einiger Voraussetzungen zum Zutritt bedürfen, nehmen zu: das Kino als halböffentliche Institution erfordert z.B. ökonomisches Kapital wie Geld und kulturelles wie Sprachkenntnisse. Öffentliche Räume bedürfen keiner Voraussetzung zur Partizipation, halböffentliche bestimmter Voraussetzungen, die meist in Form von ökonomischem oder kulturellem/symbolischem Kapital vorhanden sein muss. Private Räume bedürfen meist sozialen Voraussetzungskapitalien zum Eintritt in diese, d.h. ich muss Beziehungen zu Personen, die in dieser Wohnung wohnen oder zu ihnen bekannten bzw. befreundeten Personen besitzen, um Zugang zu einer Wohnung zu bekommen. Auf eine dem Privaten zugeordnete räumliche Struktur, das Wohnen, werde ich [siehe Kapitel II.3.2)] eingehen. In der Tendenz kann eine Auflösung der Grenzen zwischen privaten und öffentlichen Räumen festgestellt werden. Hier teile ich die Einstellung Flussers, der die Einteilungen in öffentlichprivat für den Raum- bzw. für den Zeit-Begriff für nicht mehr nachvollziehbar hält. Die Gründe seiner Einschätzung gehen aus einem Aufsatz nicht hervor.63 62 Vgl.: Flusser, Vilém: Raum und Zeit aus städtischer Sicht in: Martin Wentz (Hg.): Stadt-Räume (Die Zukunft des Städtischen Band 2), Frankfurt/ Main/ New York 1991, S. 20-24. 63 Vgl.: Flusser, Vilém: Raum und Zeit aus städtischer Sicht in: Martin Wentz (Hg.): Stadt-Räume (Die Zukunft des Städtischen Band 2), Frankfurt/ Main/ New York 1991, S. 20-24. 38 Ich werde statt dieser Einteilung der Räume Voraussetzungen (insbesondere in Form von Kapitalien) erarbeiten, die zur Konstitution von bestimmten Räumen wichtig sind. Ich versuche, Charakterisierungen (Typisierungen) der von Asyl-Räume in dieser Arbeit zu entwerfen, die Unterschiede der Räumen durch ihre Merkmalen sucht. Der empirisch fassbare Begriff des Raumes, dessen Definition die Grundlage dieser Arbeit bildet, wird von Löw intensiv behandelt. Sie kommt zu dem Schluss, Raum werde von einer „handelnden Person konstituiert“ als „Synthese von sozialen Gütern, anderen Menschen und Orten in Vorstellungen, durch Wahrnehmungen und Erinnerungen, aber auch im Spacing durch Plazierung (Bauen, Vermessen, Errichten) jener Güter und Menschen an Orten in Relation zu anderen Gütern und Menschen.“64 Vorab möchte ich das vorgeschlagene Konzept des Raumes in wenigen Punkten modifizieren. Ich möchte den Begriff der Erwartung (dieser Begriff erscheint mir deutlicher als der der Vorstellung, der sich ebenfalls auf Zukünftiges beziehen kann) einführen. Die Erwartung holt die Bedeutung der Zukünftigkeit in das Moment der Gegenwart, das in der Situationsbeschreibung Löws als dritte zeitliche Dimension in meiner Lesart nicht deutlich genug hervortritt. Das Vergangene spielt in vielen Fällen während des Synthetisierungsprozesses und schließlich bei Platzierungen des eigenen Körpers oder der Verhaltensweisen eine Rolle. Zum anderen werde ich die Eigenwahrnehmung als besondere Art der Wahrnehmung einbeziehen, die stets Teil der Wahrnehmung ist. Die handelnde Person ist selbst Teil ihres Synthetisierungsprozesses, womit die Trennung zwischen ihr und dem Raum aufgehoben wird. Da meiner Meinung nach Platzierung statisch gedacht wird, werde ich einer dynamischen Variante, einer Bewegtheit im Raum, z. B. eine Bewegtheit während einer Situation, Ausdruck verleihen. Ziel ist für mich eine Raumdefinition, die sowohl Erstarrung, als auch Bewegung des sozialen Lebens und somit Erstarrungen (u.a. Strukturen) und Bewegungen des Raumes erfassen kann. Da Lokalisierung im Orts-Begriff beinhaltet ist, werde ich Direktionalisierung als Bewegung, deren Richtung angegeben werden kann, in das Konzept des Raumes aufnehmen. Außerdem scheint mir der Begriff der Positionierung wichtig, denn dieser beschreibt die Lage, die Ausrichtung, die Haltung eines sozialen Gutes wie beispielsweise Gebrauchsgegenstände oder einer Person. Änderungen des Spacings (gemeint sind Raum-Anordnungen), hier als das situationale, bewegte Positionierungen der eigenen oder der Körperhaltung von anderen im Raum anwesenden Personen gemeint, sind in einigen Fällen weder intentional noch motivational und fallen damit nicht unter den Handlungsbegriff. Diese Körperhaltungen müssen als soziales Verhal64 Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt/ Main 2001, S. 263. 39 ten definiert werden, das Auswirkungen auf Raumkonstitution oder Verhalten von anderen Personen haben kann. Ich nehme an, dass die raumkonstituierende Person sich sozial verhält und nicht stets bewusst, mit intendiertem Sinn handelt. Deswegen erweitere ich das beschreibende Gerundium handelnd durch sich sozial verhaltend und lasse offen, ob die Person sinntendierend oder bewusst handelt oder sich verhält. Den Raum wird sie in jedem Fall konstituieren. Die modifizierte Löwsche Annahme lautet nun: Raum wird von einer sich sozial verhaltenden Person konstituiert als Synthese von sozialen Gütern, anderen Menschen, der eigenen Person und Orten in Vorstellungen, durch (Eigen-) Wahrnehmungen, Erinnerungen und Erwartungen, aber auch im Spacing durch Platzierung (Bauen, Vermessen, Errichten), Direktionalisierung oder Positionierung jener Güter und Menschen an Orten in Relation zu anderen Gütern und Menschen. 2.2.1 Der Verhaltens- und Handlungsbegriff Verhalten umschließt soziales Verhalten und Handeln. In dieser Arbeit wird hauptsächlich mit dem Begriff des sozialen Verhaltens umgegangen werden. a) Das Verhalten Verhalten kann im Gegensatz zum Handlungs-Begriff unbewusst und unintendiert sein. Es kann somit nicht nur über Reflexe und Instinkte des Menschen Aufschluss geben, sondern auch über un(ter)bewusste, eingeübte Verhaltensweisen, die die persönliche und soziale Lage widerspiegeln. Die Lebensumstände, die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe prägen Einstellungen, Weltsicht, Geschmack, Raumaneignung, Raumwahrnehmung und auch Körperhaltungen (dies trifft im wahrsten Sinne des Wortes das Konzept Bourdieus der „Inkorporationen“), die seiner Meinung nach zum großen Teil unreflektiert in das Verhalten der Personen eingehen. Diese unbewussten, unreflektierten Muster, Prägungen gilt es, auch in der Soziologie, sichtbar zu machen. Das ist das Bourdieusche Konstrukt des „Habitus“, das bei ihm kollektives Klassen-Unterbewusstsein, das auf Erfahrungs-, Wahrnehmungsschemata aufbaut, und so die Grundlage und die Auswirkung einer Klasse ist.65 Der Gedanke des Habitus wird durch eine Abfolge von Regungen im habituellen Verhalten ergänzt. Die nach Bourdieu „erste Regung“, mit der das Instinkthafte, Unbewusste, Automatisierte gemeint ist, sei für uns selbst schwer kontrollierbar. Es bedürfe intensiver Arbeit (The- 65 Vgl.: Eder, Klaus : Klassentheorie als Gesellschaftstheorie, in: Eder, Klaus (Hg.): Klassenlage, Lebensstil und kulturelle Praxis, Frankfurt/ Main 1989, S. 29ff. 40 rapie o. ä. ) und Selbstreflexion, um diese Regungen aufspüren zu können, sie bewusst und eigenkontrollierbar zu machen. Die „zweite Regung“ allerdings, nämlich die reflexive Analyse, die lehrt, dass wir Situationen selbst einen Teil der Macht geben, die sie über uns hat, ermöglicht eine Veränderung vorerst der Wahrnehmung der Situation. Nach dieser Veränderung kann eine Verhaltensänderung folgen. Anschlussfähig ist in diesem Punkt m.E. der Gedanke, dass mit der Verhaltensänderung die Wahrscheinlichkeit wächst, dass die Position im „sozialen Raum“ geändert werden kann. Es wird der Schritt vom Unbewussten zum Bewussten getan, der KritikerInnen Bourdieus (in diesem Punkt kritisiere auch ich Bourdieu) entgegengehalten werden kann, die ihm ein deterministisches Weltbild und eine Unmöglichkeit von Veränderungen vorwerfen.66 Dies Konstrukt gilt sowohl für „Klassen“ als auch für Gruppen von AkteurInnen und für einzelne AkteurInnen. Der Versuch, einen Habitus für AsylbewerberInnen zu erarbeiten, wird an der Heterogenität der Gruppe und daran scheitern, dass ich weder tiefenpsychologisch geschult noch ein Habitus innerhalb von wenigen Monaten, frühestens nach einigen Jahren (einige der AsylbewerberInnen leben erst mehrere Wochen, andere viele Jahre in den Gemeinschaftsunterkünften) ausgebildet werden kann. Internalisierungen bzw. Inkorporierungen brauchen einige Zeit, um sich als solche in das Verhalten von Menschen eingeschrieben zu haben. b) Soziales Verhalten Soziales Verhalten beinhaltet in dieser Definition sowohl Bewusstseinsprozesse, als auch Kommunikationsformen und unbewusste, inkorporierte Verhaltensweisen. Voraussetzung für soziales Verhalten ist, dass das Verhalten entweder seitens der sich verhaltenden Person bewusst nach außen gerichtet und sozial gemeint ist und/oder von einer weiteren Person als sozial wahrgenommen, erinnert, vorgestellt wird und/oder es sich um unbewusste Verhaltensweisen handelt, die bedingt sind durch die (ehemalige) Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe und somit sozial „überschrieben“ sind im Sinne eines Habitus, im Sinne von Inkorporierungen. Bezüglich eines Informationsaustauschmodells kann von sozialem Verhalten gesprochen werden, sobald eine der beteiligten Personen die Information als sozial definiert (EmpfängerIn oder SenderIn). Ab diesem Zeitpunkt ist das Soziale und das Räumliche beeinflusst worden. Soziales Verhalten beinhaltet somit jede Form der Raumkonstitution ähnlich wie bei Löw der Handlungs-Begriff.67 66 67 Vgl.: Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt/ Main, Suhrkamp Verlag 2001, S. 187f. Vgl.: Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt/ Main 2001, S. 159f. 41 c) Das Handeln Der Handlungs-Begriff Jürgen Habermas beruht auf Diskursen, auf Informationsaustausch. Auf seinen idealtypischen Begriff des „kommunikativen Handelns“ werde ich nicht eingehen.68 Der Gedanke des Informationsaustauschs scheint mir für einen Begriff von „sozialem Verhalten“ sehr hilfreich. Habermas Annahmen ermöglichen es, dass eine Information unintendiert von einer Person ausgesandt, die von einer weiteren (zeitversetzt) aufgenommen wird. Es ist nur notwendig, dass entweder EmpfängerIn und/oder SenderIn einer Information diese als sozial definiert bzw., um in Habermas Begrifflichkeiten zu bleiben, als Handeln gelten darf. D. h. Platzierungen als von Personen konstruierte und errichtete Gebäude, Straßenzüge u.ä. sind immer sozial. Positionierungen z.B. als Körperhaltungen oder Anordnungen von Möbelstücken in einer Wohnung und Direktionalisierungen als Bewegungsrichtungen von Körpern sind unter der Voraussetzung sozial, dass soziales Verhalten bzw. Handeln im Habermaschen Sinne vorhanden ist. Handlungen sind, so eine Begriffsdefinition im „Soziologischen Lexikon“ alle menschlichen Verhaltensweisen soweit sinnhaft, intentional, motivational und zielgerichtet auf äußere Dinge, um diese zu beeinflussen.69 Dabei kann (die bewusste) Unterlassung einer Verhaltensweise auch Handlung sein. Dieser Definition des Handlungsbegriffes schließe ich mich an, doch sehe ich Schwierigkeiten in empirischen Arbeiten, Motivation, Intention, Sinn und Ziel von Handlungen einer Person nachvollziehen zu sollen bzw. von der Erfüllung der vier Komponenten ausgehen zu können. Aus diesem Grund und bereits genannten möchte ich den Handlungs-Begriff in den des sozialen Verhaltens einschließen, um einer empirischen Erfahrbarkeit entgegen zu kommen und der m. E. „idealtypischen“ Konstruktion des Handlungs-Begriffs einen „existenten“ sozialen Verhaltens-Begriff entgegen zu setzen. Unter Handlungen verstehe ich keine mündlichen oder schriftlichen Kommunikationen, außerdem schließe ich reine Bewusstseinsprozesse (wie Denk-, Erinnerungs-, Vorstellungs- oder Synthetisierungsleistungen) aus meinem Handlungs-Begriff aus. Raumkonstitution ist erst dann Teil einer Handlung, wenn bewusstes und sinnhaftes Direktionalisieren, sinnhaftes Positionieren oder Platzieren (Planen oder Errichten von Gebäuden, Plätzen, Straßen etc.) vorhanden sind. Die Funktionen, die Aus- und Einwirkungen der Handlungen, die Bedeutungen und der Sinn der Handlungen für die handelnde Person und/oder für ihre Umwelt (impliziert auch Mitmen68 69 Vgl.: Reinhold, Gerd (Hg.): Soziologie-Lexikon, München/ Wien 2000, S. 250f Vgl.: Reinhold, Gerd (Hg.): Soziologie-Lexikon, München/ Wien 2000, S. 249. 42 schen) variieren. Die Bedeutung und Sinn einer Handlung kann die Person für sich definieren, die Forschenden sind auf die kommunizierten Informationen der Handelnden angewiesen bzw. können u.U. diese aufgrund von Vorwissen oder des Kontextes interpretativ extrahieren. Alles Verhalten und alle Handlungen äußern sich räumlich. Es variieren die Intensitäten der Gewichtung von Synthese und Platzierung, die Handlungen bestimmen. Die Deutung und Wertung der Synthese der handelnden Person wirkt handlungsweisend für sie. Ihnen entsprechend handelt die Person, entsprechend ihren Wahrnehmungen, Erinnerungen und Erwartungen, die zum Raum synthetisiert werden, positioniert sich die handelnde Person. Dieser Vorgang muss prozessual verstanden werden, denn aufgrund der eigenen Positionierung verändert sich der Raum. Wahrscheinlich (re)agieren andere Personen auf die Veränderungen im Raum. Daraufhin wird die handelnde Person (re-)agieren, die Synthese verändert sich. Die Platzierungen des Körpers der handelnden Person verändern sich ebenfalls. Hier wird deutlich, dass jede Handlung eine Veränderung der Platzierung mindestens des Körpers der handelnden Person zur Folge hat. Platzierungen, die sich während einer Situation häufig ändern, der handelnden Person und auch die anderer handelnder Personen, sind Teil der Handlungen. Es muss abgestuft werden in Dynamik und Statik der einzelnen Spacings. So sind die Platzierungen, die mit einer langen Zeitdauer verbunden sind, eher statisch und in Situationen kaum veränderbar. Beispielweise ist der Grundriss einer Wohnung, die Wandfarbe, die Tischordnung in einem Restaurant oder Bibliothek, die Innenausstattung eines Fahrstuhls o. ä. dauerhaft und in einer Situation kaum veränderbar. Daher wirken sie auf die raumkonstituierenden Personen oftmals unbewusst, haben aufgrund ihrer Statik eine hohe Wirkungsmacht auf das Soziale. Auf der anderen Seite bieten z.B. tänzerische Darstellungen ein hohes Maß an Dynamik, in denen sowohl die Platzierungen der Menschen als auch gegebenenfalls der sozialen Güter (durch Requisiten teils symbolisiert) im ständigen Fluss und Bewegung sind. Bei ihnen ist der statische Teil der Situation – nämlich eine Art Bühne oder zumindest freie Fläche – bedeutungsschwach und lediglich „Grundlage“ der Raumkonstitution. Der vom sich sozial Verhaltenden oder Handelnden für ihn ständig synthetisierte, gespacte und konstituierte Raum hat Einfluss auf dessen weiteres Verhalten, Handeln. Letzteres wirkt sich wiederum auf Synthese und Spacing des Raums aus. Abstufungen in der jeweiligen Einflussnahme sind vorhanden, diese werde ich in dieser Arbeit näher untersuchen. 43 2.2.2 Die Synthese in Vorstellungen, durch Wahrnehmungen, Erwartungen und Erinnerungen Ich werde im Verlauf meiner Arbeit immer wieder Ausflüge in andere Fachgebiete unternehmen, um einerseits vielseitige Perspektiven auf ein Thema einzunehmen und damit der Gefahr der Einseitigkeit entgegenzuwirken, andererseits um Parallelen zur Soziologie zu finden. Ich werde versuchen, für eine soziologische Forschung Relevantes aufzugreifen. Beginnen möchte ich an dieser Stelle mit Anlehnungen an die Psychologie, die einiges bezüglich der Synthese von sozialen Gütern erforscht hat. Ich betone die Verbindungen zwischen Raum und Gefühl an dieser Stelle, da Erinnerungen, Vorstellungen, Erwartungen und Wahrnehmungen Gefühle und Emotionen auslösen, verstärken oder verringern können. Die Wahrnehmungen können Emotionen hervorrufen, die wiederum je nach Intensität weitere Handlungen, Verhaltensweisen bestimmen. Oder die Wahrnehmungen rufen (un-)bewusst Erinnerungen, Vorstellungen, Gedanken, Erwartungen hervor, die bereits vorhandene Handlungsmuster (auch den Habitus) aktivieren und so eine Handlungssicherheit geben können oder Verweise auf ähnliche Situationen geben, nach denen je nach Erfahrungsbewertung wieder gehandelt oder gerade nicht gehandelt wird. Auffällig ist, dass Empfindungen in der Sprache häufig räumlich besetzt sind. Dies ist Indiz für die Symbolhaftigkeit des Spacings [siehe Kapitel II.2.4)], das in der Kopplung an sprachliche Ausdrücke Grundlage des Sinns der Ausdrücke ist: „in die Tiefe gehen“, „Abstand wahren“, „sich annähern“, „engstirnig oder weitschweifig sein“ u. ä..70 So wird es auch auf sprachanalytischem Wege mittels Interviews möglich, der Synthese des Raumes, dessen charakterisierende Eigenschaften aufzuspüren und sie zu interpretieren. Um die Raumkonstitution und die Synthese von Räumen zu konkretisieren, gehe ich auf Wahrnehmungen, Erwartungen und Erinnerungen ein. Diese erzeugen Vorstellungen und Räume bei den Personen, die Einfluss auf Verhalten, Gefühle und die Situation nehmen. Räumliche, rechtliche und soziale Strukturen wirken gegenseitig aufeinander und bestimmen sich. Die Wahrnehmung: Die Sichtbarkeit „Wenn die anderen euch bedeuten, dass ihr nicht zählt, weil eure Eltern nicht zählen, dass sie nicht existieren, weil sie nicht sichtbar sind, dann fühlt ihr euch unversehens als Waise und, manchmal, auch verantwortlich dafür, es zu sein.“71 70 71 Vgl.: Michel, Paul (Hg.): Symbolik von Ort und Raum – Schriften zur Symbolforschung, Bern 1997, S. viiif. Kristeva, Julia: Fremde sind wir uns selbst, Frankfurt/ Main 1990, S. 31. 44 a) Die Wahrnehmung Personen synthetisieren unentwegt Räume.72 Wahrnehmung kann zwischen Objekt und Subjekt, zwischen SenderIn und EmpfängerIn angesiedelt werden. Durch sie kann die Person, so auch die phänomenologische Annahme, erst ein Bewusstsein von der Außenwelt erlangen – dieser Schritt ist nur von der Person selbst nachvollziehbar. Durch diese Wahrnehmungsvorgänge ergibt sich die Möglichkeit der Kommunikation, mittels derer intrapersonelle Bewusstseinsvorgänge „öffentlich“, also interpersonell, gemacht werden. Die Einheit des Wahrnehmungsraumes bringe ich in Verbindung mit Simmels Einheitlichkeit der Räume von Mitgliedern einer sozialen Gruppe. Die Einheit des Wahrnehmungsraumes unterstützt die Vermutung Simmels, dass Einheit des Raumes hergestellt wird, die als Voraussetzung der Einheitlichkeit von Räumen als mit Merkmalen typisierte Gebilde fungieren kann. Die Einheit des Raumes bildet neben Tiefe und Orientierung ein weiteres wichtiges Strukturmerkmal des Wahrnehmungsraumes. Meint: unterschiedliche wahrgenommene Räume können problemlos – vorausgesetzt alle Körperfunktionen sind unbeeinträchtigt – in nächst größere Räume eingefügt oder mit anderen ergänzt werden. Michael Dück z.B. erläutert die Prozesshaftigkeit der Raumwahrnehmung und des Handlungsraumes. Seiner Meinung nach vollzieht sich ein Paradigmenwechsel von eher statischen zu eher dynamischen Raumwahrnehmungsauffassungen in wissenschaftlichen Arbeiten der Psychologie, in deren Stoßrichtung ich mich mit meinen Ansätzen eingliedern kann.73 Bourdieu äußert sich über die Wahrnehmung sozialer Welt entsprechend der Abstraktheit seiner sonstigen theoretischen Ausführungen, indem er schreibt, sie resultiere aus einer zweifachen gesellschaftlichen Strukturierung. Einerseits meint er mit der „objektiven Seite“, dass die mit AkteurInnen oder an Institutionen „gekoppelten Eigenschaften nicht isoliert, sondern in jeweils höchst ungleich wahrscheinlichen Kombinationen wahrgenommen werden (..., so sind Menschen mit einem höheren kulturellen Kapital mit größerer Wahrscheinlichkeit Museumsbesucher als solche ohne); von subjektiver Seite dadurch, daß die zu einem gegebenen Moment umsetzbaren Wahrnehmungsund Bewertungsschemata, insbesondere die in der Sprache eingelagerten, das Produkt vergangener symbolischer Auseinandersetzungen und in mehr oder minder umgewandelter Form den Stand der symbolischen Kräfteverhältnisse zum Ausdruck bringen.“74 Ich konzentriere mich auf die subjektive Seite. In den mit iranischen AsylbewerberInnen durchgeführten Interviews versuche ich, symbolische Kräfteverhältnisse und vielleicht deren Auseinandersetzungen mit diesen Kräfteverhältnissen und Inkorporierungsprozesse zu extra72 Vgl.: Michel, Paul (Hg.): Symbolik von Ort und Raum – Schriften zur Symbolforschung, Bern 1997, S. 158. Vgl.: Dück, Michael: Der Raum und seine Wahrnehmung, Würzburg 2001, S. 140ff. 74 Bourdieu, Pierre: Sozialer Raum und Klassen – Zwei Vorlesungen, Frankfurt/ Main 1985, S. 16. 73 45 hieren. Interessant ist die symbolische Auseinandersetzung mit dem für diese Gruppe sehr wichtigen kulturellen/symbolischen Kapital der Sprache. Zudem möchte ich, da ich ein Augenmerk auf die Aussagekraft materieller Gegebenheiten legen werde, weitere Komponenten der Auseinandersetzung um die Beschreibung der Räume der AsylbewerberInnen, die Relationen der Gruppe der AsylbewerberInnen zu anderen sozialen Gruppen finden. Wahrnehmungskategorien resultieren nach Bourdieu aus Inkorporierungen der objektiven Strukturen des sozialen Raums. Sie sind seiner Meinung nach der Grund, warum kaum jemand versucht, sich gegen Welt, wie sie ist, aufzulehnen. Wir erlernen, wir automatisieren Verhaltens- oder Wahrnehmungsweisen, die uns vorgeben, was man sich erlauben darf. Da wir diese Grenzen oft unhinterfragt und vor allem unreflektiert akzeptieren – aufgrund welcher fehlenden Motivationen auch immer –, schließt das Einvernehmen mit der eigenen sozialen Stellung ein. So werden laut Bourdieu „objektive Kräfteverhältnisse“ täglich reproduziert. (Deutungs-) Macht sind der Politik und Wissenschaft überlassen, die in der Hauptsache die Stellungen im Bourdieuschen abstrakten sozialen Raum bestimmen. Dies geschieht über die Macht, die zum Erhalt oder zur Veränderung der herrschenden Kategorien der Wahrnehmung führen.75 Inwieweit AsylbewerberInnen die „objektiven Kräfteverhältnisse“ inkorporieren, ist empirisch zu untersuchen. Eine große Diskrepanz der Wahrnehmung von AsylbewerberInnen, AusländerInnen seitens der Deutschen ist in der tatsächlich vorhandenen Anzahl und der angenommen Anzahl von AusländerInnen in Sachsen zu bemerken. Der wahrgenommene Ausländeranteil liegt bei ca. 20%, der tatsächliche beträgt etwa 2,6%, in Dresden sogar weniger als 2% im Jahr 2001.76 Dies dürfte eine interessante und sicherlich aufschlussreiche, doch mich überfordernde, Untersuchung über die Einstellungen und Bilder der AusländerInnen von Sächsinnen und Sachsen sein. Die Besonderheiten der Wahrnehmungskategorien der AsylbewerberInnen zu erschließen, wird mir, so hoffe ich, durch Interviews und Beobachtungen möglich werden. Zumindest welche Themen, auf welche Weise von ihnen ins Gespräch gebracht werden, geben Aufschlüsse über die Wahrnehmungen. Die Kräfteverhältnisse, von denen er spricht, werde ich in den Gesetzen, den Verordnungen, Vorschriften und ihren Sanktionierungsgraden für AsylbewerberInnen, konkret fassen können. Und so den Einflussgrad der staatlichen Macht auf die der Gruppe der AsylbewerberInnen zeigen und die Stellung letzterer (aber auch ersterer) u.a. im abstrakten sozialen Raum 75 Vgl.: Bourdieu, Pierre: Sozialer Raum und Klassen – Zwei Vorlesungen, Frankfurt/ Main 1985, S. 17ff. Vgl.: IN VIA e.V. 2002; Sächsischer Landtag: Neunter Jahresbericht des Sächsischen Ausländerbeauftragten Dresden 2002, S. 82. 76 46 auch durch die Merkmale der Relationen zwischen AsylbewerberInnen und den GesetzgeberInnen zum jetzigen Zeitpunkt verdeutlichen. Sogar Personen, die mit AsylbewerberInnen engeren Kontakt (meist aus beruflichen Gründen) haben, zeigen distinguiertes Verhalten gegenüber AsylbewerberInnen (Abgrenzung einer sozialen Gruppe gegenüber einer anderen)77, was auf ihre Wahrnehmungskategorien rückschließen lässt.78 b) Die Sichtbarkeit Bezogen auf die eingeteilten Räume in privat, halböffentlich und öffentlich [siehe Kapitel II.2.)], ist die Sichtbarkeit in öffentlichen Räumen zeitgleich für viele Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten, Herkünften, mit unterschiedlichen Interessen möglich. Die Sichtbarkeit ist groß. In halböffentlichen Räumen ist die Sichtbarkeitsintensität geringer, da weniger Menschen sich in ihnen befinden (obwohl manchmal die Personendichte größer ist wie z.B. bei Konzerten oder im Theater). Halböffentliche Räume haben gesellschaftlich die größte Bedeutung, da sie am voraussetzungsreichsten sind. Die Merkmale eines halböffentlichen Raumes sind seine Voraussetzungen, die mit steigender gesellschaftlicher Anerkennung des Raumes zunehmen. Die Voraussetzungen sind z. B. soziale, kulturelle, ökonomische und von anderen Personen zugeschriebene Kapitalien der raumkonstituierenden Personen. Die Bewertungen des Zutritts fallen für die halböffentlichen Räume unterschiedlich aus. Von den Bewertungen und den Zutrittsmöglichkeiten hängt die soziale Anerkennung ab. Private Räume werden durch soziales Kapital erschließbar. In Abhängigkeit von der sozialen Anerkennung der Person, die besucht wird, ist der Zutritt zu einem privaten Raum voraussetzungsreich oder -arm und hoch oder niedrig gewertet. Besonderheit bei AsylbewerberInnen ist, dass der Zutritts zu Gemeinschaftsunterkünften schwer zu erlangen ist, obwohl ihre soziale Anerkennung sehr niedrig ist: Einerseits sind private Kontakte zu AsylbewerberInnen sehr selten und so der Zutritt zu den Gemeinschaftsunterkünften unwahrscheinlich. Andererseits wird ein Zugang durch die HeimbetreiberInnen, Heimleitung und die zuständigen Ämter er77 Vgl.: Bourdieu, Pierre: Sozialer Raum und Klassen – Zwei Vorlesungen, Frankfurt/ Main 1985, S. 21f. Ein in einer Gemeinschaftsunterkunft zum Asylrecht reagierte z.B. der referierende Rechtsanwalt – während er sich zustimmend der Regelung gegenüber äußerte, dass mit einer Strafe von drei Jahren straffällig gewordene AsylbewerberInnen ausgewiesen werden – auf Anfrage eines Asylbewerbers, ob er denn teilnehmen könne, mit den Worten: „Na ja, wenn Sie sich hinsetzen und zuhören.“ Asylbewerber: „Ich wollte nur fragen, ob es öffentlich ist.“ Rechtsanwalt: „Ja, ja, es ist öffentlich, dann setzen Sie sich hin.“ Einige Minuten später schenkt eine der Beraterinnen Kaffee aus, zuerst gab sie dem Rechtsanwalt, anschließend ihren Kolleginnen Kaffee, in meiner Tasse befand sich bereits Kaffee. Als sie im Begriff war, die Kanne abzustellen, nahm ich ihr diese ab und schenkte dem Asylbewerber, nachdem ich mich versicherte, dass auch er Kaffee trinken wollte, Kaffee ein. Der kurze darauffolgende Blickkontakt mit der betreffenden Beraterin ließ ihre Verunsicherung zu ihrem Verhalten erkennen. 78 47 schwert, wenn politische Tätigkeiten oder Veröffentlichungen von beispielsweise Artikeln oder Fotografien als Motivation des Zutritts angegeben werden. Des weiteren ist die Wahrscheinlichkeit, AsylbewerberInnen an „Orten der Normalität“ wie der Erwerbsarbeit oder des Lebensmitteleinkaufs anzutreffen, gering. Denn sie dürfen nicht arbeiten und während der Freizeitgestaltung ist es auch unwahrscheinlich sie anzutreffen aufgrund fehlender ökonomischer Kapitalien. NachbarInnen sind andere AsylbewerberInnen in den Gemeinschaftsunterkünften. Die erste Art der Sichtbarkeit betont Bourdieu einige Male in seinen Schriften die „Macht der Veröffentlichung“, nämlich die des gegenständlich und sichtbar Machens, des Konsensus einer Gruppe. Diese Klassifizierungsarbeit vollzieht sich alltäglich, wenn die sozialen AkteurInnen untereinander um den Sinn der sozialen Welt, ihre Stellung in ihr und ihre soziale Identität ringen vermittels Lob oder Kritik, Kompliment oder Beschimpfung.79 Er schreibt, Sprache sei eine der symbolischen Gewalten, die Macht über das Soziale ausüben. Wortwahl erzeuge Wirklichkeit, Vorstellungen, Handlungen und politische Probleme seien demzufolge auch in der Sprache zu finden. Dinge beim Namen zu nennen, bedeute, ihnen Wirklichkeit zu verleihen, bedeute auch, Vorstellungen oder Bilder zu erzeugen der Phänomene, die den Begrifflichkeiten zugeordnet sind.80 Das meint letztlich, es werden bestimmte Themen, Phänomene, Dinge sichtbar, präsent und bewusst (gerade durch öffentliche Medien gewährleistet), andere wiederum nicht. Anhand des Bewusstseinsgrades bestimmter Themen, Phänomene oder Dinge kann die Tabuisierung, der gesellschaftliche Umgang mit ihnen abgelesen werden. Das ist auch beim Status des Asylbewerbers/ der Asylbewerberin erkennbar. In diesem Begriff sind durch staatliche Definitionen viele unterschiedliche Kulturen und Lebensläufe mit dem Zeitpunkt der Aufnahme in Deutschland zu einer Gruppe zusammengefasst. Gleichgültig des „vorigen Lebens“ wird ihr Leben in Deutschland gesetzlich bis in die Alltagsorganisationen wie z.B. Lebensmittelbeschaffung bestimmt. „AsylbewerberIn“ als Begriff spiegelt die symbolische Ordnung und Benennungsmacht des Staates wider gegenüber den Personen, die sich in Deutschland „um Asyl bewerben“ müssen. AsylbewerberInnen müssen wie bei einer Bewerbung um Erwerbsarbeit nachweisen, dass sie „qualifiziert“ sind und Berechtigung erhalten können, weiterhin in Deutschland zu bleiben. Analog dem „Bewerbungsgespräch“ werden AsylbewerberInnen zur Antragstellung interviewt in einem „Erst-Interview“. 79 80 Vgl.: Bourdieu, Pierre: Sozialer Raum und Klassen – Zwei Vorlesungen, Frankfurt/ Main 1985 S. 19. Vgl.: Bourdieu, Pierre: Sozialer Raum und Klassen – Zwei Vorlesungen, Frankfurt/ Main 1985 S. 23ff. 48 Es qualifizieren sich laut staatlicher Entscheidungen wenige. Anerkennung auf Asyl in Sachsen erhielten im Jahr 2001 rund 1,81 %, Ablehnungen wurden bei 68 % der Anträge ausgesprochen, Abschiebeschutz (Duldung) erhielten 13,9 % und bei etwa 2,7 % wurden Abschiebungshindernisse (Duldung) festgestellt.81 Interessant eine Bezeichnung wie „Taschengeld“, die in Formulierungen der Gesetzgebung im Bereich „Asyl“ niedergeschrieben ist. Taschengeld impliziert die Vorstellung oder Erinnerung des Taschengeldes, das Kinder erhalten. Damit ist die analoge Position der AsylbewerberInnen als „unselbständige, unmündige Kinder“ gegenüber den staatlichen Einrichtungen (in Dresden: das Sozialamt) als „Autorität besitzende, über finanzielle Mittel verfügende Erwachsene“ begrifflich eindeutig festgelegt. Der entscheidende Unterschied in dieser Art des Abhängigkeitsverhältnisses, in dem eine Seite Entscheidungen trifft und die andere auf sie warten und reagieren muss, ist die „Mittellosigkeit“ der AntragstellerInnen während des „Hierseins ohne Legitimität“. Sie sind mit ihrem gesamten Leben an die Umstände gekoppelt, die sich ihnen im „Hier“, in den Gemeinschaftsunterkünften bieten. Bourdieu führt weiter aus, die Gruppen, die über ein hohes Maß an symbolischem Kapital verfügen, also an Anerkennung einer Gruppe, die aus dem Blickwinkel der herrschenden Wahrnehmungskategorien die Sichtbarsten sind, können am ehesten eine Änderung der Wahrnehmungskategorien und so eine veränderte Weltsicht herbeiführen. In der Mehrzahl der Fälle sind allerdings dieselben am wenigsten für eine solche Änderung geeignet bzw. gewillt.82 Die Sichtbarkeit in öffentlichen Medien ist bezogen auf die Situation der AsylbewerberInnen gering. Sie sind einerseits selten als AsylbewerberInnen erkennbar, sondern werden als AusländerInnen zusammengefasst, also nicht als eigenständige Gruppe bezeichnet. Andererseits ist ihre Thematisierung in den öffentlichen Medien – soweit diese politisch produzierte Gruppe Beachtung findet – auf die Problematisierung ihres Seins überhaupt, besonders ihres hiesigen, oder ihre Opferrolle reduziert. Für AsylbewerberInnen lässt sich feststellen, dass sie selten als persönliche Lebensschicksale in den Medien erscheinen – es sei denn in der Opfer- oder TäterInnenrolle oder in Diskussionen um eine neue Fassung des Zuwanderungsrechts oder des Ausländergesetzes. Soziale Anerkennung kann in der Art der Thematisierung in die Medien gezeigt werden, in denen eine Person, Thema oder Sache gelobt und eine andere kritisiert, polemisiert wird. A- 81 Vgl.: Sächsischer Landtag: Neunter Jahresbericht des Sächsischen Ausländerbeauftragten, Dresden 2002, S. 91. 82 Vgl.: Bourdieu, Pierre: Sozialer Raum und Klassen – Zwei Vorlesungen, Frankfurt/ Main 1985, S. 23. 49 sylbewerberInnen zeichnen sich in erster Linie durch Unsichtbarkeit im Sinne Bourdieus Sichtbarkeitskonstruktes aus. Eine andere Art der Ausformung dieser Sichtbarkeit ist die des lebensweltlichen Umgangs mit Themen, Personen, Dingen, der ebenfalls durch Herrschafts- und Machtverhältnisse und durch soziale Anerkennung bestimmt wird. Der lebensweltliche Umgang kann mit NachbarInnen, ArbeitskollegInnen, FreundInnen stattfinden. Aufgefallen sind mir, wie ich in einem Beispiel erläutert habe, die Distinktionen sogar seitens der Personen, die AsylbewerberInnen nahe stehen. Die in „Helferrollen“ gegenüber den AsylbewerberInnen die Macht- und Herrschaftsverhältnisse (re-)produzieren. Das Verschwinden, das Simmel lediglich auf das Verschwinden der Räume, die Auflösung der Grenzen in der Dunkelheit bezieht, ist für Virilio eine generelle zeitgenössische Entwicklung. Er erkennt sie z. B. in den fortschreitenden Unmündigkeiten und des Schrumpfens an Rechten der in Staaten lebenden Menschen. Diese Unmündigkeiten sind teilweise erzwungen durch Außendruck, teilweise werden sie seitens der potentiellen In-Anspruchnehmenden nicht eingefordert.83 Bezogen auf AsylbewerberInnen stimme ich seiner These zu, denn sie sind ohne Recht und Lobby mit eben genannter Unmündigkeit, können aber kaum Organisationsstrukturen entwickeln, um sich ihre Rechte zu erkämpfen. In entgegengesetzter Richtung liegt das Sehen und Sichtbarmachen als eine politische, eine künstlerische (Fähigkeit und) Aufgabe, die nicht der bloßen Wiedergabe des bereits Sichtbaren gilt, sondern des Sichtbarmachens des bisher Verdeckten und Verdrängten.84 Sichtbarmachung im Bourdieuschen Sinne, als Macht der Veröffentlichung, als Macht gelesen, zitiert, wahrgenommen zu werden und damit in den Gedanken anderer Personen wirken zu können, muss die „Intention mit umgedrehten Vorzeichen“ Foucaults gewesen sein, der mit Bezug auf zeitgenössische Entwicklungen und Bedingungen in den Gefängnissen Frankreichs sein wissenschaftliches Werken diesen Themen widmete. Foucaults Art der Sichtbarkeit, die ich als zweite Sichtbarkeitsform bezeichne, beinhaltet Sichtbarmachen einiger „ausgewählter“ Personen, die durch eine (meist gut organisierte) andere Gruppe, der wenige Personen angehören, transparent werden. Durch Kontroll- und Überwachungsinstrumente können Gruppen oder einzelne Personen in ihrem Sein erfasst, beeinflusst werden, ohne dass sie davon erfahren müssen (aber können). Dies geschieht durch (staatliche) Institutionen, die in diesem Fall Jürgen Habermas´ Annahme widerlegen, der 83 Vgl.: Virilio, Paul: Der negative Horizont: Bewegung – Geschwindigkeit – Beschleunigung, München/Wien 1989, S. 231ff. 84 Vgl.: Virilio, Paul: Der negative Horizont: Bewegung – Geschwindigkeit – Beschleunigung, München/Wien 1989, S. 248. 50 Staat sei „per se“ öffentlich, da er dem Gemeinwohl diene. Hier macht der Staat für sich sichtbar, aber nicht öffentlich. (Ich vertrete an dieser Stelle die Meinung, dass „TransparentMachen“ im Falle der AsylbewerberInnen nicht dem Gemeinwohl dient und somit nicht legitimierbar ist.) So wurde das Überwachen und Strafen in Psychiatrien und Gefängnissen von Foucault aufgegriffen, publiziert. Seine soziale, den Praktiken dieser Institutionen kritisch gegenüber stehende Position soll für die Durchsetzung einer veränderten Strafjustiz genutzt werden.85 Die These Foucaults, unsere Gesellschaften trieben von einer am Recht orientierten Gesellschaft auf eine an der Norm orientierten zu, stützt er auf zunehmende Entscheidungsschwierigkeiten, die die Strafjustiz auszeichnet. Dieser Übergang erfordere ein anderes Überwachungs- und Kontrollsystem, nämlich das der unaufhörlichen Sichtbarkeit, der permanenten Klassifizierung, Hierarchisierung und Qualifizierung von Personen anhand von diagnostischen Werten.86 Diese „andere“ Sichtbarkeit, denen die Unterlegenen, die Ohn-Mächtigen ausgeliefert sind, die ein Zeichen eben dieser Unterlegenheit ist, kennzeichnet sich durch einen schnellen Zugriff zu Daten der Person aus. Es ist eine Sichtbarkeit für die staatliche Gewalt, die zu jeder Zeit auf fast alle Daten der StaatsbürgerInnen und noch schneller auf Nicht-StaatbürgerInnen zugreifen können. Die Gründe für die Zunahme an staatlicher Sicherheit und Ordnung bleiben an dieser Stelle offen. AsylbewerberInnen müssen z. B. bei ihrer Ankunft in Deutschland persönlichen Daten in einem sogenannten „Erst-Interview“, das von MitarbeiterInnen der „Bundesamt für Migration und Flüchtlinge“ (BAFl) durchgeführt wird. In ihm werden die Ankommenden nach Fluchtursachen, biografischen Einzelheiten, nach Fluchtwegen, Gründen für das „Zielland: Deutschland“ und Fluchtstationen befragt. Des weiteren werden biometrischen Daten an die deutsche Staatsgewalt gegeben. Die AsylbewerberInnen sind somit seit Ankunft in Deutschland und während der Zeit ihres Asylverfahrens in hohem Maße überwacht und kontrolliert. Die AsylbewerberInnen werden mit dem Erst-Interview transparent gemacht. Ihre Biographie wird erfasst, sie leben in Gemeinschaftsunterkünften und sind in ihnen kontrollierbar und von Eigenständigkeit entnommen. Die Informationen, die die Verwaltung von ihnen besitzt, sind umfangreich, die Überprüfung des Wahrheitsgehaltes ihrer Angaben durch langwierige Asylverfahren verdeutlicht das Misstrauen der und das Sichtbarsein für die Staatsgewalt. 85 Vgl.: Foucault, Michel: Mikrophysik der Macht – über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin 1976, S. 8ff. 86 Vgl.: Foucault, Michel: Mikrophysik der Macht – über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin 1976, S. 84. 51 Sichtbarkeit geht also einerseits im Bourdieuschen oder Kristevaschen Sinne mit dem Effekt einher, dass der/die/das Sichtbargemachte Macht erhält, da eine öffentliche Aufmerksamkeit geschenkt wird. Ein Thema o. ä. rückt in Diskurse, in denen die Machtverhältnisse (re)produziert werden. Andererseits betont Foucault die Seite der mächtigen Unsichtbaren (der DrahtzieherInnen im Hintergrund), die sichtbar machen und entscheiden, wer in welcher Weise (für sie oder auch andere Gruppen) sichtbar wird. Diese Variante der Sichtbarkeit setzt den Großteil der Bevölkerung der Möglichkeit aus, jeder Zeit für wenige Mächtige sichtbar gemacht zu werden. Hinzugefügt werden muss m. E. die Frage des Standortes im Konzept „Sichtbarkeit“, denn er entscheidet über die Funktion und Verwendung des Sichtbargemachten. Wird ein Thema, eine Sache oder Personen für die derzeitig Machtlosen sichtbar gemacht, kann es einen „Umsturz“, ein Aufbegehren, einen Kampf für die Veränderung der Machtverhältnisse geben. Werden den Mächtigen Dinge, Themen, Personen sichtbar, so ist die Reproduktion, Manifestation der bereits bestehenden Machtverteilungen zu erwarten. Die Struktur des sozialen Feldes ist folglich durch die Verteilungsstruktur der Kapitalien, in der eine Vorrangstellung des ökonomischen Kapitals festgestellt werden kann, bestimmt. Die Verteilungsstruktur wird immer wieder neu ausgehandelt. An diesem Aushandlungsprozessen sind die AsylbewerberInnen nicht beteiligt. Gruppen mit homologen Positionen, mit ähnlichen Stellungen im „sozialen Raum“, bieten sich mitunter aufgrund der Ähnlichkeit Stärkung an.87 Die Sichtbarkeit ist folglich eine Komponente der Präsenz. Präsenz und Abwesenheit als Pole, die sich auf andere Bereiche als den gerade thematisierten übertragen lassen. Präsenz und Abwesenheit in der Wahrnehmung, nicht nur in der visuellen. Präsent sein als Person, die in Raumkonstitutionen anderer Personen Bedeutung erhält.88 Die Erinnerungen Präsenz kann durch Erinnerungen die Gegenwart erfüllen. Wenn die Gegenwart unsere Präsenz nicht duldet oder wir gegenwärtige Lebenssituationen nicht präsent werden lassen wollen, aber auch wenn die Situation, in der wir mit unseren Körpern anwesend sind, unsere Aufmerksamkeit nicht verlangt, können Erinnerungen uns erfüllen. Erinnerungen an eine intensive Begegnung mit einem Menschen oder an entscheidende Lebensereignisse, die für Momente unsere Aufmerksamkeit auf „innere Bilder“ lenkt. Die Erinnerung nimmt dann gänzlich die Raumkonstitution ein, wenn alle Wahrnehmungen in uns 87 Vgl.: Bourdieu, Pierre: Sozialer Raum und Klassen – Zwei Vorlesungen, Frankfurt am Main 1985 S. 24f. Vgl.: Wong, Diana/ Voigt, Gabriele/ Pfahler, Ursula/ Bosswick, Wolfgang: Vom Exil zur Diaspora: Asyl in einer deutschen Stadt, Nürnberg 1993, S. 166. 88 52 gerichtet sind. Einige Zeit später werden wir wahrscheinlich die Wahrnehmung nach außen wieder aufnehmen. Erinnerungen sind in vielen Konstituierungen von Räumen bedeutsam, da Orte, also ein Aspekt der Raumkonstitution, wie Simmel herausstellte, eine höhere assoziative Kraft darstellen als zeitliche Aspekte. Wir könnten uns ohne Erinnerungen nicht in der Welt zurechtfinden, sei es durch erlernte Verhaltens- und Wahrnehmungsmuster, die uns eine Orientierung in der Welt erst ermöglichen. Erinnerungen werden über Vorstellungen als Bilder oder Räume konstruiert. Erinnerungen können Gefühle auslösen und Verhaltensweisen nahe legen aufgrund positiver oder negativer Erfahrungen, die mit den Erinnerungen verbunden sind. Sie können mit Stimmungen einhergehen, die die gegenwärtige Raumkonstitution beeinflusst, die gesamte Synthese besetzen. Ähnlich denkt Michel Paul, der die Gedächtniskunst darin sieht, dass die zu memorierenden Dinge, sozialen Güter an bestimmte Orte in der Phantasie gesetzt werden, also in der Synthese gespact werden, von wo sie leicht wieder abgerufen werden können.89 Ein Konstitutionsmerkmal von Gruppen sind gemeinsame Erinnerungen, Erfahrungen und damit auch Erwartungen oder Vorstellungen. Diese sind alle in ähnlichen Räumen entstanden und können diese – von manchen als „kollektives Gedächtnis“90 populär geworden – bestimmend sein für gruppenspezifische Raumkonstitutionen und so für Verhaltensweisen. Kollektiv dürften für AsylbewerberInnen die Erfahrungen der Flucht, des Verlassens der Heimat und die Ankunftsprozedur in Deutschland sein.91 89 Vgl.: Michel, Paul (Hg.): Symbolik von Ort und Raum – Schriften zur Symbolforschung, Bern 1997, S. ix. Vgl.: Cavalli, Alesandro: Soziale Gedächtnisbildung in der Moderne, in: Assmann, Aleida/ Harth, Dietrich (Hg.): Kultur als Lebenswelt und Monument, Frankfurt/ Main 1991, S. 204. Über die Rolle des Gedächtnisses in der Moderne schrieb Alessandro Cavalli einen interessanten Aufsatz, wobei er als modern typisiert die Erfahrungen sozialen Wandels innerhalb eines Menschenlebens bzw. die hohe Geschwindigkeit des Wandels. Als Prozess der Gedächtnisbildung bezeichnet er als die Übermittlung von Kultur von einer Generation in die nächste. Das Gedächtnis ist entzweit in: ein bewusstes, intellektualisiertes Gedächtnis und eines, das keiner Bewusstheit bedarf, da es allgegenwärtig ist. Er verweist auf Maurice Halbwachs, der das kollektive Gedächtnis nicht nur als Summe aller Werte, Normen, Gewohnheiten einer Gesellschaft sieht, die fraglos, quasi automatisch überliefert werden, sondern als stets fragwürdiges Ergebnis eines Konflikts zwischen sozialen Gruppen, die die Gesellschaft ausmachen. Da Personen in der Moderne im Laufe ihres Lebens vielen verschiedenen sozialen Gruppen angehören, tragen sie das kollektive all dieser Gruppen in sich. Sein historisches Gedächtnis ist generationsspezifisch, aber auch unter Gleichaltrigen fragmentarisch. Das Individuum tritt in Interaktionssituationen niemals mit seiner vollen Identität auf, Teile bleiben latent und untergründig; zunehmende Differenzierung bewirkt zunehmende Individualisierung. Die eigene Geschichte zu erzählen erfordert eine Ordnung, die sich die Person für die eigene Vergangenheit erstellen will (wenn es Biografie-Arbeit als relevant für seine Selbstdarstellung erachtet). Diese konstruiert sie aus den Episoden, Zeitabschnitten, die sie – meist mit unterschiedlichen – Personen, in unterschiedlichen Gruppen verbracht hat. 91 Der Begriff „Interview“, den AsylbewerberInnen in Zusammenhang mit dem für sie oftmals mit negativen Erfahrungen verbundenen „Erst-Interview“ des BAFl assoziieren, wurde von allen AsylbewerberInnen, mit denen ich über mein Vorhaben, Interviews mit einigen von ihnen durchzuführen, geäußert habe, mit Vorsicht und Skepsis entgegengenommen. Sie fragten nach dem Zweck und dem Sinn des Interviews, nach den Themen, sie wollten wissen, ob sie veröffentlicht werden und einige erzählten mir schließlich den Grund ihrer Skepsis: die Erfahrung des „Erst-Interviews“ oder der Verfolgung in ihrem Heimatland, die auch hier Angst vor möglicher 90 53 Dass Hiersein im physischen Sinne ein „Ort der Abwesenheit“92 im metaphorischen Sinne sein kann, ist in einer Studie zum „Asyl in einer deutschen Stadt“ festgestellt worden. Das „Hiersein“ in der Fremde wird als Abwesenheit interpretiert, da ein gegenwärtiges Leben nicht gelebt werden kann. Erinnerungen oder Erwartungen nehmen das Hiersein ein, eine „Beheimatung“ wird nicht möglich, da die Fremden nicht vergessen wollen und können. Es ist also möglich, an einem Ort mit unserem Körper zu sein, doch die Raumkonstitution keinen Bezug zum Ort hat. Wir sind physisch präsent und doch in Gedanken, in Gefühlen abwesend. Sind also die Orte, an denen sich AsylbewerberInnen aufhalten, prädestiniert zur räumlichen Abwesenheit? Ist der Raum der Fremden, wie Julia Kristeva behauptet, ein fliehendes Flugzeug, ein fahrender Zug? Ist Verortung unmöglich, die laut Hannah Arendt Grundbaustein der Bürgerrechte ist? Die Erwartungen Erwartungen beziehen sich auf Zukünftiges. Sie basieren auf Wünschen oder Ängsten, auf Erfahrungen oder Vorstellungen, sie werden durch Fantasie, Vorstellungskraft konstruiert, erzeugen „innere Bilder oder Räume“, die dem noch nicht Geschehenen vorauseilen und sich auf dieses beziehen. Auf Erfahrungen oder Erwartungen beruhende Handlungsoptionen werden in Folge der situationalen Emotionen und der Beurteilungen dieser Optionen die für die jeweilige Person beste Variante in eine Handlung umsetzen. Liegen räumliche oder andere Strukturen zugrunde, so ist davon auszugehen, dass die Person oder die Gruppe Erwartungen bezüglich des (Handlungs-)Ablaufes der Situation hat. Wird die Situation entgegen der Erwartung erlebt, folgen positive oder negative Reaktionen wie Überraschung, Ärger, Enttäuschung oder Freude. Ebenfalls ist möglich, dass ohne diese Strukturen auf die Zukunft gerichtete Erwartungen vorhanden sind. Je nach Intensitätsgrad der Erwartungen werden abhängig von dessen Stärke Kognition, Emotion und situationsvorbereitende Handlungen in die Erfüllung der Erwartungen gegeben. Auch Erwartungen sind innerlich an Räume oder Bilder gebunden, eine Situation wird als eine räumliche, eine bildhafte vorgestellt. Nach diesen inneren Räumen oder Bildern wird sich verhalten, gedacht, gefühlt. Diese Vorstellungen bestimmen die Gegenwart, die Synthese weiterer Verfolgung schürt, lassen sie misstrauisch sein. Negative Gefühle und Bilder sind wahrscheinlich bei dem Wort „Interview“ vor ihren inneren Augen erschienen, ihre Raumkonstitution änderte sich, ließ sie in ihre Erinnerungswelt verschwinden, die Atmosphäre zwischen ihnen und mir – ebenfalls eine räumliche Komponente – spannte sich an. 92 Vgl.: Wong, Diana/ Voigt, Gabriele/ Pfahler, Ursula/ Bosswick, Wolfgang: Vom Exil zur Diaspora: Asyl in einer deutschen Stadt, Nürnberg 1993, S. 181ff. 54 der Räume, Positionierung bzw. Direktionalisierung. Entweder wird ein innerer Raum konstruiert und die (Außen-)Wahrnehmung minimiert oder der Vorstellungs-Raum wird durch gerade Wahrgenommenes beeinflusst. Eine weitere Möglichkeit ist, dass die Erwartung in eine gegenwärtige Situation getragen wird und die aktuelle Raumkonstitution beeinflusst. Situationen und ihre Abläufe unterliegen häufig Erwartungen. Sie bestimmen den Verlauf der Situation, deren Wahrnehmung, das eigene Verhalten in ihr. Erwartungen sind gekoppelt an Erfahrungen, Wünsche, Emotionen, Kognitionen. Erfahrungen erzeugen Erwartungen, bevor oder während einer Situation. 93 Ein „Ort des Vergleichs“94 ist vorhanden, wenn die derzeitige Situation mit anderen ähnlichen in Verbindung gebracht wird und gewertet. Dieser Vergleichshorizont impliziert immer auch Erwartungen. Die Wünsche oder freudigen Überraschungen beziehen sich auf die gegenwärtige Situation, heben die Differenzen hervor, die sie Wirklichkeit von den Möglichkeiten (die Vergleichshorizonte) unterscheiden. 2.2.3 Soziale Güter Unter sozialen Gütern, deren Gestalt- und Lageeigenschaften, auf die auch Bourdieu verweist, deren Ästhetik und Spacing, stets von Bedeutung sind95, werde ich im folgenden jene Güter verstehen, die entweder durch Produktionsprozesse als sozial interpretiert werden, sozial durch ihre Funktions- und Gebrauchsweisen oder durch ihre Zuschreibung sind, indem AkteurInnen ein Gut mit einem sozialen Sinn belegen. Wahrnehmungen, Erwartungen, Vorstellungen und Erinnerungen beschreiben die rezeptive Seite der Raumkonstitution, Spacing von sozialen Gütern und Menschen die produktive, gestalterische Seite desselben Prozesses.96 93 Beispiel: Ein bekannter Werbespot hat folgenden Inhalt: In einer Straßenbahn sitzen eine ältere Frau und ein junger „Schwarzer“, der von der alten Frau beschimpft und offensichtlich „diskriminiert“ wird. Als die Fahrkartenkontrolleure zusteigen, nimmt er der alten Frau ihre Fahrkarte aus der Hand und isst sie auf. Die Frau fängt an zu zetern, teilt den Kontrolleuren den Vorgang mit und wird von denen milde belächelt. Der „Schwarze“ zeigt seine Fahrkarte vor. Ende. Die Erwartung der alten Frau, hier gekoppelt mit einem Vorurteil, wird übererfüllt, indem der „Wilde“ ihre Fahrkarte aufisst. Der „Schwarze“ ist Diskriminierungen gewohnt (Erfahrungshintergrund), reagiert unerwartet, so dass Kontrolleure den Hergang, erzählt von der alten Frau, nicht glauben, denn er widerspricht ihren Erwartungen, da sie aller Wahrscheinlichkeit nach Situationen mit solchen Erfahrungen nicht erlebt haben. 94 Vgl.: Wong, Diana/ Voigt, Gabriele/ Pfahler, Ursula/ Bosswick, Wolfgang: Vom Exil zur Diaspora: Asyl in einer deutschen Stadt, Nürnberg 1993, S. 203ff. 95 Vgl.: Lang, Ewald: Primärer Orientierungsraum und inhärentes Proportionsschema: Interagierende Kategorisierungsraster bei der Konzeptualisierung räumlicher Objekte in: Vater, Heinz: Einführung in die RaumLinguistik, (Kölner linguistische Arbeiten – Germanistik, 24) Hürth-Efferen 1991, S. 151. 96 Beispiel: Gehe ich auf die Eingangstür des Sozialamtes zu, nehme ich die Hinweisschilder als richtungsweisend für meine Fortbewegungsrichtung wahr (Synthese) und begebe mich auf den Flur meines Zielzimmers (Direktionalisierung), zum Automaten, an dem ich meine Wartenummer ziehen muss und begebe mich – meist wortlos – in die Reihe der anderen Mitwartenden (Spacing). 55 Soziale und kulturelle Güter sind beispielsweise Möbelstücke, die als Zeichen unter der Annahme Räume seien die dazugehörigen Zeichensysteme gelten können. Dann sind sie semiotisch interpretierbar. Jedes Möbelstück ist vielseitige/r InformationsträgerIn, die ich beschreibend in eine Forschung einbauen kann. Es werden auf Grundlage der semiotischen Ästhetik semantische (Referenzbezug kennzeichnend) und syntaktische Zeichenrelationen (Relationen der Zeichen untereinander), als auch pragmatische, die durch den Verwendungszusammenhang durch die Menschen geprägt sind, erforscht. Dies alles sind auf Beschreibungen statt auf Erklärungen ausgerichtete Forschungen, die Denotationen und keine Konnotationen ins Blickfeld rücken.97 Denotation ist zwischen Referenz eines Begriffs, die das außersprachliche Gegenstück zum Wort, den konkret erfahrbaren „Referenten“, und dem Sinn des Wortes, der lexikalischen Ebene, aufgespannt, sie meint alle potentiell erfahrbaren Gegenstücke des Begriffes, z. B. alle möglichen Sofaarten.98 Lennelis Kruse meint, dass Dinge oftmals in ihrer Zweckhaftigkeit, also bezüglich ihrer pragmatischen Eigenschaften, eingeschätzt werden. Sie werden zur eigenen Person in Bezug gesetzt, in ihrer Anwendbarkeit betrachtet. Der Umgang mit den Dingen sei entscheidend. Es gäbe Unterschiede in ihrer Bedeutung für eine Person. Manche Bedeutungen von Dingen haben Spielräume, andere ihren festen Platz. Wichtig erscheint die Handhabbarkeit für die Person, die mit dem Ding konfrontiert ist.99 Ich werde in dieser Arbeit nicht besonders intensiv den sozialen Gütern widmen, sie werden lediglich in ihrem sozialen Verwendungszusammenhang, in ihrer ästhetischen und stilistischen Aussage erwähnt. 2.2.4 Spacing Wie schon angedeutet gibt es unterschiedliche Arten des Spacings. Gemeinsamkeit dieser Arten ist die Versinnbildlichung des sozialen Sinns in den Relationen der platzierten, positionierten oder direktionalisierten sozialen Güter oder Personen zu anderen sozialen Gütern oder Personen. Die Arten des Spacings, von denen ich Platzierungen und Positionierungen in dieser Arbeit stärker berücksichtigen werde, lassen sich wie folgt charakterisieren: a) Direktionalisierungen 97 Vgl.: Ritterfeld, Ute: Psychologie der Wohnästhetik: Wie es uns gefällt, Weinheim 1996, S. 43ff. Vgl.: Vater, Heinz: Einführung in die Raum-Linguistik, (Kölner linguistische Arbeiten – Germanistik, 24) Hürth-Efferen 1991, S. 10. 99 Vgl.: Kruse, Lenelis: Räumliche Umwelt, New York/ Berlin 1974, S. 85ff. 98 56 Es gibt dynamisches Spacing, Direktionalisierung genannt, das bei mir Richtung und Geschwindigkeit der Bewegung von Personen oder sozialen Gütern beinhaltet. Direktionalisierungen rufen innerhalb der Situation Veränderungen der von der handelnden Person konstituierten Räume hervor. Eine dynamische Variante eines sozialen Gutes ist z. B. der Ball beim Ballsport, der in seiner Bewegungsrichtung die Raumkonstitution und Handlungen der/des VolleyballspielerIn bestimmt. Alle Konzentration fällt auf die eigene Positionierung im Verhältnis zum Ball. Die Positionierungen, Direktionalisierungen wechseln beständig im Volleyballspiel, Dynamik und Bewegung der sozialen Güter und der anderen Menschen und der handelnden Person selbst sind Kennzeichen des Sport-Raumes. Möchte ich einen Schmetterball auf das gegnerische Spielfeld bringen, muss ich mich vorne am Netz positionieren und von dort den Ball in das gegnerische Spielfeld schlagen. Verschiedene Direktionalisierungen sind z. B. auch während eines Tagesablaufes zu erkennen, an dem Wege von der Wohnung zum Arbeitsort und zum Einkauf zurückgelegt werden. Diese Wege sind Teil der Direktionalisierungen, da sie stets Richtungen und meistens auch Zielorte implizieren [siehe Kapitel II.3.7)]. Viele Bewegungsabläufe sind seit der Industrialisierung mechanisiert, vereinheitlicht und automatisiert wie die Bewegungsabläufe in Fabriken oder auch in Verwaltungsbüros. Die Bewegungen beschränken sich auf ein Sitzen vor dem Computer, auf Armbewegungen während des Telefonierens oder Schreiben an der Tastatur. Entgegen den (kultur-)pessimistischen VertreterInnen kann ich die Auffassung nicht teilen, dass das Leben und die Bewegungen der Menschen seitdem mechanisiert, langweilig und monoton seien. Auch stimme ich nicht der Annahme zu, alle Neubeginne, die auf Eigenbewegungen ruhen, würden absorbiert werden.100 Neben den von ihnen beschriebenen Strömungen existieren auch Gegenströmungen wie regionale kulturelle oder soziale Projekte (Hannah Arendt würde sie als „Gegenkulturen“ bezeichnen). Die geforderten Veränderungen nach Öffnung und „Unordnung“, auch nach der Unordnung des Raumes, können sich m. E. (begrenzt) durchsetzen. b) Platzierungen Des weiteren gibt es die statischen Spacings, die Platzierungen, die bei mir Haltungen und Lagen implizieren wie architektonische oder infrastrukturelle Gegebenheiten. Bei denen ist die Wahrscheinlichkeit einer Veränderung, einer Bewegung, innerhalb einer Situation sehr 100 Vgl.: Modelmog, Ilse: Zeit und Raum im Aufbruch – kulturelle und gegenkulturelle Bewegungsmomente in: Modelmog, Ilse/ Kirsch-Auwärter, Edit (Hg.): Kultur in Bewegung – beharrliche Ermächtigungen, Forum Frauenforschung – Band 9, Freiburg im Breisgau 1996, S. 147-164. 57 gering. Die Platzierung bestimmt den Raum von Anfang bis zum Ende der Situation. Zwar kann in der Synthese der handelnden Person die Platzierung ihre Bedeutung verändern, doch diese Platzierung selbst bleibt konstant. Statisch z. B. ist das soziale Gut Tisch, das in einem Esszimmer seinen Platz zugewiesen bekommen hat und dort wahrscheinlich bis zum nächsten Umzug bleiben wird. Die handelnde Person, ein „ständiges Esstischmitglied“, nimmt ihren Stammplatz ein, ebenso die anderen Personen, so dass der Tisch als eines der sozialen Güter des Raumes der handelnden Person eine statische Platzierung ist und sich bereits Handlungsmuster um diese Platzierung bilden konnten. In diesem Falle ist das Einnehmen der Sitzordnung die institutionalisierte Handlung. Die Menschen haben wenig Möglichkeiten ihre Positionierungen zu ändern. Platzierungen fangen an, sich zu ändern, sobald eine Bewegung zu verzeichnen ist. Bezogen auf menschliche Körper ist bereits eine Änderung der Kopfhaltung oder des Beinüberschlags eine Platzierungsänderung, die veränderte Raumkonstitutionen bewirken. Körperhaltungen sind also keine Unterart von Platzierungen. Platzierungen ändern sich bezüglich sozialer Güter, sobald diese mittels eines Bewegungsimpulses ihre Lage wahrnehmbar verändert haben. Eine heruntergefallene Serviette kann bemerkt vom Tisch auf den Boden fallen, so dass auf ihre Platzierungsveränderung eine veränderter Raumsynthetisierung folgt und diese von einer Person mit entsprechendem kulturellem Kapital101, hier in Form von Höflichkeitsregeln, aufgehoben wird. Die Platzierung benötigt einen Ort, an dem sie geschehen kann, an dem sie konkretisiert wird. c) Positionierungen Positionen können sowohl statisch als auch dynamisch sein. Sie beziehen sich auf einen kurzen Zeitraum, in der Haltungen, Stellungen, Lagen von sozialen Gütern oder Personen synthetisiert werden. Sie haben situationale Relevanz. Für Positionen ist keine Bewegung erkennbar für den untersuchten Zeitraum. Eine Situation kann auch in mehrere Zeitabschnitte unterteilt werden und so mehrere Positionen beschreiben. Eine Veränderung der Positionierung des Gegenstandes oder der Person in näherer Zukunft ist wahrscheinlich. Positionen nehmen z.B. Stühle, Essgeschirr oder Personen während einer Mahlezeit ein. Positionierungen beschreiben Haltungen, Lageeigenschaften oder Ausrichtungen, sie sind leichter veränderbar als Platzierungen, implizieren aber nicht Bewegung, wie es Direktionalisierungen tun. 101 Vgl.: Bourdieu, Pierre: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital in: Kreckel, R.: Soziale Ungleichheiten – Sonderband 2 der Sozialen Welt, Göttingen 1983, S. 183-198. 58 Das Verhältnis von Spacing und sozialem Verhalten lässt sich wie folgt beschreiben: Im Falle einer Direktionalisierung setzt sich das soziale Verhalten der Raum konstituierenden Person in den meisten Fällen aus dieser Direktionalisierung und vielleicht aus dazugehörigen Positionierungen zusammen. Nicht jede Direktionalisierung muss Teil eines sozialen Verhaltens sein, denn auch sie können durch Reflexe oder Nervosität, denen eine soziale Komponente fehlt, verursacht sein. Direktionalisierungen können jedoch meist als Teil des sozialen Verhaltens eingeordnet werden. Direktionalisierungen treten in Form von sozialen Gütern oder Personen auf, die während der Situationen in Bewegung sind und ihre Positionierung wechseln. Positionierungen sind die „eingefrorenen“ Ausrichtungen, Lagen, Haltungen, die ebenfalls in den meisten Fällen als Teil des sozialen Verhaltens eingeordnet werden können. Platzierungen, die meist feste Körper, soziale Güter, die nichtbewegbar sind, einnehmen, sind geprägt und geformt durch ArchitektInnen, StadtplanerInnen, VerkehrsplanerInnen o. ä. . Sie beruhen auf Synthese von Räumen, die durch Versinnbildlichung zu statischen Spacings geführt haben. Platzierungen sind geplante Spacings, die sich auf eine Vielzahl von Personen auswirken, die mit diesen Spacings in Kontakt kommen. 2.2.5 Körper und Leiber – als Teil der (Eigen-)Wahrnehmung und des Spacings Körperlich sind sowohl soziale Güter als auch Personen, die im Konzept der Raumkonstituierung berücksichtigt werden. In diesem Teil wende ich mich ausschließlich dem menschlichen Körper zu und halte fest, dass auch soziale Güter körperlich sind. D. h. sie verfügen über Form, Struktur und Material. Diese Aspekte werden teilweise in meine Auswertungen einfließen, bedürfen aber m. E. keiner theoretischen Auseinandersetzung. Der Körper kann entweder als eigener Raum definiert sein oder aber, wie ich es tun werde, als Teil der Raumkonstituierung behandelt werden. Der Körper der Personen ist immer anwesend. Material, Form und Inhalt sind demnach aus dem Raumkonzept nicht wegdenkbar. Maurice Merleau-Ponty geht in seiner Konzeption von Raum intensiv auf die Leiblichkeit ein, die bei ihm als Voraussetzung für räumliches Dasein verstanden werden kann. Erst durch den Leib ist der Mensch in der Welt verankert, durch den Leib ist ihm die Welt erschlossen.102 Der Leib als Medium, durch den wir Welt wahrnehmen können und den wir selbst wahrnehmen. Durch den Körper sind uns die Objekte gegeben, er ist selbst Werkzeug, mittels dessen wir Welt erfahren können. Körper sind bei Merleau-Ponty stets umgrenzt und eindeutig bestimmbar, der Leib hingegen, der seine Grenzen in seinen lebendigen Verknüpfungen von Funktio102 Vgl.: Kruse, Lenelis: Räumliche Umwelt, New York/ Berlin 1974, S. 43f. 59 nen erhält, die in jeweiligen Situationen relevant werden. Welt- und Raumerfahrung werden durch das Medium des Leibes möglich, er ist nicht im Raum, sondern er bewohnt den Raum.103 In diesem Sinne verstehe ich auch die Körper, die nicht „im Raum“, der in diesem Moment als Behälter definiert wird, befindlich sind, sondern erst Bedeutung erlangen, wenn sie Teil einer Raumkonstitution sind und in Relationen zu anderen Körpern an Orten angeordnet sind. Gerne würde ich tiefer in die Gedanken und Diskussionen um Differenzen von Leiblichkeit und Körper der Anthropologie, Phänomenologie einsteigen, doch erlauben mir dies Begrenzungen des Raums dieser Arbeit nicht. Auch die Diskussionen um die gesellschaftliche Bedeutung von Körpern kann ich an dieser Stelle nicht näher ausführen. Ich schließe mich der Strömung an, die eine „Rückkehr“ zum Körper konstatieren. Der Körper wird nicht mehr als Maschine betrachtet (siehe u. a. Donna Haraway)104. Als Eigenwahrnehmung ist der menschliche Körper Grundlage aller unserer physischen, kognitiven und psychischen Vorgänge. Er ist Ort unserer Gefühle, unseres Denkens. Die Wahrnehmung des eigenen Körpers erfordert den reflexiven Akt der Zuwendung zu ihm. Er ist Bestandteil aller Erfahrung, er umfasst die Augen, aus der nur wir die Welt auf diese Art betrachten, er beherbergt alle Wahrnehmungsorgane, bestimmt die Perspektive auf die Welt.105 Die Art und Bedeutung der Zuwendung zum Körper ist von Person zu Person verschieden, auffällig aus meinem Erfahrungsbereich ist das Ignorieren von Hunger und auch Durst beim Ausüben hoch konzentrierter Tätigkeiten. Unser eigener Körper wird oft erst wichtig, wenn er nicht gesund ist, nicht der Norm, den Erwartungen entsprechend funktioniert, wenn er Aufmerksamkeit verlangt durch Hunger, Schmerz, Erregung o. ä. . Dann fällt uns auf, dass er existent ist. Erfahrbar ist der Körper, wenn die Kleidungsstücke, die getragen werden, spürbar sind. Wie die Kleidung auf der Haut liegt, aus welchem Material sie ist und natürlich welchen Geschmack oder Symbolgehalt sie beherbergen und so sozial relevant werden. Ebenfalls von ästhetischen Gesichtspunkten bestimmt ist z. B. die Frisur einer Person. Wenn AsylbewerberInnen ihre Kleidung nicht selbst aussuchen dürfen, sie aufgrund ihrer Hautfarbe im Dresdner Straßenbild auffallen oder auffällig sind aufgrund der Stilunterschiede verursacht durch ihre 103 Vgl.: Kruse, Lenelis: Räumliche Umwelt, New York/ Berlin 1974, S. 46f. Vgl.: List, Elisabeth: Platon im Cyberspace – Technologien der Entkörperlichung und Visionen vom körperlosen Selbst in: Modelmog, Ilse/ Kirsch-Auwärter, Edit (Hg.): Kultur in Bewegung – beharrliche Ermächtigungen, Forum Frauenforschung – Band 9, Freiburg im Breisgau 1996, S. 83-110. 105 Vgl.: List, Elisabeth: Platon im Cyberspace – Technologien der Entkörperlichung und Visionen vom körperlosen Selbst in: Modelmog, Ilse/ Kirsch-Auwärter, Edit (Hg.): Kultur in Bewegung – beharrliche Ermächtigungen, Forum Frauenforschung – Band 9, Freiburg im Breisgau 1996, S. 83-110. 104 60 kulturellen Herkunft, ist eine relevante Forschungsfrage, wie AsylbewerberInnen und auch die „Einheimischen“ mit diesen Andersartigkeiten umgehen. Ebenfalls Teil der Eigenwahrnehmung, die an soziale und kulturelle Bedingungen geknüpft ist, ist die Art Essensaufnahme und deren Zutaten, die der Körper verarbeitet. Das Schlaf- und Bewegungsbedürfnis oder der Umgang mit Sexualität zählen dazu. Bezüglich des Essens differieren die Sorten der Teller, des Bestecks, die Ordnung, in der sie auf dem Tisch liegen. Ebenfalls ist die Sitzordnung oder Zeitpunkt der Essensaufnahme unterschiedlich, welche Riten vorher und hinterher vollführt werden, sind sozial und kulturell definiert. Aber auch die Art der Zubereitung und die Inhaltsstoffe des Essens sind schichtspezifisch, da sie vom ökonomischen Kapital und dem ausgebildeten Geschmack abhängen. Eine ausführliche Studie zu klassenspezifischen Geschmäckern und Stilen hat Bourdieu mit seinem Buch „Die feinen Unterschiede“ vorgelegt. Eine der Thesen Mary Douglas´ lautet, dass mit zunehmender Distanz zum Physiologischen ein Wachstum sozialer Distanz folge, mit differenzierteren Klassifikationssystemen und dem Druck ihrer Erhaltung wird der Eindruck von körperlosen Wesen gestärkt – mit Zunahme des Hierarchiegrades wachse die Disziplinierung des Körpers. Dies können wir in vielen Beiträgen zur „virtuellen Welt“, „virtuellen Räumen“ und der steigenden Bedeutung physischferner Tätigkeiten bzw. der Trennung von Ort und Erfahrungsraum verfolgen.106 In unserem kulturellen Kontext stellt sich die Frage, wie die Körper der AsylbewerberInnen beeinträchtigt werden und wie dies gesamtgesellschaftlich zu deuten ist. Marcel Mauss geht beispielsweise von der Geprägtheit aller körperlichen Aktivitäten durch die Kultur aus. Dieser Gedanken ist dem der Inkorporierung Bourdieus ähnlich, auf den ich mich in dieser Arbeit stütze. So ist es möglich aufgrund von körperlichen Aktivitäten Kontrollmechanismen und auch Machtstrukturen zu erkennen. Körperbeherrschung und Körperbewusstsein, die sich als Form im Einfluss rechtlicher Strukturen auf räumliche konkretisiert in dieser Arbeit wiederfinden, seien im Laufe der Jahrhunderte stets infolge der Besetzung des Körpers durch die Macht, nicht nur in repressiver Form, erworben worden, so Foucault in seiner „Mikrophysik der Macht“. Mit dem Besetzen des Körpers durch die Macht, erleichtert durch zunehmendes Wissen um körperliche Vorgänge, sei die Kontrolle dessen erforderlich. Aufbegehren gegen diese Macht, gegen die Kontrolle des Körpers finde beispielsweise statt bei beginnenden Rückforderungen des Körpers, die sich im Streit um Gesetzgebung zur Abtreibung oder in der Liebe ohne Heirat finden. Macht ist also nicht unkörperlich und ideell. 106 Vgl.: Löw, Martina: Raumsoziologie Frankfurt/ Main 2001, S. 93ff. 61 Historische Aufarbeitungen der Bestrafungsformen, also der Umsetzung und Einhaltung rechtlicher Strukturen, insbesondere durch staatliche Gewalten, beschreibt Michel Foucault ebenso. Er betont den Umschwung der einst körperlichen Bestrafungen, die durch den Schmerz des Körpers die Seele der betreffenden Person läutern sollte, hin zu der Entkörperlichung von Strafen, zu Überwachung durch Sichtbarkeit aufgrund einer veränderten Politik statt aus „humanistischen“ Gedanken. Durch die Veränderung des Körperideals wurde nun der Körper als Maschine gedacht. Strafen und Sanktionen soll(t)en normalisierend und ordnungserhaltend wirken.107 Die deutlich auf den Körper zielenden Begrenzungen der AsylbewerberInnen durch das Asylbewerberleistungsgesetz oder das Asylverfahrensgesetz zeigt allerdings, dass auch körperliche Vorgänge noch kontrolliert werden. Foucaults Interesse liegt in der Erforschung der Strategie der Platzierungen, der Mosaiksteinchen, aus denen sich die gegenwärtige Politik des Körpers zusammensetzt. 108 Als Teil des Spacings ist der Körper in seinen Haltungen, Positionierungen und Direktionalisierungen bei Bewegungen interessant. Kleine Haltungsänderungen in einer Situation können diese und somit auch den Raum verändern. Hier spiegeln sich Relationen und ihre Qualitäten wider. Allein in sprachlichen Redewendungen wird deutlich, wie Räumlichkeiten in Zusammenhang mit Positionierungen des menschlichen Körpers stehen, die Emotionen oder Gefühle ausdrücken. Beispiele finden sich genügend: Die Brust weitet sich oder wird eingeengt, die Decke fällt auf den Kopf, eine Person ist eng-, weit- oder offenherzig, eine hochgestellte Persönlichkeit. Positionierungen fungieren als Trägerinnen der Gefühle.109 2.2.6 Orte Zum Begriff: Der Ort spielt für den Raum eine tragende Rolle, denn alle Situationen bedürfen eines Ortes, der Teil des Raumes ist. Der Ort sei dort, wo sich das Geschehen ereigne, er sei eine Speerspitze, ein fester Punkt auf der Erdoberfläche, wie Otto Friedrich Bollnow begriffshistorisch erläutert. In vielen Begriffsverwendungen habe sich Ort auf die Ortschaft, also eine Siedlung von Gebäuden, beschränkt. In dem Sinne ist Ort eine Wohn- oder Geburtsangabe. Orte seien beständig und nicht austauschbar wie Stellen, Positionen oder Plätze, sie seien mehr punktuell statt flächig bestimmt.110 107 Vgl.: Foucault, Michel: Überwachen und Strafen – Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/ Main 1992, S. 26ff. 108 Vgl.: Foucault, Michel: Mikrophysik der Macht – Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin 1976, S. 111ff. 109 Vgl.: Kruse, Lenelis: Räumliche Umwelt, New York/ Berlin 1974, S. 60f. 110 Vgl.: Bollnow, Otto Friedrich: Mensch und Raum, Stuttgart/ Berlin/ Köln 2000, S. 38f. 62 Nach Löw, in einer der von mir übernommenen und modifizierten Annahmen, ist der Ort bestimmt durch das Spacing, das materielle und symbolische Aspekte beherbergt. In den meisten Lebensverläufen sind Orte als vorübergehende Stationen bestimmt, da sich niemand ein Leben lang an einem Ort aufhält. In der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung ist eine Erhöhung der Frequenz der Ortsveränderungen feststellbar, die sicherlich gefördert wird durch den Ausbau der ortsverbindenden Infrastruktur. Orte sind also durch Platzierungen charakterisiert und nicht mit ihnen identisch. Der Ort ist konkret benennbar z. B. als die Eisdiele nebenan, als Spielplatz um die Ecke oder als Wohnzimmer. Der Ort kann eine Stelle oder ein Platz sein, er ist meist geografisch markiert und zeichnet sich durch seine „Einzigartigkeit“ aus. Orte sind wichtig für Erinnerungen und die Sprache, da sie sich an örtlichen Gegebenheiten orientieren. Die Bedeutung von Orten im Prozess der Raumkonstitution ist analytisch durch drei Aspekte gekennzeichnet: Erstens können Bezeichnungen für individuelle oder kollektive einmalige Lokalisierungen gewonnen werden. Zweitens werden vergangene Platzierungen bezeichnet in Erinnerungen, obwohl diese nicht mehr wahrnehmbar sind. Drittens wird deutlich, dass sich auch der oder die Synthetisierende(n) an einem Ort befindet. So prägt die Lokalisierung der Synthetisierenden die Synthese des Raumes.111 Bourdieu geht in seinem Werk „Elend der Welt“ in einem Kapitel auf den „Ort und Ortseffekte“ ein, die er zuerst auf die Verschiedenartigkeit der Raumvolumina (in seinem metaphorischen „sozialen Raum“) von Besitztümern bezieht. Obdachlose z. B. seien gesellschaftlich nicht existent, da sie örtlich nicht lokalisierbar und ungebunden seien. Sie seien somit weder im physischen noch im sozialen Raum – hier siedelt Bourdieu eine Analogie zwischen seinem physischem und sozialem Raum an – bedeutsam. Diesen Aspekt berücksichtigt auch Hannah Arendt, wenn sie von der Kopplung der Standortlosigkeit und Rechtlosigkeit schreibt. Bourdieus Meinung nach sind Orte mit positiv oder negativ stigmatisierenden Eigenschaften existent, die in ihren physischen Strukturen soziale determinieren können und ihnen, einmal physisch geworden, ihre Beharrungskraft verleihen.112 Für AsylbewerberInnen sind in den Charaktereigenschaften der Gemeinschaftsunterkünfte die Stigmatisierungen zu suchen, die im empirischen Teil erarbeitet werden sollen. Ortsgebundenheit werde stark beeinflusst durch das vorhandene Kapital, besonders des ökonomischen, einer Person, einer Gruppe, denn dies bestimme über die Fähigkeit, Raum zu beherrschen und sich anzueignen. Ein Mangel an Kapital schlage sich in starker Ortsgebundenheit und in geringer Bewegung nieder. 111 Vgl.: Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt/ Main 2001, S. 198ff. Vgl.: Bourdieu, Pierre: Das Elend der Welt: Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Konstanz 1997, S. 159ff. 112 63 Mein Einwand gegen diese Kopplung von Ortsgebundenheit und niedrigem Kapital sind die bewussten Entscheidungen für einen Ort oder eine als Personeneigenschaft vorhandene Verbundenheit zu einem bestimmten Ort. Der Geburtsort in seiner Unterscheidung von z. B. Stadt und Land und das Umfeld während der folgenden Sozialisation seien insofern von besonderer Bedeutung, als dass er ökonomisches, kulturelles, symbolisches und soziales Kapital der Person mitbestimmt.113 Nicht so sehr der Geburtsort als die Lebensbedingungen einer heranwachsenden Person bestimmen m. E. über weitere Kapitalien. Die Konsequenzen von ständigen Ortswechseln zeigt Antje Flade, indem sie schreibt: Eine emotionale Bindung an die vertraute Alltagsumwelt und damit einhergehende Ortsverbundenheit könne bei einem Wohnortswechsel zu Anpassungsproblemen oder Heimweh führen. Heimat, von „Heim“ als Haus, Wohnort, Ort, an dem man sich niederlässt, stammend, sei das Verhältnis einer Person oder Gruppe zu einem Ort, die häufig mit Verbundenheit zu der sozialen und kulturellen Umwelt einhergehe. Die Person fühle sich zu dieser zugehörig. Für AusländerInnen kann dies bedeuten, dass sie sich trotz vertrauter alltäglicher Wohnumwelt nicht in Deutschland beheimatet fühlen. Das Gefühl der Beheimatung kann Meinung nach u. a. durch intensivere Beziehungen zu Einheimischen verändert werden. Ortsverbundenheit meint die Bindung an die soziale und räumliche Umwelt, nicht aber wie Heimat and die kulturelle. Räumliches Verwurzeltsein bringt die Autorin mit dem Besitztum, also der Art des Wohnverhältnisses und dem Grad der Raumaneignung, und dem wahrscheinlichen künftigen Wohnort, der geplanten Wohndauer, in Verbindung. Mit dem Begriff der Orts-Identität als Teil der Ich-Identität greift der Ort nach Flade in die Persönlichkeit ein und wird Teil derselbigen. Dies beschreibt auch Bourdieus Inkorporierungskonzept. Identifikation beinhalte Vorstellungen, Überzeugungen, Gefühle, Werte und Handlungsbereitschaft , die sich auf das Wohngebiet oder die Wohnung selbst beziehen wie Renovierungsarbeiten, Stadtteilinitiativen etc. Abhängige Variablen seien beispielsweise die Haushöhe, Hochhausbewohnende fühlten sich mehr mit ihrer Wohnung statt mit der Wohnumgebung verbunden, und persönliche Merkmale wie Lebenszyklusphase, Schichtzugehörigkeit oder Wohndauer. Besonders stark an den Wohnort gebunden seien junge, nicht-berufstätige Frauen. Die Konsequenzen, wenn Personen den Ort, an dem sie wohnen, nicht in ihr Selbst einbeziehen, seien Gefühle der Isolation und des fehlenden Engagements zur Gestaltung der Orte. Um dies zu vermeiden, sollten Häuser nicht zu hoch oder Verkehrslärm gemindert sein. Soziale, 113 Vgl.: Bourdieu, Pierre: Das Elend der Welt: Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Konstanz 1997, S. 165f. 64 also nachbarschaftliche, Kontakte ermöglicht werden, was eine längere Wohndauer und damit eine tiefere Verbundenheit mit dem Ort zur Folge haben würde.114 2.2.7 Exkurs 1: „Soziales Verhalten und Orte“ Soziale Verhaltensweisen, die einer bestimmten Gebäudeart oder Spacings bedürfen, sind stärker raumgebunden als solche, die dieser Anordnungen oder Bedingungen nicht bedürfen. Einige Orte sind für eine bestimmte Art von Tätigkeit errichtet und damit an ein soziales Verhalten gebunden. Wir gehen in die Bibliothek, um zu lesen oder zu schreiben, im Internet zu surfen oder in die Cafeteria, um Pausen zu genießen. Eine Person, die sich in der Bibliothek auf einen Tisch stellt und anfängt, sich tänzerisch zu bewegen, würde Aufsehen erregen und wahrscheinlich ein Eingreifen von anderen Personen bedingen. Es gäbe Orte115, die unterschiedlicher Voraussetzungen zum Eintritt und der Partizipation an dem Ereignis, das an diesem Ort stattfindet, bedürfen. Entsprechend den Voraussetzungen variieren die Wahrscheinlichkeiten, in sie hineinzugelangen und dazugehörige Verhaltensweisen ausführen zu können.116 Auf meine Untersuchungsgruppe bezogen: Leistungsspezifische Voraussetzungen werden AusländerInnen oder AsylbewerberInnen kaum erfüllen können, denn die Anerkennung ausländischer Abschlüsse ist lediglich für in Europa oder Nordamerika erworbene Titel gegeben. Des weiteren sind Abschlüsse oder Titel in einigen Ländern nicht Bestandteil des Bildungssystems. Die Menschen arbeiten, wo sie arbeiten dürfen oder sollen. Symbolisches Kapital kann also nur wirken, wenn es als solches anerkannt ist und zur Geltung gebracht werden darf. AsylbewerberInnen ist es im ersten Jahr ihres Asylverfahrens nicht erlaubt, irgendeine Arbeit anzunehmen. Ihnen kann vom Sozialamt eine soziale Arbeit angeboten werden zu einem sehr niedrigen Lohn. Die Art der Tätigkeiten beschränkt sich auf Gartenbau, Landschaftspflege oder Streichen von Wänden. Später können AsylbewerberInnen einer Erwerbstätigkeit nachgehen, wenn dieselbe Stelle weder von einer deutschen noch anderen ausländischen Person besetzt werden kann. Konsequenz ist ein faktisches Arbeitsverbot. Ein in unserer Gesellschaft 114 Vgl.: Flade, Antje: Wohnen psychologisch betrachtet, Bern/ Stuttgart/ Toronto 1987, S. 43-47. Vgl.: Pierre Bourdieu: Die verborgenen Mechanismen der Macht – Schriften zu Politik und Kultur 1, Hamburg 1992, S. 12f. 116 Beispiel: Der Raum, der während der Erwerbstätigkeit konstituiert wird, nimmt bei vielen Menschen zeitlich und innerhalb der persönlichen Werteskala einen hohen Rang ein, der Alltag, Freizeit und die Sicht auf die Welt und Dinge des Lebens beeinflusst. Die Atmosphäre zwischen den KollegInnen und Personen, mit denen jemand aufgrund ihrer/seiner beruflichen Tätigkeit Kontakt hat, wirkt sich stark auf Wohlbefinden, Lebenszufriedenheit und anderen Aktivitäten aus. Nun existieren große Unterschiede zwischen den Berufen bezüglich Gehalt, Zeitaufwand, Art der Tätigkeit und folglich auch der Räume des beruflichen Arbeitens. Voraussetzungen allgemein zu diesen Räumen sind anerkannte Schul- und Bildungsabschlüsse oder berufliche Ausbildungen. Neben leistungsspezifischen Voraussetzungen sind Geschlecht und Ethnie Kriterien auf dem Arbeitsmarkt. Außerhalb der Arbeitswelt werden Menschen mit dem Status „arbeitslos“ benachteiligt. 115 65 sinnstiftender und wichtiger Raum, der Arbeits-Raum, der für Selbstwertgefühl, Zufriedenheit und Identitätsstiftung sorgt, fällt für die Untersuchungsgruppe weg. 2.2.8 Relationen Vilém Flusser versteht den Raum als aus Relationen bestehendes Netzwerk, als ein Netz von Fäden, das soziale Güter und Menschen aufeinander Bezug nehmen lässt.117 Diese Netzwerke zu beschreiben und zu charakterisieren ist Aufgabe der Sozialforschung. Michel Foucault definiert Relationen auf politischer Ebene, die sich z. B. in Form von Gesetzen auf AsylbewerberInnen auswirken, als Machtbeziehungen, die zwischen allen Punkten eines gesellschaftlichen Körpers verlaufen. Damit dieser in intendierter Weise funktionieren kann, bedarf es spezifischer Herrschaftsverhältnisse zwischen Personen, z. B. zwischen Heimpersonal oder SozialamtsmitarbeiterInnen und AsylbewerberInnen, mit relativer Autonomie und eigener Konfiguration118. Wie HeimleiterInnen, die einen Ermessensspielraum haben, um die Organisation und den Tagesablauf in der Gemeinschaftsunterkunft zu planen. Macht, betont Foucault, wird nicht nur auf politischer Ebene ausgeübt, sondern fängt in Familie oder Freundschaft an, also bei persönlichen, intimen Beziehungen. Erweitern möchte ich die Relationen auf soziale Güter, die ebenfalls in Machtbeziehungen relevant sind für die (Re-)Produktion von Herrschafts- oder Machtverhältnissen. Ich kann mich z. B. weigern, in der Bibliothek meinen Ausweis vorzulegen. Nehme ich die Bücher ohne Entleihung mit nach Hause, werden sich BibliotheksmitarbeiterInnen bemühen, mich vom Gehen abzuhalten oder beim nächsten Besuch Zutrittsverbot o. ä. erhalten. So wird das Abhängigkeitsverhältnis zwischen der Institution „Universitätsbibliothek“ und mir in der Rolle der „Bibliotheksnutzerin“ reproduziert. Relationen sind Beziehungen oder als Gebilde ausgeformt ein Netzwerk, das aus einer bestimmten Konfiguration von Relationen und deren Eigenschaften besteht. 2.2.9 Bezug zum Forschungsthema Der von mir modifizierte Löwsche Raum-Begriff stellt die Grundlage dieser Forschungsarbeit dar. Anhand des Raumkonzepts sollen einige Charakteristika der Räume des Lebens in Gemeinschaftsunterkünften, vor allem durch die räumliche Struktur des Wohnens, beschrieben und analysiert werden. 117 Vgl.: Flusser, Vilém: Raum und Zeit aus städtischer Sicht in: Martin Wentz (Hg.): Stadt-Räume (Die Zukunft des Städtischen Band 2), Frankfurt/ Main/ New York 1991, S. 20-24. 118 Vgl.: Foucault, Michel: Dispositive der Macht – über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, S. 17ff. 66 Die einzelnen Elemente des Raumkonzepts werden erläutert, um es empirisch erforschbar und verständlich zu machen. Ich werde mit dem Begriff des sozialen Verhaltens arbeiten, weil er für meine Untersuchungen als der geeignetste erscheint. Die Sichtbarkeit als Abstraktum visueller Wahrnehmung ist in zweierlei Varianten vorhanden: Einerseits als die für eine breite Öffentlichkeit oder als für wenige Personen. Erste Sichtbarkeit wird durch öffentliche Medien ermöglicht oder in der Präsenz an gesellschaftlich relevanten Orten. Sie zeigt die Popularität und damit die gesellschaftliche Bedeutung eines Themas, einer Gruppe oder von Personen. Der Inhalt und die Anerkennung der Informationen bestimmt die Einstellungen und Gedanken der „Sehenden“ über das Thema, die Person oder Gruppe. Diesen Aspekt muss ich aus Zeit- und Platzgründen vernachlässigen und wende mich der zweiten Sichtbarkeitskategorie zu, die eine Sichtbarkeit für wenige mächtige Personen ist. Sie können Informationen über andere Personen erhalten und durch sie über Gruppen und Personen Macht ausüben. So sind staatliche Kontrollinstanzen, in dieser Untersuchung die Ausländerbehörde, die Polizei, das Sozialamt oder das Arbeitsamt wissende Institutionen, die viele Informationen über AsylbewerberInnen besitzen. Mittels der Informationen werden Entscheidungen getroffen und Kontrolle bzw. Macht ausgeübt. Die Wahrnehmung der AsylbewerberInnen zu dieser Sichtbarkeit ist Teil dieser Forschungsarbeit. Kollektive Erfahrungen der AsylbewerberInnen, also auch Erinnerungen, ziehen sich von Beginn der Flucht über die Stationen in deutschen Aufnahmeinrichtungen bis zu einer ähnlichen Alltagsgestaltung in den Gemeinschaftsunterkünften. Nun stellen sich Fragen nach kollektiven Wahrnehmungsmustern und nach Inkorporierungen, nach dem Einfluss des kollektiven Spacings auf die Syntheseleistungen der Raumkonstitution der AsylbewerberInnen. Diesen Fragen versuche ich durch Interviews und Beobachtungen forschend nachzugehen. Bei starker Neigung, sich gedanklich in Erinnerungen oder Erwartungen, also in „innere Räume“, zu vertiefen, kann geschlussfolgert werden, dass die Gegenwart, das „Hiersein“ zu einem „Dortsein“ wird. Die Intensität des „Dortseins“ in Erinnerungen oder Erwartungen mit deren Ursachen sind relevante Aspekte für diese Untersuchung. Charakteristika der sozialen Güter beschreiben den Raum, als dessen Teil sie konstituiert werden. Sie können Auskunft über Funktion, sozialen Sinn, Ästhetik und damit über die soziale Stellung der AsylbewerberInnen geben. Die Dreiteilung des Spacings schien mir analytisch sinnvoll und empirisch nachvollziehbar. (Möglichkeiten der) Positionierungen bei der Zimmergestaltung der ProbandInnen werde ich während meiner Beobachtungen und Interviews berücksichtigen. Direktionalisierungen werden empirisch in dieser Arbeit eine Randerscheinung bleiben. 67 Menschliche Körper sind als Teil der Raumkonstitutionen in der Eigenwahrnehmung und Fremdwahrnehmung zu berücksichtigen. Körper wird nicht getrennt vom Sozialen gedacht, Spuren des Sozialen sind in Körperkonstitution, Kleidung, Frisur, Haltungen etc. ablesbar und werden für die Gruppe der AsylbewerberInnen aufgegriffen. Wie sich Macht, in dieser Untersuchung in Form von Gesetzen und deren Kontrollinstitutionen, strukturell auf Körper auswirkt, wie sie sich auf Wahrnehmungen, Vorstellungen und Wünsche niederschlagen, hat für die Gruppe der AsylbewerberInnen eine große Relevanz. Orte als determiniert durch Besitzverhältnisse (Bourdieus Orts-Begriff) ist ein empirisch erfassbarer Aspekt. Physische, körperliche, räumliche Stigmatisierungen in Gemeinschaftsunterkünften sind durch sie lesbar. Emotionale Bindungen, die mit Orten zusammenhängen, zeigt Flade an den Identifikationen mit der eigenen Wohnung, mit dem Heim, mit der Heimat. Die Perspektive der AsylbewerberInnen auf ihre Identifikationsmöglichkeiten bezüglich ihres Wohnens werde ich empirisch aufgreifen. Relationen, als Grundlage von Räumen, sind zwischen sozialen Gütern und den AsylbewerberInnen, zwischen den Personen selbst, zwischen Kontrollinstitutionen und AsylbewerberInnen, zwischen „Helfenden“ und AsylbewerberInnen, existent. Ihre Qualität ist für die Charakterisierungen der Asyl-Räume sehr bedeutsam. 2.3 Räumliche, rechtliche und Verhaltens-Strukturen mit einigen Wechselwirkungen Strukturen verstehe ich als relativ dauerhafte Gebilde und Verhaltens- bzw. Handlungszusammenhänge eines Relationsgeflechtes. Die soziale Struktur fungiert als Richtlinie des eigenen Verhaltens.119 Strukturen müssen (re)produziert werden in konkreten Situationen, Unterstützung leisten hierbei Normen, Rituale, Regeln oder Institutionen. Bourdieus Strukturalismus bindet den Habitus-Begriff, den er von Erwin Panofsky aufgreift120, in seine Schriften ein. Habitus dient als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis. Im Habitus sind die Strukturen der Kultur, der sozialen Herkunft eingelagert, aus die eine Person kommt. Er gibt ihn als Zugehörige(n) eben seiner „Klasse“ (bzw. Schicht oder Milieu) für andere zu erkennen in konkreten Situationen. 119 120 Vgl.: Reinhold, Gerd u.a. (Hg.): Soziologie-Lexikon, München/ Wien 2000, S. 652. Vgl.: Bourdieu, Pierre: : Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt/ Main 1970, S. 131. 68 2.3.1 Räumliche Strukturen Löw schreibt bezüglich räumlicher Strukturen, die sie als eine Variante gesellschaftlicher Strukturen erkennt, dass man von räumlichen Strukturen sprechen kann, „wenn die Konstitution von Räumen, das heißt entweder die Anordnung von Gütern bzw. Menschen oder die Synthese von Gütern bzw. Menschen zu Räumen (das Wiedererkennen, Verknüpfen und Erspüren von (An-)Ordnungen), in Regeln eingeschrieben und durch Ressourcen abgesichert ist, welche unabhängig von Ort und Zeitpunkt rekursiv in Institutionen eingelagert sind.“121 Sie schreibt weiter, dass sich im Alltag die Konstitution von Raum mittels Routinen und Gewohnheiten vereinfacht. „Über die repititiven Handlungen werden räumliche Strukturen rekursiv reproduziert. Räumliche Strukturen sind in Institutionen eingelagert sind, die durch relationale Platzierungen und das Wiedererkennen bzw. Reproduzieren dieser (An)Ordnungen repititiv wiederholt werden.“122 Repititiv bedeutet gewohnheitsmäßiges Handeln auf Grundlage von individuell angeeigneter Handlungsmuster und -abläufe. Sie stellen eine Vorstufe zur Bildung von Symbolen dar. Als Kreation von nicht Vorhandenem, als künstlerischer Prozess soll die Symbolbildung nicht nur Verletztes wieder gutmachen, Verlorenes wiederherstellen, sondern auch innere Ideale (psychoanalytisch: Über-Ich) gesucht werden, mit denen wir uns identifizieren123. Symbole und Verhaltensmuster sowie selektive Wahrnehmungen erleichtern uns den Alltag, damit wir diesen ohne ständige Überforderung oder Desorientierung organisieren können.124 Die Art und Auswahl der Handlungs- bzw. Verhaltensabläufe, die für eine Person repititiv werden, ist abhängig von Faktoren wie kultureller und familiärer Sozialisation, zu der Essund Trinkgewohnheiten oder Essenszeiten gehören. Umweltfaktoren wie Klima oder individuelle Fähigkeiten, körperliche Voraussetzungen und Begabungen bestimmen die Art und Auswahl der Verhaltensabläufe. Löw, Gedanken Anthony Giddens´ aufgreifend, teilt Bewusstsein in diskursives und praktisches ein. Ersteres meine Sachverhalte, die Menschen in Worte fassen können, die bewusst gedacht und kommunizierbar, die in Begrifflichkeiten geformt seien. Praktisches Bewusstsein sei nicht auf bewusste Reflexion zugreifendes Wissen (auch im körperlichen oder emotionalen Sinne), das sich Automatismen, traditionellen oder rituellen Verhaltensabläufen, in Gewohnheiten zeigen könne. Beide Formen des Bewusstseins würden im Alltag durch das Unbewusste ergänzt, das verdrängte Motive des Handelns in sich trage und der Interpretationen bedürfe, so eine These 121 Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt/ Main 2001, S. 171. Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt/ Main 2001, S. 263. 123 Vgl.: Michel, Paul (Hg.): Symbolik von Ort und Raum – Schriften zur Symbolforschung, Bern 1997, S. 21f. 124 Vgl.: Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt/ Main 2001, S. 161ff. 122 69 über das Unbewusste. Für die Konstitution von Raum ist ihrer Meinung nach in der Regel das praktische Bewusstsein gefordert, welches sich darin manifestiere, dass Menschen selten über Räume sprechen, die sie schaffen und konstituieren.125 Aus den Stellungen im sozialen Raum heraus kämpfen laut Bourdieu die Personen und Gruppen symbolisch um eine legitime Sicht auf die soziale Welt mit den ihr zur Verfügung stehenden Kapitalien. Symbolischer Kampf ist, so Löw, eine soziale Tätigkeit und wird nicht als Produkt kognitiver Prozesse aufgefasst126 Da die Mittel, einen Kampf zu führen, sehr ungleich verteilt sind, kann in vielen Bereichen nicht von Kampf geschrieben werden, da entweder die Intention der Auseinandersetzung auf einer oder beiden Seiten nicht vorhanden ist oder im vorhinein der/die SiegerIn feststeht. Im Falle der AsylbewerberInnen sind ihre Kampfmittel sehr gering und es stellt sich die Frage der Bereitschaft der AsylbewerberInnen zu kämpferischen Handlungen. 2.3.2 Wohnen als räumliche (Verhaltensweise und) Struktur Dieser Abschnitt widmet sich dem Wohnen, da der inhaltliche Schwerpunkt auf dem Wohnen der AsylbewerberInnen liegt. Die mit dem Wohnen verbundenen Bedürfnisse, Gefühle, Relationen sollen im empirischen Teil in ihrer Erfüllung und Qualität für AsylbewerberInnen interpretiert werden. Kruse verweist auf den Zusammenhang von Aufenthalt und Heimat. Die Aufenthaltsorte während eines Tages oder eines Lebens bezögen sich stets auf die Heimat, den ständigen Bezugspunkt im Leben. Innerhalb dieses Bereichs des Vertrauten und Gewohnten ist die Wohnung, das Wohnen anzusiedeln. Der Grundbedeutung des Begriffs „wohnen“ gehen „behagen“, „gefallen“, „zufrieden sein“, „lieben“ voraus. Wohnen habe sich im Sinne eines „verweilen“, „bleiben“ weiterentwickelt.127 Wohnen beruht auf Institutionalisierungen, da Wohnort der Ort ist, an den Personen (meist) täglich zurückkehren, an dem sie ihre „Privatsphäre“ entfalten und leben können. Wohnen kann als räumliche Struktur aufgefasst werden. Die Privatisierung des Lebens in der bürgerlichen Familie beschreibt Jürgen Habermas. Der architektonische Wandel ließe nachvollziehen, dass durch Abbau von Gemeinschaftszimmern eine Vereinsamung des einzelnen Familienmitglieds vorangetrieben wurde.128 Das Wohnen verbunden mit dem Familienleben wird inzwischen aufgelöst, da alternative Wohnformen oder „Single-Haushalte“ zunehmen. Selbstentfaltung oder Pflegen von intimen 125 Vgl.: Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt/ Main 2001, S. 161ff. Vgl.: Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt/ Main 2001, S. 180. 127 Vgl.: Kruse, Lenelis: Räumliche Umwelt, New York/ Berlin 1974, S. 40f. 128 Vgl.: Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit: Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt/ Main 1993, S. 90ff. 126 70 Beziehungen ist noch immer an das Wohnen gekoppelt. In wie weit diese Funktionen als Bestandteile der Privatsphäre, des Wohnens, erfüllt sind im Falle des „Lebens in Gemeinschaftsunterkünften“ bleibt zu erforschen. Dass Privatrechte historisch auf die freie Verfügung über kapitalistisch fungierendes Eigentum zurückreichen, zeigt die Kopplung des Privaten an das Ökonomische. Daher werde ich ein Augenmerk auf ökonomisches Kapital und die Relevanz von Besitz bzw. das Verfügen über finanzielle Ressourcen eingehen. Ziel ist, die „Vergleichsfolie“ der Normen und Gesetze unseres Staates einzubeziehen und an ihnen die Rechte und Gesetze der AsylbewerberInnen, vor allem deren Perspektive auf den Einfluss der Gesetze auf ihr Leben, zu spiegeln. Die Entwicklungen der „Aushöhlung des Privaten, der Intimsphäre“, in Form von Vereinsamungen oder „Fabrikationen“ der Einrichtungen, die sich auch an Architektur zeigen lässt, wie an Reihenhäusern als „zivile Version des Garnisonslebens“, und das öffentlicher Werden der Arbeits- und Organisationswelt sind laut Habermas Merkmale der Gegenwart. Die Qualität der Aushöhlung des Privaten, der Intimsphäre ist im Heimleben verschieden der normalen, bürgerlich verankerten Bevölkerung. Die Erkenntnissuche durch die Forschungsfrage nach den Charaktereigenschaften der „Asyl-Räume“ greift den Aspekt der Qualität der Aushöhlung des Privaten bei der Gruppe der AsylbewerberInnen auf. Des weiteren beschreibt Habermas die Veröffentlichung des Privatlebens, die z. B. in Form von dünnen Wänden, die Intimsphäre erschweren und Möglichkeiten der Sozial-Kontrolle erhöhen, und die Privatisierung der Öffentlichkeit, die sich z. B. in Nachbarschaftsbeziehungen zeigen. Privatheit sei folglich nicht gegebenes Medium des Wohnens, sondern muss hergestellt werden. Voraussetzung einer sozialen Ausgewogenheit sei ein „gesundes“ Wechselverhältnis zwischen privater und öffentlicher Sphäre, das (nicht nur) im urbanen Leben gestört sei. Das Einschrumpfen des Privatlebens auf die funktionsentlasteten und autoritätsgeschwächten Kleinfamilien ist die Folge. 129 Eine Wiener Studie betont die Bedeutung von Schutz, Sicherheit und Ungestörtheit in Wohnungen, die für die meisten befragten Personen relevante Bedürfnisse sind. Diese „Intimität eines Raumes“ und der persönliche Bezug zur eigenen Wohnung sollte gewahrt werden. Der Identifikationsfaktor sollte gegeben sein, da so ein Bewusstsein Platz findet von Selbstgestaltung und des „Eigenraumes“. Der Identifikationsbedarf ist interindividuell verschieden, woraus auch unterschiedliche Mobilitätsbereitschaften ergeben.130 129 Vgl.: Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit: Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt/ Main 1993, S. 244ff. 130 Vgl.: Institut für empirische Sozialforschung: Intimsphäre und Öffentlichkeitsraum im Wohnbereich, Wien 1972, S. 6-12. 71 Das Heimleben der AsylbewerberInnen in Mehrbettzimmern, fehlenden bzw. „unbelebten“ Gemeinschaftszimmern (siehe Anhang XVI Bilder Nr. 5 bis Nr. 7, Nr. 19 bis Nr. 21 und Nr. 23), die wenn überhaupt nur kurzzeitig mit Leben gefüllt werden, ist noch stärker der Intimsphäre beraubt. Es stellt m. E. die Fortsetzung der beschriebenen Tendenz dar und ist deswegen Extremausprägung gesellschaftlicher Entwicklungen, die Spiegel gegenwärtiger Entwicklungen sind. Hartmut Häussermann und Walter Siebel gehen in ihrer „Soziologie des Wohnens“ von einer veränderten Funktion des Wohnens in der Moderne aus. Denn trotz steigender Aufenthaltsdauer außerhalb der Wohnung, steige die Quadratmeterzahl pro Kopf kontinuierlich an. Dies deute auf die Funktionen der Erholung und Entspannung hin, auf die Wichtigkeit der Wohnung als „Gegenort“ zur Arbeitswelt. Die Wohnung als Ort der Familie, der Intimität und Emotionalität, der Identität131, werde immer mehr durch ökonomische und rechtliche Bedingungen wie DIN-Normen oder Bauverordnungen bestimmt. Durch den Einzug funktions- und tätigkeitsgebundener Zimmer werden Verhaltensdisziplinierungen erleichtert. Bürgerliches Wohnen als „Idealtypus“, deren erzieherische Aspekte durch feste Ordnungsund Hygienevorstellungen132 realisiert werden, sei immer noch gesellschaftlicher Konsens. 133 Löw, sich auf Bourdieu beziehend, betont die Schwierigkeiten, die entstehen, müssen Menschen sich auf längere Sicht in Wohnungen aufhalten, die für Handlungs-, Verhaltensstrukturen von Personen anderer Kulturen konzipiert wurden. Sie stoßen sich mit ihnen nicht eigenen Strukturen, ihre Handlungsverläufe schreiben sich in anderer Weise in Wohnungen ein. Bei der Konstitution von Räumen werden Grenzen, die Verhaltensweisen (ver-)hindern können, nicht nur durch Kapitalienarmut, sondern auch durch Handlungsdifferenzen gezogen, auf welche „fremde“ Personen, Gruppen stoßen.134 Die Wohnung als relativ stabile räumliche Gegebenheit, als Platzierung, trägt in starkem Maße für Personen oder Gruppen dazu bei, Gewohnheiten zu stiften, räumliche Strukturen zu schaffen. Sie ist der „private“, der „intime“ Ort, an dem sich ebensolche Handlungs- und Verhaltensstrukturen herausbilden mittels Institutionalisierungen. 131 In einer Studie über die Selbstbeschreibung lag die Einrichtung und Art des Wohnens an zweiter Stelle. Dass auch für Gemeinschaftsunterkünfte der AsylbewerberInnen genaue Hygienevorschriften empfohlen werden, ist aus einem Papier des „Sächsischen Staatsministeriums für Soziales“ ersichtlich. Es wurde 2002 eine Empfehlung erarbeitet, die einen Rahmen-Hygieneplan beinhaltet, der u.a. für „Gemeinschaftsunterkünfte für Erwachsene (Asylbewerber, Spätaussiedler, Flüchtlinge und Obdachlose)“ zutrifft. Diese Empfehlungen sind den Gesundheitsämtern übergeben worden und dienen der Erarbeitung der vom Gesetz geforderten einrichtungsspezifischen Hygienepläne, die noch folgen werden. In: Sächsisches Staatsministerium für Soziales zum Thema: Rahmen-Hygieneplan „Gemeinschaftsunterkünfte für Erwachsene“ (Asylbewerber, Spätaussiedler, Flüchtlinge und Obdachlose), Dresden 24.11.2002. 133 Vgl.: Häussermann, Hartmut/ Siebel, Walter: Soziologie des Wohnens – eine Einführung in Wandel und Ausdifferenzierung des Wohnens, Weinheim/ München 1996, S. 15ff. 134 Vgl.: Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt/ Main 2001, S. 184f. 132 72 Verhaltensstrukturen übertragen sich auf andere Ebenen und erzeugen so z. B. räumliche, die im Falle der AsylbewerberInnen von den Gesetzen und den Heimordnungen bedingt werden. Das Inventar der Zimmer wird gestellt, ebenso die Gebäude der Gemeinschaftsunterkünfte. So fände der Habitus im Habitat, in der Art des Wohnens, seinen Niederschlag bzw. werde durch das festgelegte für alle AsylbewerberInnen ähnliche Inventar der Habitus geformt.135 Die Art der Einrichtung, die Lage in der Stadt, die Zimmeraufteilung und Funktionseinrichtungen seien abhängig vom Habitat einer Person oder Gruppe, wie Bourdieu ebenfalls ausführlich in seinem Buch „Die feinen Unterschiede“ ausführt. Erwähnenswert ist der Verweis Foucaults, die Macht tränke das Wohnen, seine Verhältnisse, die Nachbarschaft etc. wie das Wasser einen Schwamm. Er spricht nicht von Aneignung, von dauerhafter Präsenz der Macht, sondern von wiederholenden Kämpfen in Situationen, in denen sich Macht zeigen, manifestieren kann. Sie bedürfe der wiederkehrenden Bestätigung des Wirkens.136 Prinzipiell stimme ich Foucaults Aussage zu, doch bezüglich der Gruppe der AsylbewerberInnen sind Kämpfe um die Wohnverhältnisse und Raumaneignungen, die mit ihr einhergehen, wirkungslos, da die Grenzen durch die rechtlichen Beschränkungen sehr eng sind. Personen oder Gruppen, die in einen Raum137 eindringen, müssten, so Bourdieu, stillschweigend dessen Bedingungen erfüllen. In Museen, medizinischen oder rechtlichen Institutionen unterliegen die Eintretenden meist Regeln, sind mit einem Anliegen in die Institution gekommen, zweckgebunden, zielgerichtet erschienen. Auch in den Gemeinschaftsunterkünften ist das Zutrittsrecht beschränkt. Entweder muss der Betretende seinen Namen und einen Besuchsgrund beim „Portier“ hinterlassen oder die Eingangshalle wird per Kameras überwacht. Durch diese kann zumindest im nachhinein kontrolliert werden, wer sich, zu welchem Zeitpunkt, in welche Richtung bewegt hat. Weitere Bedingungen können Besuchszeiten z. B. in Krankenhäusern oder Psychiatrien sein, Kleidungsvorschriften oder immer eingeschränkte Verhaltensspielräume. Ein übriges für die Verfestigung räumlicher Strukturen durch rechtliche habe die Wohnungsbaupolitik mittels Steuergesetzgebung und Wohneigentumsförderung getan. Sie habe eine politische Konstruktion des Raumes bewirkt, in dem die Nähe homogener Gruppen auf räumlicher Basis gefördert werde.138 Mittels dieser rechtlichen Eingriffe werde der Wohnungsbau 135 Vgl.: Bourdieu, Pierre: Das Elend der Welt: Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Konstanz 1997, S. 166. 136 Vgl.: Foucault, Michel: Mikrophysik der Macht – über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin 1976, S. 114. 137 Veränderung meinerseits: in eine räumliche Struktur, in eine Wohnung, ein Gebäude. 138 Vgl.: Bourdieu, Pierre: Die verborgenen Mechanismen der Macht – Schriften zu Politik und Kultur 1, Hamburg 1992, S. 10 - 23. 73 beschränkt und das staatliche, behördliche Wissen um die Art des Wohnens der Bevölkerung verfestigt. Mit der Erweiterung des Wissensbestandes werden die Kontroll- und Entscheidungsmöglichkeiten seitens der staatlichen Institutionen verstärkt. Den bourdieuschen Aspekt der sozialen Distinktion, den Siebel und Häussermann in ihrem Werk aufgreifen, möchte ich auf die AsylbewerberInnen übertragen, deren Wohnungseinrichtung und -lage politisiert, vorbestimmt ist, so zur Distinktion gereicht für andere Gruppen oder Personen. Sie ist Negativspiegel für die gesellschaftlich „besser Gestellten“, wobei die AsylbewerberInnen keine Möglichkeit haben, sich selbst positiv zu distinguieren. Die von Häussermann und Siebel untersuchte schlechte Wohnsituation von AusländerInnen, die auch in Studien Pierre Bourdieus über das Leiden in der französischen Gesellschaften thematisiert wird139, ist in Deutschland einerseits charakterisiert durch die anfangs unterschiedliche Bedürfnis- oder Schwerpunktlage, die sich allerdings im Laufe der Jahre denen der Deutschen angleicht und Unzufriedenheiten entstehen. Auffällig seien die mangelhaften Kenntnisse der Wohnbedürfnisse von AusländerInnen, die ein Desinteresse Deutschlands an dieser Bevölkerungsgruppe widerspiegele. Die beiden Autoren führen aus, dass der „Prototyp“ eines Einwanderers und auch eines Asylbewerbers männlich, jung, dynamisch, großstadtorientiert war, dessen Wohnung lediglich als Durchgangsstation fungiert. Heute seien aus vielen ehemals „prototypischen“ Ausländern durch Arbeits- durch Familiennachzug oder -gründung WohnausländerInnen geworden. Dieses Streben ist auch bei den AsylbewerberInnen zu erkennen, wenn sie das Bedürfnis nach Heirat oder Partnerschaft formulieren. So können sie ihre Lebenssituation verbessern und eine Chance erhalten, in Deutschland auf längere Sicht unter besseren Umständen zu leben. Letztgenannte Möglichkeit dient der emotionalen und meist auch sozialen Integration in Deutschland.140 Ebenso aussagekräftig sind Entwicklungen, dass Deutsche in den letzten 13 Jahren ihre Wohnfläche erhöht und AusländerInnen ihre vermindert haben. Dies sei u. U. mit deren Unterschichtzugehörigkeit begründbar. Ich gehe davon aus, dass Nationalität und Schichtzugehörigkeit sich in gegenseitiger Abhängigkeit befinden. Häufig müssen AusländerInnen für Wohnungen Aufschläge bezahlen oder die Standorte sind mit diversen Belastungen verbunden.141 139 Vgl.: Bourdieu, Pierre: Das Elend der Welt: Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Konstanz 1997, S. 165f 140 Vgl.: Seggern, Andreas von: Großstadt wider Willen – Zur Geschichte der Aufnahme und Integration von Flüchtlingen und vertriebenen in der Stadt Oldenburg nach 1944, Münster 1997, S. 346ff. 141 Vgl.: Häussermann, Hartmut/ Siebel, Walter: Soziologie des Wohnens – eine Einführung in Wandel und Ausdifferenzierung des Wohnens, Weinheim/ München 1996, S. 202f. 74 Bei der Eruierung der Wohnbedürfnisse liegen die Schwierigkeiten in deren Ermittlung. Zwar geben die WohnphysiologInnen einige Richtlinien auf Grundlage der Maße des eigenen Körpers, der Wahrnehmungsgrundlagen, der Lärmkulisse und der Grundbedürfnisse der Menschen an,142 doch ist klar, dass der aktuelle, auf die Mittelschicht bezogene Wohnungsmarkt wenig über Wohnbedürfnisse der Bevölkerung aussagt. Diese Einseitigkeit in der Wohnpolitik führt offensichtlich zu Unzufriedenheiten, denn die Ansprüche sind heterogen.143 Die neuen Wohnungsfragen ergeben sich für Häussermann und Siebel in den sozialen Machtgefällen der Wohnungsversorgung, die reflektiert und verstärkt wurden. Ihnen werde mittels Beteiligungsversuchen der BenutzerInnen bei Planung, Bau und Verwaltungen von Wohnungen versucht entgegenzuwirken.144 Achim Hahn beschreibt das „Wohnen als soziales Handeln“, das die Spielräume birgt, die Personen und Gruppen benötigen. Sie verhielten sich zum (Wohn-)Raum, als Teil des konkreten, mit raumaneignenden Tätigkeiten145 wie Aufräumen, Putzen und Einrichten. Nur wer sich in seiner nahen Umwelt zurechtfinde, könne dies auch in der entfernteren. Wohnen sieht er als praktische Tätigkeit, die an den vorgefundenen Tätigkeiten orientiert, die sinnhaft und von Stimmungen beeinträchtigt sind. So wirken auch Stimmungen des konstituierten Raumes auch auf unser Verhalten. Hahns detaillierten historischen Ausführungen zum gemeinschaftlichen Wohnen seit dem 19. Jahrhundert in Genossenschaften, Wohnprojekten führen zu Fragen der Orte und Inhalte von Gesprächen, von Kommunikationen,146 die auch in Studien interessant sein dürften. Aus den Wechselwirkungen der sozialräumlichen Ordnung, aus deren Möglichkeiten und den Fähigkeiten der Personen konstituiert sich die Wirklichkeit.147 142 Vgl.: Grandjean, Etienne: Wohnphysiologie – Grundlagen gesunden Wohnens, Zürich 1972, S. 67ff, 97f, 235ff, 269f. 143 Eine ältere Studie zum Thema Intimsphäre und Öffentlichkeitsraum im Wohnbereich stellte Indikatoren der Privatheit auf wie „Ungestörtes Schlafen“, „Vor-sich-hin-Singen“, „Gefühlen laut Ausdruck geben“ oder „Laute Geselligkeit am Abend“. Es wurden Personen, die in unterschiedlichen Gebäudeformen wohnten, befragt, ob sie sich in den verschiedenen Zimmern physisch oder psychisch in der dort ausgeübten Aktivität gestört fühlen. Auch wurde erforscht, in welchen Zimmern mit welchen Aktivitäten gefüllt werden. Eines der Ergebnisse war, dass es an zwei Dimensionen der Privatheit relativ häufig fehle: Ungestörtheit (Lärm und Schutz vor Einsicht in die Wohnungen) und Möglichkeiten zur Stille und Konzentration. Dies scheinen für viele Personen relevante Aspekte für ihre Wohnungen zu sein. In: Institut für empirische Sozialforschung: Intimsphäre und Öffentlichkeitsraum im Wohnbereich, Wien 1972. 144 Vgl.: Häussermann, Hartmut/ Siebel, Walter: Soziologie des Wohnens – eine Einführung in Wandel und Ausdifferenzierung des Wohnens, Weinheim/ München 1996, S. 285f. 145 Die Bedeutungen der raumaneignenden Tätigkeiten erwähnt Hahn nicht, eine Bedeutung ist m. E. gesteigertes Identifikationspotential mit den Wohnungen. So wirken Wohnungsputz oder die Reinigung vor oder nach Umzügen bereinigend für die Personen, die in ihnen leben, gelebt haben oder leben werden. Wer den „eigenen Dreck wegmacht“, schätzt hinterher die Sauberkeit höher und identifiziert sich stärker mit ihr. 146 Vgl.: Hahn, Achim: Wohnen als Erfahrung – Reflexionen und empirisch-soziologische Untersuchungen zur Pragmatik des Wohnens, Münster 1997, ab S. 35. 147 Vgl.: Hahn, Achim: Wohnen als Erfahrung – Reflexionen und empirisch-soziologische Untersuchungen zur Pragmatik des Wohnens, Münster 1997, S. 17ff. 75 Wohnen kann auch als Lernprozess betrachtet werden. Wohnerfahrungen als existentielle Situationen sind entscheidendes Kriterium, die bei Personen Erwartungen zu zukünftigen Wohnverhältnissen produzieren. Der Maßstab, mit dem eigenes Wohnen bemessen wird, ist Folge der Erwartungen und Erfahrungen im jeweiligen Leben. Je nach Maßstab sind die Menschen zufriedener oder unzufriedener mit ihrer Wohnsituation. Zum Teil ist das Wohnen vorstrukturiert durch Zimmergrößen, Himmelsausrichtungen, Feuchtigkeitskonzentrationen etc., teilweise kann es individuell geprägt und gestaltet werden. In Abhängigkeit von der Verfügbarkeit und Anwendbarkeit der (in erster Linie ökonomischen) Kapitalien im bourdieuschen Sinne und von Reglements wählen wir Wohnung in Lage, Einrichtung, Größe etc. aus. Wohngefühle seien an Gefühle der Gewöhnung und der Sicherheit gebunden. Erworbenes, also Besitz, könne zum Maßstab werden, um über eigenes Wohnen kompetent zu urteilen. Im praktischen Urteil sei das Wohngefühl ein sicheres Kriterium der Lageeinschätzung der eigenen Wohnsituation und wenn möglich von erwünschten Veränderungen dieser. Die eigene Wohnung sei vertraut, sie sei meist selbst eingerichtet und ausgewählt. Viele Personen verbänden Erinnerungen mit ihr, wüssten, dass sie dort schlafen werden, ihre Ruhestätte finden, geschützt vor allen Unsicherheiten des Lebens außerhalb der Wohnung. Eintretende Personen seien meist bekannt und genießen Vertrauen. Alltagshandlungen seien mit diesem Ort verbunden. Alphons Silbermann, den ich in den ausgeführten Annahmen folge, betont die politische Seite des Wohnens, das Sichtbarwerden des Ideologischen in der Wohnsituation. Diese wird in der Wohnung, ihrem Umfeld und ihren Wohnbedingungen erkennbar. Seiner Meinung nach ist die soziologische Variante einer Erforschung des Wohnens die der alltäglichen Prozesse mit den Fragen des „Wie?“, „Warum?“ und „Mit welchen Wirkungen?“ relevant, die wechselseitigen Beziehungen zwischen den Menschen und den Dingen (den sozialen Gütern). Beim Wohnen sei die Verbindung von Physis und Psyche stark Die Wohnung gelte als Ort der Intimität, Emotionalität und Körperlichkeit. Das Wohnerleben sei sozial und aktiv, es beinhalte Einstellungen, Haltungen und Verhaltensweisen. Die Person habe Anlass, so und nicht anders zu wohnen und Wohnen zu erleben.148 Otto Friedrich Bollnow erwähnt in seinem Buch „Mensch und Raum“, sich auf Mircea Eliade berufend, folgenden Aspekt: Kriterien der Abgeschlossenheit sollen erfüllt sein, die durch zu große Fenster oder Glaswände gestört werden würden. Die Größe des Raums sollte so bestimmt sein, dass der darin wohnende Mensch ihn mit Leben ausfüllen kann. Dies ist bei Personen sehr unterschiedlich, auch kulturell bedingt. 148 Vgl.: Silbermann, Alphons: Neues vom Wohnen der Deutschen (West), Köln 1991, S. 19. 76 Die Möbelstücke sollen derart im Zimmer angeordnet sein, dass weder der Eindruck einer Leere noch der Überladenheit entstehen und dass die Auswahl der Möbelstücke stimmig wirken kann. Diese Wertungen und Einschätzungen beruhen auf geschmacklichen Präferenzen. Zusammen mit Temperatur und Pflege der Wohnung spiegeln genannte Aspekte Teile des dort lebenden Menschen wider, seine ökonomischen Ressourcen (und anderen Kapitalien), seine soziale Herkunft wider. Gebrauchsspuren seien durchaus als positiv zu bewerten, da die Wohnung Ausdruck einer Geschichte der Wohnung, der Möbel und des Menschen seien.149 Die erwähnte Abgeschlossenheit kann in extremer, negativer Weise verwirklicht werden. Beispiele sind Bauten wie Gefängnisse oder das bewusst Beklemmungen erzeugende „Jüdische Museum“ in Berlin. Einige Gemeinschaftsunterkünfte sind – eher durch ihre Lage in der Stadt bzw. dem Land als durch die Architektur – durch Abgeschlossenheit geprägt, welche sich negativ auswirkt, wie ich im Empirie-Teil zeigen werde. Wohnen als kulturelle Handlung dient den Bewohnenden nach außen als Kommunikation identitätsrelevanter Merkmale und für die RezeptorInnenseite als Kommunikat der Identität der bewohnenden Person, so schreibt Ute Ritterfeld. Ebenso wichtig erscheint mir die Auffassung, dass die soziale Bedeutung der dinglichen Umwelt, also der sozialen Güter, der architektonischen Umsetzungen etc., nicht nur von der Physis charakterisiert ist, sondern von der Semiotik bestimmt, die sich durch Referenz und Zeichen korrelieren lassen mittels individueller oder kultureller Definitionen.150 Lebensstil und Geschmack sind Indikatoren der Zugehörigkeit zu einer Kultur, einer Schicht, welche dynamisiert sind und so Statusunterschiede mittels expressiver Symbolik Ausdruck verliehen wird: durch Kleidung, Wohnungseinrichtung oder Essenszubereitung. Bei alltagsästhetischen Urteilsfindungen (siehe Bourdieus „Die feinen Unterschiede“), die in kurzer Zeit getroffen werden, sind laut Ritterfeld soziale Komponenten ausschlaggebend, die semantischen Informationen seien die relevanten. Wenn wenige soziale Informationen vorhanden sind, greifen wir auf weitere Objektcharakteristika zurück wie die Ästhetik. Soziales, so Ritterfelds und auch meine Annahme, lässt sich nicht „sui generis“ erklären, sondern ist mit Physis und Psyche verwoben.151 2.3.3 Räumliche und soziale Verhaltens-Strukturen Soziale Verhaltensweisen, die bereits mit Strukturen durchtränkt sind oder einen großen Willensgrad seitens des Verhaltenden aufweisen, also habituelle, institutionalisierte, traditionelle, rituelle, automatisierte, sozialisierte oder bewusst geplante, unterliegen weniger dem situati149 Vgl.: Bollnow, Otto Friedrich: Mensch und Raum, Stuttgart/ Berlin/ Köln 2000, S. 151f. Vgl.: Ritterfeld, Ute: Psychologie der Wohnästhetik: Wie es uns gefällt, Weinheim 1996, S. 45ff. 151 Vgl.: Ritterfeld, Ute: Psychologie der Wohnästhetik: Wie es uns gefällt, Weinheim 1996, S. 51ff. 150 77 onsbedingten Einfluss der örtlichen Gegebenheiten und können im Gegenteil diese strukturieren. Beispiel: Jemand, der ausländisch aussieht, nimmt sich vor, in der Straßenbahn nach dem Weg zu fragen. Er tut dies und verwickelt so nach und nach drei bis vier Personen in ein Gespräch, das von dem kürzesten und besten Weg zum Zielort handelt. Die fragende Person hat durch ihre Handlung mehrere Facetten des Straßenbahn-Raumes beeinflusst. Den Straßenbahn-Raum allgemein charakterisiere und deute ich in einigen der in diesem Beispiel relevanten Aspekten folgendermaßen: a) In seiner Funktion dient der Straßenbahn-Raum der Beförderung von Personen. Ihn entgegen dieser Funktion einzusetzen, würde bei anderen Personen VergleichsAssoziationen des „eigentlichen“ Gebrauchs hervorrufen und zu Irritationen führen. Die funktionsbrechende Person fällt auf und kann mit verschiedenen Zuschreibungen belegt werden. b) Die räumliche Sitzordnung bedingt meist ein Nebeneinander- oder Hintereinandersitzen, die Interaktionen erschwert, da ein „Sich-in-die-Augen-schauen“ unwahrscheinlich ist. Diese Situation der physischen Nähe, des Kontaktes in Kopplung mit sozialer Distanz erklärt eine solche Raumanordnung. c) Der Straßenbahn-Raum ist gekoppelt an die Norm des Schweigens unter sich fremden Personen. Die soziale Distanz soll im großstädtischen Leben trotz räumlicher Nähe erhalten bleiben.152 Das Fehlen passend erscheinender Verhaltensweisen, gerade wegen der physischen Nähe mit fehlender Vertrautheit zu den Personen in dieser Situation lässt die Anwesenden tendenziell sprachlos bleiben. Allgemein bedeutet ein Ansprechen einer anderen Person einen Regelbruch, eine Störung der Situation und einem Wirken entgegen der Struktur, der Norm des Schweigens. Die räumliche Struktur wird in diesem Beispiel bewusst und gewollt durch die ansprechende Person durchbrochen. Sie muss sich mit dem Gesicht zur ansprechenden Person wenden. Dies ist der erste Schritt zur Veränderung der räumlichen Struktur. Nun folgt entweder eine Irritation oder Unsicherheit der angesprochenen und die Situation erfassenden Personen gegenüber der ausländisch aussehenden ansprechenden Person. Der nächste Moment ist bestimmt von der Frage nach dem Weg zum Zielort, die der Situation ihre Besonderheit, ihre beginnende Strukturänderung nimmt. Nach dem Weg fragen ist im Repertoire der „erlaubten Handlungen“ des Straßenbahn-Raums enthalten. 152 Vgl.: Kramme, Rüdiger/ Rammstedt, Angela/ Rammstedt, Otthein (Hg.): Georg Simmel – Aufsätze und Abhandlungen 1901 – 1908, Band 1, Frankfurt/ Main 1995, S. 132 -154. 78 Nach der anfänglichen Irritation, der möglichern Verwunderung über die Deutschkenntnisse der doch ausländisch aussehenden Person, folgt wahrscheinlich Hilfsbereitschaft seitens der befragten Person dem Ortsfremden gegenüber. Die meisten umstehenden Personen, die dem Schauspiel beiwohnen, können sich aufgrund der „Normalität“ der Situation wieder entspannen oder sich am Gespräch beteiligen. Dies ein Beispiel der angedeuteten Änderung räumlicher Strukturen, die in diesem Beispiel eine „eingeplante“ Abweichung ist. Hingegen Handlungen, die mit Unsicherheiten oder Unklarheiten einhergehen, sind stärker determinierbar seitens des Raumes. Entweder ist die Offenheit der Situation und dem Außen gegenüber groß und dadurch das Verhalten determiniert von dieser. Wenn Emotionen ausgelöst werden, so geschieht dies meist aufgrund gerade passierter Ereignisse, die eine Person emotional werden lässt. Sind diese ausgelöst, bestimmen sie das weitere Verhalten, das meist – je nach Intensität der Emotion und der Selbstkontrolle des Menschen – die Situation im weiteren beeinflusst. Ausgelöste Emotionen wirken auf die räumliche Struktur. Bei Unklarheiten wie Missverständnissen, Unsicherheiten durch neue Situationen oder Räume, Unentschiedenheiten wie Meinungslosigkeit zu einem Thema oder Abhängigkeiten von der Umwelt durch Machtverhältnisse wird die räumliche Struktur stärker auf das soziale Verhalten wirken als umgekehrt. Als Beispiele können Prüfungssituationen genannt werden oder Therapiestunden, in denen die zu prüfende oder zu therapierende Person den Gegebenheiten des Raumes aufgrund ihrer Position im Machtgefüge und ihrer angenommenen Unsicherheiten stark ausgesetzt ist. Löw geht auf die Veränderungen und Brüche mit gewohnten Verhaltensweisen, also Veränderungen der Verhaltensstrukturen, ein. Sobald mehrere Personen bei der Konstituierung von Räumen beteiligt sind, wird die Situation ausgehandelt, die gewohnten Verhaltensweisen werden mit größerer Wahrscheinlichkeit in Frage gestellt, Aushandlungsprozesse werden erforderlich. Meist ist die Person oder Gruppe in der mächtigeren Position in der Lage, über die Art und Intensität der Abweichung von der Verhaltensstruktur zu bestimmen. Zu unterscheiden ist zwischen Veränderung von Gewohnheiten, dem Ablegen alter Gewohnheiten zugunsten neuer, und Abweichungen bzw. kreativ-gestalterischem Verhalten oder Handeln.153 Letztere charakterisieren sich durch Erfindung, Innovation, das Neue und Ungewöhnliche, das nicht aus Abgrenzung zum Gewohnten, als Art von „Protest“, entstand, sondern aus dem Drang des Schaffens und Produzierens. 153 Vgl.: Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt/ Main, Suhrkamp Verlag 2001, S. 185. 79 2.3.4 Einfluss und Umsetzung rechtlicher Strukturen auf räumliche Neben den konkreten Vorgaben zur räumlichen Anordnung und Strukturierung von Gemeinschaftsunterkünften, die den Rahmen der Verhaltensmöglichkeiten der AsylbewerberInnen darstellen, neben dem Asylbewerberleistungsgesetz, dem Asylverfahrensgesetz und der Heimordnung, kann man auf einer abstrakteren Ebene den Einfluss rechtlicher auf räumliche Strukturen analysieren. Teil des symbolischen Kampfes, den Bourdieu beschreibt, ist auch der Kampf um Recht, Gesetz und Ordnung. Wobei der die amtlichen Klassifizierungen und Rangordnungen erzeugende Staat autorisiert ist und andere Personen mit Autorität ausstattet, hohe symbolische Wirksamkeit auszuüben. Hierbei spiele der Berufs- und Bildungstitel als symbolisches Kapital, eine Art juristische Regel der gesellschaftlichen Wahrnehmung, eine wichtige Rolle. Er sei institutionalisiertes und legales Kapital. „Die objektive Festlegung der so konstruierten Klassen, d. h. von Regionen innerhalb des konstruierten Raumes von Positionen, macht Grundlage und Wirksamkeit der Klassifikationsstrategien verständlich, mit denen die Akteure den Raum in seiner gegebenen Gestalt zu erhalten bzw. zu verändern suchen,....“154 Mein Fokus bezüglich des Einflusses rechtlicher auf räumliche Strukturen liegt, wie bereits ausgeführt, in der Verwobenheit von materieller und abstrakter Raumkonstitution, der Verwobenheit von rechtlichen und räumlichen Strukturen, der Lesbarkeit von sozialen, symbolischen, kulturellen, rechtlichen und ökonomischen (Be-)Deutungen und Sinngebungen durch die Materie, durch die Raumkonstitutionen. Die zentrale Frage des Rechts im Abendland sieht Foucault in dessen Souveränität, also in Diskurs und Technik des Rechts. Seine Funktion sei, den Faktor „Herrschaft“ innerhalb der Macht zu beseitigen, und an seine Stelle zwei Dinge zu setzen: legitime Rechte der Souveränität und gesetzmäßige Verpflichtung zum Gehorsam. Dieser Gehorsam kommt bei Gruppen mit verstärkten gesetzlichen Auflagen wie bei AsylbewerberInnen voll zur Geltung. Unter den Begriff der „Herrschaftsverhältnisse“, die ebenfalls in dem Einfluss rechtlicher auf räumliche Strukturen ablesbar sind, fasst er nicht nur das Recht als Instrument der Herrschaft, sondern auch wie Recht produziert wird und welche Verhältnisse durch es entstehen.155 Interessiert hat Foucault die Mechanik der Macht, die in die Körper der Personen reicht, in ihre Einstellungen, Diskurse, in ihr alltägliches Leben. Er betont die zu seiner Lebzeit häufig ver- 154 Bourdieu, Pierre: Sozialer Raum und Klassen – Zwei Vorlesungen, Frankfurt am Main, Verlag Suhrkamp 1985 S. 28. 155 Vgl.: Foucault, Michel: Dispositive der Macht – über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, S. 78f. 80 tretenden Annahmen, Staatsapparat und politische Struktur seien Mächtesysteme, die verwoben doch analytisch differenzierbar seien.156 Disziplin(ierung), die rechtliche Strukturen und Ordnungen im Sinne einer mächtigen Person oder Gruppe umsetzt, erhält und der Funktion der Normalisierung dient, bedarf mehrer Bedingungen. Laut Foucault haben sie mit der Verteilung im Raum zu tun. Denn Disziplin(ierung) bedarf je nach Art und Ziel der Disziplinierung und der zu disziplinierenden Personen a) einer baulichen Abschließung eines Ortes, b) einer Parzellierung, die jeder Person ihren Platz zuweist, wobei jeder Platz mit einer Person besetzt wird, damit Gruppenverteilungen vermieden werden, die höhere „Unruhe-Potentiale“ darstellen könnten, c) der Schaffung eines nutzbaren Raumes und der Zuweisung von Funktionsstellen, damit nicht nur gefährliche Netzwerke, die die herrschende Ordnung verändern könnten, unterbunden werden, um einerseits in einem Produktionsbetrieb Produkte herstellen und andererseits den produzierenden Personen eine Aufgabe und Beschäftigung zu erteilen. In der Disziplin(ierung) seien die Personen austauschbar, denn sie zeichnen sich durch einen bestimmten Abstand zueinander und ihren Platz in einer Reihe aus. Die sie bezeichnende Größe sei ihr Platz in einer Klassifizierung. Auf diese Weise werde der „serielle Raum“ organisiert, mit, in und für den wir leben.157 In der Disziplin sind die Personen m. E. so lange austauschbar, bis sie als von der Norm abweichend registriert und erkannt werden. Erfüllen sie Funktion der Normalität nicht, werden sie aus der Gruppe der potentiellen PlatzbesetzerInnen ausgeschlossen. Personen mit schnell erkennbaren Stigmata wie Hautfarbe, Behinderungen, Kleidung o. ä. müssen entweder höhere Hürden nehmen zum Eintritt in eine Gruppe z. B. durch Nachweis gesellschaftlich anerkannter und hoch geschätzter Kapitalien oder werden aus eben genannter Gruppe entfernt. Einige der eben genannten allgemein gehaltenen Angaben Foucaults, möchte ich versuchen im Laufe meine Auswertungen zu konkretisieren. Insbesondere auf die bauliche Abschließung eines Ortes und der zugewiesenen Funktionsstellen werde ich eingehen. 156 Vgl.: Foucault, Michel: Mikrophysik der Macht – über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin 1976, S. 116. 157 Vgl.: Foucault, Michel: Überwachen und Strafen – Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/ Main 1992, S. 181f. 81 2.3.5 Exkurs 2: „Körper und Kontrolle“ Douglas weist auf Kontrollmechanismen hin, die ich als Umsetzung des Einflusses rechtlicher auf räumliche Strukturen einordne. Kontrolle wird zur Stabilisierung und Erhaltung der bereits institutionalisierten rechtlichen Strukturen wie Gesetze, Verordnungen, Regeln etc. eingesetzt. Für Douglas sind Sprache und Rituale Formen der Kontrolle, wobei Sprache bei uns durch Bildungseinrichtungen kontrolliert werde. Im Falle der AsylbewerberInnen besitzt das Erlernen der deutschen Sprache große Relevanz, da sie keinen Deutschunterricht erhalten und diesen bei geringem Taschengeld kaum selbst finanzieren können. Die Legitimation des sozialen Kontrollsystems erfährt diese in Demokratien durch Wahlen, die Partei(en) die Macht erteilen, um über neue Gesetze und Verordnungen bestimmen zu können. In der Exekutive werden diese praktisch umgesetzt und entsprechende Kontrollmechanismen ausbildet. Daraus resultiere sozialer Druck.158 M. E. bedingen sich sozialer Druck und die Ausbildung von Kontrollmechanismen gegenseitig und die Frage nach einer einseitigen Kausalität erachte ich nicht als hilfreichen Erkenntnisgewinn. Unter makrosoziologischem Fokus könne die Konstitution einer Gesellschaft oder Kultur, deren Werte und Normen und der Funktionsweisen aus dem sozialen Kontrollsystem abgeleitet werden. Ein Klassifikationsgitter könne zwischen den Polen der kollektiven und privaten Kontrolle aufgespannt werden. Auf einer weiteren Achse von Kontrolle der Gruppe auf einzelnen zu Kontrolle eines einzelnen auf die Gruppe variieren, die in ihren Intensitätsgraden der Kontrolle unterschiedlich seien. Tabelle zur Veranschaulichung: Starke Kontrolle durch einzelnen Schwache Kontrolle durch einzelnen Starke Kontrolle durch Gruppe Schwache Kontrolle durch Gruppe Kollektive Kontrolle ... Private Kontrolle HeimleiterIn kontrolliert AsylbewerberInnen im Heim ... ... PolitikerInnen kontrollieren indirekt und AmtsmitarbeiterInnen direkt die Daten der AsylbewerberInnen ... Heimmitarbeitenden und Zimmerteilende kontrollieren AsylbewerberInnen im Heim ... Für die Untersuchungsgruppe der „AsylbewerberInnen“ ist die Kontrolle durch Personen gesichert, die viele ihrer Tätigkeiten beschränken bzw. bestimmen: 158 Vgl.: Douglas, Mary: Ritual, Tabu und Körpersymbolik – sozialanthropologische Studie in Industriegesellschaft und Stammeskultur, Frankfurt/ Main 1993, S. 81ff. 82 a) Der/ die Heimleiter/in und Heimmitarbeitenden können die Besuchenden des einzelnen durch die Institution eines Portiers nachvollziehen. b) Die Heimleitung legt die Zimmereinteilung mit den Personen und Lage des Zimmers im Heim fest. Mit der Lage ist die Geräuschkulisse durch Nähe zur Küche oder Toilette, Geräusche der NachbarInnen etc. verbunden. Diese kann (Un)Zufriedenheiten schüren. Mit der Zimmerbelegung gehen soziale Konflikte einher aufgrund der physischen Nähe mit unvertrauten Personen und dem eingeschränkten Frei-Raum des/der einzelnen. c) Die SachbearbeiterInnen des Sozialamtes händigen in Dresden das Taschengeld und benötigte Krankenscheine aus. Damit haben sie Kontrolle über Gesundheit und Art der Behandlung der AsylbewerberInnen. Weitere personifizierte Kontroll- und Hilfsinstanzen sind SozialarbeiterInnen und PraktikantInnen in den Gemeinschaftsunterkünften. d) Mächtigere, aber nicht im „Feld“ arbeitende Personen sind PolitikerInnen und JuristInnen, deren Aufgabe es ist, über entsprechende Gesetze, Verordnungen und Regelungen zu diskutieren und zu bestimmen. Des weiteren werden Vereine oder Organisationen der AsylbewerberInnen innerhalb der Gemeinschaftsunterkünfte politische Tätigkeiten verboten oder der Aufbau einer solchen Struktur erschwert. Die Sprachschwierigkeiten und die Beschäftigung mit dem eigenen Lebensschicksal der AsylbewerberInnen tun ihr weiteres zur Verhinderung eines „Widerstandsaufbaus“. 2.3.6 Bezug zum Forschungsthema Räumliche, rechtliche und soziale Strukturen sind als gesellschaftliche faktisch verwoben und beeinflussen sich gegenseitig. Analytisch sind sie trennbar, um sie erforschen zu können. Ich betrachte in dieser Arbeit den Einfluss rechtlicher auf räumliche in Form des Wohnens in Gemeinschaftsunterkünften und damit auf soziale. Repititive Handlungen, die ich als Handlung- oder Verhaltensmuster benennen möchte, schreiben sich in Räume ein und werden wechselseitig zu räumlichen Strukturen oder von ihnen geformt. Bestehende Gesetze wie Asylbewerberleistungsgesetz oder Asylverfahrensgesetz wirken auf räumliche Strukturen. Die Einwirkungen und die Art der räumlichen Strukturen werde ich analysieren. Ich werde wahrscheinlich Schwierigkeiten haben, durch Interviews Informationen über räumliche Strukturen zu erhalten, wenn Löws Annahme stimmt, dass Raumkonstitution eher dem nicht-reflexiven, praktischen Bewusstsein zuzuordnen ist. 83 Räumliche Strukturen der Gemeinschaftsunterkünfte und die dort verhafteten sozialen Verhaltensstrukturen sind relational verbunden. Wie diese Relationen beschaffen sind bezüglich von Distinktion, Funktion, Gefühl, sozialem Sinn, sozialer Stellung, Kontrolle, Eigenbeteiligung und Erfahrungen der AsylbewerberInnen, ist Teil dieser Forschungsaufgabe. Auch stellen sich Fragen nach Wohngefühlen und der Erfüllung von Wohnbedürfnissen. Auf Foucault Bezug nehmend werde ich Aspekte wie Normalisierung durch Disziplinierung und Kontrolle von Personen, bezüglich der „Abgeschlossenheit von Orten“ untersuchen. Die Ästhetik und Stil der Kleidung als Indikator der Positionierung im „sozialen Raum“ und die Besitzverhältnisse auch im Wohnbereich geben Aufschlüsse über die soziale Stellung, über herrschende Machtverhältnisse und die Stellungen der AsylbewerberInnen in ihnen. Die Durchstrukturierung des Tagesablaufs, die Regelungen des Körperlichen durch Gesetzesvorgaben wie Sachleistungsprinzip u.ä. demonstrieren den Einfluss der Macht bis in die körperlichen Bedürfnisse der AsylbewerberInnen. Deren Perspektive im weiteren erarbeitet wird. In Anlehnung an Douglas möchte ich Sprache als Körperkontrollinstrument hervorheben und (entpersonifizierte) Instanzen der Kontrolle und deren Umgang mit AsylbewerberInnen, speziell in deren Wohnumgebung, erarbeiten. Unter der Annahme AsylbewerberInnen, als „Fremde“ in unserer Kultur, seien in ihren sozialen Verhaltensmustern und -abläufen in unterschiedlichem Ausmaß gestört bzw. verunsichert, ist einerseits die Qualität und Wirkung der Störung zu erforschen mittels Interviews und Beobachtungen. Andererseits kann aus den Unsicherheiten geschlussfolgert werden, dass auf erlernte Muster nicht mehr zurückgegriffen werden kann und somit der Einfluss der konstituierten Räume, der „Außenwelt“ zunimmt. 84 3 Forschungsdesign Wie sind „Asyl-Räume“ in der Eigen- und der Fremdperspektive charakterisiert? Wie können sie beschrieben, gedeutet und interpretiert werden? Das Forschungsdesign ist aus methodologischen Überlegungen, aus den Gegebenheiten des Forschungsfeldes und theoretischen Überlegungen entstanden. Wissen um Gesetze und rechtliche Strukturen sind angesichts der differenzierten Gesetzeslage im Asylbereich und deren direkte Einwirkungen auf die Lebensperspektiven der AsylbewerberInnen unerlässlich. Raumsoziologische Untersuchungen sind sinnvoll, da sie tiefere, weiter gefasste Erkenntnisse über das Leben der AsylbewerberInnen geben können als beispielsweise eine „Sozial(struktur)analyse“. Das Leben in Gemeinschaftsunterkünften stellt einen wichtigen lebensweltlichen Rahmen für AsylbewerberInnen dar. Die Einflüsse dieser Wohnform sind wesentlich für ihr Dasein. Die Verwobenheit der Strukturen: räumliche, rechtliche, soziale und somit die Verwobenheit von Materiellem und Abstraktem gibt vielfältigere Möglichkeiten des Zugangs zum Sozialen. Um zu klären, welche Aufgabe die Soziologie hat, werde ich mich auf Max Weber beziehen: Soziologie ist nach ihm erklärendes Verstehen von sozialem Handeln. Den Begriff des sozialen Handelns habe ich bereits erweitert in den des sozialen Verhaltens [siehe Kapitel II.2.1)]. So werde ich erklärendes Verstehen auf soziale Verhaltensweisen beziehen. Erkenntnisse von Sozial- und Kulturvorgängen sind nur denkbar auf der Grundlage der Bedeutungen, die Verhaltensweisen, Raumkonstitutionen und Wahrnehmungen von Zeichen je nach Wertekanon oder Habitus bedingen. Erklärendes Verstehen von sozialem Verhalten ergänze ich außerdem durch die Wechselwirkungen von sozialem Verhalten und Orten [siehe Kapitel II.2.6) Exkurs] und von sozialem Verhalten und Räumen. D. h. mittels der Analyse der Räume lassen sich soziale Vorgänge erklärend verstehen. Roland Girtlers Annahme, dass (soziales) Handeln bzw. Verhalten Symbole, soziale Strukturen, Machtrituale schaffe, möchte ich ebenfalls auf eine Wechselbeziehung ausdehnen. Ich arbeite mit der Annahme, soziales Verhalten und soziale Strukturen, auch räumliche und rechtliche Strukturen stehen in Relationen zueinander und beeinflussen sich gegenseitig.159 159 Vgl.: Girtler, Roland: Methoden der qualitativen Sozialforschung – Anleitung zur Feldarbeit, Wien/ Köln/ Graz 1988, S. 16ff. 85 Die Kontextgebundenheit sozialer Vorgänge an Ort und Zeitpunkt stehen Generalisierungen und Gesetzesmäßigkeiten dialektisch gegenüber. Es lassen sich, so meine Annahme, Tendenzen, Typisierungen und auch Generalisierungen erarbeiten, doch sind Kontextgegebenheiten der stets zu beschreibende und auszuformulierende Rahmen von wissenschaftlichen Arbeiten. Der Rahmen besteht in dieser Arbeit in den aus Gesetzestexten und Verordnungen entstandenen Lebensbedingungen von AsylbewerberInnen und deren Abstufungen im Umgang mit diesen. Ebenso sind die Forschungskontexte mitzuerklären, da sie den Forschungsgegenstand und die Forschungsergebnisse beeinflussen. Durch die in Untersuchung der konkreten Lebenswelt in der Eigen- und als Ergänzung der Fremdperspektive mit den sie durchtränkenden Strukturen versuche ich eine Verbindung der zwei Forschungstraditionen zu schaffen.160 Jede Feldforschung steht vor dem Problem, dass sie ihren Untersuchungsbereich mit seinen Eigenheiten und seiner Dynamik verstehen möchte. Dies erfordert methodische Annäherungen an den Untersuchungsgegenstand: die Einbettung der Analyseformen in die Organisierung der Feldforschung. In der gesamten Diplomarbeit gehe ich wie in den methodischen Annäherungen im Sinne des „work-in-progress“ der „Grounded Theory“ vor: Als theoretische Grundlagen fungieren methodologische Überlegungen, die eine erste Richtung der methodischen Vorgehens, einen Rahmen der Forschungsarbeit schaffen. Nun wird überlegt, in welcher Weise die Forschungsfragen oder Forschungshypothesen bearbeitet werden können. Das Untersuchungsfeld muss erkundschaftet werden, indem Kontakte geknüpft, mit Personen gesprochen und erste Beobachtungen getätigt werden. Dann entschieden sich die Forschenden für Untersuchungsmethoden und die ProbandInnen werden ausgewählt etc.. Für diese Forschungsarbeit gilt: 3.1 Methodologie Eine Besonderheit der Sozialwissenschaften besteht laut Ralf Bohnsack in den Vorstrukturierungen der Untersuchungsgegenstände, die bereits sinnhafte Konstruktionen der Welt sind. Das erfordere ein reflexives Verhältnis der Forschenden zu sich und ihrer Alltagspraxis, die als Teil des Forschungsprozesses anzusehen seien (siehe auch Alfred Schütz). So flößen in wissenschaftliche Untersuchungen die Alltagsinterpretationen und -reflexionen der ForscherInnen und der ProbandInnen ein.161 160 Vgl.: Eberle, Thomas Samuel: Lebensweltanalyse und Handlungstheorie – Beiträge zur verstehenden Soziologie, Konstanz 2000, S. 179ff. 161 Vgl.: Bohnsack, Ralf: Rekonstruktive Sozialforschung – Einführung in Methodologie und Praxis qualitativer Forschung, Opladen 2000, S. 12ff. 86 Manfred Lueger sieht drei Grundprinzipien der Sozialforschung: Reflexionen, die Abwesenheit von allgemeingültigen Richtlinien der Interpretation wie erklärendes Verstehen und die Prozesshaftigkeit des Untersuchungsprozesses wie sie die „Grounded Theory“ voraussetzt. So ist eine stete Modifizierung der Annahmen und Interpretationen im Auswertungsprozess möglich und nötig. Für die ForscherInnen gilt, so Girtler, dass die beobachteten oder interviewten ProbandInnen in ihrer Lebenswelt, mit deren Interpretationen und Lebens-Rahmen verstanden werden sollen. Die ForscherInnen sollen sich in sie einlassen, um sich möglichst dicht an die „wahren“ Interpretationen, in die Wahrheiten bzw. Wirklichkeitskonstruktionen der jeweils untersuchten Gruppen oder Personen, anzunähern. Dies versuchte ich umzusetzen, indem ich einige Male in die Gemeinschaftsunterkünfte ging, um Kontakte herzustellen und schließlich in einem zweiwöchigen Aufenthalt in einer der Gemeinschaftsunterkünfte die Lebenswelt der AsylbewerberInnen nachzuvollziehen suchte und Kontakte zu ihnen intensivieren konnte. Diese Art der Forschung, die von mir angewandt wurde, erfordere direkte Teilnahme oder freie Interviews, um menschliches Verhalten genauer und wirklichkeitsnaher erfassen und interpretieren zu können.162 Eine Schwierigkeit in meiner Untersuchung stellen die sprachlichen „Hürden“ dar. Die ProbandInnen sind nicht mit der deutschen Sprache aufgewachsen und können sich nicht so ausdrücken, wie sie es in ihrer Muttersprache können. Diese Verzerrungen durch fehlende Sprachkenntnisse muss ich hinnehmen, da ich mich gegen DometscherInnen entschied aufgrund fehlender finanzieller Ressourcen und dem verzerrenden Einfluss, den die Anwesenheit einer dritten Person auf die Interviewsituation haben kann. Der von AkteurInnen gemeinte Sinn als Teil von sozialen Verhaltensweisen könne für die Wissenschaft unzugänglich sein. Nur in einer indirekten Form durch das „erklärende Verstehen“ schaffe man den empathischen Zugang zum gemeinten Sinn. Das erklärende Verstehen, die Interpretationen der Daten im Auswertungsprozess seien von Vorstellungen, Ideen der Forschenden geprägt und bedürften der ständigen Reflexion und Transparenz im Forschungsprozess. So könnten die auftretenden Verzerrungseinflüsse durch die ForscherInnen minimiert bzw. nachvollzogen werden.163 Grundsätzlich sollte in einer Forschungsarbeit der Forschungskontext berücksichtigt werden. Er konstituiere und forme das Erkenntnisprodukt, er werde durch Leitdifferenzierungen bestimmt, welche spezifische Ordnungen der Welt gewährleisten. 162 Vgl.: Girtler, Roland: Methoden der qualitativen Sozialforschung – Anleitung zur Feldarbeit, Wien/ Köln/ Graz 1988, S. 21ff. 163 Vgl.: Lueger, Manfred: Grundlagen qualitativer Feldforschung, Wien 2000, S. 41ff. 87 3.1.1 Die Rolle der SoziologIn: Fremdheit als Prinzip Fremdheit als methodisches Prinzip lässt sich als Forderung in der empirischen Sozialforschung, besonders in der qualitativen, finden. Sie wird von einigen WissenschaftlerInnen als Voraussetzung für ihre Forschungsarbeiten angesehen. Ziel ist, die eigenen und die Einstellungen, Verhaltensweisen der ProbandInnen hinterfragen zu können.164 Fremdheit als Prinzip fließt besonders in den Anfangsphasen meines Forschungsprozesses in diese Arbeit ein. Fremd waren mir die Heime als Wohnform, in denen die von mir interviewten AsylbewerberInnen leben. Die Gebäudeformen des „Plattenbaus“ bzw. der dreistöckigen Mehr-Zimmer-Flure waren mir fremd. Ich brachte diese Gebäude höchstens mit Reisen und außergewöhnlichen Lebenssituationen in Verbindung und nicht mit einem Ort, an den ich über längere Zeit täglich zurückkehren werde und mein „Zuhause“ darstellt. Neben der genannten, mir fremden Architektur war mir auch die Art zu wohnen, die Organisationsstruktur in den Gemeinschaftsunterkünften, die Normen und Regeln fremd. Die Präsenz einer verwaltenden und kontrollierenden Instanz, die in (Unter)Bewusstsein und Wahrnehmungsfeld rücken, ist für mich ungewohnt. Z. B. in Form des „Portiers“ (siehe Anhang XVI Bilder Nr. 8 und Nr. 16), der alle Ein- und Austritte zur Gemeinschaftsunterkunft registriert oder in Form des täglichen Rundgangs des Hausmeisters durch Flure und Gemeinschaftsräume oder als Sozial-Kontrolle der AsylbewerberInnen untereinander. Die Heimordnungen [siehe Kapitel I.3.4)] und andere den Lebensalltag regulierende Maßnahmen sind mir in der Intensität noch nicht begegnet und blieben mir fremd. Neben diesen (alltags)organisatorischen und durch die Wohnform bedingten Fremdheitsaspekten kam der der kulturellen Vielfalt hinzu. Durch Freundschaften oder eigene Auslandsaufenthalte sind mir von Beginn an einige Kulturen vertraut gewesen wie die der iranischen, russischen oder angolanischen. Zu Personen aus diesen Kulturen konnte ich schneller Anschluss finden. Doch sind trotzdem einige Fremdheitsaspekte auch ihnen gegenüber spürbar gewesen. Hinzu kommt die Kulturvielfalt auf engem Raum, die nicht nur mich sondern auch die AsylbewerberInnen selbst überfordert(e). Nicht zu vergessen ist der Faktor „Fremdheit“ aufgrund ihres derzeitigen Aufenthaltslandes Deutschland und ihrer besonderen Lebenssituation. Diese „ethnologische“ Fremdheit lässt sich durch interindividuelle Differenzen begründen, durch die Zugehörigkeit zu verschiedenen sozialen und kulturellen Gruppen, durch die unterschiedlichen Positionierungen und Standorte im konkreten physischen und abstrakten sozialen Raum. 164 Vgl.: Straub, Jürgen/ Kempf, Wilhelm/ Werbik, Hans (Hg.): Psychologie – Eine Einführung – Grundlagen, Methoden, Perspektiven, München 1997, S. 713. 88 Hinzu kommt die Forderung an ForscherInnen, während des Forschungsprozesses unwissend zu sein, um sensibel wahrzunehmen, offen zu sein für das Untersuchungsfeld während der Interviews und der Beobachtungen. Der Versuch, sich überraschen lassen zu können von dem, was erzählt wird, was beobachtbar ist. Immer wieder während der Interviews nachzufragen, auch wenn es nicht nötig erscheint, keine schnellen Urteile zu fällen oder Schlussfolgerungen zu ziehen, die meine Forschungsergebnisse oder dessen Verlauf verzerren könnten. 3.1.2 Interpretative Sozialforschung Interpretative Sozialforschung wird hauptsächlich verwendet, wenn Fremdes in seinem andersartigen, milieugebundenen Umfeld erforscht werden soll und beruht auf zwei Paradigmen: der Offenheit und der Kommunikation. Offenheit wird als eben beschriebene Offenheit der Wahrnehmung vor und während des Forschungsprozesses angestrebt. Kommunikation meint insbesondere während der Kontaktaufnahme zu ProbandInnen und die Herstellung von Transparenz des Forschungsvorhabens gegenüber den potentiellen ProbandInnen. Auch während der Interviews ist Kommunikation ein mit Offenheit zu beachtender Aspekt. Karl Mannheim in Anlehnung an Karl Marx nimmt bezüglich der Generierung sozialen Sinns an, Wissen und Denken sei bedingt durch das Sein, durch die Lebensumstände. Also könne das größte Verständnis des/ der Fremden erlangt werden durch das Verstehen der Dramaturgie (Form) und der Metaphorik (Inhalt) der jeweiligen Wirklichkeitskonstruktionen.165 Die einseitige Bedingtheit erweitere ich auf Wechselbeziehungen zwischen Sein und Bewusstsein als ein gegenseitiger Austausch. Interpretieren als in Begrifflichkeiten gefasstes Verstehen, als Niederschrift von sozialen Vorgängen versteht Mannheim die Auswertungsschritte im Prozess des wissenschaftlichen Arbeitens. Verstehen hingegen sieht er als derart komplex an, dass es durch die Versprachlichung eingeschränkt werde, aber für wissenschaftliches Arbeiten unerlässlich sei. Die interpretierten Texte sollen im Original anderen zugänglich bleiben, um zu einem späteren Zeitpunkt eine Überprüfung bzw. eine weitere Perspektive auf den Untersuchungsgegenstand zu ermöglichen (siehe Anhang VIII und XI). Es stelle sich außerdem jeder interpretativen Sozialforschung die Aufgabe, die interpretativen Akte auf der Ebene der theoretischen Aussagen und ihren interpretativen Zugang zur sinnhaft vorkonstituierten Sozial- und Kulturwelt methodisch und methodologisch beständig mitzure- 165 Vgl.: Bohnsack, Ralf: Rekonstruktive Sozialforschung – Einführung in Methodologie und Praxis qualitativer Forschung, Opladen 1991, S. 24ff. 89 flektieren.166 In Wechselwirkung mit interpretativer Soziologie ist eine bestimmte Form der konstruktivistischen (und bürgerlichen) Auffassung erwachsen: Wir können Welt nicht erkennen, sondern nur erfahren, indem wir uns ihr zuwenden und in unseren Vorstellungen, Gedanken, Erinnerungen etc. eine Wirklichkeit erzeugen als Modell der Realität. Somit konzentriert sich diese Richtung der Sozialforschung auf das Verstehen, das Interpretieren der Konstruktion von der Wirklichkeit, die sich mit Bedingungen und Organisationsformen menschlichen Zusammenlebens befasst. Dieser Vorgang werde als (Re-)Konstruktion bezeichnet und beziehe sich auf Erzähltes oder Beobachtetes.167 Ein Vorteil teilnehmender Beobachtung, die am Rande in meiner Arbeit Berücksichtigung findet, ermöglicht nicht-sprachliche Kommunikationsformen bzw. das Erfassen leiblichräumlicher Organisation des Alltagshandelns zu erfassen.168 Genau diese räumlichen Ordnungen und damit Orientierungsmuster, sind Teil meiner Untersuchung mit der Erweiterung, dass ich auch die ProbandInnen selbst nach der Bedeutung der räumlichen Ordnungen befrage (siehe Kapitel II 4.). Die Maximen interpretativer Analyse in dialogischer Betrachtungsweise, wie Lueger sie vorschlägt, gehen von der wechselseitigen Abhängigkeit der Elemente einer Wirklichkeitskonstruktion aus. Diese können auch widersprüchlich zueinander stehen. Außerdem wird eine permanente Bewegung von Phänomenen angenommen. Da wir die Erkenntnisobjekte ständig umformen, bedarf das Wissen um Wirklichkeit ständiger Kritik und Reflexion. Das Verhältnis von Theorie und Untersuchungsgegenstand wird als eines thematisiert, dass die Indexikalität der Interviewten-Aussagen, also die Bedeutungen nicht-sprachlichen Äußerungen, Interpretationsleistungen, also Wissen und Methoden, seitens der ForscherInnen, erfordere. Sie sei am ehesten die Forschungshaltung, die alternative Sichtweisen erschließe und nach Neuem suche, sie hinterfrage ständig das erlangte Wissen und experimentiere so kreativ mit dem erlangten Wissen.169 In diesem Sinne versuche ich, einen möglichst tiefen und reflektierten Einblick in das Forschungsthema zu geben und Transparenz und Offenheit für die ProbandInnen und LeserInnen zu bewahren. 166 Vgl.: Eberle, Thomas Samuel: Lebensweltanalyse und Handlungstheorie – Beiträge zur verstehenden Soziologie, Konstanz 2000, S. 36f. 167 Vgl.: Lueger, Manfred: Grundlagen qualitativer Feldforschung, Wien 2000, S. 18ff. 168 Vgl.: Bohnsack, Ralf: Rekonstruktive Sozialforschung – Einführung in Methodologie und Praxis qualitativer Forschung, Opladen 1991, S. 22. 169 Vgl.: Lamnek, Siegfried: Qualitative Sozialforschung – Band 1 - Methodologie, Weinheim 1995, S. 42ff. 90 3.1.3 Instrumente der Datenerhebung Für meine Forschungsfragen sind verschiedene Datenerhebungstechniken denkbar: Bildliches Material wie Fotografien, deren Einsatz und Anerkennung in der Soziologie nicht verbreitet sind, Befragungen in Form von Interviews oder Beobachtungen des Untersuchungsfeldes. Aufgrund der eingeschränkten Kapazitäten und der fehlenden Auseinandersetzung mit der Analyse bildlichen Materials ist es in dieser Forschungsarbeit nicht möglich, das vorhandene Foto-Material (siehe Anhang XVI) methodisch auszuwerten. Dieses fließt als Veranschaulichung und Anschauung teilweise in die Arbeit ein. Bildanalysen wären eine Möglichkeit für weitere raumsoziologische Untersuchungen und sind gerade für die Untersuchung von Räumen sinnvoll. In dieser Untersuchung setze ich die Methoden des Interview und als Ergänzung die der Beobachtung ein. Zu Vor- und Nachteilen dieser Methodentriangulation, also einer Kombination mehrer Methoden, lässt sich festhalten, dass ein geschlosseneres oder umfassenderes Bild des Forschungsfeldes erstellt werden kann.170 Die gängigsten Datenerhebungsinstrumente sind immer noch Befragungen und neben ihnen Beobachtungen. Befragungen können schriftlich oder mündlich sein, in unterschiedlichen Strukturierungsgraden, die Fragen können vorab formuliert, nach einer Reihenfolge festgelegt sein, sie können offene oder geschlossene Fragen enthalten und unterschiedliche Ebenen der befragten Person, Gruppe angehen. Die Befragungen, die ich durchführte, waren erst in Form eines Leitfadens formuliert, also im mittleren Strukturierungsgrad, den ich in eine unstrukturierte, thematisch zentrierte offene Befragung nach den Pretest-Interviews verwandelte. Die Fragen waren meist außer den Sozialstrukturangaben offen und mündlich. Mündliche Befragungen, die ich durchführe, können ohne Förderung nicht im großen Umfang betrieben werden, da der Aufwand an Finanzen und Zeit für die Forschenden erheblich größer ist als bei schriftlichen Befragungen. Sie sind geeignet bei Personen, die mit der deutschen Sprache Schwierigkeiten haben, also auch bei AsylbewerberInnen, da die forschende Person auf Verständnisschwierigkeiten eingehen und möglicherweise die Sprache wechseln kann. Schriftliche Befragungen können große Mengen an Daten erfassen, die durch schnelle Beantwortung, ohne den Charakter von „Erzählungen“ auskommen. Beobachtungen können in verschiedenen Formen durchgeführt werden. Zwei der wichtigsten Kategorisierungen sind Beobachtungen, die verdeckt oder offen, teilnehmend oder nichtteilnehmend sind. Es werden Beobachtungsprotokolle erstellt nach unterschiedlichen Mustern. 170 Vgl.: Lamnek, Siegfried: Qualitative Sozialforschung – Band 1 - Methodologie, Weinheim 1995, S. 245ff. 91 Die Beobachtungen von mir sind offen und teilnehmend. Offen meint, die AsylbewerberInnen wissen um mein Forschungsvorhaben, ich erkläre ihnen meine Rolle und stelle meine Position von Beginn an klar. Außerdem bin ich für sie sichtbar, ich begebe mich nicht auf einen BeobachterInnenposten, an dem sie mich nicht wahrnehmen können. Teilnehmend sind die Beobachtungen insofern, dass ich die Situationen, in denen ich selbst eine aktive Rolle innehabe, beobachte und protokolliere. 3.1.4 Auswertung der Daten Die Auswertung von Daten, also auch deren Interpretationen, finde prozessual statt. Die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschungen wirken auf theoretische Grundlagen zurück und langfristig auch auf methodische Voraussetzungen. Ihnen komme meist in Abhängigkeit von der Bedeutung der ForscherInnen oder des Forschungsgegenstandes ein hoher Generalisierungsgrad zu.171 Ich stieß bei der Suche nach einer geeigneten Auswertungsmethode auf das Problem, dass die meisten Verfahren dem/der ForscherIn wenige Anweisungen und handwerkliche Empfehlungen geben, an denen er/sie sich bei der Analyse der Daten orientieren könnte. Statt dessen bewegen sich die Interpretationstexte auf hohem theoretischem Niveau und lassen den Bezug zur Praxis häufig missen. Des weiteren gibt es kein Auswertungsverfahren, das mustergültig auf sämtliche Interviewtechniken angewendet werden kann. Vorhandene Methoden müssen abgeändert und auf das jeweilige Forschungsdesign und das Erkenntnisinteresse der Studie zugeschnitten werden. Aufgrund der folgenden Argumente im Vergleich von drei unterschiedlichen Auswertungsverfahren interpretativer Sozialforschung172 werde ich Mayrings Auswertungsmethode für die Beobachtungsprotokolle und die transkribierten Interviews anwenden. 171 Vgl.: Lueger, Manfred: Grundlagen qualitativer Sozialforschung, Wien 2000, S. 51ff. Das Verfahren der objektiven Hermeneutik nach Oevermann verfolgt das Ziel, die objektive Bedeutung von Interaktionstexten, den latenten Sinn von Interaktionen sorgfältig und extensiv auszulegen. Diese Sinnauslegung vollzieht sich mittels Sequenz- und Feinanalysen, so dass es notwendig ist, die Interviews vollständig Satz-fürSatz zu lesen und Texteinheiten Wort-für-Wort aus unterschiedlichen Perspektiven heraus zu analysieren. Die Analyse sollte ohne Zeitdruck und in einer ForscherInnengruppe erfolgen, welche den Text möglichst nicht kennt. Diese Form der Auswertung ist für eine Diplomarbeit unangemessen und nicht realisierbar in seinem Umfang. In: Oevermann, Ulrich: Die Methodologie einer "objektiven Hermeneutik" und ihre allgemeine forschungslogische Bedeutung in den Sozialwissenschaften, in: Soeffner, Hans-Georg (Hg.): Interpretative Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaften, Stuttgart 1979, S. 352-434. Witzels Auswertungsmethode problemzentrierter Interviews bietet sich für diese Studie aufgrund der gesellschaftlichen Stellung der Gruppe der AsylbewerberInnen und der zu erwartenden Schwierigkeiten dieser mit ihrer Lebenssituation an. Sie wurde aber aus mehreren Gründen nicht gewählt: Einerseits benennt Witzel acht Auswertungsschritte (Vorbereitung der Materialgrundlage, Rekonstruktion der Vorinterpretation, Falldarstellung, biographische Chronologie, Dossier, Entwicklung zentraler Themen, Validierung dieser Themen anhand des Textes und im Forscherteam, Fallvergleich mit Typenbildung), die sich teilweise überschneiden (etwa die Falldarstellung und die biographische Chronologie) und wiederum in umfangreiche Arbeitsschritte untergliedert sind. Unterbrochen wird dieser Auswertungsprozess von mehreren Kontrollen und Validierungen, die sich auf bereits getroffene Interpretationen als auch auf methodische Fehler beziehen. 172 92 Mayrings Methode der Qualitativen Inhaltsanalyse173 setzt den Schwerpunkt auf die Entdeckung der manifesten Kommunikationsinhalte der Daten. Dies geschieht durch eine schrittweise Reduktion des Datenmaterials zu zusammenfassenden Paraphrasen. Durch diese pragmatischen Kürzungen werden komplexe Zusammenhänge zu Kernaussagen minimiert, was mit einem Verlust von Authentizität einhergehen kann. Diesem Argument kann entgegengesetzt werden, dass diese Reduktion zur Extrahierung der wesentlichen Bestandteile führt, wobei die Transparenz der Reduktionsschritte, des Verfahrens stets gegeben sein muss. Nachvollziehbarkeit für andere Forschende ist Voraussetzung des Verfahrens. Die Kritik an Mayrings Modell ist, dass einerseits keine Erklärungen zur Typenbildung, die Schritte von Kategorienbildung zur Interpretation, gegeben werden, andererseits die Art einer „Verwobenheit“ von Theorie und Empirie durch ein entsprechendes Vorgehen nicht deutlich wird. Ebenso kann bezüglich der qualitativen Paradigmen angemerkt werden, dass der Einzelfall bei Mayring lediglich als Sammlung von Merkmalsausprägungen bewertet wird.174 Der Versuch von mir ist in Anlehnung an Ansätze der „Grounded Theory“ entstanden, weder rein deduktiv noch rein induktiv vorzugehen, sondern bereits die Kategorienbildung in einem Wechselspiel dieser (vermeintlich gegensätzlichen) Polaritäten entstehen zu lassen. 3.1.5 Methodische Kontrolle Methodisch kontrollierbar werden die gewonnenen Daten laut Lueger durch eine Reproduzierbarkeit des Forschungsprozesses. Diese sei als Ideal nicht erreichbar, solle aber als Ziel jeder empirischen Forschung bewusst sein. Da qualitative Arbeiten sich nicht auf Standardisierungen berufen können, werde eine Transparenz der einzelnen methodischen Schritte erforderlich.175 Diese Transparenz findet in dieser Arbeit ihre Umsetzung in der Einsehbarkeit aller Auswertungsschritte mit dem ausgewerteten Material in auditiver und schriftlicher Form (siehe Anhang und CD-ROM „Tonmaterial der Interviews“). Dies führt zu einem enormen Umfang des Dieser Gedanke der „Grounded Theory“ ist von mir aufgenommen, doch ist Witzels Vorgehensweise zu stark vorgegeben und erfordert wieder ein ForscherInnenteam. Andererseits würde eine problemzentrierte Auswertung die Erwartungen und Klischees des Forschungsthemas erfüllen und eine starke normative Setzung sein, die ich vermeiden möchte. Die Charaktere der Räume der AsylbewerberInnen wären somit eingeschränkt erforschbar und würden den Blick unbedingt auf negative Eigenschaften lenken. In: Witzel, Andreas: Auswertung problemzentrierter Interviews: Grundlagen und Erfahrungen in: Strobl, Rainer/ Böttger, Andreas (Hg.): Wahre Geschichten, Baden-Baden 1995, S. 49-75. 173 Vgl.: Mayring, Philipp: Qualitative Inhaltsanalyse – Grundlagen und Techniken, Weinheim 1990, S. 85ff. 174 Vgl.: Lamnek, Siegfried: Qualitative Sozialforschung – Band 2 - Methoden und Techniken, Weinheim 1995, S. 207. 175 Vgl.: Lueger, Manfred: Grundlagen qualitativer Sozialforschung, Wien 2000, S. 16f. 93 Anhangs, der notwendig aus der methodischen Überprüfbarkeit und möglichen Wiederbearbeitung entstand. Ein weiterer Aspekt der methodischen Kontrolle bezieht sich auf die Interviewführung. Damit die Perspektive der Befragten sich genügend entfalten könne, sei es erforderlich, den Befragten einerseits offene Fragen zu stellen, andererseits sich ihrem Sprachgebrauch anzupassen. Beide Aspekte dienen der Entfaltung des Erfahrungsschatzes, der Sicht der ProbandInnen und gäben ihnen Sicherheit in der Interview-Situation. Des weiteren können sie aus dem Interview Anerkennung und Selbstbestätigung erfahren.176 Ob dies als gelungen bezeichnet werden kann, ist in den Transkriptionen und der CD-ROM nachvollziehbar. Die Perspektive der AsylbewerberInnen auf das Forschungsthema ist durch die methodische Kontrolle des methodischen Fremdverstehen ihrer Lebenswelt gegeben 3.1.6 Fallstudien Im Gegensatz zur qualitativen Sozialforschung verfolgt quantitative Sozialforschung lediglich einen explorativen Charakter von Fallstudien. Sie sollen Einblicke in das Forschungsfeld geben, aus denen Kategorien, Fragen, Thesen oder Themen der weiteren Untersuchung, der quantitativen entwickelt werden können. Ob die Fallstudien dieser Arbeit als explorativ eingeordnet werden oder in ihrer Aussagekraft höher geschätzt werden, bleibt den VerwenderInnen der Arbeit überlassen. Das Ziel der Fallstudien in qualitativen Untersuchungen ist das Beschreiben und Analysieren, das Identifizieren typischer Handlungsmuster. Die qualitative Sozialforschung versucht, die für wissenschaftliche Probleme bedeutsamen Kennzeichen als Einheit aufzufassen. Generell sollen qualitative Erhebungen durch Offenheit bezüglich des theoretischen Konzepts, gegenüber den untersuchten Personen und der Erhebungssituation gekennzeichnet sein. Hier erkenne ich allerdings den Unterschied zu hypothesengenerierenden Verfahren der quantitativen Sozialforschung (z. B. Exploration) nicht. Übersicht der Kombinationsmöglichkeiten von Einzellfallstudien Einzelperson Aggregat/ Kollektiv Binnenstruktur Einzelpersonen, deren Binnenstruk- Die Binnenstruktur von sozialen Agtur erfasst werden soll, werden mit gregaten zu erforschen bedeutet, die dem Schwerpunkt der Biographie Strukturen der Interaktionen in den untersucht, wobei soziale Faktoren Vordergrund zu stellen. Als bekanntes 176 Vgl.: Lueger, Manfred: Grundlagen qualitativer Sozialforschung, Wien 2000, S. 21. 94 als peripher wahrgenommen werden. Außenkontakte Beispiel kann die Studie „Street Corner Society“ genannt werden.177 Die Außenkontakte einer Einzel- Die Untersuchung der Außenkontakte person werden oft bei sozial eines sozialen Aggregats erfordert die Schwachen in ihren Verhältnissen Ansicht des Aggregats als Ganzes. Der zu Behörden, Ämtern, zu ihrem Fokus der Untersuchung wird auf die Leben bestimmenden Faktoren ana- Kontakte des Aggregats nach außen lysiert. gelegt. Ich untersuche in dieser Arbeit ein Aggregat, eine soziale Gruppe, die ich anhand von Einzelfallstudien erforschen möchte. Den Fokus richte ich sowohl auf die Binnenstruktur als auch auf die Außenkontakte der Gruppe der AsylbewerberInnen. 3.2 Methodisches Vorgehen Die wichtigste Methode in dieser Arbeit sind die Interviews. Als Ergänzung werden die Beobachtungen während der Interviews (siehe Anhang VIII) betrachtet. Beide methodischen Vorgehensweisen, die Interviews und die Beobachtungen, sollen inhaltlich Charakterisierungen der Räume der AsylbewerberInnen erfassen, die Entwicklungen im Laufe der Aufenthaltszeit, die Wirklichkeitskonstruktionen und auch die Möglichkeitshorizonte der Lebensgestaltung der AsylbewerberInnen. 3.2.1 Das Interview Das Interview gelte als der „Königsweg“ in der quantitativen (und in der qualitativen) Sozialforschung. Das Interview solle planmäßiges Vorgehen mit wissenschaftlicher Zielsetzung sein, bei dem Versuchspersonen durch eine Reihe gezielter Fragen oder mitgeteilter Stimuli zu verbalen oder auch schriftlichen Stiumuli veranlasst werden.178 Die Interviewten sollen während des qualitativen Interviews das Gefühl bekommen, selbst das Gespräch zu steuern, um Ohnmachtsgefühlen und Unsicherheiten entgegenzuwirken. Sie sollen das Interview strukturieren und selbst Themen einbringen bzw. mitteilen können, ob sie auf eine Frage antworten wollen (Offenheit und Kommunikation als interpretative Paradigma).179 Die Intention der Befragung sei eher vermittelnd, denn durch das Interview soll der/die Be177 Vgl.: Lamnek, Siegfried: Qualitative Sozialforschung – Band 2 - Methoden und Techniken, Weinheim 1995, S. 33ff. 178 Vgl.: Lamnek, Siegfried: Qualitative Sozialforschung – Band 2 - Methoden und Techniken, Weinheim 1995, S. 35f. 179 Vgl.: Bohnsack, Ralf: Rekonstruktive Sozialforschung – Einführung in Methodologie und Praxis qualitativer Forschung, Opladen 1991, S. 107f. 95 fragte angeregt werden, über Themen, Fragestellungen nachzudenken und vielleicht neue Erkenntnisse zu gewinnen.180 In dieser Untersuchung greife ich lediglich auf Bewusstes und bereits Gedachtes der AsylbewerberInnen zurück. Die Wahrscheinlichkeit der Bewusstheit und des Wissens über das Verhältnis der AsylbewerberInnen zu ihrer Situation als solche war hoch und hat sich im Laufe der Untersuchungen bestätigt. Ich arbeite nach einigen Vorüberlegungen und ersten Kontakten zum Feld (siehe Anhang II und III) mit einem Interviewleitfaden (siehe Anhang IV). Er scheint mir aufgrund meines Forschungsthemas das sinnvollste Vorgehen. Der Leitfaden bezieht sich thematisch auf den Einfluss der rechtlichen auf räumliche Strukturen, auf das Leben im Asyl in Deutschland. Besonders die Wohnsituation im Heimatland und in Deutschland scheinen mir wichtig. Die heimatliche Wohnsituation der AsylbewerberInnen dient als Vergleichshorizont zur Bewertung und Einschätzung der jetzigen Wohnsituation. Außerdem befrage ich die AsylbewerberInnen nach ihren Aktivitäten innerhalb und außerhalb der Wohnsituation und den dazugehörigen Orten, um die Charakteristika der Aufenthaltsorte zu erforschen. Den Leitfaden muss ich nach zwei Pretest-Interviews verwerfen, da er entweder zu eng formuliert ist oder mein Interview-Stil beengend wirkt. Jedenfalls sind die Antworten der AsylbewerberInnen so knapp und beschränkt, dass ich den Leitfaden in dem Sinne verändere, dass ich den Strukturierungsgrad der Fragen auf offene Fragen mindere, aber die genannten Themen in den folgenden Interviews beibehalte. Die Interviews sind als Einzelinterviews konzipiert, was sich bei zwei von vier befragten Personen als unmöglich erweist. Ständig kam Besuch in ihre Wohnung, in ihr Zimmer. Die „eigene“ Wohnung, das „eigene“ Zimmer scheint mir als Interviewort am geeignetsten, da sich die AsylbewerberInnen hier vertraut sind, sich sicher fühlen und das Thema der Interviews eng mit diesem Ort verbunden ist. Der Interviewstil ist weich und ich stelle mich als die „Unwissende“ und sie als „ExpertInnen“ dar. Empathisch und doch neutral versuche ich auf die Erzählungen der Interviewten einzugehen. Meine Sympathie und die hergestellte Vertrautheit ihnen gegenüber ist Grundlage des Interviews. Dennoch bemühe ich mich, stets zu wiederholen, möglichst von dem ersten Gespräch an, was mein Vorhaben in dem Gemeinschaftsunterkunft sei und warum ich mit ihnen in Kontakt treten möchte. Schon nach den ersten zwei Begegnungen mit AsylbewerberInnen überhaupt, bevor ich in ein 180 Vgl.: Lamnek, Siegfried: Qualitative Sozialforschung – Band 2 - Methoden und Techniken, Weinheim 1995, S. 38f. 96 Heim ziehe, ist für mich klar, dass klare Grenzziehungen zur Erforschung dieses Feld benötigt werden. Hoffnungen auf Freundschaften oder Liebesbeziehung formuliere ich von Anfang an als unmöglich (Freundschaften als möglich, aber nicht angestrebt). So erhalte ich mir eine Distanz, die notwendig ist für wissenschaftliches Arbeiten, um mögliche Gefühlsverstrickungen, die das Wahrnehmen der Lebenssituationen und Lebensgeschichten der AsylbewerberInnen mit sich bringen kann, möglichst gering zu halten. Die Art der Fragen variiert je nach bereits formulierten Aussagen und nach der Interviewsituation. Sie sind offen und allgemein. Die Eingangsfrage lautet: „Schildern Sie Ihre Wohnsituation in Ihrem Herkunftsland und skizzieren Sie die Ihre heimatliche und derzeitige Wohnsituation (auf diesem Blatt Papier).“ Die Rolle der InterviewerIn ist in einem Leitfadeninterview oder in einem offenem Interview stark rezeptiv. D. h. ich als Interviewerin nehme eher den zuhörenden Part ein, gehe offen auf die zu Interviewenden zu und habe durch meine Gespräche und Treffen vor dem Interviewtermin Vertrauen und Einblicke in ihre Alltagswelt erhalten. Für die Auswertung der Interviews wird das gesamte Interviewmaterial transkribiert und anhand dieser Verschriftlichungen die inhaltsanalytische Auswertung durchgeführt. 3.2.2 Die Beobachtungen Beim Fremdverstehen [siehe Kapitel II.1.1)] ist die Methode der Beobachtung notwendig. Wenn, wie in dieser Forschungsarbeit, Sprachschwierigkeiten hinzukommen, ist die Beobachtung ein hilfreiches methodisches Mittel zur Erkenntnisgewinnung. Beobachtungen unterliegen stärker als andere Methoden örtlichen und zeitlichen Begrenzungen, so dass nie alle Verhaltensweisen erfasst werden können. Eine Grundannahme dieser Arbeit und generell der empirischen Sozialforschung ist laut Lamnek die Selektivität der Wahrnehmungen, also auch der visuellen [siehe Kapitel II.3.2.1)].181 Als Ausgangspunkt wissenschaftlichen Arbeitens wird tätige Beobachtung angenommen, die als aktiver Prozess verstanden wird, die Denken und Handeln, aber auch deren (Re)Produktion miteinander verbindet. Die jeweilige Positionierung im Untersuchungsfeld definiert den Kontingenzbereich der Sammlung und Produktion von Material. Zur Beantwortung der Forschungsfrage nach der Raumkonstitution aus der Fremdperspektive sind also Beobachtungen hinzugefügt, die ich u.a. während meines zweiwöchigen Aufenthaltes in einer Gemeinschaftsunterkunft und zu den Interviewsituationen aufgeschrieben habe. Die Rolle als teilnehmende Beobachterin, die ich einnehme, kann zu Verwirrungen auf Seiten 181 Vgl.: Lamnek, Siegfried: Qualitative Sozialforschung – Band 2 - Methoden und Techniken, Weinheim 1995, S. 246. 97 der AsylbewerberInnen, aber hauptsächlich bei mir führen, da Grenzziehungen und der Grad von Nähe und Distanz schwer zu definieren sind. Hinzu kommt, dass ich diese Rolle vorher nicht eingenommen habe. Ich setze mich, wie Kantowsky empfiehlt, an eine positionstypische Stelle des Untersuchungsfeldes, indem ich eine beratende, zuhörende Rolle einnehme und Ideen einbringe, z. B. die Freizeit zu gestalten. Ähnliche Rollen nehmen PraktikantInnen oder SozialarbeiterInnen in den Gemeinschaftsunterkünften ein. Ich erleichtere mir die Beobachtungsarbeit, indem ich sie größtenteils auf das Heimgelände beschränke bzw. lediglich aufschreibe, wenn ich jemanden in der Stadt begleite oder zufällig AsylbewerberInnen außerhalb des Geländes treffe. Die Beobachtungseinheiten konzentriere ich thematisch auf die Verwobenheit von Sozialem, Rechtlichem und Räumlichem, deren Qualitäten und Wechselwirkungen. Ich möchte mit den Beobachtungen die Charakterisierungen der Aufenthaltsorte, also der Gemeinschaftsunterkünfte erfassen und die Relationen der AsylbewerberInnen zu Einheimischen und zu Personen staatlicher Institutionen wie AmtsmitarbeiterInnen. Die Beobachtungen, die inhaltsanalytisch ausgewertet werden, umfassen lediglich die Beobachtungen, die ich während der Interviews erfasst habe. Die Tagebuchaufzeichnungen während des Aufenthaltes in einer Gemeinschaftsunterkunft und während des Dokumentationsprojektes werden vernachlässigt aufgrund des fehlenden Platzes in dieser Arbeit. 3.3 Datengewinnung: Die Phasen im Feld Die häufig angewandte Forschungslogik, auf die auch ich zurückgreife, ist reduktiver Natur. Das methodische Vorgehen bei der Erarbeitung einer Studie soll laut Lueger während der Forschungsarbeit modifiziert werden. Damit werden methodische und inhaltliche Flexibilität gefördert, Vorannahmen der Forschenden oder Vor-Urteile werden wieder und wieder hinterfragt, so dass die Forschungsarbeit bis und möglicherweise nach ihrer Beendigung bewegt bleibt (vgl. auch „Grounded Theory“). Außerdem muss die Forschung für spezifische Intentionen einen geeigneten Kontext schaffen, da diese erst die Form der Anschlussfähigkeit über die konkrete Forschungsarbeit hinaus definiert. Ich habe mich in einigen Diskussionen über die Inhalte der Forschungsarbeit und mein Verhalten im Feld mit anderen auseinandergesetzt, insbesondere mit der Diplombetreuerin und einigen KommilitonInnen und FreundInnen. Meine Schwierigkeiten in der Klärung der Beziehungen zu den AsylbewerberInnen, über meinen Wohnaufenthalt und den daraus resultie98 renden Anstrengungen habe ich gesprochen, habe Fragen gestellt (bekommen) oder mir Ratschläge geben lassen. Dies half, mir immer wieder Distanz zum Forschungsfeld zu schaffen, meine Position zu klären und meine Perspektive und Deutungen zu überdenken. Die Phasen im Feld182, die Lamnek postuliert, werden in „Annäherung an das Feld“, „Orientierung im Feld“ „Beginn der Forschung im Feld“, „Phase der Assimilation“ und „Abgang aus der Gruppe“ eingeteilt. Die Annäherung an das Feld beinhaltet das Sammeln von Informationen über das Untersuchungsfeld und eventuell erste Beobachtungen der Forschenden. Die Orientierungsphase impliziert erste Kontakte zu Personen des Untersuchungsfeldes und eine erste Realisierung des Forschungsvorhabens, die Grundlage für weitere Kontakte etabliert. Während der zwei darauffolgenden Phasen werden tragfähige Beziehungen aufgebaut, die Transparenz der eigenen Tätigkeit den Beobachteten, Interviewten gegenüber und eine erfolgreiche Präsentation des Projektes können den Informationsfluss, der seitens des Untersuchungsfeldes kommt, deutlich erhöhen. Das Erlernen der „Sprache“ der Untersuchungspersonen, die Respektierung deren Anstandregeln und Tabus können durch das Analysieren jeder Aktivität und Beobachtung erlernt werden, wobei gerade Fehlschläge interpretationsbedürftig sind. Nun eine konkrete Beschreibung der Phasen im Feld bezüglich dieser Forschungsarbeit: 3.3.1 Annäherung an das Feld Hier wird das Forschungsfeld durch Informationen ins Blickfeld genommen. Informationen über Dritte, Bücher, Informationsmaterial wird zurate gezogen, erstes Besuchen oder Gespräche mit Personen, die mit dem Untersuchungsfeld in Relation stehen, werden geführt. Diese Phase ist für mich überlagert durch ein vorangegangenes Projekt, bei dem ich Gemeinschaftsunterkünfte fotografierte und die Lebenssituation von AsylbewerberInnen mit ihnen zusammen dokumentierte. Die Idee, die uns bewegte, war, dass wir eine Notwendigkeit sahen, das Thema „Asyl“ stärker ins Öffentliche, Wahrnehmbare, überhaupt in das Bewusstsein zu bringen mittels einer dokumentarischen Ausstellung. Ich habe also bereits Kontakte zum Forschungsfeld und mit Hilfe eines ehemaligen Asylbewerbers, mit dem ich bekannt bin, kann ich weitere Kontakte zum Feld herstellen. Zur Hilfe kommen mir die im Heim lebenden Kinder (siehe Anhang XVI Bilder Nr. 8 bis Nr. 12), durch die ich deren Eltern kennen lerne. 182 Vgl.: Lamnek, Siegfried: Qualitative Sozialforschung – Band 2 - Methoden und Techniken, Weinheim 1995, S. 277ff. Den Begriff „Feld“ werde ich übernehmen, obwohl er eine Zweidimensionalität unterstellt, die dem Untersuchungsgegenstand nicht gerecht wird. Doch ist der Ablauf der „Phasen im Feld“ als feststehender Begriff zu betrachten, der metaphorisch gedeutet werden kann. 99 Anfänglich ist eine Praktikantin, die mich einigen ihr bekannten AsylbewerberInnen vorstellt, eine wichtige Kontaktperson. Die meisten AsylbewerberInnen reagieren freundlich auf mich, so dass ich an geführte Dialoge anschließen kann bei darauf folgenden Treffen (siehe Anhang I). Die ersten Annäherungen in bürokratischer Hinsicht gestalteten sich für das Dokumentationsprojekt als schwierig. Bis ich die Erlaubnis zum Filmen, Fotografieren von der Stadt Dresden und dem Regierungspräsidium bekam, vergingen aufgrund vieler Telefonate und Unklarheiten der Entscheidungsgewalten einige Wochen. Letztlich war dies der Eintritt in die Welt der AsylbewerberInnen. 3.3.2 Orientierung im Feld Auf die ersten Annäherungen an das Feld erfolgt die Orientierung in ihm. Während dieser soll eingeschätzt werden, welche Personen als Kontaktpersonen gelten, welche Relationen das Feld bestimmen und wie ich mich als Forscherin zu den anderen Personen stelle. Diese Phase verlangt eine Skepsis gegenüber den Beziehungen zu den beobachteten Personen und dass keine voreiligen Schlussfolgerungen gezogen werden. Dies versuche ich mit einer Distanz zu allen Personen in meinem Forschungs-Umfeld. Im Laufe der zwei Wochen „Wohnen im Heim“ wechseln die Bezugspersonen häufig. Ich unterhalte mich täglich mit anderen AsylbewerberInnen, wobei ich die meiste Zeit mit zwei Afghanen verbringe, die noch wenig Deutsch sprechen können. Ich bin täglich bei unterschiedlichen AsylbewerberInnen zum Essen (siehe Anhang XVI Bilder Nr. 13 und Nr. 14) eingeladen. Zu diesem Zeitpunkt verdeutliche ich (in Gesprächen) meine Position als Forscherin. Ich erzähle jeder Person, mit der ich ein längeres Gespräch führe, warum ich mich im Heim aufhalte, welche Ziele ich verfolge. Die Personen, mit denen ich mich zu Beginn meines Aufenthaltes im Heim unterhalte, sind einerseits die HeimmitarbeiterInnen wie Hausmeister, der Zivildienstleistende, die Praktikantin oder der Heimleiter und andererseits mir bereits bekannte AsylbewerberInnen wie zwei Afghanen, mehrer Iraner, PalästinenserInnen und die Kinder im Heim. Ich unterhalte mich intensiv mit allen und befrage sie zu ihrer Perspektive auf das Leben in der Gemeinschaftsunterkunft. Durch den Hausmeister lerne ich einen Angolaner kennen, der gegen Entgeld Hausmeisterarbeiten verrichtet. Durch ihn bekomme ich Kontakt zu anderen AngolanerInnen. Mit einem Palästinenser spiele ich häufiger Volleyball und Fußball und lernte durch die Ballsportarten einige Ex-JugoslawInnen kennen. 100 Zu den IranerInnen baue ich enge Bindungen auf, nachdem ich eine Feier von ihnen besuchte, die im Ausländerrat e.V. stattfand. Während des Festes zeigte ich mich interessiert an ihrer Kultur, an Tanztraditionen und an ihrem Essen. Ich wurde spätestens mit einem kurzen Tanzunterricht durch eine Iranerin, der einige Belustigung auslöste, akzeptiert. Ich nutze einige Male den Sportraum, in dem sich Gespräche mit den jeweils anwesenden SportlerInnen ergeben. Zu VietnamesInnen und AlgerierInnen gelingt mir keine Kontaktaufnahme, die über freundliches Zulächeln und „Hallo“ Rufen hinausgeht. Meine Taktik zur Kontaktaufnahme besteht darin, mich möglichst häufig in öffentlichen Bereichen des AsylbewerberInnenheimes aufzuhalten, möglichst viel draußen im Hof, Garten bzw. auf dem Sportfeld zu sein. Außerdem wohne ich festen Terminen wie Lebensmittelausgabe, Putzdienst oder dem täglichen „Überwachungsrundgang“ des Hausmeisters bei. Bei den Besprechungen der MitarbeiterInnen des Heims darf ich ebenfalls anwesend sein. So erhalte ich Einblicke in viele organisatorische Bereiche und kann einige Perspektiven nachvollziehen. 3.3.3 Beginn der Forschung im Feld: Kontaktpersonen, erste Forschungsfragen Diese Zeit ist durch das Entwickeln der ersten konkreten Forschungsfragen, durch die Bestätigung der hergestellten Kontakte, durch die Klärung der eigenen Position im Untersuchungsfeld und den Einbezug der theoretischen Überlegungen bestimmt. Zum Beginn der Forschung im Feld finden Initiationen statt, durch die Fremde, hier die Forschenden, in die Gruppe aufgenommen werden. Manchmal gelingt die Aufnahme in eine Gruppe nicht und die ForscherInnen können ihre Untersuchungen nicht beginnen bzw. fortführen. Daher ist die Kontaktaufnahme und die Festigung dieser ein wichtiger Schritt im Forschungsprozess. Solchen Initiationsriten bin ich, hatte ich erst mal eine offizielle Zugangsberechtigung staatlicherseits, nur am Rande erlegen. Das Gerücht, ich sei von der Polizei oder einer Staatsgewalt und würde im Heim spionieren, ist neben den fehlenden Kontakten zu bestimmten Sprachgruppen der einzige Vorbehalt, den ich wahrnehmen kann. Außerdem habe ich einen privilegierten Status, da ich von der „Seite der Mächtigen“ komme, denen die HeimbewohnerInnen ausgeliefert sind. Hinzu kommt eine Art Dankbarkeit, da ich vielen zuhöre, ihnen als Einheimische „positive“ Aufmerksamkeit schenke und ihnen in der Bewältigung ihres Alltags helfe. Das Heimpersonal versucht mir zu helfen und Zugang zu verschaffen, wo es nur möglich ist. Ich bin überzeugt, dass einen Teil dieser Entwicklung dem Verhältnis des Ausländerrates e.V., der Betreiber des Heimes, und damit die MitarbeiterInnen aussucht, zu mir zuschreiben 101 kann. Denn ich habe aufgrund bereits länger bestehender Kontakte gute Beziehungen zum Ausländerrat e.V.. In dieser Zeit erstelle ich die ersten Beobachtungsprotokolle (siehe Anhang I) und Fragebögen (siehe Anhang II und III). Die Modifizierungen der Vorgehensweisen in den Interviews und den Fragestellungen sind oben beschrieben. Zwei Schwerpunkte, auf die ich mich während dieses Forschungsschrittes konzentriere, sind einerseits, wie und mit welcher Aussagekraft, Räumliches erforschbar ist und andererseits, wie ich durch das Erforschen des Räumlichen die Gruppe der AsylbewerberInnen erfassen kann. Wie Raumsoziologie empirisch umsetzbar ist. Andererseits den Blick zu den AsylbewerberInnen gewandt, Kontakte zu ihnen herzustellen, den „richtigen“ Abstand mit der notwendigen Nähe zu schaffen, meine Position zu ihnen zu klären und zu verfestigen. Dann die Aspekte herauszuschälen, die wichtig für sie selbst und für ihr Leben sind, statt meinen Vorstellungen und Erwartungen nachzugehen. Ich höre durch einige Gespräche mit AsylbewerberInnen nach meinem Heimaufenthalt heraus, dass meine Initiation auch deshalb als gelungen betrachtet werden kann, weil ich mich in allen Situationen als Wissenschaftlerin zu erkennen gab und meine Relation zu ihnen klärte. 3.3.4 Phase der Assimilation: Auswahl der ProbandInnen, Pretest-Interviews, Modifizierung des Leitfaden der Befragung Diese Phase besteht aus der Auswahl der ProbandInnen, aus dem Durchführen von PretestInterviews und gegebenenfalls aus Modifizierungen des Fragebogens. Die Assimilationsphase soll begleitet sein durch Absprachen und Austausch mit anderen Personen, die vielleicht ähnliche Projekte gemacht haben bzw. die in einer Gemeinschaftsunterkunft arbeit(et)en. Ich tausche mich mit dem Heimpersonal, den BetreiberInnen und einigen PolitikerInnen, die im Bereich „Migration, Asyl“ tätig sind, aus. Außerdem tausche ich mich mit FreundInnen über meine Schwierigkeiten mit dem Leben im Heim aus, die mich dort zum Teil besuchen und daher Eindrücke gewinnen über die Lebens- und Wohngegebenheiten. Diese privaten Besuche sollen auch als Zeichen der Vertrautheit gegenüber den AsylbewerberInnen gedeutet sein. Ich als Forscherin lasse sie auch an Teilen meines Privatlebens partizipieren und versuche sie als Personen statt als „Forschungssubjekte“ zu behandeln. Während dieses Aufenthaltes wähle ich die ProbandInnen aus: Meine Auswahl war von einigen Faktoren determiniert, die auch ein „theoretical sampling“ nicht möglich machen. Die zu untersuchenden Personen sollen auch interviewt werden, so dass sie entweder die deutsche, englische oder portugiesische Sprache beherrschen müssen, damit ich sie interviewen kann. Der Kreis der zu interviewenden Personen schränkt sich so auf Herkunftsländer wie Angola, 102 Sierra Leone oder AsylbewerberInnen ein, die über genannte Sprachkenntnisse verfügen. Ich möchte den Einsatz einer mir fremden Sprache von der Entwicklung der Kontakte abhängig machen. Des weiteren entscheide ich, meine Untersuchungsgruppe auf einen Kulturkreis einzuschränken, so dass der Einflussfaktor „Kultur“, der auf Wahrnehmung, Einstellung und Handeln wirkt, minimiert ist. Weitere Einschränkungen nehme ich bezüglich der „Sozialisation der ProbandInnen“ vor: Sie sollen keine Schule in Deutschland besucht haben, da sie dort Kontakte zu Deutschen und die deutsche Sprache gelernt hätten und in Folge dessen wesentlich mehr Möglichkeiten in unserer Gesellschaft haben. Außerdem beschränke ich mich auf Erwachsene und auf Personen, die ohne Familie in Deutschland sind, um die Möglichkeiten des sozialen Halts und der Unterstützung zu minimieren. Als abhängige Variablen bleiben die Verweildauer in deutschen Gemeinschaftsunterkünften, das Geschlecht, der Familienstand, das Alter und der Aufenthaltsstatus, deren Einfluss in der Auswertung der Daten untersucht werden soll. Ich entscheide mich aufgrund bereits bestehender Kontakte und meiner Vertrautheit zur Kultur für IranerInnen. Weitere IranerInnen werde ich nach dem „Schneeballprinzip“ kennen lernen. Eine Besonderheit der iranischen Flüchtlinge ist, dass die meisten aufgrund des Fluchtweges für „SchlepperInnen“ Geld bezahlen mussten. Die Kosten für einen Transit nach Deutschland beginnen ab 4000,-€ pro Person, was bedeutet, dass diese Gruppe von Flüchtlingen über ökonomisches (und soziales) Kapital verfügt. Dies erklärt auch, warum viele der iranischen AsylbewerberInnen der iranischen Mittelschicht stammen. Die heimatliche „Vergleichsfolie“, an die das „Leben in den Gemeinschaftsunterkünften“ angelegt wird, beinhaltet also Ansprüche an Arbeitsmöglichkeiten, dichte soziale Netzwerke wie Verwandtschaft und Freundeskreis (soziale Netzwerke sind in Iran dichter als in Deutschland), an Wohnungen mit mehreren Zimmern, Bädern und Gärten, an ausgewogener Ernährung und an Anerkennung der (Hoch-) Schulabschlüsse. Auch vor diesen Hintergründen sollten die ProbandInnen in ihrer jetzigen Lebenssituation verstanden werden. Die Anzahl der ProbandInnen lege ich nach den ersten beiden Pretest-Interviews fest, nach denen ich die Länge und den Umfang der Interviews und der Auswertungsarbeit besser einschätzen Mehr als fünf ProbandInnen sind nicht zu bewältigen. 103 Prozentual zum Anteil der iranischen AsylbewerberInnen in Dresden183, die sich insgesamt auf 64 Personen beläuft, darunter 17 Frauen und 47 Männer,184 kam ich bei 3 männlichen Probanden im Verhältnis auf 1,08 Probandinnen. So interviewte ich 3 männliche und 1 weibliche iranischen AsylbewerberIn. Nun zu den Interviews, bei denen zu beachten ist, dass den zu Untersuchenden Vertraulichkeit und Anonymität zugesichert werden soll, damit eine größere Offenheit entstehen kann. Die Selbstkontrolle und Transparenz des Forschungsprozesses muss von den ForscherInnen angestrebt werden, da Vororientierungen dieser zu einer verzerrenden Auswahl führen kann.185 Vertraulichkeit versuche ich herzustellen durch anfangs private Gespräche, durch gemeinsame Essens- oder Trinkrunden und Freundlichkeit. Ich beantworte alle Fragen ihrerseits wahrheitsgemäß, die mir zu meiner Person und meiner Forschungsaufgabe gestellt werden. Ich sichere den ProbandInnen vor jedem Interview Anonymität ihrer persönlichen Daten zu. Ich verspreche ihnen, ihre Namen nicht zu nennen bzw. zu verändern, was einigen wichtig, anderen gleichgültig ist. Weiterführen werde ich nun die Erklärungen zur Interviewführung: Mit einer Eingangsfrage nach den Wohnverhältnissen in der heimatlichen und der derzeitigen Wohnsituation intendiere ich, positive Erinnerungen bei meinen InterviewpartnerInnen zu wecken und somit eine angenehme Atmosphäre zu schaffen. In den meisten Fällen kann dieser Versuch als gelungen bezeichnet werden. Des weiteren beabsichtige ich mit der Eingangsfrage, mein Interesse für ihre Vergangenheit, Kultur und Identität zu bekunden, was ihre „mächtige“ Position im Interview etabliert. Die AsylbewerberInnen erzählen von dem, was ihnen bekannt und vertraut ist. Unterstützt werden meine Absichten und der angenehme, informationsreiche Verlauf der Interviews durch die bereits geschaffene Vertrautheit zu den Interviewten, die ich mehreren Gesprächen und gemeinsamen Festen zu verdanken habe. Im Verlauf der Interviews greife ich zum Forschungsthema passende Stichworte auf, lasse sie ihren Alltag, die Wege außerhalb des Hauses in der Heimat und in Deutschland erzählen. Die Zimmeranordnung der Wohnung zeichnen sie auf. Anschließend stelle ich Fragen zur Flucht und in manchen Fällen bei Offenheit der Interviewten zu den Fluchtgründen, die bei zwei ProbandInnen politische bzw. geschlechtsspezifische Verfolgung war, bei einem der Wunsch 183 In gesamt Sachsen befanden sich im Jahr 2001 nach Geschlechtern aufgeteilt von 1825 IranerInnen insgesamt, 1325 Männer und 500 Frauen. Der Iran lag zum selben Zeitpunkt an dreizehnter Stelle bei den Herkunftsländern, der in Sachsen lebenden AusländerInnen (insgesamt 85902). In: Sächsischer Landtag: Neunter Jahresbericht des Sächsischen Ausländerbeauftragten, Dresden 2002, S. 84. 184 Telefonische Angaben einer Mitarbeiterin der Ausländerbeauftragen der Stadt Dresden am 28.03.2003. 185 Vgl.: Lamnek, Siegfried: Qualitative Sozialforschung – Band 1 - Methodologie, Weinheim 1995, S. 21ff. 104 nach intellektueller Weiterbildung an einer westlichen Universität und bei dem letzten Probanden mir unbekannt ist. Nach diesem Erzählpart und den Stationen auf dem Weg bis nach Deutschland, fordere ich sie auf, ihr Ankommen und die ersten Erlebnisse in Deutschland zu schildern. Auch interessiere ich mich für die Erst-Interviews des BAFl, die während des Aufenthaltes in Sammelunterkünften gleich nach ihrer Ankunft geführt werden. Detaillierter frage ich nach ihrer derzeitigen Wohnsituation und der in den Heimen, in denen sie bisher gelebt haben. Sie schildern mir die Zimmeraufteilung, die Lage in der Stadt und die Reinigungsorganisation, die Besitzverhältnisse und die Beziehungen zu ihren ZimmerteilerInnen. Einige frage ich nach den Gemeinschaftszimmern, so weit sie existieren, und nach ihrem Verhältnis zu den HeimmitarbeiterInnen, zu Deutschen und anderen ihnen bekannten Personen in Dresden. Ich lasse sie ihren momentanen Lebensalltag beschreiben, den zeitlichen und örtlichen Ablauf, die Institutionen, mit denen sie konfrontiert sind. Zuletzt frage ich sie nach ihren Wünschen und Zukunftsaussichten allgemein und bezüglich ihrer Wohnsituation. Die Selbstkontrolle meiner Arbeit und des Forschungsverlaufs hoffe ich, mit den Selbstreflexionen, den Zweifeln und Entscheidungsdiskursen, die ich beschreiben werde, gewährleisten bzw. diese in einem für mich möglichen Maß geben zu können. Um die Transparenz und damit eine methodische Kontrolle dieser Forschungen zu maximieren, schreibe ich das Wahrgenommene in Beobachtungsprotokolle (siehe Anhang I und VIII) bzw. Tagebücher. Letztere lasse ich nicht in die Auswertung einfließen. Ich diskutiere aber die Einwände und Zweifel, denen ich immer wieder erlegen bin, in dieser Arbeit. Mit der Option für LeserInnen dieser Arbeit dieselben Protokolle oder Tonbandaufnahmen der Interviews, die sich ebenfalls im Anhang befinden, in anderer Weise oder Schwerpunkt auszuwerten. In der Hauptforschungsphase rücken das inhaltliche und methodische Vorankommen in den Vordergrund. Das unentwegte Zusammengreifen von Erhebung und Interpretation, das permanente Reflektieren des Forschungsstandes werden erforderlich. Vorläufige Ergebnisse müssen geprüft und modifiziert werden, vorläufige Teilanalysen dargestellt.186 3.3.5 Abgang aus der Gruppe Meinen Abgang aus der Gruppe bereite ich durch mehrfache Ankündigungen vor. Ich bedanke mich nach meinem Auszug aus der Gemeinschaftsunterkunft mit einem Abschiedsessen 186 Vgl.: Lueger, Manfred: Grundlagen qualitativer Sozialforschung, Wien 2000, S. 65ff. 105 bei einigen mir vertrauten AsylbewerberInnen und plane weiteren Kontakt. Diesen versuche ich primär in Form einer entstandenen Volleyballgruppe aufrecht zu erhalten. Die Gruppe setzt sich aus einigen AsylbewerberInnen und FreundInnen von mir zusammen und hat sich leider nach einigen Treffen (auch aufgrund der Wetterlage) aufgelöst. Trotzdem telefoniere und treffe ich mich immer wieder mit einigen von den AsylbewerberInnen, frage nach ihren momentanen Entwicklungen und verfolge ihre Lebenswege. Ich werde zum Ende der Diplomarbeit ein Fest für diejenigen geben, die (un)mittelbar an der Arbeit beteiligt gewesen sind, also auch für meine InterviewpartnerInnen, soweit sie noch in Dresden weilen. 3.4 Datenauswertung: Die qualitative Inhaltsanalyse Die unterschiedlichen Möglichkeiten interpretativer Datenauswertung habe ich erörtert und meine Entscheidung ist für die inhaltsanalytische Auswertung nach Mayring gefallen. Die Inhaltsanalyse beruht auf der Schlussfolgerungen von sprachlichem Material, der Interviews (siehe Anhang V bis IX) und der Beobachtungsprotokolle während der Interviewsituationen (siehe Anhang VIII), auf nicht-sprachliche Phänomene. Die Logik der Kategorienbildung ist zentral für die Inhaltsanalyse. Festgelegt werden sollte bei wissenschaftlichen Analysen der Gesichtspunkt, unter dem das Material untersucht wird, die Richtung der Schlussfolgerungen und der Gegenstand der Analyse. Die Interviews begleitend lasse ich die AsylbewerberInnen zur Verdeutlichung deren Wohnungen im Iran zeichnen (Grundriss, Zimmeraufteilung), als auch ihre derzeitige Wohnsituation in den Gemeinschaftsunterkünften. Diese Zeichnungen sollten das räumliche Vorstellungsvermögen und die Erinnerungen der AsylbewerberInnen wecken, um eine lebendige Unterhaltung über die Wohnverhältnisse beginnen zu können. Hinzu kommen Beobachtungen, die ich während einiger Treffen und schließlich während der Interviewsituationen aufschreibe (siehe Anhang VIII). Induktive Kategoriendefinition heißt, die Kategorien direkt aus dem Material abzuleiten. Die Kategorien werden aus einem Verallgemeinerungsprozess erarbeitet, ohne sich auf vorab formulierte Theorienkonzepte zu beziehen. Im Sinne eines „work-in-progress“, der u. .a. in der „Grounded Theory“ vertreten wird, wird das Material in wiederholender Rücküberprüfung ausgewertet. In einem Ablaufmodell habe ich in Anlehnung an Philipp Mayring die Schritte und Rückkopplungen im Auswertungsprozess zusammengefasst187 187 Vgl.: Mayring, Philipp: Qualitative Inhaltsanalyse – Grundlagen und Techniken, Weinheim 2003, S. 75f. 106 Mayrings Modell modifiziere ich, weil es einerseits nicht konkret genug formuliert ist, was ich als Kritik formulieren möchte. Andererseits ist mir das Prinzip der „Grounded Theory“ wichtig, das einen zirkulären methodischen Ablauf impliziert. Das prozesshafte Vorgehen mit den eingebauten Rückkopplungen erscheint mir sinnvoll. Daher verstärke ich die Reflexionsschritte. Problematisch finde ich die letzten Arbeitsschritte, die keine konkrete Vorgehensweise nahe legen bzw. ich den Sinn dieser Schritte nicht nachvollziehen kann. Kritisierbar ist auch die für „Neulinge“ (wie mich) fehlende Anleitung zur Interpretation. Diese Schritte der Abstraktionen, die in den Schritten zuvor konkret ausdifferenziert werden in Ausprägungen bzw. (Unter)Kategorien, sind in der Durchführung schwer zu realisieren und beinhalten viele Möglichkeiten von Interpretationsfehlern. Das modifizierte Mayringsche Ablaufmodell einer qualitativen inhaltsanalytischen Auswertung sieht folgendermaßen aus: 107 Gegenstand, Material der Auswertung Dimensionen durch Theorie Thematische Überblicke: Dimensionen durch Empirie Vergleich: Modifizierung der theoriegeleiteten Dimensionen Zeilenweise Durcharbeitung der Interviews und Beobachtungen: Kategorienformulierung mittels „themenorientierter Zusammenfassung“ nach einiger Materialmenge: gegebenenfalls Modifizierung der Kategorien Formulierung der Ausprägungen (Unterkategorien) Nochmalige Durchsicht der Ausprägungen: Revision, Modifizierung oder Beibehaltung der (Unter-)Kategorien Ordnen und Gewichten der Ausprägungen mit Einflussfaktoren; Beschreibende und deutende Charakterisierung der Räume Interpretationen der Einflussfaktoren und der Charakterisierungen 108 Erklärungen zum modifizierten Modell Dieses an Mayrings „Prozessmodell induktiver Kategorienbildung“ angelehnte Modell versucht Theorie und Empirie miteinander zu verbinden, indem sie während des Forschungsprozesses stets rückgekoppelt werden. Eine rein deduktive Kategorienbildung, d. h. das Bilden eines Kategoriensystems mit Ankerbeispielen und Kodierregeln, die aus den theoretischen Überlegungen entwickelt werden, wie es beispielsweise bei einer „strukturierten Inhaltsanalyse“ bei Mayring angewandt wird, ist mir aufgrund des Forschungsstandes zum Forschungsthema, speziell zu raumsoziologischen Untersuchungen, nicht möglich. Hinzu kommt, dass die Einbeziehung des induktiven Kategorienbildungsprozesses näher am „Feld“, am empirischen Material ist, was meiner Forschungsintention nahe kommt. Eine rein induktive Herangehensweise wie die Zusammenfassung, die Kategorien aus dem empirischen Material entwickelt ohne Einbezug von theoretischen Vorarbeiten, scheint mir nicht sinnvoll, da der theoretische Teil meiner Arbeit ebenso bedeutungsvoll ist. Der erste Schritt, der wie alle weiteren Schritte für die Beobachtungen und Interviews (die Fremd- und Eigenperspektive) getrennt durchgeführt werden, des Kategoriebildungsmodells ist, dass der Gegenstand und das Material der Auswertung festgelegt werden. Anschließend werden die „Dimensionen der Kategorien“, also die Hauptthemen, aus den theoretischen Überlegungen extrahiert, damit die Richtung der Analyse auch mit der Theorie in Verbindung steht. Anschließend arbeite ich die Interviews und Beobachtungen durch und erstelle „thematische Überblicke“ dieser. So wird überprüft, ob die theoretisch hergeleiteten Themen bzw. Dimensionen in ausreichendem Maß im empirischen Material, d. h. in jedem Interview muss die jeweilige Dimension der Kategorien mehr als einmal und in jeder Beobachtung mindestens einmal, vorhanden sind. Die theoretisch erarbeiteten Dimensionen der Kategorien werden im Vergleich durch die Empirie erweitert, revidiert oder beibehalten.188 Damit sind die Themen bzw. Dimensionen der Kategorien mit Theorie und Empirie verbunden. Es wird ebenfalls deutlich, in welchem Maß die Theorie an der „sozialen Realität“ orientiert ist bzw. ob andere Theorien hinzugezogen oder entwickelt werden sollen. Diese erste Rückkopplung der theoretisch erarbeiteten Dimensionen am empirischen Material soll die Gefahr der Voreingenommenheit der Forschenden, den „selektiven Blick“ wenn nicht gänzlich verhindern, so doch möglichst gering halten. Nachdem die Dimensionen festgelegt wurden, wird das auszuwertende Material, d. h. die In188 Die Unterschiede in den Quantitäts-Anforderungen bei Interviews und Beobachtungen sind aus der größeren Bedeutung und Wertung der Interviews in der Forschungsarbeit zu begründen. 109 terviewtranskriptionen und die Protokolle der Beobachtungen während der Interviews, zeilenweise durchgearbeitet. Nach einiger Materialdurcharbeitung, also nach einem Interview, werden Kategorien gebildet in der jeweiligen Dimension. Diese ausformulierten Kategorien werden nach einiger Materialmenge, nach drei Interviews, beibehalten, modifiziert oder revidiert. Die gebildeten Kategorien werden nun an das Material der Beobachtungsprotokolle herangetragen, an ihnen wird nach zwei Beobachtungen festgelegt, ob und in welchem Maße die durch die Interviews gebildeten Kategorien beibehalten oder modifiziert werden müssen. Wenn die Kategorien gebildet wurden, wird das gesamte Material ausgewertet. Es werden in einem zweifachen Reduktionsprozess, in Anlehnung an Mayrings Modell der „Zusammenfassung“189, Paraphrasen aus den Interviews und Beobachtungen extrahiert, die generalisiert und reduziert werden. Bei diesem Reduktionsprozess entstehen bereits fallintern Kategorien, die in einem weiteren Reduktionsprozess fallübergreifend zusammengefasst werden. Zur Erklärung und Konkretisierung der Inhalte der Kategorien werden diese kurz erläutert und mit Ankerbeispielen nachvollziehbar gemacht. Im nächsten Schritt werden die gebildeten Kategorien in ihren spezifischen Ausprägungen bzw. Unterkategorien für beide Perspektiven formuliert. Im selben Verfahren190 werden Definitionen der Ausprägungen und Kodierregeln erstellt, die für künftige Untersuchungen und zur Abgrenzung der Ausprägungen untereinander dienen. Aufgrund der fehlenden Genauigkeit in den Angaben zur Typenbildung191 – hier im Sinne von Ordnen und Relationieren von Merkmalsausprägungen gedacht – kam ich zum Schluss, keine ausführliche Typenbildung zu erarbeiten. In Anlehnung an Typenbildungen im genannten Sinne werde ich allerdings nach einer nochmaligen Durchsicht der Ausprägungen eine Revision, Modifizierung oder Beibehaltung dieser und der übergeordneten Kategorien durchführen, um im Anschluss die Ausprägungen bzw. Unterkategorien zu ordnen und deren Beziehungen zueinander zu erkennen und zu gewichten. In diesem Schritt wird nicht nur gewichtet, sondern werden auch die Einflussfaktoren auf die Ausprägungen erarbeitet. Diese können für jede Unterkategorie unterschiedlich sein. Nun können die konstituierten Asyl-Räume in der Eigen- und Fremdperspektive beschrieben und gedeutet werden. Zuletzt werden diese Charakterisierungen interpretiert unter Berücksichtigung von Bedeutungsgewichtungen von Einflussfaktoren. 189 Vgl.: Mayring, Philipp: Qualitative Inhaltsanalyse – Grundlagen und Techniken, Weinheim 2003, S. 59-73. Vgl.: Mayring, Philipp: Qualitative Inhaltsanalyse – Grundlagen und Techniken, Weinheim 2003, S. 98. 191 Die begriffliche Verwendung „Typ“ findet an dieser Stelle wenig reflektiert statt. Sie beinhaltet Realtypen, die mit bestimmten Merkmalen im Untersuchungsfeld vorhanden sind. Die Typenbildung habe ich aufgrund der weiteren Verästelung und Steigerung von Komplexität nicht genauer verfolgt, um die Diplomarbeit nicht gänzlich um die Chance zu bringen, sich auf das „Wesentliche“ zu konzentrieren. 190 110 Um eine Übersichtlichkeit über die entscheidenden Begriffe zu geben, werde ich „im Vorgriff“ die Dimensionen, Kategorien und Ausprägungen (entspricht Unterkategorien) exemplarisch in einem Modell darstellen, wie diese Begriffe in Bezug stehen und welche unterschiedlichen Ebenen sie beschreiben. Übersicht zu Begriffen des Auswertungsprozesses Dimension „Beheimatung“ Kategorie „Charakteristika der Aufenthaltsorte“ Kategorie ... Dimension „Kontrolle“ Kategorie ... Kategorie ... Kategorie „Relationen zu (personifizierten) Kontrollinstanzen“ Ausprägung Ausprägung Ausprägung Ausprägung Ausprägung Ausprägung Ausprä„Konflikte ... ... ... ... ... gung„Ignor in Heimen“ anz durch Kontrollinstanzen“ 3.4.1 Auszuwertendes Material Das Untersuchungsmaterial umfasst vier Interviews mit iranischen AsylbewerberInnen und Beobachtungen, die ich während der Interviews getätigt habe. Die ersten Schritte begrenze ich auf die geführten Interviews, um dasselbe Verfahren für die Beobachtungsprotokolle anzuwenden. Das Interview-Material charakterisiere ich zuerst formal, wobei für alle vier Interviews gilt: Das Interviewmaterial kann einerseits angehört werden (siehe CD-ROM „Tonmaterial: Interviews“ ), sind aber auch als Transkriptionen (siehe Anhang XI) einsehbar. Auffallend lange Pausen sind als solche vermerkt, sowie deutliche Ton- oder Lautstärkeveränderungen, da diese Aussagen zum Interview geben. Während zwei Interviews waren mehrere Personen zeitversetzt anwesend. Deren Wortbeiträge habe ich ebenfalls transkribiert. Dies Transkriptionen wurde nach folgenden Kriterien erstellt: - Teile der Interviews, die zu meiner Fragestellung keinen Bezug haben, habe ich ausgelassen und mit ... Punkten erkennbar gemacht; - Unvollständigkeiten in Satzbau oder bei Worten habe ich nicht verändert; - Die Transkriptionen sind nicht in Lautschrift, sondern in Hochsprache, verfasst, so dass der für diese Auswertung irrelevante Dialekt nicht zur Geltung 111 kommt; - Parasprachliche Äußerungen wie Pausen oder Gähnen, die nicht nur dem Atemholen dienten, sind folgendermaßen gekennzeichnet (Pause); die Länge der Pausen sind nicht in den Transkrptionen vermerkt - Unverstandene Worte oder Satzteile habe ich mit (...) (Punkten) kenntlich gemacht; - Auffällige Wechsel in Intonation, Betonung, Lautstärke der Stimme habe ich in Klammern kommentiert (Stimme senkt sich); - Wortabbrüche habe ich zu einem Wort ergänzt; - Bei sich überlappenden Dialogen werden Beginn und Ende der Überlappung mit # gekennzeichnet; - Bei den aneinandergereihten Interviews (Anhang XI) ist das Ende jedes Interviews durch +++ gekennzeichnet. 3.4.2 Themendimensionen der Auswertung: theoriegeleitet Die Auswertung befasst sich inhaltlich mit Raumkonstituierungen mit dem Schwerpunkt „Leben in den Gemeinschaftsunterkünften“ durch AsylbewerberInnen und Forscherin. Die thematischen Überblicke der theoretischen Überlegungen geben zwei Dimensionen vor: Einerseits die Art der Kontrolle und Disziplinierung der AsylbewerberInnen, deren inhaltliche Vorgaben in dem Abschnitt „Asyl“ erörtert sind. Diese Dimension nenne ich „Kontrolle“. Andererseits ist die Charakterisierung der Asyl-Räume, die mit der Institution „Leben in einer Gemeinschaftsunterkunft“ verbunden ist, in der Dimension „Beheimatung“ als wesentlicher Bestandteil des „Wohnens“, v.a. für in Deutschland Fremde, relevant. Diese Dimensionen sind aus den wichtigsten Annahmen und Ausführungen des Theorieteils entwickelt worden, die ich in Erinnerung rufen möchte: Eigen- und Fremdperspektive auf „Fremde“ werden berücksichtigt. Einerseits als die Perspektive der AsylbewerberInnen, durch Charakterisierungen der sie konstituierenden räumlichen Strukturen, die mittels der Interviews erforscht werden. Andererseits wird die Fremdperspektive durch die der Forschenden mittels der protokollierten Beobachtungen, die während der Interviews (und während der zahlreichen Aufenthalte in Gemeinschaftsunterkünften) entstanden, einfließen. Sinn ist einerseits eine möglichst vielseitige Erarbeitung des Themas zu ermöglichen, andererseits kann ich mich als forschende Soziologin an das methodische Prinzip der „Fremdheit“ annähern aufgrund der Beschaffenheit des Forschungsfeldes, das auch eine methodische Kontrolle sein kann. Wenn Ausländer ihre Lebenssituation und Sichtweise beschreiben und analy- 112 sieren, beschreiben und analysieren sie zugleich die Gesellschaft, in der sie die Ausländer sind. a) Dimension „Kontrolle“ Der vorausgesetzte Raum-Begriff geht von verschiedenen Aspekten der Raumkonstitution aus, die nicht alle in dieser Arbeit untersucht werden können. Die „Sichtbarkeit“ im konkreten und abstrakten Sinne spiegelt die Perspektive der „Einheimischen“ auf die AsylbewerberInnen. Es zeigt sich das Verschwinden dieser Gruppe aus der öffentlichen Wahrnehmung, aber die Präsenz und Transparenz der AsylbewerberInnen für Kontrollinstitutionen. Letzter Aspekt der Sichtbarkeit kann in der Dimension „Kontrolle“ untersucht werden. Des weiteren lassen sich folgende theoretisch hergeleiteten Themen auf die Dimension „Kontrolle“ beziehen: Strukturen, in dieser Arbeit die rechtlichen, wirken in Form von Gesetzen auf räumliche, konkretisiert in der Lebenswelt der AsylbewerberInnen. Dies geschieht mittels Kontrolle und Beeinflussung der Bedürfnisse des menschlichen Körpers, der Kontrolle und Gestaltung von Orten, der Relationen zu anderen Personen und daraus potentiell erwachsenen Organisationsstrukturen bzw. der Verteilung der bourdieuschen Kapitalien. In der lebensweltlichen Analyse werden Interviews und Beobachtungen zwei Perspektiven erschließen u.a. über die (abstrakte) Stellung der AsylbewerberInnen in unserer Gesellschaft und die Schlussfolgerungen, die aus dem Umgang mit dieser Gruppe, über die Beschaffenheit unserer Gesellschaft. Kollektive Erfahrungen der AsylbewerberInnen wie die Vermittlung von Gesetzen in Verhaltens- und Wahrnehmungsmöglichkeiten, die sich auf Dauer in Habitus verwandeln können, geben Aufschlüsse über Institutionalisierungsprozesse, über den Einfluss rechtlicher auf räumliche Strukturen (oder umgekehrt). Die Art der Vermittlung, die mit ihr verbundenen Personen, sozialen Güter und Relationen sind Indikatoren der Institutionalisierung von Kontrolle und Macht. Es sollen ebenso die in Gemeinschaftsunterkünften oder allgemein für AsylbewerberInnen geltenden Normen und Gesetze untersucht werden, vielmehr deren „praktische“ Umsetzung aus beiderlei Perspektiven. Auch Charakteristika der Orte, speziell der Gemeinschaftsunterkünfte, lassen auf Kontroll- du Disziplinierungsmechanismen, aber auch auf den Beheimatungsgrad der AsylbewerberInnen, rückschließen. Die Architektur (also das Spacing), die Überwachungsinstrumente oder die „Heim-Politik“ geben Hinweise auf Art und Intensität von Kontrolle beim Leben in Gemeinschaftsunterkünften. Die Kontrolle kann auch soziale Kontrolle durch andere AsylbewerberInnen oder auch Selbst-Kontrolle der eigenen Bedürfnisse sein. 113 Auch die Erwartungen, Erinnerungen und Wahrnehmungen bei der Synthese von Räumen zeigen in den Interviews die Eigenperspektive auf das Thema „Kontrolle und Macht“, lassen mittels der Wahl der Gesprächsthemen, der Art der Thematisierung und deren Bewertungen Schlüsse auf das Verhältnis der AsylbewerberInnen zu den sie betreffenden Gesetzen ziehen. b) Dimension „Beheimatung“ Die zweite Dimension habe ich „Beheimatung“ genannt. Der populäre Begriff „Integration“ hat ähnliche Konnotationen wie Beheimatung. Erster wird oft in der Politik diskutiert, hauptsächlich aus „einheimischer“ Sicht. Daher die Verwendung des Begriffes „Beheimatung“, der einen ähnlichen Prozess meint, aber aus der Sichtweise der sich zu Beheimatenden. Beheimatung ist mit unterschiedlichen „Zeitdimensionen“ verbunden, beispielsweise mit der Konzentration auf die Vergangenheit, die Gegenwart oder die Zukunft. Wenn Erinnerungen oder Erwartungen viel „Raum einnehmen“ und das gegenwärtige physische „Hiersein“ durch ein gedankliches oder gefühltes „Dortsein“ ersetzen, ist dies ein Indikator für nicht gelungene „Beheimatung, „Verwurzelung“ oder „Identifikation“. In der Art der Zimmereinrichtung, den Eigenschaften der Aufenthaltsorte, in den Tätigkeiten und den Bewertungen der Lebensumstände der AsylbewerberInnen können sich Rückschlüsse auf den Grad ihrer „Beheimatung“ ziehen lassen. „Beheimatung“ untersucht menschliche Bedürfnisse, z. B. das Vorhandensein eines Standortes eines „Zuhauses“. Ob die Bedürfnisse durch Gemeinschaftsunterkünfte gedeckt sind bzw. ob ein Standort auf abstrakter Ebene vorhanden und auf konkreter Ebene mit welchen Charakteristika er verbunden ist, sind zu beantwortende Fragen. Die Wohnung als mit Geborgenheit, Privatheit, Identifikation, Schutz und Sicherheit verbundener Aufenthaltsort beinhaltet in unserer Gesellschaft einen Standort, der Verbundenheit, Beheimatung und Verwurzelungsmöglichkeiten. Wohnbedürfnisse müssen befriedigt werden, ebenso werden Grundbedürfnisse oftmals durch das und innerhalb des Wohnen(s) befriedigt. Wohnen als räumliche Struktur wird im Falle der AsylbewerberInnen durch die rechtliche Strukturen eingerahmt und durch das Leben in Gemeinschaftsunterkünften bestimmt. In welchem Maß rechtliche Strukturen räumliche bedingen, ob und wie Bedürfnisse „Beheimatung“, „Verwurzelung“ oder „Identifikation“, die mit dieser Art der räumlichen Struktur verbunden sind, befriedigt werden können, sind zu erforschende Themen dieser Arbeit. Beheimatung oder Verwurzelung während der Aufenthaltszeit in Gemeinschaftsunterkünften als eine Dimension von Raumcharakteristika, von „Hiersein oder Dortsein“. Diese Beheimatung ist eng verbunden mit der Wohnsituation, welche in die Institution „Gemeinschaftsunterkunft“ als räumliche Struktur eingelagert ist. 114 Zu letzter Dimension und auch zu der Dimension „Kontrolle“ kann vorhandenes oder fehlendes Privateigentum und dessen Qualitäten z. B. soziale Güter in den Zimmern der Gemeinschaftsunterkünfte oder Qualität und Auswahl der Kleidungsstücke gezählt werden. Die Bewertung und tatsächliche Bedeutung von Privateigentum werde ich durch die Sicht der AsylbewerberInnen aufnehmen und mich einer Stellungnahme enthalten. Auch (Wohn)Bedürfnisse werden in ihren Kontrollen, Disziplinierungen und ihren Beheimatungsaspekten thematisiert werden. Die soziale Stellung der AsylbewerberInnen kann durch die Charakterisierung der Relationen zwischen Personen, durch Vorgaben der Kontaktmöglichkeiten wie fehlende Sprachkurse oder ausschließliches Wohnen mit anderen AsylbewerberInnen und vorgegebenen Verhaltensweisen wie das faktische Arbeitsverbot und das geringe Taschengeld geortet werden. Hinzu kommen bei der Einschätzung Ästhetik, Stil und Geschmack, ´das äußere Erscheinungsbild der AsylbewerberInnen, die als Distinktionskriterien dienen bzw. die ihr Position in der Gesellschaft verdeutlichen. xxx Zum Vorgehen Ich kann den Abstraktionsgrad der zu bildenden Kategorien zum jetzigen Stand der Auswertung nicht aus den theoretischen Überlegungen bestimmen. Dies wäre eigentlich der nun folgende Schritt bei einer strukturierten Inhaltsanalyse, um aus diesen ein Kategoriensystem mit jeweiligen Kodierregeln zu erstellen. Dies erscheint mir zu weit von den Interviews und Beobachtungen entfernt, so dass ich folgendermaßen vorgehe: Entweder halte ich die theoretisch erarbeiteten Dimensionen „Beheimatung“ und „Kontrolle“ nach dem Vergleich mit den empirisch erarbeiteten „thematischen Überblicke“ bei oder ich ergänze bzw. revidiere sie. So kann ich einordnen, ob und in welchem Maß die theoretischen Überlegungen mit dem Untersuchungsgegenstand verzahnt sind. Die theoretisch erarbeiteten Dimensionen werden gegebenenfalls an das empirische Material angeglichen. 3.4.3 Inhaltliche Überblicke der Interviews und Beobachtungen Die inhaltlichen Überblicke der Interviews und der Beobachtungen sind unter verschiedenen Schwerpunkten geordnet. Die Angaben zur interviewten Person und die inhaltlichen Überblicke der Interviews (siehe Anhang V) umfassen, so die Intention, alle wichtigen Themen der Eigenperspektive. Diese und die ausgearbeiteten Themen der Beobachtungen sollen im nächsten Schritt mit den theoriegeleiteten Dimensionen verglichen und dann aneinander angeglichen werden. So kann eine mögliche Kritik einer einseitigen Theorie- oder Empirieorientierung der Forschungsarbeit entkräftet werden. 115 Die Beobachtungen habe ich in diesem Arbeitsschritt unter raumsoziologischen Aspekten sortiert (siehe Anhang VI): Zum einen werden die Entwicklungen der Relationen zwischen der interviewten Person und der Interviewerin berücksichtigt. Des weiteren beschreibe ich statische und dynamische Spacings der Gemeinschaftsunterkünfte und der bewohnten Zimmer mit zugehörigen Assoziationen. Zuletzt fasse ich die Synthese des „Interview-Raumes“ in Worte, die sich in die Raumkonstitution „Institution Gemeinschaftsunterkunft“ aus der Perspektive der Forschenden einfügt (bildliche Eindrücke finden sich im Anhang XVI in den Bildern Nr. 5, 6, 7 und 15 bis 20). 3.4.4 Angleichung der Themendimensionen durch Empirie Ich ordne die thematisch erarbeiteten Überblicke der beiden zu untersuchenden Perspektiven in einer Tabelle, um sie mit den bereits theoretisch erarbeiteten Themen bzw. Dimensionen, die der Kategorienbildung dienen, zu vergleichen. Daran schließt die Revision oder Beibehaltung der Themen bzw. Dimensionen der Kategorien an. Aus den Vergleichen zwischen theoretisch erarbeiteten Dimensionen und den Themen des Untersuchungsmaterials (siehe Anhang VII) ergab sich folgendes: Die theoretisch erarbeiteten Themenschwerpunkte, die Dimensionen „Kontrolle“ bzw. „Beheimatung“ werden durch die Themen der Interviewüberblicke und denen der Beobachtungen konkretisiert, also bestätigt, und beibehalten. Nach einem strukturierten Vergleich, den ich mit Hilfe der sich im Anhang befindlichen Tabelle durchgeführt habe, ergeben sich durch die Empirie folgende Ergänzungen: Die Veränderungen und Entwicklungen während des Aufenthaltes in Gemeinschaftsunterkünften werden durch die thematischen Überblicke der Interviews und Beobachtungen hinzugefügt (zeitlicher Faktor muss berücksichtigt werden). Entwicklungen werden durch die Vergleiche der unterschiedlich lange in Gemeinschaftsunterkünften lebenden AsylbewerberInnen oder durch den von ihnen geschilderten Entwicklungen analysiert. Des weiteren kommen Vergleiche bzw. Metaphern der Gemeinschaftsunterkunft ähnlicher Institutionen oder dem Leben als AsylbewerberInnen ähnliche Lebensumstände hinzu. Die Vergleiche mit ähnlichen Institutionen spiegeln die Raumkonstitutionen, Assoziationen der AsylbewerberInnen. Zum Vorgehen Ein weiteres induktives Vorgehen zur Kategorienbildung ist näher am Untersuchungsgegenstand und entspricht meiner Forschungseinstellung. Denn in ihm sind die Konkretisierungen der Dimensionen von Kategorien enthalten. Deshalb werde ich auch an dieser Stelle kein Ka116 tegoriensystem im Sinne einer strukturierte Inhaltsanalyse erstellen, sondern wie in dem Verfahren „Zusammenfassung“ paraphrasieren, reduzieren und generalisieren. Im Unterschied zum Verfahren der Zusammenfassung werde ich das Untersuchungsmaterial „themenorientiert“ zusammenfassen, da eine allgemeine Zusammenfassung wenig sinnvoll bei bereits feststehenden Dimensionen der Kategorien ist. 3.4.5 Themenorientierte Zusammenfassung: Kategorienbildung Ich habe deduktiv thematische Dimensionen gebildet, die ich in einem ersten Schritt mit dem empirischen Material in Verbindung gesetzt habe (induktiver Schritt). Dieser Prozess zeigt, dass bis auf einige Erweiterungen der thematischen Aspekte durch die Überblicke der Interviews und der Beobachtungen die Themenblöcke bzw. Dimensionen „Beheimatung“ und „Kontrolle“ geeignet sind, die Forschungsfragen zu beantworten. Die folgende Kategorienbildung entspricht einem zweigliedrigen Reduktionsverfahren, das nach Mayrings methodischem Vorgehen der Zusammenfassung192 durchgeführt wird. Aus der zeilenweisen Durchsicht der verschriftlichten Interviews und Beobachtungen werde ich Paraphrasen exzerpieren, die in erster Generalisierung und Reduktion fallintern zu Kategorien verdichtet werden. Die Kategorien und ihre „Überschriften“, die während des ersten Reduktionsprozesses gebildet werden, habe ich während des ersten Interviews entwickelt und nach etwa drei Interviews modifiziert. Während der Auswertung der Beobachtungen habe ich diese nochmals überprüft, um so eine enge Bindung der Kategorien an alle Erscheinungen zu ermöglichen und die Anwendbarkeit bzw. Aussagekraft dieser zu stärken. Die Erläuterungen der Kategorien sind noch nicht die Kodierregeln der Kategorien. Sie sollen die Kategorien konkretisieren und mit einigen Ankerbeispielen manifestieren bzw. ihre Grenzen und Inhalte erfassen. Dies ist die Basis, die im nächsten Abschnitt zu der Formulierung der Ausprägungen der Kategorien und der Kodierregeln führt. Die gebildeten Kategorien werden im Anschluss fallübergreifend generalisiert und reduziert (siehe Anhang IX und X), um die „Essenz“ der Kategorien zu erfassen. Da die gebildeten Kategorien sowohl für die Beobachtungen als auch für die Interviews gelten, möchte ich in diesem Abschnitt die Erklärungen und Ankerbeispiele der Kategorien für beide Perspektiven gemeinsam erläutern. Bei den folgenden Auswertungsschritten werden die Unterschiede der Perspektiven berücksichtigt, da sie unterschiedliche Inhalte und Ordnungen der Kategorien und Ausprägungen hervorbringen. In diesem Schritt geht es primär um Einblicke in die Kategorien und Konkreti192 Vgl.: Mayring, Philipp: Qualitative Inhaltsanalyse – Grundlagen und Techniken, Weinheim 2003, S. 62ff. 117 sierung an einigen Ankerbeispielen, was eine Trennung von Beobachtungsprotokollen und Interviewtranskriptionen überflüssig macht. a) Erläuterungen der Kategorien mit Ankerbeispielen für die Dimension „Kontrolle“ In der ersten Dimension „Kontrolle“ sind im doppelten Reduktionsprozess folgende Kategorien erarbeitet worden (siehe Anhang X). Der Aspekt der „sozialen Kontrolle“ durch NachbarInnen und andere AsylbewerberInnen ist vernachlässigt worden, da er in den Interviews und Beobachtungen eine geringe Rolle spielt: K1 „Relationen der AsylbewerberInnen zu (personifizierten) Kontrollinstanzen“ K2 „Kontrolle des Körpers und der Bedürfnisse“ K3 „Selbstkontrolle des Körpers und der Bedürfnisse“ K4 „Begrenzungen der Verhaltensmöglichkeiten mit ihren Folgen“ K1 „Relationen der AsylbewerberInnen zu (personifizierten) Kontrollinstanzen“ Die Relationen der AsylbewerberInnen zu Instanzen oder Personen der Kontrolle, der Machtausübenden ist ein Aspekt, der sich im theoretischen und im empirischen Teil der Arbeit als bedeutend gezeigt hat. Diese Relationen bestimmen die Räume der AsylbewerberInnen, schlagen sich als rechtliche in räumlichen Strukturen nieder, sind in ihren Ausformungen charakterlicher Raum-Bestandteil. Die Qualität der Relationen zu Instanzen der Macht gibt Auskunft über die Qualität der Räume, speziell der Räume des Aufenthaltsortes und Institution „Gemeinschaftsunterkunft“. Ankerbeispiel 1: I: You walked in the centre? Z: Ja. Because here keine Polizei, ich habe Angst, but im Zentrum is o.k..(Pause) (siehe Anhang XI, Zeilen 267f) Dieses Beispiel verdeutlicht eine positive Funktion der Polizei. Sie wird als Schutz der eigenen Person vor Übergriffen seitens „böser Menschen“, dies ist die Grundangst der Probandin, das ihr Lebensgefühl bestimmt, wahrgenommen. Die Polizei als Instanz der Kontrolle und der Macht zur Erhaltung der Ordnung im Staat besetzt sie mit der Schutz-Funktion und fühlt sich sicher in Anwesenheit von PolizistInnen. Ankerbeispiel 2: B: Mit Frau Gabler, Cabana, ich mit ihr auch machen das und schreiben: Hallo, ich lange hier, brauchen eine Wohnung. Wohnung, aber Sozial, keine Wohnung. ... Ach, eine Person hier fünfhundert bezahlen (Pause) ich genau nicht weiß, dreihundert Euro jetzt, früher fünfhundert für eine Person, ein Bett, eine Schrank, das, das, das. .... Nee, aber Sozial sagen: 118 Leute krank, richtig krank, dann ... o.k. ich warten, richtig krank und dann geben mir. (siehe Anhang XI, Zeilen 1374 bis 1379) Einerseits erscheint die Mitarbeiterin einer lokalen Hilfsorganisation als helfende Person, deren Hilfe allerdings aufgrund der Entscheidungsinstanz „Sozialamt“, die in vielen Bereichen wie bezüglich der Höhe des Taschengeldes, Heimverlegung, die Zuordnung von Sozialarbeit oder Urlaubsscheinvergabe in das Leben von AsylbewerberInnen eingreifen. Das Sozialamt tritt als „Autorität“, als Entscheidungsmacht auf, das dem Probanden den Umzug in ein Einzelzimmer bzw. eine Wohnung verwehrt. Damit drängt es ihn zu der Entscheidung zu warten, bis er „richtig krank“ wird, damit auch er Anspruch auf eine Wohnung hat. K2 „Kontrolle des Körpers und der Bedürfnisse“ Diese Kategorie befasst sich speziell mit den Wirkungen der rechtlichen auf räumliche Strukturen durch die Kontrolle des Körpers und der Bedürfnisse, die durch den Körper entstehen. Unter sie fasse ich die „Grundbedürfnisse“ wie Essen, Schlafen, Trinken, Ausleben der Sexualität, auch die Wohnbedürfnisse, die mit Lärmschutz, Einhaltung von Ruhezeiten, Wahrung der Intimsphäre u. ä. verbunden sind. Die „weiteren Bedürfnisse“ beinhalten Ausübungsmöglichkeiten von Freizeitaktivitäten oder Partizipation an kulturellen Ereignissen oder Reisen. Das Verlangen und die Ausprägung der weiteren Bedürfnisse sind interindividuell verschieden und daher werde ich auf diese Unterschiede eingehen, indem ich die ProbandInnen nach ihrer Eigeneinschätzung befrage, die in dieser Arbeit relevant ist. Der Körper als Teil des Raumes, der in (und Grundlage der) Eigenwahrnehmungen ist, wird durch das Asylbewerberleistungsgesetz und durch die Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften beeinflusst. Ein Kontrolleinfluss ist es, wenn er als solcher intendiert oder von den betroffenen Personen als solcher wahrgenommen wird. Die Intensität und Qualität der Kontrolle zu erforschen, ist Teil dieser Arbeit. Die Kontrollinstanzen können in personifizierter Form auftreten wie PolizistInnen, AmtsmitarbeiterInnen, HeimmitarbeiterInnen, TherapeutInnen, PastorInnen, SozialarbeiterInnen o. ä. oder in entpersonifizierter Form wie Gesetzestexten, Vorschriften, Architektur o. ä. . Ankerbeispiel 1: P: Liste auch nicht gut. Zum Beispiel: Ich brauche Lammhackfleisch, hat keine. Puten, hat keine und Gemüse nicht gut Qualität und Brot auch. Brot muss eine Woche halten, aber hier kommt zwei Tage und Ende, nicht so gut Qualität. Und Kosmetik auch, Kosmetik ich zum Beispiel geschrieben: Fa Duschbad, ich bestellen das, (Stimme wird energischer) aber bringen eine billigere Duschbad. Fa ist ungefähr zwei Euro, aber bringen eine billigere zum Beispiel 119 achtzig Cent (Stimme wird leise) und so was. (siehe Anhang XI, Zeilen 2385 bis 2390) Der Proband bezieht sich auf die Lebensmittellisten, auf denen von den AsylbewerberInnen angekreuzt wird, welche Waren für die nächste Woche geliefert werden sollen. Diese Bestellungen beinhalten ein bestimmtes Geldbudget in Form von Punkten, das maximal ausgegeben werden kann pro Bestellung. Die Schwierigkeiten, die durch diese Art der Lebensmittelbeschaffung entstehen, sind die schlechte Qualität der Lebensmittel, deren Ablaufdatum manchmal kurz bevorsteht und der erhöhte Preis im Vergleich zu Preisen desselben Produktes im Supermarkt. Die schlechte Qualität und die geringe Auswahl wirken sich auf die Essgewohnheiten und die Verarbeitung der Lebensmittel im Körper aus. Nicht nur Vorstellungen von Zubereitung und Zutaten der Speisen werden bedingt, auch die Bedürfnisse oder das Verlangen nach ganz bestimmten Lebensmitteln können nicht erfüllt werden. Der Proband wirkt aufgrund dieser Lebenssituation, mit der er seit 5 Jahren umgehen muss, bedrückt und niedergeschlagen. Ankerbeispiel 2: A: And if Sozialamt say: You can go for Arbeit, I don´t go for Zappzarapp. But if you don´t go, you must sit down and alles, alles, alles. Wait. And in the four wall, I just see here, here, here. (Stimme klingt „weinerlich“) And I go crazy. (Pause) (siehe Anhang XI, Zeilen 1122 bis 1124) Das Sozialamt tritt als Entscheidungsgewalt auf, die über das faktische Arbeitsverbot des Proband Kontrolle ausübt. Dies ist als Einschränkung der Bedürfnisse zu bewerten. Die Lösungsstrategie des „kriminell Werdens“ (der Begriff „Zappzarapp“ bedeutet Diebstahl begehen) scheidet für den Asylbewerber aus, so dass er als einzige Verhaltensmöglichkeit in seiner Lebenssituation das „Sitzen und Warten“ erachtet, bis weitere Entscheidungen fallen. Die Folge dieses eingeschränkten Verhaltens ist zu glauben, verrückt zu werden. An diesem Beispiel wird deutlich, welche Auswirkungen die Kontrolle des Körpers und der Bedürfnisse durch die Regelung des „faktischen Arbeitsverbots“ haben kann. Aus der Perspektive des AsylbewerberInnen sind lediglich Diebstahl und Passivität möglich, aus denen psychische Belastungen erwachsen. Die Verhaltensvariante des Diebstahls ist „kontrollkonträr“, da Kriminalität seitens des Staates durch Kontrolle nicht angestrebt wird. Die zweite Variante der Passivität birgt ebenfalls unsichere Potentiale, denn psychisch labile Menschen193 sind wahrscheinlich schwerer kontrollierbar als psychisch stabile und „integrierte“ Personen. 193 Hinzu kommt, dass psychische Labilität verstärkt wird durch die Anwesenheit anderer psychisch labiler Personen. Diese Tatsache lässt schließen, dass die Unterbringung in zentralen Einrichtungen wie Heimen psychische Probleme aufgrund der Anwesenheit anderer verstärkt. In: PDS-Fraktion im Sächsischen Landtag: Asyl in Sachsen, Dresden 2001, S. 31. 120 K3 „Selbstkontrolle des Körpers und der Bedürfnisse“ Diese Kategorie beinhaltet das Selbst-Verhältnis der AsylbewerberInnen zu ihren Bedürfnissen und ihrem Körper, ihre Selbsteinschätzung und Selbst-Disziplinierung im Rahmen des „Lebens in Gemeinschaftsunterkünften“. Mögliche Entwicklungen und Veränderungen in ihrem Selbst-Verhältnis, in ihrer Relation zu einem Teil ihrer Person sind für diese Forschungsfragen relevante Aspekte. Wie mit Bedürfnissen nach einer bestimmten Ernährung oder nach einem geregelten Tagesablauf umgegangen wird, wie ihr Körper von außen erscheint und ihre Ess-, Trink- oder Bewegungsgewohnheiten sind, wird in dieser Kategorie erfasst. Es soll auch abgelesen werden, in welchem Maß, ab welchem Zeitpunkt und ob die AsylbewerberInnen Kontrollmechanismen der Asyl-Politik inkorporieren. Dieser Aspekt soll im Interpretationsabschnitt auf die Veränderungen im Laufe der Aufenthaltszeit in Gemeinschaftsunterkünften erforscht werden, denn Inkorporationen bzw. die Eingliederung von Verhaltensweisen in den Habitus ist erst nach einigen Monaten oder Jahren zu erwarten. Ankerbeispiel 1: Z: When I see clothes from Rot Kreuz, I see, I wash, think: clothes nicht gut. Again wash, again think. That´s problem of my think. I: But with the clothes from Iran you don´t have the problems and think, that it´s dirty? Z: Because it´s neu. Neu. … I think maybe the clothes from people, this people is krank, maybe have problems, too much think. (siehe Anhang XI, Zeilen 376 bis 380) Die Probandin macht sich Gedanken um die vorigen TrägerInnen der Kleidungsstücke, die sie bei ihrer Ankunft in Deutschland vom Roten Kreuz erhalten hat. Die Kleidung der halbjährlich vom Sozialamt organisierten Kleiderausgabe ist teilweise ebenfalls gebraucht. Die Lösung das Problem in ihrem Fall ist das Zusenden von neuer Kleidung aus dem Iran durch ihre Mutter. Hygiene ist ein wesentlicher Aspekt ihres Verhältnisses zu ihrem Körper und was ihren Körper berührt. Sauber sein, Schmutz abwaschen, autonom sein wird auch durch das Vermeiden, gebrauchte Kleidung zu tragen, symbolisiert. Das Bedürfnis nach Sauberkeit und Reinheit sind Bestandteile ihres Selbst-Verhältnisses zum Körper. Die Probandin verbindet das Gebrauchtsein der Kleidung mit Dreck und Schmutz, den sie von sich fernhalten bzw. abwaschen möchte. Doch die Spuren des Drecks, der Verunreinigung vermutet sie weiterhin in der Kleidung, der nicht auswaschbar, nicht entfernbar ist. Sie verbindet die Menschen, die vor ihr die Kleidung getragen haben, gedanklich mit der Kleidung und kann sich nicht von ihren Vorstellungen lösen, dass die Menschen krank gewesen sein 121 könnten. Damit könne auch sie „gefährdet“ sein bzw. von Ekel gepackt werden durch ihre Phantasien. Ankerbeispiel 2: Das nächste Treffen fand während einer Feier von in Dresden lebenden IranerInnen im Ausländerrat e.V. statt. Z. trug eine Perücke mit langen, blonden, dünn geflochtenen Zöpfen, so dass ich sie nicht erkannte. Sie sprach mich an und erst nach einigen Überlegungen erinnerte ich mich an unser erstes Zusammentreffen. Ihr Verhalten hatte sich verändert. Sie wirkte nun extrovertiert, fröhlich und aufgeschlossen auf mich, während sie beim ersten Treffen still, angespannt und depressiv erschien. (siehe Anhang VIII, Zeilen 20 bis 25) Die Art der Selbstpräsentation der Probandin zeigt eine hohes Maß an Kontrolliertheit und Bewusstsein für das eigene Erscheinungsbild. Im Vergleich zum unserem vorigen Zusammentreffen hat ihre Selbst-Kontrolle über ihr Verhalten und ihr Aussehen zugenommen, so dass ich sie auf den ersten Blick nicht wiedererkannte. Die „Verkleidung“ durch die Perücke, die Schminke und ihre andere Kleidung ließen sie mir fremd vorkommen. Diese äußere „Verwandlung“ war durch eine innere, so erschloss es sich aus dem nachfolgenden Gespräch, aufgrund ihrer „Anerkennung als Asylberechtigte“ determiniert. Sie war sehr präsent im Fest-Raum, zog viele Blicke und Gespräche auf und an sich, was sich durch ihre Tanzfertigkeiten steigerte. Auf mich wirkte sie nun sicher und klar im Auftreten, in ihren Bewegungen, in den Gesprächen. Während des ersten Treffens hingegen waren ihre Schultern nach vorne eingefallen, ihr Kopf meist gesenkt und ihre Stimme leise. Sie war im Raum wenig präsent, das Schweigen und Verkrampfung beherrschten die Situation. Selbstkontrolliert erschien sie in ihrer Absicht, sich uns anzuvertrauen und Hilfe von uns zu erwarten wegen ihrer Depressionen und Traumata, für deren Behandlung sie eine Dolmetscherin Farsi-Deutsch benötigte. Ihre Körperhaltungen damals waren angespannt, von Starrheit geprägt, aber in ihrer Starrheit unsicher, unkontrolliert. Sie konnte ihre eigenen Grenzen nicht bewahren, suchte wider Erwarten (auch von Seiten der Forscherin) bei ihr vollkommen fremden Menschen Hilfe. K4 „Begrenzungen der Verhaltensmöglichkeiten mit ihren Folgen“ Verhaltensspielräume sind ausschlaggebend für die Konstitution von Räumen. Die Bedeutung der Tätigkeiten und Verhaltensweisen an bestimmten Orten ergeben Räume, beispielsweise wird von „Warte-Räumen“, „Schlaf-Räumen“, „Arbeits-Räumen“ u. ä. gesprochen, die durch entsprechende Tätigkeiten charakterisiert sind. Unter Begrenzungen der Verhaltensmöglichkeiten verstehe ich im folgenden eine Beeinträchtigung der eigenen Bedürfnisse, die entweder durch Normen und Regeln oder durch das Ver122 halten von Personen begrenzt wird (siehe K2 und K3). Qualität und Bewertung der Begrenzungen sind forschungsrelevante Themen, denen ich mich zuwende. Auch diese Kategorie soll hinsichtlich der Veränderungen im Laufe der Aufenthaltszeit analysiert und interpretiert werden. In dieser Kategorie werden die Auswirkungen der gesetzlichen Rahmenbedingungen auf Verhaltensweisen untersucht, die auch eine Umsetzung von vorhandenen Fertigkeiten der unterschiedlichen Kapitalien einschränkt oder unterbindet. Die Folgen dieser Beschränkungen werden, so weit sie seitens der AsylbewerberInnen oder in Beobachtungsprotokollen expliziert wurden, ebenfalls erfasst. Ankerbeispiel 1: B: Einmal diese Chef reden: Hallo, brauchst Du einen Zimmer, sagen: Hallo, gehen, hallo hier auch Knast. Verstehst Du? Nicht für mich immer Problem, machen für Dich Problem, verstehst Du? Problem machen, egal, ich schlagen, scheiß egal. Ich gehen in Knast, hier auch Knast, Knast geben mir eine Zimmer frei. Alleine, hallo, ich bin nicht neu gekommen hier. (siehe Anhang XI, Zeilen 1541 bis 1545) Die Beschränkungen der Verhaltensmöglichkeiten, die durch das Leben in Mehrbettzimmern entstehen (siehe Anhang XVI Bilder Nr. 13, 14 und 24 bis 27), sind für den Probanden anstrengender und werden negativer bewertet als das Leben in einem Gefängnis, da ihm dort ein Einzelzimmer zur Verfügung steht. Der Vergleich des Heims mit einem „Knast“ fällt positiv für das „richtige Gefängnis“ aus. An dieser Stelle wird die Verzweiflung und Hilflosigkeit des Probanden sichtbar, indem er auch Gewalt als Lösungsweg nicht ausschließt, um in die bessere Variante „Gefängnis“ mit Einzelzimmer zu gelangen. Er benennt die Vorteile eines Einzelzimmers nicht, seine Abwehr gegen es ist offensichtlich, seine Wut richtet gegen das Leben in Mehrbettzimmern. Die Intensität der negativen Einschätzung und das Gefühl der Verhaltensbeschränkungen könnten im Vergleich kaum größer sein. Diese Einschätzung wird durch die Aufregung, die Fragen innerhalb des Monologs des Probanden und seine derben umgangssprachlichen Begriffsverwendungen manifestiert. Ankerbeispiel 2: A: But if asyl want go to bodybuildung, can´t go. Because I must buy ticket dreissig Euro and Sozial give vierzig Euro. Ten Euro left. And what I want drink for one month. In bodybuilding: No. Buy telephone, buy T-Shirt, buy dress, I don´t know, but everything is close for asyl. (siehe Anhang XI, Zeilen 1073 bis 1076) Die Verhinderung des Ausübens einer individuellen Leidenschaft in Form einer Verhaltensbegrenzung ist nicht nur für „Bodybuilding“ gültig, sondern erweitert sich auf alle Aktivitäten, die finanzieller Ressourcen bedürfen. 123 Neben der Unterbringung im Mehrbettzimmer wird das nicht vorhandene ökonomische Kapital als entscheidend für die Beschränkung der Verhaltensmöglichkeiten eingeschätzt. Speziell die Gruppe der AsylbewerberInnen wird von allem ausgeschlossen, ihnen gegenüber zeigen sich Dinge, Orte als nicht erreichbare oder betretbare Felder. b) Erläuterungen der Kategorien mit Ankerbeispielen für die Dimension „Beheimatung“ Dasselbe Verfahren für die Dimension „Beheimatung“ (siehe Anhang IX) ergab auch nach Auswertung dreier Interviews und der ersten Beobachtung die Beibehaltung der nach dem ersten Interview gebildeten „Kategorieüberschriften“: K1 Relationen zu (und zwischen) den „bourdieuschen Kapitalien“ K2 Charakteristika der Aufenthaltsorte K3 Hiersein oder Dortsein (Relevanz der Erinnerungen, der Erwartungen, Vergleiche) K4 Asyl-Probleme K5 Reaktionen, Strategien K1 Relationen zu (und zwischen) den „bourdieuschen Kapitalien“ Zur Erinnerung: Die Kapitalienarten Bourdieus sind in kulturelles/symbolisches, soziales und ökonomisches Kapital untergliedert, über das jede Person zu einem bestimmten Zeitpunkt verfügt, das auch in „inkorporierter Form“ vorhanden sein kann. Relevant ist auch die Anwendbarkeit, die Möglichkeit eines Geltendmachens des jeweiligen Kapitals. Kulturelles und symbolisches Kapital fasse ich in einer Kategorie zusammen, da beide Kapitalarten bezüglich der AsylbewerberInnen in unserer Kultur wenig anerkannt bzw. „fremd“ sind und so einerseits schwierig zu bewerten, andererseits in den meisten Fällen abgewertet statt anerkannt werden. Symbolisches Kapital umfasst alle Titel und Abschlüsse, die eine Person im Laufe ihres Lebens sammelt, damit sind auch Verhaltensweisen gemeint, die eine Kenntnis, ein Wissen über Symbole und deren Wirkung voraussetzt, um sie einer Situation gerecht einzusetzen. Kulturelles Kapital sind die Fertigkeiten oder Wissen, das in einer spezifischen Kultur, in dieser Arbeit die der Deutschen, zur Geltung kommt und Voraussetzung sein kann, um an Ereignissen oder Situationen zu partizipieren. Dieses gilt als Teil des Habitus-Konzeptes Bourdieus und ist Indikator für die Zugehörigkeit einer sozialen Gruppe. Zu ökonomischen Kapitalien zählen neben finanziellen Ressourcen Besitztümer und deren Wertigkeiten in der jetzigen Lebenssituation. Wohnungen im Iran haben z. B. in einer Gemeinschaftsunterkunft höchstens die Bedeutung der sehnsüchtigen Rückerinnerung an diesen Besitz, es sei denn, das Kapital wird verkauft und kommt in monetärem Zustand der Person zu. 124 Soziales Kapital besteht in erster Linie aus Beziehungen zu anderen Personen, in Zusammenhang mit deren Funktionen und Bedeutungen für die jeweilige Person. Auffällig ist das bei AsylbewerberInnen auftretende Charakteristikum der „Hilfe“, das die Relationen zu Deutschen charakterisiert. Hilfe ist auch durch eine „schiefe Ebene“ gekennzeichnet, die der helfenden Person eine mächtige, der geholfenen, also dem/der AsylbewerberIn, eine unmächtige Position zuweist. Ankerbeispiel 1: I: Do you have German lessons? A: Ja, today I have it. … No problem, don´t worry. … I give… onehundredfifty Euro for three month, but it´s not good. I want to go to TUDIAS. … And onehundredeightyfive for six months … I said my mom … and money is here. (siehe Anhang XI, Zeilen 859 bis 862) Der Proband kann sich aufgrund des finanziellen Rückhalts durch die ökonomischen Kapitalien seiner Familie im Iran (soziales Kapital) Deutschunterricht leisten und sich kulturelles/symbolisches Kapital aneignen. Das Voraussetzungs-Kapital ist in diesem Fall das ökonomische in Form von finanziellen Mitteln, das die Aneignung von kulturellem Kapital in Form von Deutschunterricht ermöglicht. Ankerbeispiel 2: I: Und wie viel hast Du da bezahlt? P: (Pause) Ja, ungefähr fünftausend Euro. ... Ja, ich bezahle, mein Vater und meine Frau hat bezahlt in Iran, nicht in Türkei. (siehe Anhang XI, Zeilen 2103 bis 2105) Frau und Vater des Probanden bezahlten die „Schlepper“, die den Probanden von der Türkei nach Deutschland gebracht haben. Die Geldsumme verrät, dass auch in dieser Familie ökonomisches Kapital vorhanden ist. Das soziale Netzwerk, in Form der Familie, ist dicht und bietet Hilfe in Notsituationen. K2 Charakteristika der Aufenthaltsorte Die Aufenthaltsorte mit ihren Charaktereigenschaften sind aussagekräftig bei der Charakterisierung der Asyl-Räume. Die Stationen in Deutschland, die die AsylbewerberInnen seit ihrer Ankunft durchliefen, besonders die Gemeinschaftsunterkünfte, in denen sie mehrere Monate oder Jahre leben, sind Teil ihrer Raumkonstitutionen. Die AsylbewerberInnen sind in mehreren Städten in Heimen gewesen. Sie warten in ihnen zwischen einigen Monaten und 5 Jahren auf ihre Anerkennung oder die Verlängerung ihres Duldungsstatus. In dieser Zeit konnten sich Strukturen bilden und ihre Wirkungskraft entfalten. Der Zeitaspekt ist als ein Bestandteil zu definieren, der räumliche Strukturen beinhaltet. Wohnen als Institu125 tionalisierung mit eingeschriebenen Verhaltensmustern, mit der zugehörigen Statik und Dynamik von Spacings und Syntheseleistungen an Orten wird erfasst. Neben dem Wohnen in Gemeinschaftsunterkünften ist das Heimgelände und die Umgebung dieser für die Raumkonstitutionen relevant. Die untersuchten Gemeinschaftsunterkünfte sind in ihrer Architektur und Geschichte Behindertenheim bzw. Unterbringungsgebäude für GastarbeiterInnen in der DDR gewesen. Ankerbeispiel 1: Das Gebäude ist ein Behindertenheim gewesen. Spazieren gehen kann man durch den Park oder durch das angrenzende freie Wiesen- und Feldstück. Die angrenzenden Gebäude stammen entweder aus dem vorvorletzten Jahrhundert oder sind nach dem Krieg errichtet worden. Hinter dem Haus befindet sich eine Wiesenfläche und ein Platz mit Kinderspielgeräten. Vor dem Haus ist ein Sportfeld mit Fußballtoren und Basketballkörben. Das Heim ist durch einen hohen Zaun und am Eingang durch Eisentore begrenzt und mit einer Videokamera überwacht. Das Heimgebäude ist in den 70er Jahren erbaut worden, umfasst vier Stockwerke mit je zwei Küchen, zwei Duschen und zwei Toilettenzimmern. (siehe Anhang VIII, Zeilen 100 bis 108) Das Heimgebäude ist bereits aufgrund seiner Funktionsgeschichte als „Institution: Heim“ besetzt. Die Umgebung zeichnet sich nicht durch Besonderheiten oder Auffälligkeiten aus. Die Gegend wird wahrscheinlich von Personen der unteren Mittelschicht bewohnt. Die Ausstattung der Gemeinschaftsunterkunft beinhaltet auf die AsylbewerberInnen Möglichkeiten der Freizeitgestaltung. Auf mich haben Gebäude, Materialien, Licht und Zimmer in den meisten Fällen beengend, kalt und lieblos (siehe Anhang XVI Bilder Nr. 5 bis 7 und 19 bis 23) gewirkt. Die Umzäunung, das Tor und die Überwachungskamera (siehe Anhang XVI Bild Nr. 16) charakterisieren die Transparenz, die Kontrollmöglichkeiten der Personen, die das Heimgelände betreten. In welchem Maß eine Transparenz geschaffen wird, ist von der Aufmerksamkeit des Portiers (siehe Anhang XVI Bild Nr. 8) abhängig, der theoretisch 24 Stunden am Gebäudeeingang das Eingangstor auf einem Bildschirm beobachten kann. Außerdem sind mir der Dreck und die Graffitis mit den Fragen nach der „deutschen Gerechtigkeit“, deren Bewertungen oder Symbole (siehe Anhang XVI Bilder Nr. 28 und 29) sind mir in Erinnerung präsent und sind wesentlicher Bestandteil der Beobachtungen. Ankerbeispiel 2: Z: Do you know: One room is for me all. (hebt die Stimme) Besuchsraum, Schlafraum, and not two person here. I: And what did you do here the most time? 126 Z: I have nothing here, because I haven´t Platz here. When I´m here, ein chinese Frau war here. All diese Sachen here. If I take here, what I make? I can´t washing, I can´t cleaning, I can´t come somebody for visit. What can I make? I´m crazy now. Everytime I go outside. He tell me: Why don´t you stay? I can´t astay. (siehe Anhang XI, Zeilen 449 bis 455) Den Aufenthaltsort „Zimmer in der Gemeinschaftsunterkunft“ beschreibt die Probandin mit der Funktionsvielfalt, den das Zimmer erfüllen muss. Es ist Besuchs-Raum und Schlaf-Raum zugleich. Zwar wohnt sie alleine, was als positiv zu bewerten ist, da die Probandin in vorigen und folgenden Passagen erwähnt, wie glücklich sie über den Umzug vom Heim mit Mehrbettzimmer in das Heim mit Einzelzimmer gewesen ist. Die Probandin bemängelt den unzureichenden Platz, der zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse ausreicht. Einerseits muss sie alle alltäglichen Tätigkeiten in einem Zimmer verrichten, andererseits beschneiden die Zimmergröße und -belegung weiteres Verhalten. Das Warten als einzige Tätigkeitsmöglichkeit ist ihr zuwider, daher kann sie sich nicht längere Zeit im Zimmer aufhalten, sondern geht spazieren, Bekannte besuchen und beschäftigt sich auf irgendeine Weise. Sie beschreibt die Asyl-Räume durch die Art der Tätigkeiten, die die Raumkonstitution bedingen. Der Alltag im Heim wird als monoton und trist, als Warten und als Einschränkung in den Tätigkeitsmöglichkeiten beschrieben. K3 Hiersein oder Dortsein (Relevanz der Erinnerungen, der Erwartungen, Vergleiche) Hiersein als Metapher meint Präsenz und auch Gegenwärtigkeit, hier ist die Kopplung einer Raum- an eine Zeitdimension sinnvoll, meint Verbundenheit mit den Räumen, die wir im alltäglichen Leben konstituieren. Hiersein bedeutet, Erinnerungen und Hoffnungen gering zu halten, die Wahrnehmungen auf das augenblickliche „Hier“ zu lenken, sich darauf einzulassen und zu konzentrieren. Ankommen in der Fremde, Angekommensein in einer neuen Umgebung, den Prozess des Vertrautmachens, der Beheimatung zu vollziehen, die „alte Heimat“ nicht als ständig präsente Sehnsucht zu spüren. Dortsein als Metapher meint, woanders zu sein, in Gedanken, in Gefühlen, in den Wünschen. In einer anderen Zeit zu sein als der Gegenwart, gedanklich an Orten zu sein, die das Festsetzen, Niederlassen, zur Ruhe kommen, Entspannung und Verwurzeln ermöglichen. Räume zu konstituieren, die den derzeitigen physischen Aufenthaltsort als „Negativfolie“ oder „Ort der Distanzierung“ verwenden. Die Zeitdimension ist eine relevante, weil Erinnerungen und Hoffnungen sich in der Gegenwart auf Vergangenheit oder Zukunft beziehen und diese das Hiersein erschweren. Des weiteren ist interessant, wann AsylbewerberInnen anfangen, sich mit der hiesigen Kultur und Politik auseinander zu setzen und auf welche Weise dies geschieht. Ob und welche Wege sie fin127 den, Sprache, Traditionen und Kulturgepflogenheiten der einheimischen Bevölkerung kennen zu lernen. Beispiele sind Konvertierung zum Christentum als eine Form der Beheimatung oder intensive Vergangenheitsbewältigung als Indikator für das „Dortsein“ und zugleich das Streben nach dem „Hiersein“. Reaktionen als bewusste oder unbewusste Folge auf die Bedingungen des Hierseins in den Gemeinschaftsunterkünften sind z. B. Drogenkonsum oder Schlafstörungen. Die Gefühle, die mit dem Hiersein verbunden sind, geben Auskunft über die Qualität des Hierseins. Wünsche und Pläne der AsylbewerberInnen zeigen Art und Qualität der momentan fehlenden Bedürfnisbefriedigung. Die Normalität, der Alltag der Einheimischen, der „Normalen“, der aus Arbeit, Freizeit und Gehalt besteht, werden vermisst. Es können lediglich Kleiderständer, ein Einzelzimmer oder das Zusammenleben mit der eigenen Familie sein, die Wünsche, Vorstellungen und Träume der AsylbewerberInnen bestimmen. Ankerbeispiel 1: P: Teheran wie Berlin so groß. ... Mitte und hier liegt nicht so Reiche, Arme Leute sind Süd. Ich wohne hier: nicht Nord, noch Süd, gemischt dort. I: Habt ihr auch einen Garten? P: Nein, aber Hof. Kleine Garten ist hier, mit zwei, drei Bäume. ... Hier (in der reichen Gegend Teherans) ist Kapitalist. (Lachen) (siehe Anhang XI, Zeilen 1991 bis 1996) Seine Referenzfläche, die als Vergleichfolie zum Leben in der Gemeinschaftsunterkunft dient, ist eine Mittelstandsgegend in der iranischen Hauptstadt. Ökonomisches Kapital ist im Heimatland vorhanden, ebenso ein funktionierendes Familienleben. Dieser Maßstab, angesetzt beim „Leben in Gemeinschaftsunterkünften“, bedeutet „sozialen“ und „ökonomischen Abstieg“ des Probanden. Ankerbeispiel 2: B: Für mich das ist (Pause) normale Wohnung, .. eine Schlafzimmer, Dusche, Toilette auf der anderen Seite. Ja, das ist drei Zimmer besser das ist besser. Zwei Personen, eine Person das ist genug für mich, drei Zimmer und eine Dusche/Bad, das ist genug, das ist einfach .... Schwarze Möbel und viel Blumen und Fenster, ich lieben rausgucken, viel. Das ist .... Teppich auch, natürlich Teppich, Teppich auch mit das (Stühle), auch mit Möbel, ja. Zigarre rauchen (in der Küche) und viel Blumen, ich lieben Blumen und Fenster, ja viel Fenster. .... Eine normale Leben, das ist normale Leben. ... (lacht) (siehe Anhang XI, Zeilen 1871 bis 1877) Die Wünsche des Probanden beziehen sich auf Wohngegebenheiten, die er zu seiner Zufriedenheit erfüllt haben möchte. Die Ansprüche sind durchschnittlich für mitteleuropäische Maßstäbe, verglichen mit seiner Wohnsituation im Heim scheinen die Vorstellungen wie 128 kaum erreichbare Träume. Die Sehnsucht nach Normalität spiegelt die Selbsteinschätzung, die Verortung im Bereich der „Unnormalen“, der „AbweichlerInnen“ wider, zu denen er AsylbewerberInnen zählt. Das Bewusstsein, von der Norm gewichen zu sein, aber die Sehnsucht nach ihr kennzeichnet den Lebensabschnitt „Leben im Gemeinschaftsunterkunft“. K4 Asyl-Probleme Die wahrgenommenen Probleme während des Asyls, Teil der Asyl-Räume, die seitens der AsylbewerberInnen selbst als solche definiert werden, werden in dieser Kategorie erfasst. Die Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften wurde bereits in einigen Facetten als problematisch definiert: Das Leben in Mehrbettzimmern, die Kleiderausgabe, die Lebensmittellisten oder der Dreck in den Gemeinschaftszimmern, insbesondere der hygienischen Einrichtungen (siehe Anhang XVI Bilder Nr. 2, 23 und 29), wird negativ und als Belastung bewertet. Die Folgen der Asyl-Probleme, die als Reaktionen und Strategien erscheinen, steigern im Laufe der Zeit die Probleme der AsylbewerberInnen bzw. werden die neu ankommenden mit den Folgeerscheinungen des Lebens im Asyl der länger in Gemeinschaftsunterkünften lebenden Personen konfrontiert. Dies kann als ein „circulum virtuosum“ bezeichnet werden. Ankerbeispiel 1: P: Essen und geschlafen ... Problem mit anderen auf Zimmer. ... Fünf Leute denken fünf verschiedene Dinge. Das kann nicht zusammengehen. .... Ja, eine Weltmusik hören bis zwei, drei Uhr; eine will rauchen, eine nicht, eine sauber nicht machen, nur essen und bis drei oder vier hören und schlafen bis Mittag. I: Konntest Du auch nicht gut schlafen dort? P: Ja. I: War es laut in dem Heim? P: Ja, verschiedene Länder, verschiedene Leute. ... Im Zimmer alle aus Iran, aber meine Nachbarn aus andere Land ... Manchmal Stress mit anderen aus Haus. (siehe Anhang XI, Zeilen 2145 bis 2153) Das Problem des Mehrbettzimmers wird konkretisiert in den Schilderungen der unterschiedlichen Bedürfnisse der Zimmerbewohnenden, daneben die Konflikte, die sich zwischen unterschiedlichen Kulturen entwickeln. Ein Zimmermitbewohner möchte bis in die Nacht Musik hören, ein anderer möchte rauchen. Beide Verhaltensweisen nehmen Einfluss auf das Leben der anderen im Zimmer Anwesenden: in der Hör- und Geruchswahrnehmung werden sie beeinträchtigt. Die Störung der Intimsphäre im prädestiniert intimen Bereich wirkt als Leere und Frustration. 129 Die Unbefriedigtheit der Wohnbedürfnisse, der Ruhe- bzw. Schlafbedürfnisse und die Begrenzung der Tätigkeitsmöglichkeiten sind Kennzeichen des „Mehrbettzimmers“. Ankerbeispiel 2: I: What are the differences between “Ausländer” and Germans? A: First haven´t good Arbeit, haven´t good home, haven´t good place, can´t go other city, just living in fünfunddreißig Kilometer, can´t buy, have no Konto-Nummer von Bank. Sozial give fünfunddreißig Euro im Monat, but can´t open Konto. What do you say? I want open, what you say? People are not free, just say: Here is democracy. But I don´t see for Ausländer. (siehe Anhang XI, Zeilen 932 bis 936) Die Unterscheidung der Staatszugehörigkeit, die rechtlich, politisch eine wesentliche Komponente darstellt, wird vom Probanden aufgegriffen, um zu erläutern, in welcher Weise, NichtDeutsche, wobei er sich im wesentlichen auf die durch Asyl-Gesetze betroffenen Personen bezieht, Nachteile in Deutschland haben. Die Residenzpflicht wird als Nachteil erwähnt, das geringe Taschengeld und die erzwungene Abhängigkeit, die sich bis in das Verbot, ein Konto zu eröffnen, zieht, zwingen die AsylbewerberInnen in die Unfreiheit. Der Proband kommt zu dem Schluss, in Deutschland gäbe es keine Demokratie, es würde lediglich gesagt bzw. geschrieben werden, aber für die Gruppe der AusländerInnen gelten keine demokratischen Prinzipien. K5 Reaktionen, Strategien Die Reaktionen und Strategien, mit denen AsylbewerberInnen auf das Leben in Gemeinschaftsunterkünften antworten, sind Verhaltensmuster, die in die von ihnen in Deutschland vorgefundenen räumlichen und rechtlichen Strukturen eingepasst sind. Beide Arten des Umgangs mit der Lebenssituation sind gleichzeitig Folgen dieser. Reaktionen sind als teils ungeplante oder auch unbewusste Verhaltensmuster zu verstehen, die sich im Laufe der Aufenthaltszeit in einer Gemeinschaftsunterkunft ändern können. Reaktionen sind z. B. Drogen- oder Tablettenkonsum, Schlaf- oder Essstörungen, Kommunikationsprobleme oder Depressionen. Strategien hingegen sind geplante und bewusst durchgeführte Handlungsabläufe, die auf die Situation „Leben in einer Gemeinschaftsunterkunft“ folgen. Strategien sind z. B. illegal arbeiten oder auf andere Weise kriminell werden. Ziel ist dabei meist, ökonomisches Kapital zu sammeln, damit z. B. kulturelles und auch soziales Kapital erweitert werden können mittels Deutschunterricht oder Kontakte zu Deutschen oder das erworbene Geld zur in der Heimat gebliebenen Verwandtschaft geschickt werden kann. Ankerbeispiel 1: 130 I: Und was hat sich noch geändert? B: Essen weniger seit zwei Jahren. ... Keine Appetit .... Nee, ja jetzt zwei Monate ganze Nacht Fernsehen gucken und sitzen, gar nicht schlafen, ja. Seit zwei Jahren, früher ja, arbeiten ja, ich schlafen, sechs Uhr aufstehen, Sozialarbeit und nachts schlafen.... Aber jetzt egal, am Tag schlafen zwei Stunden, nachts zwei Stunden, egal. (siehe Anhang XI, Zeilen 1902 bis 1906) Der Proband ist seit 5 Jahren in Deutschland, d. h. nach 3 Jahren reagierte er auf die Lebenssituation mit Essstörungen und nach knapp 5 Jahren mit Schlafstörungen. Arbeiten wird als Aspekt angeführt, der einen regelmäßigen Tages- und Nachtablauf ermöglichen kann, den der Proband vermisst. Ohne Arbeit und deren Rhythmus geraten die Schlafzeiten außer Kontrolle. Schlafen wird trotz seiner Notwendigkeit als Verhaltensmöglichkeit in den Hintergrund gerückt. Statt dessen gewinnt das Fernsehschauen, das ebenfalls eine verbreitete Verhaltensweise bei AsylbewerberInnen ist, an Bedeutung, sowie das Sitzen und Warten. Ankerbeispiel 2: I: And do you still use tablets? Z: Two months nein. Fertig, because I can´t speak Deutsch. (Pause) And Sozialamt don´t give me Dolmetscher. Before Cabana give me, but now this girl isn´t here. I can´t go in a school. I don´t go doctor. (Pause) Now I must go in Essen and go persisch doctor. (siehe Anhang XI, Zeilen 299 bis 302) Dies ein Beispiel einer Strategie, um besser mit der eigenen Lebenssituation umgehen zu können. Im diesem Beispiel möchte die Probandin ihre im Iran erlebten Traumata aufarbeiten mittels einer Psycho-Therapie. Um an einer Therapie teilzunehmen, braucht sie eine Dolmetscherin, die ihr zwischen der Probandin und der Therapeutin vermittelt. Da es in Dresden seitens des Sozialamtes keine Bezahlung für eine Dolmetscherin gibt, muss die Probandin aktiv werden und in eine andere Stadt ziehen, in der persisch sprechende Therapeutinnen wohnen. Der Wille und die Bereitschaft der Probandin, sich mit ihren psychischen Belastungen auseinander zusetzen und zur Bewältigung ihrer Traumata einige Aktivitäten anstrengt, zeigen, dass sie der von ihr gewählten Strategie, sich in Deutschland niederzulassen und zu verwurzeln, gezielt nachgeht. 3.4.6 Ausprägungen(Unterkategorien) der Kategorien a) Dimension „Kontrolle“ in der Eigenperspektive Die Ausprägungen, die mit erarbeiteten Definitionen und Kodierregeln im Anhang (siehe Anhang XII) einsehbar sind, sind für die Dimension Kontrolle aus der Perspektive der Asylbewerbenden durch die Interviews in der Kategorie Relationen zu (personifizierten) Kontrollinstanzen in folgenden Ausprägungen erarbeitet worden: 131 - Ignoranz durch Kontrollinstanzen; - Gewährleistung von Schutz, Freiheit, Hilfe durch die Kontrollinstanzen; - Kontrollfunktionen der Kontrollinstanzen; - Restriktive Regelungen der Kontrollinstanzen. Die Kategorie Kontrolle des Körpers und der Bedürfnisse ist mit nachfolgenden Ausprägungen in Erscheinung getreten: - Negative Beeinträchtigung der Grundbedürfnisse; - Negative Beeinträchtigung der weiteren Bedürfnisse. Selbstkontrolle des Körpers und der Bedürfnisse als Kategorie umfasst durch Auswertung der Interviews: - Positive Selbstkontrolle der Grundbedürfnisse; - Negative Selbstkontrolle der Grundbedürfnisse; - Positive Selbstkontrolle der weiteren Bedürfnisse; - Negative Selbstkontrolle der weiteren Bedürfnisse. Die Kategorie Begrenzung der Verhaltensmöglichkeiten mit ihren Folgen beinhaltet die 3 Ausprägungen, die ich folgendermaßen benannt habe: - Verbleibende Verhaltensmöglichkeiten der Asylbewerbenden; - Vermisste Verhaltensweisen; - Folgen der begrenzten Verhaltensspielräume. b) Dimension „Kontrolle“ in der Fremdperspektive Die gebildeten Ausprägungen derselben Dimension und den gleichen Kategorien für Beobachtungen sind für die Kategorie Relationen zu (personifizierten) Kontrollinstanzen: - Angewiesenheit auf unterstützende Kontrollinstitutionen; - Positive, moralisch leitende Unterstützung. Für die Kategorie Kontrolle des Körpers und der Bedürfnisse und die Kategorie Selbstkontrolle des Körpers und der Bedürfnisse sind die Ausprägungen dieselben wie die der Interviews. Die einzige Ausprägung der Kategorie Begrenzung der Verhaltensmöglichkeiten mit ihren Folgen sind die - Verbleibenden Verhaltensmöglichkeiten der AsylbewerberInnen c) Dimension „Beheimatung“ in der Eigenperspektive Die Ausprägungen, deren Definitionen und Kodierregeln im Anhang (siehe Anhang XIII) nachgelesen werden können, der Dimension Beheimatung bei der Kategorie Relationen zu 132 (und zwischen) den „bourdieuschen Kapitalien“ umfassen bei den Interviews: - Hohes soziales Kapital; - Niedriges soziales Kapital; - Hohes kulturelles/symbolisches Kapital; - Niedriges kulturelles/symbolisches Kapital; - Hohes ökonomisches Kapital; - Niedriges ökonomisches Kapital - zu (Abhängigkeits-) Relationen der Kapitalien untereinander erstrecken. Die Ausprägungen der Kategorie (Charakteristika der) Aufenthaltsorte beinhaltet: - Erzwungene hohe oder niedrige Mobilität; - Konflikte in Heimen; - Monotonie des Gebäudes, des Alltags (erzwungene Passivität) ; - Enge innerhalb der Gebäude, der Tätigkeitsmöglichkeiten; - Gebäudereinigung und -pflege vernachlässigt. Auf derselben Dimension der Kategorie Hiersein oder Dortsein (Relevanz der Erinnerungen, der Erwartungen, Vergleiche) finden sich die Ausprägungen - Erinnerungen erfüllen Hiersein - Weder Hier- noch Dortsein: der Transit; - Negative Gefühle bestimmen Hiersein; - Vergleiche des Hierseins mit anderen „Dortseins“: Das Heimleben ist ein Knastleben; - Akkulturationsverhalten194 als Wille zum Hiersein; - Verhaltensweisen in Abhängigkeit der Tages- und Jahreszeiten; - Verschwinden aus dem Hiersein („die fortgesetzte Flucht“); - Wünsche zur Ermöglichung eines Hierseins: Normalität. Die letzte Kategorie dieser Dimension bei der Auswertung der Interviews lautet Reaktionen und Strategien, die folgende Ausprägungen umfasst: 194 Definition „Akkulturation“: Eine Ausprägung des Hierseins ist das Bestreben, der Wille zur und der Prozess der Akkulturation selbst. Sie ist zu verstehen als eine Anpassung an neue kulturelle Lebensbedingungen, mit denen wir in unserer „ersten Sozialisation“ nicht umgeben waren. Diese Anpassung ähnelt einer „zweiten Sozialisation“. In: Schrader, Achim/ Nikles, Bruno W./ Griese, Hartmut: Die zweite Generation. Sozialisation und Akkulturation ausländischer Kinder in der Bundesrepublik, Königstein 1979, S. 65. Diese kann idealtypisch in unterschiedliche Formen eingeteilt werden, wie es z. B. Anette Treibel getan hat, in segregierende Akkulturation (MigrantInnen betonen ihre Heimatkultur und sind nicht bereit, Normen und Werte der Fremdgesellschaft zu übernehmen), synkretisierende Akkulturation (MigrantInnen übernehmen und inkorporieren teilweise Kulturelemente der fremden Gesellschaft neben den Kulturelementen der Heimatkultur), synthetisierende Akkulturation (Elemente der fremden Kultur werden mit denen der eigenen in Verbindung gebracht, so dass eine Synthese entsteht), assimilierende Akkulturation (es werden die ursprünglichen Werte und Normen aufgegeben zu Gunsten fremdkultureller Normen und Werte). Die in dieser Ausprägung umfassten Akkulturationsformen beschränken sich auf synthetisierende und assimilierende Akkulturation, da lediglich in diesen das Verlangen und Bestreben nach „Beheimatung“ zu entdecken ist. 133 - Reaktion „Sucht“; - Reaktion „Krankheit“; - Reaktion „Wut“; - Strategie „Erinnern“; - Strategie „Hilfe beanspruchen“; - Strategie „Kriminalität“ - Strategie „Hoffnung“. d) Dimension „Beheimatung“ in der Fremdperspektive Die Kategorien der Beobachtungen für die Dimension Beheimatung sind dieselben, die Ausprägungen mit Definitionen und Kodierregeln unterscheiden sich. Bei der Kategorie (Relationen zu und zwischen den) „bourdieuschen Kapitalien“ sind die Ausprägungen vorhanden: - Hohes soziales Kapital; - Niedriges soziales Kapital; - Niedriges kulturelles/symbolisches Kapital bedingt bestimmtes soziales Kapital. Die Ausprägungen der Kategorie (Charakteristika der) Aufenthaltsorte lauten: - Gebäudereinigung und -pflege vernachlässigt; - Monotonie - Einrichtung der Zimmer: funktional und lieblos; - Einrichtung der Zimmer: familiär; - Heim-Gelände als Festung und - Enge innerhalb der Gebäude. Bei der Kategorie Hiersein oder Dortsein (Relevanz der Erinnerungen, der Erwartungen, Vergleiche) traten Ausprägungen auf, die ich - Verschwindende Körper; - Gesprächsthemen des Hierseins und des Dortseins; - Erinnerungen erfüllen das Hiersein genannte habe. Bei den gebildeten Ausprägungen können in wenigen Fällen dieselben Aspekte einer Ausprägung überlappend sein mit anderen Ausprägungen und sich auf dieselbe Kategorie beziehen. Diese Überlappungen lassen aus den unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten und Vielschichtigkeiten eines Aspektes je nach Perspektive erklären. So ist z. B. der Aspekt „Drogenkonsum bei AsylbewerberInnen“ in mehreren Ausprägungen von unterschiedlichen Kategorien zu finden. Der Aspekt erscheint in der Dimension „Behei134 matung“ bei der Kategorie „Reaktionen und Strategien (der AsylbewerberInnen)“ als eine Form der Ausprägung „Reaktion: Sucht“ und gleichzeitig in der Dimension „Kontrolle“ bei der Kategorie „Selbstkontrolle des Körpers und der Bedürfnisse“ als eine Form der Ausprägung „Negative Selbstkontrolle der Grundbedürfnisse“. Die Ausprägungen ergänzen sich nur teilweise zu einer „vollständigen Kategorie“, d. h. es ist nicht gewährleistet, dass bei „Summierung“ der jeweiligen Ausprägungen einer Kategorie diese in all ihren denkbaren Facetten erfasst ist. Dieser scheinbaren „Unvollständigkeit“, die als Mangel kritisiert werden könnte, kann ich entgegenhalten, dass es dem Forschungsthema wenig Bereicherung bringen würde, wenn ich aufgrund von formalen Vollständigkeitsansprüchen diesen versuche nachzugehen.195 Gegebenenfalls habe ich die sich im Anhang befindenden Kodierregeln offengelassen, um mögliche weitere Aspekte der Ausprägungen, die bei folgenden Untersuchungen hinzukommen können, eingliedern zu können. Wenn ein oder mehrere Aspekte der jeweiligen Ausprägung erfüllt sein sollen, um diese als vorhanden einzustufen, habe ich dies durch die Kodierregeln festgelegt. Modifizierungen Eine Veränderung, d. h. Modifizierung, der Kategorien habe ich auf der Dimension Beheimatung vorgenommen. Bei den Interviews sind die Ausprägungen der Kategorie Asyl-Probleme in die Kategorien Hiersein oder Dortsein (Relevanz der Erinnerungen, der Erwartungen und Vergleiche) in puncto der „Einschätzung der Asyl-Politik“ bzw. in die Kategorie (Charakteristika der) Aufenthaltsorte bezüglich der „Konflikte verursacht durch das Leben in Mehrbettzimmern“ verschoben worden. Die Kategorie Asyl-Probleme fällt weg. Auf der Dimension Beheimatung der Kategorie Relationen zu (und zwischen) den „bourdieuschen Kapitalien“ fasste ich zwei Unter-Kategorien zusammen, indem ich zwei UnterKategorien derselben Einwirkung von ökonomischem auf kulturelles/symbolisches Kapital zu Ökonomisches Kapital bedingt kulturelles/symbolisches (und damit soziales Kapital) formulierte. 195 Beispiel: Ich könnte in der Dimension Beheimatung in der Kategorie (Relationen zu und zwischen den) „bourdieuschen Kapitalien“ die Ausprägungen Hohes soziales Kapital und Niedriges soziales Kapital durch Mittleres soziales Kapital ergänzen. Dieses „mittlere soziale Kapital“ ist allerdings als Ausprägung im Untersuchungsfeld selten vorhanden. Es spielt auch eine Rolle, dass ich nach dem Formulieren der Kategorien den Eindruck eines „polaren“, „extremen“, „unnormalen“ Lebens der AsylbewerberInnen gewonnen hatte und diesem Eindruck, so muss ich selbstkritisch anmerken, gab ich durch polarisierten Formulierungen der Ausprägungen nach. Ich hoffe, dass trotz der möglichen „Einflüsse durch die Perspektive der Forschenden“ diese Arbeit in ihren Ergebnissen möglichst nah an den Perspektiven und Interpretationen der AsylbewerberInnen bleibt. 135 Auf derselben Dimension der Kategorie Hiersein oder Dortsein habe ich die Unter-Kategorie Verhaltensweisen in Abhängigkeit der Tageszeiten der Unter-Kategorie Verschwinden aus dem Hiersein („die fortgesetzte Flucht“) zugeordnet aufgrund desselben Inhalts. Ich erweiterte die Dimension Beheimatung bei den Beobachtungen um die Unterkategorie bzw. Ausprägung Niedriges kulturelles/symbolisches Kapital in der Kategorie Relationen zu (und zwischen) den „bourdieuschen Kapitalien“. Diese Entscheidung traf ich, da mir beim Lesen der Beobachtungen während meines Aufenthaltes in den Gemeinschaftsunterkünften einige relevante Aspekte hinsichtlich der Bedeutung von äußerem Erscheinungsbild und Habitus der AsylbewerberInnen auffielen, die ich durch diese Ausprägung einfüge. 3.4.7 Beschreibende und deutende Charakterisierung der Asyl-Räume Zu Beginn ist zu betonen, dass die folgenden Beschreibungen, Deutungen und Interpretationen sich lediglich auf iranische AsylbewerberInnen beziehen. Die Auswertungen sind in den Kontext der sächsischen und lokalen Asyl-Politik, in die Stadtstruktur Dresdens und in die Anzahl und Qualität der lokalen Hilfsorganisationen eingebettet. Die generalisierten Deutungen bzw. Interpretationen reichen außerdem über zwei untersuchte Gemeinschaftsunterkünfte nicht hinaus. Die Qualität, die Organisation und Lage der Gemeinschaftsunterkünfte sind Faktoren, die auf das Leben der AsylbewerberInnen einwirken. Deswegen kann z. B. von dieser Arbeit nicht auf alle Gemeinschaftsunterkünfte im ländlichen, „isolierten Raum“ oder in Bundesländern mit differenter Asyl-Politik geschlossen werden. In Anlehnung an einen Typenbildungsprozess hat das Ordnen und Sortieren der Ausprägungen (siehe Anhang XIV für die Dimension „Kontrolle“ und XV für die Dimension „Beheimatung“) bewirkt, dass während dieses Prozesses thematische Schwerpunkte und Zusammenhänge, auch Einflussgrößen erkennbar wurden. Diese sind unterschiedlich gewertet und in unterschiedlicher Quantität vorhanden, so dass ich dementsprechend Gewichtungen vorgenommen habe. Diese Vorgänge sind als Teil der charakterisierenden Beschreibungen der Asyl-Räume aus Eigen- und Fremdperspektive, auf die ich gleich näher eingehen werde, zu betrachten. Die beiden Dimensionen sind so gewichtet, dass die Dimension „Beheimatung“ von größerer Bedeutung ist. Sie beinhaltet zentralere Aspekte der Asyl-Räume und wird von AsylbewerberInnen selbst stärker in den Vordergrund gerückt wurden. Die Auswahl der abhängigen Variablen ist aus dem empirischen Material entstanden. Der Zeitverlauf als eine Einflussgröße ist bereits in den vorigen Auswertungsschritten bedeutsam gewesen. Die abhängigen Variablen lauten: Geschlecht, Alter, Familienstand, Aufenthaltszeit in deut136 schen Gemeinschaftsunterkünften und Aufenthaltsstatus. Der Vergleich der unterschiedlichen „Heimarten“ wie ein Vergleich von Gemeinschaftsunterkünften und dezentralen Unterkünften in Wohnungen wird in dieser Arbeit nicht behandelt werden können, da die einzige Probandin, die in einem anderen Heim (in einer Wohnung) als die anderen drei Probanden wohnt, sich in anderen möglichen Einflussfaktoren von ihnen unterscheidet: in Geschlecht und ihrem Aufenthaltsstatus. Beginnen werde ich mit der Dimension „Kontrolle“, deren Einflussfaktoren ich für die Eigenund Fremdperspektive definiere, anschließend werden die Raumcharakterisierungen beschrieben und von mir gedeutet für die Dimension „Kontrolle“. Im Anschluss wird dasselbe Verfahren für die Dimension „Beheimatung“ durchgeführt. 4.7.1) Die Einflussfaktoren der Dimension „Kontrolle“ für die Interviews Für die einzelnen Ordnungen und Gewichtungen der Ausprägungen im Fallvergleich (hier „Typen“ genannt) habe ich folgende Abhängigkeiten auf der Dimension „Kontrolle“ (siehe Anhang XIV) in den Interviews erarbeitet: a) Einflussfaktor „Aufenthaltszeit in deutschen Gemeinschaftsunterkünften“196 Die Aufenthaltszeit in Deutschland nimmt beim Typ „Faktisches Arbeitsverbot“ auf zweierlei Weise Einfluss. Einerseits kann das Sozialamt den AsylbewerberInnen „Sozialarbeit“, meist Gartenpflege, Reinigung oder Wände streichen, zuweisen, die für einen Stundenlohn von einem bis zwei Euro pro Stunde verrichtet werden soll. Diese Arbeit wollte nach einigen Monaten kein/e ProbandIn mehr aufgrund der Art der Tätigkeit und des sehr niedrigen Lohnes ausüben. Andererseits kann eine Arbeitsstelle, die von keinem/keiner Deutschen oder anderem AusländerIn ausgeübt werden kann, was durch eine Bestätigung des Arbeitgebers/ der Arbeitgeberin belegt werden muss, von AsylbewerberInnen nach deren einjährigem Aufenthalt in Deutschland besetzt werden. Keine/r der ProbandInnen hat, was m. E. bei der Dresdner Arbeitsmarktlage zu erwarten war, eine solche Arbeit gefunden. Bei den zwei am längsten in Deutschland lebenden ProbandInnen beeinträchtigt diese ungewollte Arbeitslosigkeit ihr Selbstwertgefühl und ihre Selbstwahrnehmung, wie sie berichten. Der Typ „Fehlende Deutschkenntnisse“ wirkt sich bei den am längsten in Deutschland lebenden ProbandInnen positiv aus. Sie können sich auf Deutsch unterhalten und so die Chance auf 196 Der Einflussfaktor „Aufenthaltszeit“ ist bereits in einer anderen Studie in Bezug zum Asylbewerberleistungsgesetz untersucht worden. Die Minderleistung im für AsylbewerberInnen im Vergleich zu SozialempfängerInnen kann nach Ansicht Horrers nicht länger als ein Jahr zugemutet werden. Während dieses Jahres erfüllen die Leistungen das Existenzminimum (siehe auch Kapitel I.2.c)). In: Horrer, Stefan: Das Asylbewerberleistungsgesetz, die Verfassung und das Existenzminimum, Berlin 2001, S. 197ff. 137 Kontaktmöglichkeiten mit Deutschen erhöhen, was sich positive auf ihre sozialen Beziehungen auswirkt. Alle ProbandInnen halten es für sinnvoll, Deutschunterricht für AsylbewerberInnen einzuführen. Bezüglich des Typs „Depressionen“ wird von einem Probanden die Aufenthaltsdauer als Einflussfaktor genannt. Seine Vermutung, dass mit zunehmender Aufenthaltsdauer in Gemeinschaftsunterkünften Depressionen wahrscheinlicher werden, basiert auf der psychischen Entwicklung eines anderen Asylbewerbers, der bereits zwölf Jahre in Gemeinschaftsunterkünften wohnt und in hohem Maße psychisch labil und drogensüchtig ist. Die Möglichkeit des Protestes gegen Kontrollinstanzen wie Ämter, Heimleitung wird im Typ „Protest“ erwähnt von den beiden am längsten in Gemeinschaftsunterkünften lebenden ProbandInnen. Folgen des Protestes waren Resignation und/oder Androhung stärkeren Protestes. Es ist denkbar, dass sich Protestverhalten aufgrund steigender Unzufriedenheit im Laufe der Zeit entwickelt oder auch dass die erst kurz in Deutschland lebenden AsylbewerberInnen sich noch nicht mit den Lebensbedingungen und deren Reichweite auskennen. b) Einflussfaktor „Alter“ Die Qualität, der Preis und die Auswahl der Lebensmittel wird von den drei ältesten ProbandInnen bemängelt, die alle einige Jahre von dem jüngsten Probanden abweichen. Dem Jüngsten ist die Nahrungsmittelaufnahme offensichtlich nicht wichtig, da er weder die Lebensmittellisten noch die Zubereitung dieser erwähnt. c) Einflussfaktor „Geschlecht“ Der Typ „Polizei gibt Sicherheitsgefühl“ wird beeinflusst durch das Geschlecht. Die einzige weibliche Probandin gab an, dass sie sich bei ihren nächtlichen Spaziergängen lediglich Stadtteile, Gegenden aufsucht, in denen sie um polizeiliche Streifkontrollen weiß. In diesem Fall ist die biographische Information, dass die Probandin vergewaltigt wurde, wichtig, da dieses Trauma ihre Angst vor Männern generell größer ist als bei anderen Frauen. Ebenso muss beachtet werden, dass sie häufig nachts spazieren geht, was eine Angst vor und die Wahrscheinlichkeit eines sexuellen Übergriffs erhöht. d) Einflussfaktor „Aufenthaltsstatus“ Der Aufenthaltsstatus wirkt bei dem Typ „MitarbeiterInnen der Ämter ignorieren Bitten“ als wahrgenommene Ignoranz der MitarbeiterInnen des Arbeitsamtes und/oder des Sozialamtes. Die Probandin, die kurz vor dem Interviewzeitpunkt ihre Anerkennung erhalten hat, erwähnt zwar die zahlreichen Ämtergänge, doch werden sie nicht als große Belastung geschildert. Die 138 AmtsmitarbeiterInnen beschreibt sie nicht als ignorant, sondern sucht die Ursachen der ständigen Amtsgänge in den Regeln und Vorschriften des Bürokratiesystems. 4.7.2) Die Einflussfaktoren der Dimension „Kontrolle“ für die Beobachtungen Auch die Einflussfaktoren auf der Dimension „Kontrolle“ für die Beobachtungen sind im Anhang zu finden (siehe Anhang XIV). a) Einflussfaktor „Aufenthaltszeit in deutschen Gemeinschaftsunterkünften“ Der Typ „Religion“ als Konvertierung zur christlichen Religion, in der Orientierung und Halt gesucht und auch gefunden wird, wurde von den zwei am längsten in Deutschland lebenden ProbandInnen als bedeutungsvoll in ihrem Leben beschrieben. Die Suche und die Notwendigkeit nach psychischem und geistigem Halt nimmt mit längerer Aufenthaltszeit in Gemeinschaftsunterkünften zu. Das Ausmaß des Typs Abhängigkeit, die sich hier auf eine Abhängigkeit von lokalen Hilfsinstitutionen oder anderen RatgeberInnen bezieht, nimmt im Laufe des Aufenthaltes in Deutschland ab aufgrund der zunehmenden Deutschkenntnisse, der Kenntnis über die auszufüllenden Formulare und der Ortkenntnisse. Diese erlernten Fertigkeiten ermöglichen eine Orientierung in der Stadt, die Wege zu den Ämtern sind bekannt und ein Wissen über gesetzliche Regelungen, über die Alltagsgestaltung und die Regeln in der Gemeinschaftsunterkunft ist angeeignet worden. Der Typ „Warten“ verändert sich während der Aufenthaltszeit in Deutschland ebenfalls, indem die Bewusstheit der Verhaltensbeschränkung auf das Warten für die AsylbewerberInnen wächst. Genannte Metaphern, die AsylbewerberInnen mit Eseln im Zoo und mit Gefangenen in Gefängnissen gleichsetzen, verdeutlichen den Zustand des Wartens. Die Bewusstwerdung zeigt eine größere Relevanz und Bedeutung des Wartezustands in den Wahrnehmungskategorien der AsylbewerberInnen 4.7.3) Beschreibungen und Deutungen der Asyl-Räume aus der Eigenperspektive für die Dimension „Kontrolle“ Während des Ordnens und Gewichtens der Ausprägungen für die Dimension „Kontrolle“ aus der Eigen- und die Fremdperspektive sind zwei Ausprägungen nach mehrmaligem Durchsehen dieser als wichtig besonders wichtig und andere Ausprägungen beinhaltend erschienen. Diese nennen sich: Kontrolle durch Beschränkung – Das Heim ist ein Gefängnis und Kontrolle durch Sichtbarkeit. Um diese zwei Ausprägungen ordnen sich andere relevante Aspekte der Raumkonstitutionen 139 der Asyl-Räume an. Kontrolle durch Beschränkung - Das Heim ist ein Gefängnis197 Eine der wichtigsten Eigenschaften der Asyl-Räume aus der Perspektive der AsylbewerberInnen wird durch diese thematische Unter-Überschrift, die gleichzeitig der Titel einer Unterkategorie ist, m. E. treffend beschrieben. Das Heim, das Leben in einer Gemeinschaftsunterkunft wird mit dem in einem Gefängnis verglichen. Unterschiedliche Arten von Beschränkungen und Kontrollen mit deren Folgen sind Teil der Raumkonstitutionen der AsylbewerberInnen und werden von ihnen während der Interviews immer wieder thematisiert. Im folgenden werde ich ausformulierten und impliziten Ursachen der Beschränkungen, also die einzelnen Regelungen und Gesetzestexte, bei den Arten und Folgen der jeweiligen Beschränkung anfügen. Wesentlich erscheint, die Arten und Folgen der Beschränkungen und Kontrollen auszuformulieren, da sie die Räume der AsylbewerberInnen darstellen. Beginnen werde ich mit der einzigen positiv bewerteten Art einer Beschränkung bzw. Kontrolle, nämlich die Wahrnehmung der PolizistInnen als Schutzpersonen. Die Probandin fühlt sich bei nächtlichen Spaziergängen in Stadtteilen geschützt, in denen sie um die Anwesenheit der Polizei weiß. Die Folge der Präsenz und der hohen Wahrscheinlichkeit von PolizistInnen an bestimmten Orten geht für die Probandin mit einem Sicherheitsgefühl an bestimmten öffentlichen Räumen (siehe Kapitel II.2.), wie Straßenzüge, Wege oder Plätze in der Stadt Dresden, einher. In diesem Beispiel wird die Polizei mit einer Schutzfunktion in Verbindung gebracht. Betrachtet man die direkte Auswirkung der Gesetze auf die AsylbewerberInnen fallen das faktische Arbeitsverbot als Teil des Asylverfahrensgesetzes, das von allen ProbandInnen thematisiert und als negativ bewertet wird und die Residenzpflicht, ebenfalls Teil des Asylverfahrensgesetzes, die von den zwei ProbandInnen bemängelt wurde, die Verwandte oder FreundInnen in Deutschland haben und diese gerne ohne Schwierigkeiten besuchen würden, auf. Die geringen finanziellen Möglichkeiten, das Taschengeld, das durch das sachsenweit angewandte Sachleistungsprinzip begründet ist, die allen ProbandInnen Probleme bereiten, bedingen eine starke Begrenzung in den Möglichkeiten der Tätigkeiten und somit einen Ausschluss von bestimmten Räumen. Die Folgen der Gesetze sind im Falle des faktischen Arbeitsverbotes eine Reduzierung der täglichen Tätigkeitsmöglichkeiten und eine wahrgenommene „Sinnentleerung“ des eigenen 197 Vgl.: Anhang XII, Zeile 1266. 140 Daseins. Unzufriedenheit, Minderwertigkeitsgefühle, ungewollte Abhängigkeit von deutschen Institutionen und von Hilfsorganisationen sind die Konsequenzen, die von allen ProbandInnen mehr oder weniger intensiv erfahren und thematisiert werden. Der damit verbundene Ausschluss von Arbeits-Räumen ist in unserer Gesellschaft sehr bedeutsam und wird mit Distinktionen den Ausgeschlossenen gegenüber „bestraft“ [siehe Kapitel II.2.6)Exkurs]. Die Destrukturierung des Tagesablaufs gewinnt im Laufe der Monate und Jahre in sofern eine Eigendynamik, dass die länger in Gemeinschaftsunterkünften lebenden AsylbewerberInnen sich entweder selbst einen regelmäßigen Tagesablauf schaffen oder aber Tages- und Nachtzeiten entbunden schlafen, essen, fernsehen. Weitere Folge und Art einer Beschränkung ist aus der Eigenperspektive das Angewiesensein auf das wenige Taschengeld, das vom Sozialamt, das damit als Institution Kontrolle über ökonomisches Kapital der AsylbewerberInnen besitzt, vergeben wird. Diese finanzielle Beschränkung bewirkt eine Begrenzung der Verhaltensmöglichkeiten, die den Ausschluss von beispielsweise Kino-Räumen, Diskussions-Räumen (mit der deutschen Sprache als Grundlage) oder Sport-Räumen198 determiniert. Zudem wird durch das geringe Taschengeld die Ausübung von kriminellen Handlungen wie irreguläre Arbeit, Diebstahl oder Dealen bzw. Hehlen von Waren befördert, meint ein Proband. Drei der ProbandInnen ziehen den kausalen Schluss zwischen fehlendem ökonomischen Kapital und kriminellen Handlungen nicht. Alle ProbandInnen erwähnen genannte kriminelle Verhaltensweisen der AsylbewerberInnen, doch distanzieren sie sich selbst alle von diesen Handlungen und betonen ihre „Unschuld“. Diese Distanzierung kann auch aufgrund von „sozialer Erwünschtheit“ mir gegenüber geäußert worden sein. Die Beschränkung des Kommunikationsverhaltens und der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit durch fehlenden Deutschunterricht, der für AsylbewerberInnen nicht finanziert wird, zeigt sich neben dem Arbeitsverbot als zentraler Faktor, wenn es um Kontaktmöglichkeiten und sozialen Anschluss in Deutschland geht. Dieser Aspekt zeigt die Einstufung der AsylbewerberInnen als unmündige Personen, die nicht lernen dürfen, sich in unserer Kultur auszudrücken. Kontrolle wird über Sprache ausgeübt, deren Bedeutung auch Douglas erläutert [siehe Kapitel II.3.4) Exkurs]. Diese Politik befördert eine einseitige Abhängigkeit der AsylbewerberInnen von lokalen Hilfsinstitutionen, die AsylbewerberInnen in die Opferrolle, in die Rolle des Abhängigen und 198 Diese voraussetzungsvollen „Kontaktpools“ und Anknüpfungspunkte für folgende Gespräche über Inhalt, Ästhetik etc. der Filme, Theaterstücke etc. bleiben aufgrund ihrer Voraussetzungshürden wie Geld, Deutschkenntnisse, Beziehungskapitalien o. ä. AsylbewerberInnen weitestgehend verschlossen. 141 Kontrollierten drängt.199 Weitere Arten der Beschränkung, in denen Kontrolle direkt auf das Körperliche wirken [wie in Annahmen einiger Theoretiker bereits diskutiert in Kapitel II.2.5)], sind Lebensmittelvergabe und Kleiderausgabe. Drei der ProbandInnen nennen die Lebensmittelvergabe durch Bestellisten, die durch das Sachleistungsprinzip und eine lokale Regelung bestimmt sind, als unzureichend. Die Preise der Lebensmittel seien höher als die im Supermarkt, die Qualität der Produkte sei z.T. mangelhaft, das Ablaufdatum des Produktes einen Tag vor oder nach dessen Aushändigung an die Person und die Auswahl der Lebensmittel sei eingeschränkt. Folgen dieses Umgangs mit Lebensmitteln und Essen seien Beschränkungen der Grundbedürfnisse und der weiteren Bedürfnisse. Es ist AsylbewerberInnen nicht möglich, spontan nach Lust zu kochen, noch können bestimmte, wohlschmeckende Zutaten gekauft werden von den AsylbewerberInnen. Die einzige Möglichkeit besteht in einer Beschränkung anderer Bedürfnisse, um vom wenigen Taschengeld Lebensmittel zu kaufen (zwei ProbandInnen praktizieren dies manchmal). Die ebenfalls auf sächsischen und lokalen Regelungen beruhende halbjährliche Kleiderausgabe wird von einem Probanden in Anspruch genommen. Die Kleidung schickt er zu seiner Familie in den Iran. Die anderen ProbandInnen lehnen die schlechte Qualität der teilweise gebrauchten Kleidung, die Ästhetik und geringe Auswahl der Kleidung aus der Kleiderausgabe ab und kaufen sich daher ihre Anziehsachen aus dem Kaufhaus oder bekommen sie aus dem Iran zugeschickt. Ein Proband erwähnte, er wolle nicht noch so aussehen, wie er behandelt werden würde: als „Dreck“. Die Probandin lehnt generell gebrauchte Kleidung ab, da sie das Gefühl von Ekel empfindet, da sie mit Gebrauchtsein Schmutz und Dreck verbindet und sie sich Gedanken macht, ob die Person, die die Kleidung vorher getragen hat, nicht krank gewesen ist und diese Krankheit durch die Kleidung auf sie übertragen wird. Die genannten Beschränkungen wie das Arbeitsverbot, das fehlende Taschengeld und die wenigen Kontakte zu Personen außerhalb der Gemeinschaftsunterkünfte ketten AsylbewerberInnen an den Aufenthaltsort „Gemeinschaftsunterkunft“. Daher ist die Beschreibung und Charakterisierung dieses Ortes entscheidend für die Raumkonstituierungen des Asyls. Außer der Probandin geben die Interviewten an, die meiste Zeit am Tag im Heim zu verbringen, es sei denn sie haben Termine bei Ämtern, gehen spazieren oder Bekannte besuchen. Die Bedeutung der Gemeinschaftsunterkünfte in den Asyl-Räumen ist aufgrund des dort verbrachten 199 In politischen Diskussionen wird außerdem manchmal argumentiert, dass AsylbewerberInnen keinen sozialen Anschluss oder eine eigene Wohnung benötigen, da die Zeit bis zur Asylentscheidung kurz sei und Integration kein Ziel. Ob mehrjährige Aufenthaltszeiten in Gemeinschaftsunterkünfte noch als „Übergang“ tituliert werden können, beantwortet sich von selbst. 142 Zeitumfangs groß.200 Von allen ProbandInnen wird z. B. der Zustand des Gebäudes als mangelhaft beschrieben. Das Gebäude wird von drei ProbandInnen als dreckig und unhygienisch bezeichnet, die sich aus den landesweiten Regelungen zur Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften und der fehlende Identifizierung der Heimbewohnenden und HeimmitarbeiterInnen erklären lässt. Zwei der ProbandInnen wiesen auf nicht funktionierendes Schließen von Fenstern oder Türen in ihren Zimmern hin. Insbesondere die Verhältnisse der Hygieneeinrichtungen wie Dreck, Gestank oder fehlende Klodeckel werden bemängelt. Diese Art der Beschränkung und Beeinträchtigung im Wohnbereich, in der „Privatsphäre“, wirkt sich entweder als fortschreitende „Verwahrlosung“ aus oder als starker Reinlichkeitsdrang, der im eigenen Zimmer oder durch das Waschen und Duschen des eigenen Körpers umgesetzt wird. Die Tätigkeiten, die innerhalb des Heimes ausgeübt werden können, sind per se eingeschränkt. Die Größe und Belegung der Zimmer verhindern raumgreifende Tätigkeiten, verhindern Musikhören oder Musizieren zu unterschiedlichen Tages- und Nachtzeiten, lassen ein Gefühl der ständig möglichen Störung durch andere Personen präsent sein. Jeden Augenblick kann ein/e Zimmerkollege/in die Ruhe oder Lesephase unterbrechen, die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und die eigenen Interessen in den Hintergrund rücken. Übrig bleibt im konkreten wie abstrakten Sinne das Warten. Das Warten auf das Ende des Asylverfahrens bzw. im Falle einer Duldung auf deren Verlängerung oder auf die Abschiebung. Dieser Schwebezustand wird gefüllt mit Sitzen und Grübeln oder mit Ablenkungen durch Fernsehen o. ä.. Als Folgen der Lebenssituation sind Suchtverhalten, das von zwei ProbandInnen gelebt und von allen genannt wird, Appetitlosigkeit, unter der ein Proband leidet, Schlafstörungen, die zwei ProbandInnen belastet, und Depressionen, die von allen ProbandInnen erwähnt wird, zu nennen. Die Versuche der AsylbewerberInnen, ihre Lebenssituation zu verbessern und ihre Raumkonstitutionen zu ändern, blieben alle erfolglos. So sind z. B. Bittstellungen um Einzelzimmer oder Arbeitsplatz bei verschiedenen Ämtern oder bei den HeimmitarbeiterInnen bei allen drei „bittenden“ ProbandInnen fehlgeschlagen. Die Folge der „Ignoranz“ bzw. Ablehnung der entscheidenden Institutionen sind Resignation, das Aufsuchen von Hilfsorganisationen oder auch Ansätze von Protestverhalten, das bei ersten Versuchen ebenfalls wirkungslos blieb. 200 So müsste die Bedeutung der Wohnung auch im Falle von Arbeitslosen, Hausfrauen oder -männern, RenterInnen zunehmen. 143 Zusammenfassung Die vielfältigen Arten der Beschränkungen lassen folgende Punkte als wesentlich erscheinen: Die AsylbewerberInnen sind auf den Aufenthaltsort „Gemeinschaftsunterkunft“ beschränkt, da sie kein ökonomisches Kapital besitzen, um Räume des Kontakts und der gesellschaftlichen Anerkennung aufzusuchen. Des weiteren werden sie von sinnkonstituierenden und gesellschaftlich relevanten Tätigkeiten wie Arbeits-Räume ausgeschlossen. Die Gemein- schaftsunterkünfte sind bestimmt durch eine Veröffentlichung der Intimsphäre, die durch Zimmereinteilung und -belegung verstärkt wird. Die Alltagsorganisation im Heim bestimmen körperliche Aspekte der Menschen durch Kleiderausgabe und Lebensmittellisten und machen sie so bis in die Grundbedürfnisse kontrollierbar und unmündig. Die Relationen der AsylbewerberInnen zu anderen Personen sind meist durch einseitige Abhängigkeit der AsylbewerberInnen gekennzeichnet. Die Asyl-Räume sind bestimmt durch das Warten auf eine Entscheidung des Staates. Das Warten wird gefüllt durch Folgeerscheinungen der Lebenssituationen der AsylbewerberInnen wie Depressionen, Drogenkonsum oder Krankheit. Kontrolle durch Sichtbarkeit201 Diese zweite Überschrift, die die Dimension „Kontrolle“ charakterisiert, bezieht sich vornehmlich auf die Art der Sichtbarkeit, die Kontrollinstanzen über die Gruppe der AsylbewerberInnen haben. Durch Informationen wie biometrische Daten, Angaben zu Biographie, sozialstrukturelle Angaben und Fluchtursachen werden AsylbewerberInnen sichtbar und kontrollierbar gemacht. Es wird in Ursache, Art und Folge der Sichtbarkeit als Kontrollmechanismus unterschieden. Die Ursachenzuschreibung der von den ProbandInnen artikulierten Arten und Folgen der Sichtbarkeit ist als Ergänzung einzuordnen und wird von der Forscherin eingefügt. In öffentlichen Räumen sind in unserer Gesellschaft Kontrolle und Verhaltensdruck höher als in halböffentlichen oder gar privaten Räumen.202 Im Falle der Gemeinschaftsunterkünfte ist ein als privat definierter Raum für bestimmte kontrollierende Gruppen wie Heimmitarbeitende, AmtsmitarbeiterInnen oder PolitikerInnen sichtbar und transparent gemacht. Dies stellt eine Ausnahmesituation dar und widerspricht dem Konzept der Funktionen der Räume: Der private Raum wird aufgelöst für AsylbewerberInnen, da Intimität, Ruhe und Zurückgezogenheit auf einen vertrauten, familiären Kreis unmöglich ist. Der „Gegenraum“ der Arbeits-Raum entfällt und damit bricht an dieser Stelle das bei uns noch wirksame bürgerlich201 Die Sichtbarkeitsbegriffe sind im Exkurs in Kapitel II.2.2.1) näher erläutert. Daher sind die Diskussionen um bestimmte Überwachungsmethoden wie Abhören von privaten Telefonen, Durchsuchungen o. ä. emotional belegt. 202 144 kapitalistische Konzept der Polarisierung von Arbeit und Privatheit zusammen. AsylbewerberInnen sind außerdem sichtbarer durch ihr äußeres Erscheinungsbild, so dass bei ihnen die Wahrscheinlichkeit wächst, z. B. auf der Straße nach ihrem Ausweis gefragt zu werden. Dies passiert nach ihren Aussagen mehrmals im Jahr. Doch nicht nur in öffentlichen oder halböffentlichen Räumen sind die Kontrollen, denen AsylbewerberInnen erlegen sind, überdurchschnittlich: Ein Proband berichtete von einer Zimmerdurchsuchung in der Gemeinschaftsunterkunft morgens um sechs Uhr, da die PolizistInnen bei seinem Mitbewohner Drogen vermuteten. Folgen dieser Art von Sichtbarkeit, dieser Kontrollform, sind Gefühle der Ohnmacht, ein Bewusstwerden über ihre besondere stigmatisierte Stellung in Deutschland, die mehrer von den ProbandInnen umschrieben und kann in der Wahrnehmung beispielsweise eines Probanden enden, in Deutschland gäbe es keine Demokratie für Ausländer. Gemeinschaftsunterkünfte sind charakterisiert durch hohe soziale Kontrolle und durch die Transparenz der HeimmitbewohnerInnen untereinander. Der soziale Druck und die Sichtbarkeit bzw. Wahrnehmbarkeit unter den Zimmerteilenden wird von allen ProbandInnen als sehr groß beschrieben. Durch alle Möglichkeiten der Wahrnehmungen werden die anderen HeimbewohnerInnen bzw. ZimmerteilerInnen transparent in ihren Verhaltensweisen, in persönlichen Eigenheiten und Vorlieben und ihren Geschmäckern. Als Belastung wird die permanente Möglichkeit der Störung durch Ein- oder Austreten der bewohnten Zimmern beschrieben. Positive Folgen hat ein dichtes soziales Zusammensein laut zweier ProbandInnen bezüglich des Gefühls einer sozialen Sicherheit und den Möglichkeiten gemeinschaftlicher Unternehmungen bzw. gemeinsamer Essensaufnahme. Auch werden soziale Netzwerke gebildet, die Hilfestellungen füreinander so eine Probandin bei Übersetzungen, Erklärungen und Zeigen von Wegen in der Stadt zu Ämtern oder beim Ausfüllen von Formularen leisten können. Auf die zweite Sichtbarkeitsdefinition werde ich im Beobachtungsteil eingehen. Zusammenfassung: Kontrolle durch Sichtbarkeit wird einerseits in den Relationen der AsylbewerberInnen zu (personifizierten) Kontrollinstitutionen und andererseits durch die Sichtbarkeiten innerhalb der Gemeinschaftsunterkünfte realisiert. Die (personifizierten) Kontrollinstitutionen können auf sehr viele persönliche Daten der AsylbewerberInnen zurückgreifen, sie sind als Personen transparent und sichtbar gemacht. Es ist ihnen möglich im konkreten und abstrakten Sinne, jederzeit auf die AsylbewerberInnen zuzugreifen. Die Sichtbarkeit innerhalb der Gemeinschaftsunterkünfte determiniert einen hohen sozialen Druck zwischen den AsylbewerberInnen, da ihre intimen Bedürfnisse bzw. die 145 Wohnbedürfnisse nicht gestillt werden. Folgen für die AsylbewerberInnen sind u. a. Frust, Unsicherheit und Stressgefühle. 4.7.4) Beschreibungen und Deutungen der Räume der AsylbewerberInnen aus Fremdperspektive für die Dimension „Kontrolle“ Kontrolle durch Beschränkung – Das Heim ist ein Gefängnis In diesem Abschnitt, der die Fremdperspektive beschreibt, werde ich die gesetzlichen Ursachen der verschiedenen Beschränkungen nicht erwähnen. Grund ist, dass die Ortswahl und die Organisation der Heime, auf die sich die Fremdperspektive hauptsächlich bezieht, vornehmlich durch die landesweite und lokale Politik zugeordnet und organisiert sind und somit in dieser ihre Ursache findet. Diese Perspektive konzentriert sich auf örtliche Gegebenheiten der Gemeinschaftsunterkünfte. Die konkretisierten räumlichen Strukturen deuten auf bestimmte soziale Verortungen hin [siehe Kapitel II.2.6)], die aus der Perspektive derer, die in dieser Gesellschaft und Kultur verwurzelt sind, die deren Deutungs- und Wahrnehmungsmuster inkorporiert haben, besser beschreibbar sind. Die Metapher des Heims als Gefängnis wird nicht nur von einem der Probanden erwähnt, sondern trägt sich als „Mythos“ durch die Lebensbeschreibungen der AsylbewerberInnen. Ein Asylbewerber meint, in Deutschland sei es besser, in einem „richtigen“ Gefängnis zu leben als in einer Gemeinschaftsunterkunft: Im Gefängnis dürfen die Gefangenen arbeiten, haben ein Einzelzimmer und besseres Essen als die AsylbewerberInnen. Die Beschränkungen, die die örtlichen Gegebenheiten betreffen, beginnen vor Eintritt auf das Heimgelände in Umzäunungen, Eingangstoren und in einem Heim in einer Überwachungskamera, die den Eingangsbereich erfasst. Der zugehörige Monitor der Kamera steht im Portierzimmer und kann von einem/einer HeimmitarbeiterIn überwacht werden. Bei den Betretenden löst die nach außen demonstrierte begrenzte Örtlichkeit eine Steigerung der Hemmungen und Ängste oder Vorsicht aus, die Schwelle zum Heimgelände, zum Heimgebäude zu übertreten. Die Personen, die in die Gemeinschaftsunterkunft treten wollen, werden darauf „aufmerksam gemacht“, dass sie nun kontrollierbar und überwachbar sind, dass durch den Übertritt ein Ort betreten wird, an dem andere Regeln herrschen. Es kann ebenfalls der Eindruck entstehen, dass man selbst unerwünscht und auf dem Gelände, in dem Gebäude nicht willkommen ist. Den Personen, die sich innerhalb des Geländes befinden, wird von den Fenstern und im Por- 146 tierzimmer die Einsicht gewährt, alle Ankommenden oder Weggehenden zu sehen.203 Sie haben somit die Möglichkeit, Fremde und Heimmitbewohnende zu identifizieren und können gegebenenfalls sozialen Druck ausüben auf bestimmte Personen ausüben. Diese Art der Kontrolle in Form von Sichtbarkeit und Transparenz der sich im Heim aufhaltenden Personen bewirkt einerseits, dass rassistisch oder ausländerfeindlich gesinnte Personen, erkannt und schnell geortet werden können. Somit ein Gefahrenpotential für die AsylbewerberInnen kontrolliert wird. Andererseits wirkt die Überwachung des Heims für FreundInnen oder Bekannte der AsylbewerberInnen und für die dort lebenden Personen, die täglich dieses „Gebiet“ betreten, abschreckend bis abweisend. Wenn man denkt, dass man wahrgenommen wird, wird das eigenen Verhalten kontrollierter, unspontaner und wirkt das moralische Bewusstsein. Die Empfindung einer Einschränkung der Verhaltensfreiheiten, der Bewegungsfreiheiten und eine „Übersensibilisierung“ können aus dieser Art von Beschränkung durch Überwachung und Sichtbarkeit der eigenen Person resultieren. Auffällig aus meiner Perspektive ist das Selbstverhältnis der AsylbewerberInnen zu ihrem eigenen Körper: Sei es, dass die PorbandInnen sich auf die Ebene der körperlichen Funktionen reduzieren lassen, indem das Essen und Kochen der Hauptbestandteil ihrer Tagesgestaltung ist oder sie durch wechselhafte Stimmungen auffallen, die von optimistisch und freudig bis depressiv und traurig innerhalb weniger Stunden reichen (siehe Anhang XVI Bild Nr. 30). Ebenfalls sind „Verkleidungen“ und Entfremdungen des Körpers durch das Färben der Haare, durch Schmuck oder Schminke zu erkennen. Ein anderer Proband strebt dem Ideal des Bodybuilders nach, das sich u.a. in einer großen Anzahl von Postern von Bodybuildern in seinem Zimmer niederschlägt. Außerdem zeigt ein Proband extrem nervöse Bewegungen auf, die bei ihn umgebenden Personen ebenfalls Unruhe und Nervosität auslösen können. Unkontrolliertheiten des Körpers und auffallende Umgänge mit ihm können als Charakteristika für die Körper als Teil der Raumkonstitution der AsylbewerberInnen bezeichnet werden. Der Körper dient als Ausgleichselement, durch das einerseits Bedürfnisse befriedigt werden und andererseits sich die gesellschaftlichen Verhältnisse wiederspiegeln. Dies bedeutet im Falle der AsylbewerberInnen, dass die (Selbst-)Kontrolle bis in körperliche Vorgänge reicht und sie einerseits versuchen, ihre Unzufriedenheiten und überschüssige Energie durch den Körper zu beruhigen und andererseits sich die Unkontrolliertheiten und Nervositäten durch den Körper Ausdruck finden. 203 Viele Male, die ich in den Gemeinschaftsunterkünften ankam, wurde meine Anwesenheit nach wenigen Minuten von einigen (mir bekannten) AsylbewerberInnen bemerkt. 147 Die bereits genannten Beschränkungen der Verhaltensmöglichkeiten (siehe: Kontrolle durch Begrenzung der Interviews), die AsylbewerberInnen auf ihre Grundbedürfnisse eingrenzen, ihnen wenig Möglichkeiten für weiterführende Tätigkeiten, Leidenschaften lassen, bewirken nach meinen Beobachtungen eine Beförderung von Suchtverhalten, Depressionen. Zusammenfassung Zwei Aspekte der Asyl-Räume sind aus der Fremdperspektive wichtig: Einerseits örtliche Gegebenheiten wie sichtbare Begrenzungen durch Zäune und Überwachungskamera, die das „fremde Gebiet“ umschließen und das Betreten dieses, das Vorsicht, Unsicherheit und das Bewusstsein der eigenen Transparenz auslöst. Andererseits der Umgang mit den eigenen Körpern, durch den die AsylbewerberInnen ihre Bedürfnisse stillen. Der Körper wird durch das Leben im Asyl determiniert und beschränkt bis auf das Stillen der Grundbedürfnisse reduziert. Diese Reduktionen führen bei den AsylbewerberInnen zu einer Akzeptanz der Reduktion, indem sie sich auf die Lebensmittelaufnahme oder die Reinigung der Körper, des Zimmers konzentrieren oder die durch die Reduktion entstandene Belastung löst Unkontrolliertheiten oder Nervosität aus. Kontrolle durch Sichtbarkeit204 Die Deutung und Beschreibung der Kontrolle durch Sichtbarkeit begrenzt sich aufgrund der Distanz zum Untersuchungsfeld bei der Fremdperspektive auf „schnelle“ Eindrücke. Eine Art der Sichtbarkeit sind die Eindrücke von den AsylbewerberInnen, die von anderen Personen mittels visueller Wahrnehmungen gewonnen werden. Der Geschmack, der Kleidungsstil, die Frisur und der Habitus dienen als Indikatoren einer Zuordnung zu einer bestimmten sozialen Gruppierung in dieser Gesellschaft. Diese Zuordnung können m. E. Einheimische leichter treffen, da sie vertraut sind mit genannten Distinktionsmerkmalen. Beginnen werde ich auch in diesem Abschnitt mit dem Sichtbarkeitsbegriff, der sich auf Sichtbarkeit für wenige Kontrollierende auf bestimmte zu kontrollierende Gruppen oder Personen einer Gesellschaft bezieht. In Gemeinschaftsunterkünften werden private Räume durch Zimmerteilende und Heimmitarbeitende kontrolliert. Die dort lebenden Personen sind untereinander und für kontrollierende Personen, wie den Hausmeister durch seine täglichen Rundgängen oder den Portier durch die Überwachungskamera und seine den Eingang einsehbare Position , sichtbar. Die Sichtbarkeit und damit Transparenz der Personen für die Ämter beginnt mit der Erfassung der Daten zu Beginn des Aufenthaltes in Deutschland. Neben Angaben zur Nationalität, Ge204 Die Sichtbarkeitsbegriffe sind im Exkurs in Kapitel II.2.2.1) näher erläutert. 148 schlecht, Alter, Religion, Familienstand werden auch biometrische Daten wie der Fingerabdruck aufgenommen. Dies stellt die erste Besonderheit dar, die von der „normalen Datenerfassung“ der deutschen StaatsbürgerInnen abweicht. Folge dieser detaillierten Erfassung der Daten sind Nervosität oder auch abneigende Gefühle gegenüber kontrollierende Instanzen wie Polizei oder AmtsmitarbeiterInnen. Die Sichtbarkeit und daraus resultierende Kontrolle bzw. Einschränkung der Verhaltensfreiheiten innerhalb des Heimlebens sind im vorigen Abschnitt beschrieben. Einseitige Abhängigkeitsrelationen bestehen zwischen AsylbewerberInnen und allen AmtsmitarbeiterInnen, HeimmitarbeiterInnen oder auch helfenden Personen. Somit bedingen die Relationen zu Deutschen eine vollkommene „Entblößung“ der AsylbewerberInnen und zeigen deren erzwungene Unmündigkeit bzw. Transparenz und ihre Reduktion auf die Erhaltung der Körperfunktionen. Bezüglich der Kontrolle durch Sichtbarkeit durch Hilfsinstitutionen betone ich den großen Einfluss dieser Institutionen bzw. Personen auf die AsylbewerberInnen. Sie sind meist die einzigen, die ihnen eine positive Aufmerksamkeit schenken und Verständnis für ihre Lebenssituation zeigen, so dass die Hoffnung, die Dankbarkeit, aber auch die Verbindlichkeit der Beziehungen seitens der AsylbewerberInnen höher eingeschätzt wird als sie von den professionell arbeitenden Hilfsinstitutionen. Die HelferInnen wie TherapeutInnen, BeraterInnen, oder SozialarbeiterInnen können über das Ausmaß und die Qualität des Kontakts bzw. der Hilfe entscheiden. Diese große Abhängigkeit von Hilfsinstitutionen wird durch die „Politik des Unmündigmachens“ verursacht und/oder gefördert. Distinktionen, also negative Abgrenzungen, anderer, „normaler“ Personen gegenüber AsylbewerberInnen sind aufgrund ihres Erscheinungsbildes wahrscheinlich. Obwohl viele AsylbewerberInnen darauf achten, ihr Äußeres, d. h. ihre Frisur und ihre Kleidung, zu pflegen, fallen sie aufgrund der besonderen Art der Pflege auf: Einige Jahre alte Anzüge und Hemden, ihre Hautfarbe oder ihr offensichtliche andere Herkunftskultur befördern Distinktionen seitens der „normalen Bevölkerung“. Hinzu kommt eine Art von Neid durch die „untere Mittelschicht“, die aufgrund des gepflegten Äußeren eine Bevorzugung und Besserbehandlung der AusländerInnen vermuten. Das gepflegte Äußere kann als Ausgleich oder „Wahrung“ der gering gehaltenen Würde gedeutet werden. Die zweite Sichtbarkeitsdefinition im Sinne einer (positiven) Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit ist in zwei Formen zu finden: Als an Machtausübung, an abstrakte und konkrete Stellungen im gesellschaftlichen Leben gekoppelte und als gesellschaftliche Anerkennung im Sinne von positiver Aufmerksamkeit. Bezüglich der letztgenannten Sichtbarkeit konnte ich bei Festivitäten oder einem hergerichte149 ten Essen feststellen, dass ihr Auftreten sehr gepflegt und mit Mühe bearbeitet war. Offenheit, Neugier und Freude bestimmten diese Situationen. „Sichtbarkeit“ im überschaubaren Rahmen dient der sozialen Anerkennung, dem Erhalt und der Erweiterung eines sozialen Netzwerks und dem Prestigegewinn. Das Selbstwertgefühl wird gestärkt und ein Gefühl der positiven Aufmerksamkeit und der Anerkennung entsteht. Zu der an Machtausübung gekoppelte Sichtbarkeit ist zu schreiben, dass in einem oberflächlichen Eindruck das Bild entsteht, dass, wenn eine Thematisierung der Asyl-Situation in der Öffentlichkeit stattfindet, sie sich auf die Rollenzuschreibung der AsylbewerberInnen als „Opfer der Politik“, „Opfer rassistischer Übergriffe“ einerseits oder „SozialschmarotzerInnen“205, „kriminelle Subjekte“ beschränkt. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass die Quantität, in der die Asyl-Situation in Deutschland, besonders die Situation in den Gemeinschaftsunterkünften, thematisiert wird in vielgelesenen Zeitungen, Zeitschriften sehr gering ist. Mit der geringen Häufigkeit und der Art der Thematisierung in öffentlichen Medien wird entschieden, dass AsylbewerberInnen in unserer Gesellschaft funktional die Position der Ohnmächtigen, der Kontrollierten, der Unmündigen, der Tabuisierten einnehmen. Zusammenfassung Dieser Abschnitt zeigt, dass in der Wahrnehmung der Fremdperspektive die Kontrolle durch Sichtbarkeit für wenige Personen durch AmtsmitarbeiterInnen oder HelferInnen vorhanden ist. In dieser Sichtbarkeitsdefinition sind die AsylbewerberInnen transparente Personen bis in ihr alltägliches Privatleben in den Gemeinschaftsunterkünften, in denen Zimmerteilende oder HeimmitarbeiterInnen Druck und Kontrolle durch Wahrnehmbarkeit der Personenen ausüben. In der Öffentlichkeit sind AsylbewerberInnen, wenn sie in den Medien thematisiert sind, als Opfer oder TäterInnen dargestellt. Bei Festen oder „gesellschaftlichen“ Ereignissen, die der Anerkennung und der gesellschaftlichen Akzeptanz dienen, sind sie selten zu finden. 4.7.5) Die Einflussfaktoren der Dimension „Beheimatung“ für die Interviews Für die gebildeten Typen habe ich folgende Abhängigkeiten auf der Dimension „Beheimatung“ (siehe Anhang XV) in den Interviews erarbeitet: a) Einflussfaktor „Aufenthaltszeit in deutschen Gemeinschaftsunterkünften“ 205 Ein Proband erzählte, dass er sich im Verhältnis zu den Deutschen (Medien) in einem Teufelskreis befinde: Einerseits werde ihm vorgeworfen, er nehme Deutschen die Arbeit weg , obwohl er nur die Arbeit verrichten darf, die kein/e Deutsche/r oder andere/r Ausländer/in verrichten kann, andererseits wird ihm vorgeworfen, dass er von staatlichen Geldern lebe, was aufgrund der sehr geringen Wahrscheinlichkeit für ihn, einen Arbeitsplatz zu finden, für ihn überlebensnotwendig ist. 150 Die Aufenthaltszeit in Deutschland und/oder der Aufenthaltsstatus beeinflussen beim Typ „Erinnerungen an die Heimat“ die Entscheidungsmöglichkeiten, in das Heimatland zurückzukehren. Die beiden am längsten in Deutschland lebenden ProbandInnen mit dem Status „Duldung“ sehen ihre Rückkehr in die Heimat mit hohen Risiken verbunden und können sie sich aufgrund der drohenden Gefahren für ihr Leben nicht vorstellen. Diese Angst wird verstärkt durch ihre Konvertierung zum Christentum, die im Iran, also einem islamischen Gottesstaat, mit der Todesstrafe verfolgt wird. Außerdem wirkt sich im selben Typ die Aufenthaltszeit und/oder das Alter auf die Intensität des Heimwehgefühls aus. Der Jüngste und am kürzesten in Deutschland lebende Proband hat am meisten Sehnsucht nach seiner Heimat. Der Typ „Akkulturation durch Konvertierung“ ist ebenfalls durch die Aufenthaltsdauer und/oder den Aufenthaltsstatus bedingt. Die beiden Probanden, die bereits fünf Jahre in Deutschland leben, sind nach drei Jahren vom Islam zum Christentum konvertiert. Es ist möglich, dass beide die Konvertierung als „Druckmittel“ gegen ihre mögliche Abschiebung einsetzten. Einer der zwei Konvertierten findet Halt und moralische Unterstützung in seiner Religiosität, so dass zumindest bei ihm der Glaube im Vordergrund zu stehen scheint. Im Typ „Akkulturation durch Normalisierung des Alltags“ sind für die beiden Probanden stärksten Tendenzen und Wünsche eines normalen Alltags zu erkennen. Mit genau geplantem Tagesablauf, Aufsteh- oder Essenszeiten versuchen sie, ihren Alltag zu normalisieren, sich ein „Leben im Übergang“ einzurichten. Im Typ „Wünsche zur Erfüllung der weiteren Bedürfnisse“ äußern sich die beiden am kürzesten in Deutschland lebenden ProbandInnen den Wunsch, die deutsche Sprache in einer Sprachschule zu lernen. Hinzu kommt, dass die Deutschkenntnisse der bereits länger in Deutschland lebenden ProbandInnen ausreichen, um sich in Dresden zu orientieren oder ein kürzeres Gespräch mit Deutschen zu führen. Der Typ „Fehlende Deutschkenntnisse verhindern Sozialanschluss“ wirkt sich bei den am längsten in Deutschland lebenden ProbandInnen positiv aus. Sie können sich in Deutsch unterhalten, so die Chance auf Kontaktmöglichkeiten mit Deutschen erhöhen. Dies wirkt sich positiv auf soziale Beziehungen aus. Den Typ der „Strategie: Hoffnung“ findet man am stärksten ausgeprägt beim Jüngsten und am kürzesten in Deutschland lebenden Probanden. Die Aufenthaltszeit in Deutschland und/oder sein Alter (oder auch: Persönlichkeitseigenschaften) nehmen Einfluss auf seinen Optimismus der Welt und seiner Zukunft gegenüber. b) Einflussfaktor „Alter“ 151 Der Typ „Unterstützung durch die Familie“ zeigt eine Abhängigkeit vom Alter und/oder Familienstand, da der Älteste, der gleichzeitig Familienvater ist, momentan keine finanziellen Unterstützungen aus dem Iran erhält, sondern selbst Kleidung in den Iran sendet. Der Jüngste der ProbandInnen, der mit der wahrscheinlich wohlhabensten Familie, erhält die größte finanzielle Unterstützung von seiner Familie aus dem Heimatland. Im selben Typ ist erkennbar, dass der Jüngste die engste Beziehung zu seiner Mutter hat, die für ihn als Beschützerin und Autorität in Überlegungen und Entscheidungen fungiert. Der Typ „Monotonie der Lebensmittel“ zeigt eine Abhängigkeit von Alter und/oder Aufenthaltszeit in Deutschland, da der Jüngste und am kürzesten in Deutschland lebende Proband sich nicht über Qualität, Preis oder Auswahl der Lebensmittel beklagt. Für den Jüngsten sind die „Erinnerungen an die Heimat“ mit starkem Heimweh verbunden, also einem starken Sehnsuchtsgefühl. Diese Sehnsucht ist ebenfalls durch seine enge Bindung an die Mutter, die im Iran lebt, erklärbar. Auf die „Strategie: Hoffnung“ setzt der Jüngste der interviewten AsylbewerberInnen, der aufgrund seiner Lebenserfahrungen in Hoffnung auf positive Veränderungen lebt. c) Einflussfaktor „Geschlecht“ Die im Typ „Warten als einzige, monotone Verhaltensweise“ als empfunden geäußerte Monotonie und Trostlosigkeit der Lebenssituation als AsylbewerberIn erwähnt die einzige weibliche Probandin stärker als ihre männlichen Landsleute. Diese Empfindung kann ebenfalls aus ihren traumatisierenden Erfahrungen stammen. Diese Erfahrungen, meint Vergewaltigung und Selbstmordversuch, sind allerdings ebenfalls an ihr Geschlecht gekoppelt. Diskriminierungen als Frau ist (in islamischen Ländern) häufig in der Polygamie des Mannes oder der Gewaltbereitschaft Frauen gegenüber zu finden. d) Einflussfaktor „Familienstand“ Die im Typ „Unterstützung durch die Familie“ zu findende positive familiäre Abhängigkeit lässt sich bei allen ProbandInnen finden. Die Unterstützung der Familie im Iran durch AsylbewerberInnen ist lediglich bei dem Probanden zu entdecken, der im Iran seine Frau und zwei Kinder hat. Die unterstützende Person ist der Proband selbst. Dementsprechend können nur er und die eine Probandin, deren Tochter und Sohn im Iran leben, die beide bereits verheiratet sind, im Typ „Wünsche zur Erfüllung der Grundbedürfnisse“ einen Familiennachzug anstreben. Die beiden ProbandInnen ohne Kinder im Iran äußerten im Typ „Wünsche zur Erfüllung der weiteren Bedürfnisse“ ihr Bedürfnis nach Partnerschaft oder einer Liebesbeziehung in Deutschland. 152 e) Einflussfaktor „Aufenthaltsstatus“ Der Aufenthaltsstatus spielt im Typ „Erinnerungen an die Heimat“ im Möglichkeitshorizont der AsylbewerberInnen die Rolle, dass eine Rückkehr für die ProbandInnen ausgeschlossen wird, die einen Duldungsstatus besitzen. 4.7.6) Die Einflussfaktoren der Dimension „Beheimatung“ für die Beobachtungen Aus der Fremdperspektive, also in den Beobachtungsprotokollen, sind folgende Einflüsse in der Dimension „Beheimatung“ (siehe Anhang XV) zu erkennen, die auf die Asyl-Räume einwirken und sie determinieren: a) Einflussfaktor „Aufenthaltszeit in deutschen Gemeinschaftsunterkünften“ Im Typ „Unterstützung durch außerfamiliäre Kontakte“ nimmt der älteste und einer am längsten in Deutschland lebende Proband und eine eigene Familie im Iran hat, die Rolle des „fürsorgenden Ratgebers“ ein. Er kocht das Essen für andere AsylbewerberInnen, verleiht Lebensmittel und ist Ansprechpartner für viele IranerInnen. Der Typ „Zimmereinrichtung: kalt“ kommt bei den beiden am kürzesten in Deutschland lebenden ProbandInnen vor. Sie haben sich noch nicht in den Zimmern eingerichtet. Entweder aus Abwehr gegen eine Verwurzelung und Akzeptanz der Situation oder wegen der fehlednen Zeit, sich einzurichten. Entsprechend ist der Typ „Zimmereinrichtung: warm“ bei den am längsten in Gemeinschaftsunterkünften lebenden ProbandInnen zu erkennen. Ein persönlich eingerichtetes Zimmer lässt auf Beheimatung oder Akkulturation schließen und zeigt die Tendenz der „Normalisierung“, der Akzeptanz des Lebenszustandes in der Gemeinschaftsunterkunft. b) Einflussfaktor „Alter“ Siehe Typ „Unterstützung durch außerfamiliäre Kontakte“ beim Einflussfaktor „Aufenthaltszeit in deutschen Gemeinschaftsunterkünften“. c) Einflussfaktor „Familienstand“ Siehe Typ „Unterstützung durch außerfamiliäre Kontakte“ beim Einflussfaktor „Aufenthaltszeit in deutschen Gemeinschaftsunterkünften“. 4.7.7) Beschreibungen und Deutungen der Räume der AsylbewerberInnen aus Eigenperspektive für die Dimension „Beheimatung“ 153 Weder Hiersein noch Dortsein206 Die gleichnamige Unterkategorie mit diesem „Titel“ kristallisierte sich während der Typenbildung, also während des Ordnens und Gewichtens der Ausprägungen bzw. der Unterkategorien, als zentrales Element heraus. Um sie können andere Kategorien und Unterkategorien angeordnet werden. Auf einer zeitlichen Dimension kann seit Beginn der Flucht aus dem Heimatland von einem Zustand des „Transits“, des Übergangs gesprochen werden, der sich über die Gegenwart als AsylbewerberIn in die (nicht vorhandenen) Vorstellungen über die Zukunft zieht. a) Die Vergangenheit Der Umfang und die Anwendbarkeit der bourdieuschen Kapitalien waren für die AsylbewerberInnen, als sie noch nicht als solche benannt waren, in ihrer Heimat umfassend. Diese bieten somit die Referenzfläche für den derzeitigen geringen Umfang und Anwendbarkeit der Kapitalien. Alle ProbandInnen besitzen oder besaßen eine Wohnung oder ein Haus im Iran, gingen einer Erwerbsarbeit nach, waren in einem sozialen Netzwerk wie Familie und Freundeskreis aufgefangen und verfügen über einen in ihrer Heimat erworbenen Schul- oder Hochschulabschluss. Solche Erfahrungen bzw. biographischen Hintergründe wirken in die Gegenwart hinein, indem durch sie als Referenz das Gegenwärtige beurteilt und eingeschätzt wird. Die Vergangenheit wirkt durch Erinnerungen in die Gegenwart der AsylbewerberInnen, besonders in Form von Erinnerungen an die Heimat, die Freude und positive Gefühle auslösen. Erinnerungen nehmen viel Raum ein in der Gegenwart der AsylbewerberInnen, was bereits auf einen „Transit der Gegenwart“, auf ein „Weder Hier- noch Dortsein“ deutet. Die Charakterisierung der jüngeren Vergangenheit, der Flucht, beinhaltet per se einen „Transit“, da die Flucht von der Heimat in die unbekannte Fremde angetreten gerichtet ist. Die Flucht ist eine besondere Art eines Weges, der zurückgelegt wird mit der Intention sich von einem Ort entfernen zu wollen und/ oder zu müssen. Das Charakteristikum der Flucht ist die Bewegung, das Fortkommen von einem und des an einem anderen Ort Ankommen Wollens. Der Ort, an dem die Person sich dauerhaft (länger als einige Wochen) niederlässt, kann nicht mehr zur Flucht gezählt werden. Die Flucht umfasst bei den ProbandInnen eine Zeitspanne, die sich zwischen einigen Wochen und einem Jahr bewegt. Die Erinnerung an diese Zeit ist nur für die Person von größerer Be206 Diese Formulierung impliziert nicht nur Arendts Zitat (siehe Kapitel I.1.c)) über die Ohnmacht der Standpunktlosen, sondern auch Bourdieus Anmerkungen, in denen er Existenz und Ortsgebundenheit in Abhängigkeit setzt. Damit sind diejenigen, die ortslos, ohne angeeigneten Raum sind, ebenso im „sozialen Raum“ nicht existent. In: Bourdieu, Pierre: Sozialer, physischer und angeeigneter Raum in: Wentz. Martin (Hg.): Stadt-Räume (Die Zukunft des Städtischen Band 2), Frankfurt/ Main/ New York 1991, S. 26. 154 deutung, die ein Jahr geflohen ist, zumal sie eher „zufällig“ in Deutschland landete. b) Gegenwart als „Warten im Transit“: Der fahrende Zug207 Warten und Transit scheinen widersprüchlich, da erstes statisch, zweites dynamisch als Grundeigenschaften ausmacht. Kristeva beschreibt in ihrem Zitat: Sie beschreibt einen fahrenden Zug mit unbekanntem Haltepunkt, unbekanntem Haltezeitpunkt. Die AsylbewerberInnen beschreiben sich, auf eine metaphorische Ebene transponiert, als dem/der ZugfühererIn Abhängige, Ausgelieferte, zu dem/der sie keinen Kontakt haben und dessen/deren Entscheidungen sie nicht beeinflussen können. Das eigene Leben bzw. das „gesellschaftliche Leben“ in Deutschland zieht außerhalb des Zuges an ihnen vorbei. Sie können es anschauen im Vorbeifahren, eine Sehnsucht entwickeln und Vergleiche ziehen zwischen ihrem und dem Leben „draußen“. Sie können sich aber nicht in diese Landschaft begeben, nicht Teil dieses Lebens werden. Mindestens bis zu ihrer Anerkennung als Asylberechtigte sitzen sie im Zug und wissen nicht wann dieser hält, wohin der Zug sie bringt und ob sie dann aussteigen dürfen – Warten auf unbestimmte Zeit. Die Qualitäten des Wartens ändern sich im Laufe der Zeit, wie sich beim Einflussfaktor „Aufenthaltszeit in Deutschland“ erkennen lässt. Während des Wartens schwindet die Hoffnung auf positive Änderung der eigenen Lebenslage als AsylbewerberIn. Das Leben in Gemeinschaftsunterkünften wird resignierend hingenommen, die Lebensmüdigkeit steigt. Die Verhaltensweisen, die auf Akkulturation und „Normalisierung“ des Alltags, des Lebens weisen, nehmen zu. Die AsylbewerberInnen werden bescheidener in ihren Ansprüchen und Wünschen im Laufe ihres Aufenthaltes in den Gemeinschaftsunterkünften. Doch das Bestreben, in die Normalität zu gelangen, wird nicht erfüllt. Das „Warten im Transit“ wird durch die AsylbewerberInnen selbst in ihren Wahrnehmungskategorien folgendermaßen charakterisiert: Einerseits entstehen durch die hohe Sozialdichte und Enge, durch die eingeschränkten Verhaltensmöglichkeiten im und des Wohnens Konflikte zwischen den Heimbewohnenden. Diese Konflikte, der Dreck und Schmutz in den Gemeinschaftsunterkünften, die vielen unbefriedigten Bedürfnisse rufen negative Gefühle hervor, die zu neuen Konflikten, zu Resignation oder auch zu Langeweile führen. Das Warten als einzige übergeordnete Tätigkeit ist charakterisiert durch Langeweile, durch Monotonie, die sich in der Alltagsgestaltung und auch in der Architektur finden lässt. Der Umgang mit diesem Zustand erstreckt sich über Gefühlsreaktionen über Veränderungen des 207 Ich erinnere an das Zitat Kristevas (siehe Kapitel I.1): „Der Raum des Fremden ist ein fahrender Zug, ein fliehendes Flugzeug, der jedes Anhalten ausschließende Transit selbst.“ Das „Warten im Transit“ kennzeichnet die übergeordnete Tätigkeit der AsylbewerberInnen, die des Wartens auf eine Entscheidung in ihrem Asylverfahren. Der Transit kennzeichnet diesen als Übergang gemeinten Lebensabschnitt, der eigentlich auf wenige Monate beschränkte Entscheidungsprozess. 155 Gesundheitszustands bis hin zu Suchtverhalten. Strategisch, also bewusst geplant, entwickeln AsylbewerberInnen die Handlungsarten, dass sie Hilfe beanspruchen, sich auf zukunftsgerichtete Hoffnungen konzentrieren, welche aber nicht planbar ist oder sich mit Hilfe von Therapien systematisch an traumatisierende Ereignisse erinnern, um diese vergessen zu können. Ein „Verschwinden aus dem Hiersein“ beinhaltet als Reaktionen auf die Eingrenzungen der Asyl-Räume veränderte Verhaltensweisen, Veränderungen einer „normalen Tagesgestaltung“, das Aufbrechen von „normalen“ Wach- und Schlafzeiten und Orientierungslosigkeiten bezüglich der eigenen Werte, Normen und Vorstellungen über das Leben. Veränderte Verhaltensweisen, die auf ein Verschwinden des Körpers (siehe Anhang XVI Bilder Nr. 17 und 20) deuten, zeigen sich in Essverweigerung oder Appetitlosigkeit, in gesteigertem Drogenkonsum oder Unruhe (der Bewegungen). Statt von einem Verschwinden aus dem Hiersein zu schreiben, liegt nahe, an ein NichtAngekommensein zu denken, wie es ein Proband geäußert hat. Er beurteilt die deutsche AsylPolitik so, dass sie AsylbewerberInnen stoppe, bevor diese dazu kommen können, in Deutschland anzukommen208. Die Vergleiche des Hierseins, der Situation im Heim, mit ähnlichen Situationen oder Orten, deuten auf Unzufriedenheiten mit dem Hiersein hin: AsylbewerberInnen als „Esel im Zoo“, „Heim als Gefängnis“ oder „Ich würde lieber tot als hier sein.“. Alle drei Aussagen sind negativ konnotiert, beinhalten ein Eingesperrtsein, setzen die AsylbewerberInnen mit Tieren gleich, die nicht mal in „freier Bahn“, sondern im Zoo leben müssen in Abhängigkeit von PflegerInnen und FuttermittelbeschafferInnen. Der Vergleich mit dem Tod deutet nicht nur auf Depression hin, sondern auf eine nicht-erfüllte Qualität des Lebens, die gemessen an der Vorstellung der AsylbewerberInnen über das, was Leben bedeutet, nicht lebenswert erscheint. Alle Vergleiche zeigen die Unmöglichkeit eines konkreten und abstrakten Hierseins, eine fehlende Präsenz im Hier während des Lebens als AsylbewerberIn. Hiersein ist in seiner Qualität gekennzeichnet durch das, was im humanistischen Sinne nicht menschlich ist: ein Esel sein, tot sein, im Gefängnis sitzen. Die Kapitalien, die AsylbewerberInnen mitbringen, umfassen vielfältige kulturelle/symbolische Kapitalien von Fremdsprachenkenntnissen bis zu Hochschulabschlüssen. Soziale Kapitalien werden in Deutschland extrem erschwert durch den Ausschluss von „Räumen 208 Ankommen ist als Metapher gemeint, das als Ankommen in einer Gesellschaft mit Beheimatung in Verbindung steht und eine Beteiligung in verschiedenen gesellschaftlichen Sektoren meint. Dies wird für die Sektoren „Erwerbsarbeit“, „Kommunikation in der Landessprache“, „kulturelle Integration“ oder „soziales Netzwerk“ mittels der gesetzlichen Regelungen verhindert. 156 des Kontakts“ und der fehlenden gesellschaftlichen Anerkennung [siehe Kapitel I.1.1) und II.2)]. Ökonomische Kapitalien werden systematisch minimiert bzw. niedrig gehalten, indem vorhandene finanzielle Ressourcen der AsylbewerberInnen erst aufgebraucht werden müssen, bevor sie Anspruch auf das geringfügige Taschengeld erhalten haben. Das soziale Kapital der AsylbewerberInnen beschränkt sich in Deutschland auf lokale Hilfsorganisationen, auf Relationen zu sie umgebende Institutionen und auf die lokale bzw. überregionale Sprachgemeinschaft. Die Qualität der Relationen zu anderen Personen zeichnet sich durch einseitige Abhängigkeit der AsylbewerberInnen aus. Das soziale Kapital kann nicht als solches bezeichnet werden. Die Quantität der sozialen Beziehungen wird von zwei ProbandInnen als niedrig beschrieben, so dass Einsamkeitsgefühle entstehen. Inkorporierte Kapitalien in Form von Verhaltensmöglichkeiten oder des Habitus´ wirken sich auf den Umgang mit der Situation als AsylbewerberIn aus. D. h. bei einem großen Spektrum an Verhaltensoptionen oder bei Kenntnis und Wissen der eigenen Lebenslage, die meist aus hohem kulturellen/symbolischen Kapital stammen, kann mit der eigenen Lebenslage besser umgegangen werden. Als das entscheidende Kapital, das sich auf die anderen Kapitalien auswirkt, zeigt sich das ökonomische Kapital. Dies wird durch die Taschengeldvergabe stark minimiert. So kann z. B. kein Deutschunterricht genommen werden. Die spezifische lokale Stadtstruktur lässt die Arbeitschancen der AsylbewerberInnen sinken und kennzeichnet sich durch eine geringe Anzahl an ehrenamtlichen Unterstützungsleistungen aus. Sie können den Umfang der notwendigen Hilfeleistungen nicht bieten und zeichnen sich machtpolitisch209 als gering bedeutsam aus. c) Zukunft: nebulös Die genannte Orientierungslosigkeit entsteht bzw. wird befördert durch fehlende Planbarkeiten der näheren (und weiteren) Zukunft. Bezeichnenderweise kannten zwei der ProbandInnen die Vokabel „Zukunft“ bzw. „future“ nicht. Dies zeigt die gedankliche und sprachliche Lücke, die Ausblendung einer Zeit, die von den AsylbewerberInnen nicht gedacht wird und werden kann, da ihre Zukunft direkt von einer Entscheidung abhängt, deren Zeitpunkt und Inhalt sie nicht kennen. Die Unmöglichkeit einer Planung, des Formulierens von Zielen, die Unmöglichkeit einer Wunscherfüllung ist offensichtlich und wird von allen ProbandInnen formuliert, deren Anerkennung noch nicht entschieden ist. Die Probandin, die bereits anerkannt ist, zeichnet sich 209 In Diskussionsveranstaltungen zum Thema „Asyl“ fällt immer wieder auf, dass die Gruppe der „Helfenden“ rein moralisch und normativ argumentiert. Da die Entscheidungen treffende Seite der PolitikerInnen oftmals auf andere Argumentationsebenen rekurrieren, können die lokalen Organisationen aufgrund ihrer Argumentationsstruktur keine Wirkungsmacht entfalten. 157 durch klare Zielsetzungen, durch das Vorhandensein von Zukunftsvorstellungen aus. Die geäußerten Wünsche der ProbandInnen zielen auf Normalität, Normalisierung des Lebens ab: Wünsche nach Arbeit, nach einer eigenen Wohnung oder einem eigenen Zimmer, Wünsche nach dem Zusammenleben mit der Familie, Wünsche nach Deutschunterricht beinhalten keine außergewöhnlichen Forderungen, sondern den Wunsch nach einem Leben, das als „normal“ bezeichnet wird. Dementsprechend wird die Anerkennung als Asylberechtigte als die Aneignung eines bestimmten symbolischen Kapitals gesehen, an das die Hoffnung auf die Erfüllung einiger anderer Kapitalien gekoppelt ist. Zusammenfassung Die Eigenperspektive zeigt ein „Weder Hier- noch Dortsein“ im konkreten und hauptsächlich abstrakten Sinne. Das Leben in den Gemeinschaftsunterkünften ist durch ein NichtAnkommen in Deutschland, eine fehlende Beheimatung oder Verwurzelung charakterisiert. Durch fehlende Kapitalien wird ein Hiersein verhindert, die notwendig sind, um gesellschaftlich wahrgenommen und anerkannt zu werden oder auch ein „normales Leben“ zu führen. Die einzige Tätigkeit, die bleibt, ist das Warten. Warten auf eine Entscheidung, deren Zeitpunkt und Ausgang die AsylbewerberInnen nicht kennen. Sie sind die Ausgelieferten. Die Zukunft ist somit nicht plan- oder denkbar, was Planen und Entwickeln von Zielen für das eigenen Leben unmöglich macht. Die Vergangenheit, das normale Leben in der Heimat dient als Vergleichshorizont, der das Leben in den Gemeinschaftsunterkünften, die Asyl-Räume, als unbefriedigend und frustrierend erscheinen lässt. Die Gegenwart ist als Transit gemeint, so wie alle Bewerbungen nach kurzer Zeitspanne Entscheidungen bedürfen, und kann als Warten im Transit, als Warten im fahrenden Zug charakterisiert werden. 4.7.8) Beschreibungen und Deutungen der Räume der AsylbewerberInnen aus Fremdperspektive für die Dimension „Beheimatung“ Weder Hiersein noch Dortsein Die Fremdperspektive der Charakterisierungen der Asyl-Räume, die sich durch „Weder Hiersein noch Dortsein“ kennzeichnen lassen, ergänzt zu großen Teilen die Eigenperspektive der AsylbewerberInnen. In den Aspekten des Selbstverhältnisses zum eigenen Körper erfasst die Fremdperspektive vielfältige Punkte. Bezüglich des Verfügens über Kapitalien kann die Fremdperspektive in ihren Überlegungen den Fokus weiter fassen, da sie Abstand zum Forschungsfeld und Wissen über Vorausset158 zungskapitalien in unserer Gesellschaft besitzt. Die Voraussetzungskapitalien ermöglichen den Eintritt in bestimmte z. B. gesellschaftlich anerkannte Räume, die den AsylbewerberInnen per se verschlossen bleiben. Gegenwart als „Warten im Transit“ Aus den Beobachtungen wurde der Aspekt, dass Erinnerungen an die Heimat, an vergangene Situationen das Hiersein erfüllen, verstärkt. Erinnerungen an ähnliche Situationen sind in Form von Erinnerungen an die Erst-Interviews des BAFl als gegenwartsfüllende Gedanken erschienen. Diese erzeugten Nervosität und Unruhe bei zwei der ProbandInnen. Dies erforderte gestärkte Sensibilität und Aufmerksamkeit, um die Unsicherheit von den ProbandInnen zu nehmen. Vergleiche des Hierseins mit dem Dortsein waren durch Gespräche über die Heimat erkennbar. In diesen „belauschten“ Gesprächen wurde das Leben im Iran höher bewertet als das Leben in Deutschland. In den Erzählungen der AsylbewerberInnen war stets Freude erkennbar, wenn sie mit Erinnerungen an die Heimat erfüllt waren. Vergleiche des Heims mit assoziierten Institutionen möchte ich auf den mit einem Gefängnis lenken. Die Beschreibungen und Deutungen der Zäune und Überwachungsmöglichkeiten und der Kontrollmöglichkeiten innerhalb des Heims sind in der Kontrolle durch Beschränkung – Das Heim ist ein Gefängnis und Kontrolle durch Sichtbarkeit beider Perspektiven zu finden. Die Fremdeinschätzung des Verfügens über Kapitalien ist den Beschreibungen der AsylbewerberInnen selbst nahe. Die Aufmerksamkeit richte ich auf den Aspekt der Unselbständigkeit der AsylbewerberInnen, der durch mangelnde Deutschkenntnisse, fehlende finanzielle Ressourcen und die Wohnsituation entstehen. Sie können sich ohne Hilfe von anderen AsylbewerberInnen nicht in der Stadt orientieren, sich nicht verständigen, verstehen häufig den Inhalt der Formulare nicht, die sie unterschreiben sollen und sind aufgrund ihrer Erfahrungen vor und während der Flucht verunsichert. Statt angemessen ihre Selbständigkeit zu fördern und Orientierungshilfen zu geben, werden Abhängigkeiten durch die deutsche Gesetzgebung geschaffen, die Unsicherheiten durch faktisches Arbeitsverbot, Lebensmittellisten oder die Zimmerbelegung verstärken. Die Einschätzung der kulturellen/symbolischen Kapitalien der AsylbewerberInnen aufgrund ihres Erscheinungsbildes und des persönlichen Umgangs ist zweifach: Der erste Eindruck war bei zwei ProbandInnen gekennzeichnet von Zuschreibung von sozialer Unterschicht, von „Geschmacklosigkeit“. Der zweite Eindruck änderte die erste Beurteilung in eine positive Richtung, so dass ich durch Art und Inhalt der Gespräche hohes kulturelles/symbolisches Kapital erkannte. Wichtig sind die fehlenden Deutschkenntnisse, die zu Diskriminierungen durch Deutsche füh159 ren. In Form von fehlender Aufmerksamkeit und Ungeduld, als Unterbrechung der Rede der AsylbewerberInnen, durch lautes Sprechen oder absichtliche Bildung grammatikalisch falscher Sätze diskriminieren einige MuttersprachlerInnen Nicht-MuttersprachlerInnen.210 Charakteristika der Aufenthaltsorte der AsylbewerberInnen erstrecken sich von Vernachlässigung der Heimgebäude durch Schmutz oder bleibende Gebäudeschäden über Monotonie der Architektur zu Vielfalt der Zimmereinrichtungen. Die Zimmereinrichtungen als Dichotomie erfasst lassen erkennen, dass sich die zwei am längsten in Deutschland lebenden Probanden gemütlich und familiär eingerichtet haben, die Zimmer der anderen beiden von Funktionalität und Unpersönlichkeit geprägt sind. Auch hierdurch wird das Verlangen nach „Normalität“ deutlich. Das Verschwinden aus dem Hiersein ist sichtbar und beobachtbar durch den Umgang der AsylbewerberInnen mit ihrem Körper. Viele der Körper der AsylbewerberInnen sind mager, die Gesichter durch Augenringe auffällig, die Bewegungen schnell und nervös, so dass auf eine fehlende Standhaftigkeit, ein Fliehen von einem Punkt zum nächsten, wie es Arendt beschreibt [siehe Kapitel I.1.3)], ein „Verschwinden“ des ruhenden und präsenten Körpers geschlossen werden kann. Die Positionierungen der AsylbewerberInnen in den Relationen zu im beruflichen Sinne assoziierten Personen bedingen Unmündigkeit und Unselbständigkeit statt Orientierungshilfen zu geben. Zusammenfassung Aus der Fremdperspektive, die lediglich die Gegenwart der AsylbewerberInnen erfassen kann, wird der Asyl-Raum als der beschrieben, der eine Möglichkeit der Raumkonstitutionen anderer Räume ausschließt. Der Asyl-Raum ist eben der „fahrende Zug“, die Mitfahrenden werden der Voraussetzungen entnommen, um in gesellschaftlich anerkannte Räume zu gelangen. Die Erinnerungen an die glücklichere Vergangenheit, die als Vergleichsfolie dienen, lassen das Leben im Asyl als unbefriedigend erscheinen. Die Aufenthaltsorte verhindern in ihren örtlichen Gegebenheiten ein Wohlfühlen, eine Beheimatung, eine „Integration“. Die Sehnsucht nach Normalität tritt in den Zimmereinrichtungen der länger in Deutschland lebenden AsylbewerberInnen hervor. 210 Deutschkenntnisse als Voraussetzungskapital zur Akzeptanz und sozialen Anerkennung in unserer Gesellschaft: Allgemein bin ich auf Voraussetzungskapital zur Erlangung von bestimmten anderen Kapitalsorten in Kapitel II.3.e) eingegangen. Bestimmte Kapitalarten ermöglichen die Aneignung bestimmter anderer Kapitalarten oder den Zutritt zu bestimmten Räumen. 160 Das äußere Erscheinungsbild gekoppelt mit den fehlenden Deutschkenntnissen drängen AsylbewerberInnen in den Relationen zu Deutschen in eine Distinktionen und Stigmatisierungen befördernde Position. 3.5 Selbstkritik am methodischen Vorgehen Einige Arbeitsschritte des methodischen Ablaufs waren mit Schwierigkeiten versehen und warfen Fragen über den „Sinn“ des jeweiligen Arbeitsvorganges und seiner Einordnung im gesamten Forschungsprozess auf. Ich möchte einige dieser Schwierigkeiten nennen und darauf verweisen, dass ich bei einer nächsten Forschungsarbeit Modifizierungen des Ablaufes vornehmen würde. Dies war mir für diese Arbeit aus Raum- und Zeitgründen nicht mehr möglich und kann als Teil meines „wissenschaftlichen Lernprozesses“ angesehen werden. Nun einige kritisierte Aspekte: Die Gewichtung der Eigenperspektive im Verhältnis zur Fremdperspektive fällt anteilmäßig zugunsten der Eigenperspektive der AsylbewerberInnen aus. Diese größere Bedeutung und Gewichtung zugunsten der Interviews ist nicht prozentual geschehen, sondern spiegelt sich „lediglich“ in Intensität und Umfang der beiden Perspektiven in dieser Arbeit wider. Dies ist einerseits aus der Unkenntnis einer prozentualen Gewichtungsmöglichkeit, andererseits aus den qualitativen Forschungsparadigmen entstanden. Ich hoffe dennoch, dass die angewendete Art der Gewichtung den wissenschaftlichen Ansprüchen an eine Diplomarbeit genügt. Auch die vorgenommenen Gewichtungen der Ausprägungen sind methodisch kritisierbar. Sie kamen durch mehrmaliges Lesen der Ausprägungen und daraus gefolgerten Relationen verschiedener Aspekte zu einer Ordnung im Sinne einer angedeuteten Typenbildung zustande. Diese angedeutete Typenbildung ist ebenfalls angreifbar, da sie nicht als ein konkretes methodisches Vorgehen durchgeführt wurde. Berücksichtigt habe ich beim Prozess des Gewichtens und Ordnens die Abhängigkeit von Häufigkeit und Länge der Ausführungen über einen Aspekt, von der Intonation der Ausführung und von den wahrgenommenen Atmosphären der jeweiligen Interview-Situation. Da der Ablauf der Auswertung von der Bildung der Themendimensionen direkt zur Kategorienbildung führte, füllte ich diese später mit konkreteren Ausprägungen bzw. Unterkategorien aus. Der Wechsel zwischen den verschiedenen Abstraktionsgraden und die teilweise verschwimmenden Abgrenzungen der in den Protokollen beinhalteten bzw. in Eigenleistung erarbeiteten 161 Beschreibungen zu den Deutungen und Interpretationen ließ in der inhaltsanalytischen Auswertung teilweise die Analyse-Ebenen uneindeutig werden. Auf die gesamte Arbeit bezogen wurde mir von einigen KritikerInnen Reduktion von Komplexität bzw. von daraus resultierender Unübersichtlichkeit und großen Umfang der Arbeit angeraten. Diese Reduktion habe ich als Ziel der Arbeit formuliert, doch mag es mir aufgrund der Einschätzung, alle noch vorhandenen Aspekte dieser Arbeit seien relevant und aufgrund von Auswahlschwierigkeiten nicht gelungen sein. Ich hoffe, trotz der vielfältigen Aspekte, die teilweise kurz behandelt werden aufgrund ihrer Vielzahl, das Thema der Arbeit verdeutlicht und verständlich gemacht bzw. Redundanz vermieden zu haben. 162 „Der Raum des Fremden ist ein fahrender Zug, ein fliehendes Flugzeug, der jedes Anhalten ausschließende Transit selbst.“211 4 Schlusskapitel: Interpretationen der Asyl-Räume In diesem Kapitel werde ich die im vorigen Abschnitt beschriebenen Charakterisierungen der Asyl-Räume interpretieren. Interpretieren bezüglich des Theoriekontextes und einiger Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen Aspekten. Beginnen werde ich mit den Interpretationen der Einflussfaktoren, die ich miteinander in Beziehung setze und implizite Wertungen, Einstellungen und Urteile ausformuliere. 4.1 Interpretationen der Einflussfaktoren der Asyl-Räume Die Intensität und Deutlichkeit der wirkenden Einflussfaktoren, die aus der Eigenperspektive der AsylbewerberInnen stammen, sind am deutlichsten und umfangreichsten in der Aufenthaltszeit in deutschen Gemeinschaftsunterkünften zu finden. Kenntnisse der deutschen Sprache können als entscheidende Folge eingeordnet werden, die sich im Laufe der Aufenthaltszeit in Deutschland verbessert. Über verschiedene Wege, sei es durch Freund- oder Liebschaften mit Deutschen, durch Beitritt in eine Gemeinde oder durch den teilweise ehrenamtlich stattfindenden Deutschunterricht in einer der Gemeinschaftsunterkünfte und durch das Lesen von Deutschbüchern lernen AsylbewerberInnen im Laufe der Monate und Jahre Deutsch verstehen und sprechen. Alle ProbandInnen äußern den Wunsch, Deutschunterricht von Beginn ihrer Aufenthaltszeit in Deutschland erhalten zu dürfen. Das faktische Arbeitsverbot und damit der Ausschluss aus Arbeits-Räumen [siehe Kapitel II.2.6) Exkurs] ist ein wichtiger Aspekt, der sich im Laufe der Monate und Jahre verstärkt negativ auswirkt. Der Eindruck, nutzlos zu sein, auf der Wartebank zu sitzen, wirken sich negativ auf das Selbstwertgefühl aus. Protest oder Bitten um Verbesserung haben bei den ProbandInnen nichts verbessert, ihre Hinweise wurden „überhört“. Dies ist der zweite Aspekt, den alle ProbandInnen für sehr wichtig in seiner Veränderung erachten: Recht auf Arbeit. Die Lebensbedingungen der AsylbewerberInnen wirken sich mit fortschreitender Aufenthaltsdauer in Deutschland zunehmend als psychische, soziale und physische Belastung aus. Depressionen führen zu Isolation oder Tablettenkonsum: Es wird mehr geraucht, die Kopfschmerzen steigen, Hoffnungslosigkeit nimmt Gedanken ein und Wünsche nach einem „nor211 Kristeva, Julia: Fremde sind wir uns selbst, Frankfurt/ Main 1990, S. 17. 163 malen“ Leben erscheinen immer unwahrscheinlicher. Die Bewusstwerdung des eigenen Standpunktes in dem Machtgefüge in Deutschland212 wird erst nach einiger Zeit deutlich. Das Warten als einzige Tätigkeit, die alle anderen Verhaltensweisen überschreibt, tritt deutlicher hervor. Die Reflexion der eigenen „Standortlosigkeit“, wie sie Arendt oder auch Kristeva im Zusammenhang der Rechtlosigkeit der Fremden formuliert haben, findet statt [siehe Kapitel I.1.3) und Einleitung]. Die Wahrnehmungskategorien der AsylbewerberInnen umfassen deutlicher die Positionierungen in der Gesellschaft. Die AsylbewerberInnen haben gelernt, sich im Laufe der Jahre ihr Leben im „Übergang“ einzurichten. Versuche einer Akkulturation durch Konvertierung zum Christentum oder einer geregelten Alltagsgestaltung zeigen den Willen und das Bedürfnis nach Normalisierung, nach einem (abstrakt gemeinten) Ankommen und Beheimaten in Deutschland. Eine gemütliche Zimmereinrichtung und das Bedürfnis nach Normalität, der Wille zur Akkulturation zeigen Institutionalisierungen, die in und durch die (Re-)Produktion der räumlichen Struktur des Wohnens [siehe Kapitel II.3)] geschaffen und erhalten werden. Normalisierung wird angestrebt durch einen nach Normalität anmutenden Alltag zu etablieren und der unstrukturierten Zeit einen Rahmen zu schaffen, der für „normale Erwerbsarbeitstätige“ wesentlicher vorgegebener Bestandteil des Alltag ist. Inkorporierungen der räumlichen Strukturen, des Spacings [siehe Kapitel II.2.1) und II.2.2.1)] sind zu erkennen, indem die Akzeptanz der eigenen Situation im Laufe der Jahre erkennbar ist und die Sehnsucht bzw. das Streben nach Normalität innerhalb der gezogenen Grenzen der Asyl-Räume steigen. Das Alter der ProbandInnen spielt keine wesentliche Rolle für die Interpretation der Einflussfaktoren. Auch zum Einflussfaktor Geschlecht lassen sich keine eindeutigen Rückschlüsse ziehen. Die einzige Probandin unterscheidet sich in wesentlichen anderen Persönlichkeitsmerkmalen, die Einfluss auf Verhalten, Wahrnehmung ausgeübt haben können wie das Wohnen in einer anderen Art von Gemeinschaftsunterkunft, im Aufenthaltsstatus und in ihren biographischen Hintergründen. Wahrscheinlich ist, dass das Geschlecht Einfluss hat auf das Sicherheitsempfinden, das nachts durch die Anwesenheit von PolizistInnen gesteigert wird. Der Familienstand wirkt sich derart aus, dass der einzige Proband mit zwei nicht verheirateten, minderjährigen Kindern und einer Ehefrau (nicht berufstätig) im Iran, die einzige Person ist, der Kleidung und Sachen in den Iran schickt, statt aus dem Iran Geld oder Dinge zu erhalten. Er und die Probandin, deren Kinder bereits verheiratet wurden während ihrer Abwesenheit und der Kontakt lediglich zur Tochter besteht, wünschen sich einen Familiennachzug, 212 Damit ist der Übergang von einer „Klasse an sich“ zu einer „Klasse für sich“ verbunden. 164 sobald sie als Asylberechtigte anerkannt sind.213 Naheliegend sind die Schlussfolgerungen, die sich aus dem Aufenthaltsstatus aus der Perspektive der AsylbewerberInnen selbst ergeben: Bei größerer Unabhängigkeit von den Ämtern durch die Erteilung einer Arbeitserlaubnis und einer damit verbundenen potentiellen Finanzierung von Deutschunterricht steigen Selbstwertgefühl und Beheimatungstendenzen. Räumliche Strukturen sollen geschaffen werden in einer eigenen Wohnung, die selbst ausgesucht und eingerichtet wird, womit einerseits eine Abgeschlossenheit der Wohnung einhergeht und die Wahrung der Privatsphäre wahrscheinlicher macht. Andererseits wird durch die sozialen Güter und Kapitalien in der Wohnung wie Bollnow erwähnt die Identifizierung und Geschichte der bewohnenden Person ermöglicht [siehe Kapitel II.3.2)]. Zudem kann der „Besitz“ der sozialen Güter und die „eigene“ Wohnung Wohngefühle der Sicherheit und Geborgenheit ermöglichen, zumal der Besitz Maßstab zur Beurteilung des Wohnens werden kann [siehe Kapitel II.3.2)]. Der Möglichkeitshorizont der Tätigkeiten und Lebensperspektiven öffnet sich ein wenig, das Leben bietet einige positive Optionen mehr. Aus der Fremdperspektive erscheint die Aufenthaltszeit ebenfalls als zentrale Einflussgröße. Neben der bereits genannten Konvertierung zum Christentum und der damit symbolisch deutbaren Akkulturation der AsylbewerberInnen fiel mir die Unterstützung der AsylbewerberInnen untereinander auf. Die ProbandInnen, die in Dresden die Ämtern und auszufüllenden Formulare kennen, erklären und zeigen den neu ankommenden AsylbewerberInnen die relevanten Orte und Institutionen, übersetzen für sie und weisen sie in den Alltag einer Gemeinschaftsunterkunft ein. Eine weitere Angewiesenheit der kurz in Deutschland Seienden ist die auf lokale Hilfsorganisationen, die Fragen beantworten, Anträge helfen auszufüllen o. ä. . Die Intensität der Abhängigkeit nimmt im Laufe der Zeit ab. In der Tendenz zeigen sich bezüglich des Alters der ProbandInnen erwartbare Rollenverteilungen: der älteste Proband, der Familienvater (zusätzlicher Einflussfaktor des Familienstandes), nimmt die Rolle des Ratgebers und Unterstützers für andere AsylbewerberInnen ein, ist der „gute Alte“. Der Jüngste findet sich überspitzt formuliert in der Rolle des „verwöhnten Kindes“, das schwärmt von Autos, Luxus und Geld in der Heimat, sich hier in der fremden Ferne verlassen und ungerecht behandelt entdeckt. 213 Da die Probandin seit einigen Wochen ihre Anerkennung zugesprochen bekam, beinhalteten ihre Pläne für die nähere Zukunft, so viel Geld zu erarbeiten, bis sie ein Flugticket für ihre Tochter kaufen kann. Es bleibt zu hoffen, dass diese Familienzusammenführung nicht so dramatisch verläuft wie die in Betty Mahmoodys Buch „Nicht ohne meine Tochter“. 165 4.2 Die Eigenperspektive: Interpretation der Asyl-Räume Die Eigenperspektive der von den AsylbewerberInnen synthetisierten Räume wird durch Beschränkungen und Begrenzungen der gesetzlichen Regelungen, in Form verschiedener Sichtbarkeiten und dem gesellschaftlichen, sozialen, psychischen und physischen „Weder Hiernoch Dortsein“ bestimmt. Die Interpretationen beginne ich mit der Deutung von nächtlichen Spaziergängen und den verbreiteten Schlafstörungen, die das Erleben, Wahrnehmen und Konstituieren von nächtlichen Räumen bedingt: Nächtliche Räume und Dunkelheit implizieren laut Simmel [siehe Kapitel II.1.1)] Beklemmung und Befreiung zugleich. Die wahrnehmbaren Grenzen werden aufgelöst, die Welt verschwindet vor den Augen und die Person verschwindet in ihr. Die Hingezogenheit zu nächtlichen Räumen, die inhärente Auflösung der Grenzen, das Verschwinden der Körper und der Personen als Persönlichkeiten (damit sind sie auch am Tag nicht präsent) ist bei AsylbewerberInnen häufig zu finden.214 Nachts werde die visuelle Wahrnehmung, so Lenelis Kruse, gemindert. Auditive und taktile Wahrnehmungen träten in den Vordergrund. Distanzen können schwer eingeschätzt werden, die Erfahrung der Nähe, die Umhüllung des Dunkels, das eine Person umgibt, erzeugt ein Gefühl der Auflösung des Selbst, der Entdifferenzierungen.215 D. h. AsylbewerberInnen suchen die Auflösung der Grenzen, die Erfahrung der Nähe und der Akzeptanz, die im alles erkennenden, erfassenden, begrenzenden Tageslicht nicht möglich sind. Sichtbarkeit in beiderlei Hinsicht verliert nachts gleichgültig der gesellschaftlichen, der sozialen Rangstellung an Bedeutung, die Menschen werden „gleicher“, sie nähern sich an, sie können verschwinden, sind nicht mehr erkennbar. Im Gegensatz zum Nachtraum beschreibt und interpretiert Kruse den Tagraum als den, der allen Dingen und Personen Form, Farbe und Beschaffenheit gibt. Nicht nur die Dinge selbst, auch die „Frei-Räume“ sind wahrnehmbar, der helle Raum gibt Übersichtlichkeit. Er ist Allgemeinbesitz und ist von vornherein ein „sozialer Raum“.216 Alles ist tagsüber sichtbar [siehe Kapitel II.2.2.1) Exkurs]: Öffentliche Räume werden nachts beleuchtet für die Sicherheit und Kontrolle, halböffentliche Räume werden aufgrund einer Stimmungserzeugung abgedunkelt wie im Kino, Theater oder insbesondere in Diskotheken, privaten Räumen dient Dunkelheit zur Erstellung einer intimen Atmosphäre. 214 Auf abstrakter Ebene verschwinden Themen, Gruppen, Personen aus der öffentlichen Wahrnehmung (siehe Sichtbarkeitsarten). 215 Vgl.: Kruse, Lenelis: Räumliche Umwelt, New York/ Berlin 1974, S. 129ff. 216 Vgl.: Kruse, Lenelis: Räumliche Umwelt, New York/ Berlin 1974, S. 117ff. 166 Der Tag-Raum wird von AsylbewerberInnen eben mit den „normalen“ Tätigkeiten wie Arbeiten nicht belegt werden können. Der soziale Raum, der gesellschaftlich anerkannte Raum, ist für sie aufgrund von Voraussetzungen (u.a. Kapitalien), die ihnen nicht zugestanden werden, verschlossen. Tagsüber müssen Personen Relationen217 zu ihrer Mit- und Umwelt, zu dem Anderen herstellen, diesem Druck ausgesetzt, wird AsylbewerberInnen bewusst, dass sie im Gefangenen, Tieren, Toten oder Dreck gleichkommen, dass sie aus diesen anerkannten Räumen ausgeschlossen sind und ziehen sich vielleicht auch aus diesem Grund in nächtliche, egalitäre Räume zurück [siehe Kapitel III.3.5) und III.3.6)]. Diese ausdrucksstarken Metaphern, die AsylbewerberInnen in Verbindung mit ihrem eigenen Hiersein bringen, spiegeln die Wahrnehmungskategorien wider, die sie für ihr Leben, ihre Perspektive als charakterisierend einordnen. Diesen Metaphern messe ich daher große Bedeutung zu. Ihre Relationen zur Um- und Mitwelt sind bestimmt durch ihre ohnmächtige Position als Esel im Zoo oder Gefangener im Gefängnis, die fehlende, zerstörte Lebenslust ist in der Höherwertung des Todes als des hiesigen Lebens in seiner Bedeutung von unermesslicher Verzweiflung geprägt. Die Ortsbeschreibungen der Gemeinschaftsunterkünfte, der Zustand des Gebäudes, die Platzierungen [siehe Kapitel II.2.4)] in Zimmergröße, Zimmeraufteilung und deren Charakterisierung zeigen die Bewertungen der Orte. Diese sind bestimmt durch Dreck des Gebäudes, durch soziale Konflikte aufgrund der Zimmerbelegung und -größe. Auch die Monotonie der Architektur und der Alltagsgestaltung führen zu Resignation, und Langeweile. Die erzwungene Ziel- und Planlosigkeit der AsylbewerberInnen, das Warten als einzige Möglichkeit und die Unselbständigkeit machen Depressionen, Frustrationen und Suchtverhalten wahrscheinlicher. Die Organisationsform und die örtlichen Gegebenheiten der Gemeinschaftsunterkünfte stehen im Zusammenhang mit den Verhalten(smöglichkeiten) [siehe Kapitel II.2.6)Exkurs] und den Veränderungen des physischen, psychischen und sozialen Zustands der Person. Nach einigen Jahren sind Ortskenntnisse vorhanden, Abläufe bewusst, die Sprachkenntnis218 stärker ausgeprägt, aber auch Resignation, Energielosigkeit und Depression stärker ausgeprägt. Die hohe Belegungsdichte, die große physische Nähe und eine Beeinflussung der körperlichen Aktivitäten durch Macht [siehe Kapitel II.2.5)] bedeutet, wirkt sich auf das SozialVerhalten in der Weise, dass eine größere Konfliktbereitschaft unter den HeimbewohnerInnen, manchmal auch gegenüber den HeimmitarbeiterInnen zu bemerken ist. Außerdem wirken die Aspekte einer größeren Kontrollintensität und -möglichkeit bei höherer Belegungs217 Relationen zwischen Personen, zwischen Personen und sozialen Gütern, zwischen sozialen Gütern, zwischen Orte etc. als wesentlicher Bestandteil bei der Konstitution von Räumen ist genauer in Kapitel II.2.7) beschrieben. 218 Mary Douglas verweist auf die Bedeutung der Sprache als Kontrollinstrument durch Bildungseinrichtungen. Fehlende Deutschkenntnisse sind stärker in ihrer Wirkungskraft (siehe Kapitel II.3.4) Exkurs). 167 dichte in den Gemeinschaftsunterkünften. Auch hier wirken rechtliche auf räumliche und auf soziale Strukturen [siehe Kapitel II.3.3) und II.3.4)]. Die Relationen zwischen Körper und Aufenthaltsort lassen sich z. B. anhand von raumaneignenden Tätigkeiten zeigen. Diese sind putzen, aufräumen, waschen und die Zimmer mit persönlichen Gegenständen bereichern. Die raumaneignenden Tätigkeiten werden von den AsylbewerberInnen entweder mit sehr großer oder sehr niedriger Intensität ausgeführt. Hohe Intensität, die bei den länger in Heimen lebenden AsylbewerberInnen zu finden ist und vermutlich stärker bei denen mit umfangreicheren Besitztum an Gegenständen [siehe Kapitel II.2.5)], deutet auf das Bestreben der Erhaltung, der (Re-)Produktion von Ordnung und Sicherheit, von Normalität hin in Abgrenzung zu gesellschaftlich stigmatisierten „verlotterten“ Haushalten. Die Beschwerden über fehlende Hygiene und Schmutz in den Gebäuden, insbesondere in den Gemeinschaftszimmern, in Zusammenhang mit den Reinigungstätigkeiten in den eigenen Zimmern bestätigen die Annahme der Privatheit der Wohnräume [siehe Kapitel II.3.2)].219 Das Zimmer, in dem Personen wohnen, spiegelt das Verhältnis zu ihnen selbst wider: Auch bei geringer Identifikation und Privatheit der Zimmer ist gerade das Fehlen dieser in per Definition privaten und intimen Räumen Zeichen ihrer selbst. Bei geringer Pflege, bei „Verwahrlosung“ des Zimmers kann auf geringe Identifikation, fehlende Verwurzelung und Beheimatung und/oder auf Destrukturierung des Lebens der Person geschlossen werden. Ist diese wechselseitige Einwirkung über einen längeren Zeitraum erkennbar, kann von einer Wechselwirkung von Habitat und schließlich ausgebildeten Habitus geschrieben werden [siehe Kapitel II.3.2)]. Beheimatung, die durch die Einbettung in die soziale und kulturelle Umwelt herstellbar ist [siehe Kapitel II.2.6)], ist in dem Fall noch nicht mal in einer Einbettung in die nächste Umwelt zu entdecken. Da diese durch den rechtlichen Rahmen verhindert wird, kann bei einigen AsylbewerberInnen von einer Destrukturierung durch gesetzliche Regelungen ausgegangen werden. Die Relationscharaktere der AsylbewerberInnen zu anderen Personen beschränken sich auf einseitige Abhängigkeitsrelationen im Sinne einer Position des/der Ohnmächtigen. Freundschaftliche Beziehungen auf gleicher Ebene mit ähnlichen Rechten und Pflichten sind selten. Die Abhängigkeitsrelationen werden in erster Linie durch gesetzlichen Regelungen bestimmt: 219 Ergänzend und bestätigend die Einteilungen zum subjektiven Bezug zum Umraum in bereits genannter Wiener Studie. Sie gingen in vier Abstufungen vor: Der persönliche Bereich mit einem hohen Grad an Identifikation und starkem Eigenheits-Gefühl (emotionale Verbundenheit). Der Wirkungsbereich ist gekennzeichnet durch mittleren Grad der Identifikation, der vorwiegend aus Gründen der Gestaltbarkeit und der Eigenaktivität stammt. Der heimatliche Bereich hat denselben Grad der Identifikation, aber aufgrund emotionaler Verbundenheit. Im öffentlichen Bereich fehlt oder ist eine geringe Identifikation vorhanden. In: Institut für empirische Sozialforschung: Intimsphäre und Öffentlichkeitsraum im Wohnbereich, Wien 1972. 168 Die Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften bedingt die Abhängigkeit der AsylbewerberInnen von Entscheidungen und Verhaltensweisen der HeimmitarbeiterInnen in Zimmerbelegung, Sauberkeit und Kontrollgängen. Auf die ZimmerteilerInnen sind AsylbewerberInnen angewiesen bei Verhaltensweisen, die Lautstärke, Gerüche und Bewegungen beeinträchtigen. Allein das Wissen um die Anwesenheit einer weiteren Person kann das eigene Verhalten beeinflussen. Diese Relation beruht auf gegenseitiger Abhängigkeit, da sich „gestört“ empfundene Personen die jeweilige Person ebenfalls in anderer Weise oder zu einem anderen Zeitpunkt „stören“ kann. Dies zeigt die Beeinträchtigung der Wohnbedürfnisse nach Ruhe, Abgeschlossenheit oder Intimität, der beispielsweise bezüglich eines Auslebens von Sexualität entgegengewirkt wird [siehe Kapitel II.3.2)]. Um Taschengeld, Urlaubs- oder Krankenscheine zu erhalten, müssen die AsylbewerberInnen auf Entscheidungen der SozialamtsmitarbeiterInnen warten. Auf ArbeitsamtsmitarbeiterInnen sind sie angewiesen, wenn es um mögliche Arbeitsstellen geht. Die Möglichkeit, die Art der Relationen zu verschieben, aus der einseitigen Machtrelation eine gleichwertige herzustellen, die Machtverteilung zu verlagern, ist in Form von Protest oder Gewaltandrohung gegenüber AmtsmitarbeiterInnen und HeimmitarbeiterInnen und von Kriminalität als einzige „wirkungsvolle“, aber illegale Machtverschiebung zum Ausdruck gebracht. Die Versuche der „legalen“ Verschiebung der Macht seitens der AsylbewerberInnen sind gescheitert und werden es wahrscheinlich weiterhin, da „Rechtlose“ wie AsylbewerberInnen sehr geringe Möglichkeiten der Machtaneignung außerhalb von kriminellen Handlungen besitzen. Die Verhaltensmöglichkeiten der AsylbewerberInnen in den Gemeinschaftsunterkünften ist aufgrund der räumlichen Gegebenheiten, der örtlichen Bedingungen, die durch gesetzliche Strukturen bestimmt sind, eingegrenzt. Soziales Verhalten [siehe Kapitel II.2.1)] kann nicht raumgreifend sein, alle menschlichen Ausdrücke sind transparent [siehe Kapitel II.2.2.1)Exkurs]. Warten ist die übergeordnete einzige Möglichkeit an Verhaltensweisen geht mit „Fluchtverhalten“ einher, das sich in Drogenkonsum und bei einigen AsylbewerberInnen in dem Angezogensein durch Nacht-Räume zeigt. Dies sind Indizien für ein „Verschwinden“, eine Abwesenheit aus dem Gegenwärtigen, eine Flucht in andere Gefühlszustände, andere Vorstellungswelten, Gedanken und Erinnerungen [siehe Kapitel II.2.2)], um mit dem Hiersein umzugehen. Die Folgen eines Heimlebens wie Schlafstörungen oder Depressionen als Beeinflussung rechtlicher auf räumliche, auf das Körperliche, [siehe Kapitel II.3.)] sind abhängig von der 169 Aufenthaltszeit. Diese hat Einfluss auf die (Eigen-)Wahrnehmung, den Umgang mit der Lebenssituation und vor allem Einfluss auf die Zukunftsperspektiven und Hoffnungen der AsylbewerberInnen. Andererseits nehmen Verhaltensweisen zu, die auf Normalität und Akkulturation ausgerichtet sind. Die räumlichen Strukturen sind nach einigen Monaten bis Jahren inkorporiert und werden aufgrund der langen Wirkungszeit als Normalität der Asyl-Räume anerkannt. Damit werden räumliche Strukturen reproduziert [siehe Kapitel II.3.], wird in der Mischung von länger und kürzer in Gemeinschaftsunterkünften lebenden AsylbewerberInnen die Hoffnung und der Umgestaltungswille der „Neuankömmlinge“ gebremst. Des weiteren wirkt das faktische Arbeitsverbot, der Arbeits-Raum hat gesellschaftlich hohe Relevanz [siehe Kapitel II.2.6)Exkurs], auf die Räume der AsylbewerberInnen ein und kann als entscheidende, negativ bewertete Einschränkung in das eigene Leben formuliert werden. Das faktische Arbeitsverbot und das geringe Taschengeld als geringes ökonomisches Kapital können auf das Entstehen von kriminellen Räumen wirken: Dealen, Hehlen oder Diebstahl von Waren, die zur Verbesserung der finanziellen Situation dienen, wirken entgegen den intendierten Absichten von Politik und Gesetzgebung, die den Erhalt von Ordnung, Recht und Sicherheit garantieren sollen. Politische Entscheidungen laufen also im Bereich der AsylPolitik kontraproduktiv und entgegen den Intentionen der PolitikerInnen. Verstärkt wird die (Re-)Produktion eines kriminellen Netzwerkes durch die Wohnsituation und Belegungsdichte der Gemeinschaftsunterkünfte, durch einen umfangreichen Zeitüberschuss, der durch die politischen Regelungen entsteht. Die öffentlichen Interessen werden durch die Asyl-Politik nicht gewahrt, sondern geschwächt [siehe Kapitel I.2.4) und 5)]. Das Fehlen und/oder die fehlende Verfügbarkeit über Kapitalien wie Geld, Wissen, Sprachkenntnisse oder anerkannte berufliche Abschlüsse bestimmen in hohem Maße, das ist in dieser Arbeit deutlich geworden, die geringe Eintritts- und die Partizipationswahrscheinlichkeit der AsylbewerberInnen an gesellschaftlich anerkannten Räumen. Des weiteren sind die Verbindungen der Kapitalien untereinander erwähnenswert. Mit ihnen ist ein Teil der Bourdieuschen Verteilungsprinzipien offengelegt, welche Abläufe Verteilungen der Kapitalien bestimmen und wie die Wertigkeiten dieser in unserer Gesellschaft gelagert sind.220 220 Die Gesellschaftsstruktur mit ihren Verteilungsprinzipien bestimmt die Wertigkeit der Kapitalien bzw. die „Stellung im sozialen Raum“ [siehe Kapitel II.1.2)]. Der Besitz der Kapitalien ist Indikator, welcher Verteilungsstruktur, welche Unterscheidungsprinzipien zugrunde liegen. In diese Kategorie zähle ich neben den vorhandenen, auch die nicht-vorhandenen Kapitalien, die in Interviews erwähnt oder durch Beobachtungen als wesentlich erachtet werden. Kapitalien mit „negativem Vorzeichen“ sind u.U. wichtiger als die Kapitalien mit „positiven Vorzeichen“. Es kann sein, dass ein bestimmtes Kapital Voraussetzung für den Zugang zu anderen Kapitalien ist. 170 Der Einteilung in öffentlich, halböffentlich und privat folgend (siehe Kapitel II.2.) sind halböffentliche Räume wie Theater-Räume, Arbeits-Räume, Diskussions-Räume oder FestRäume gesellschaftlich und sozial sehr bedeutsam. Aus ihnen werden AsylbewerberInnen ausgeschlossen. Nach diskriminierenden Erfahrungen bei Konstituierungen von beispielsweise Diskussions-Räumen [siehe Beispiel in Kapitel II.2.2.1)], wird die Wahrscheinlichkeit einer erneuten Partizipation, so meine Vermutung, sinken. Gesellschaftlich hoch gewertete private Räume wie die von berühmten oder anerkannten Personen werden von AsylbewerberInnen ebenfalls selten synthetisiert werden können aufgrund des fehlenden sozialen Kapitals. Öffentliche Räume wie Straße oder Gehweg sind allen Personen zugänglich. Diskriminierungen oder Distinktionsverhalten durch Einheimische erfahren AsylbewerberInnen hier aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes wie Hautfarbe, Kleidung oder Frisur [siehe Kapitel II.2.5)]. Um die Einflüsse der Kapitalien untereinander, ihrer Wertigkeiten in unserer Gesellschaft und die Voraussetzungskapitalien zum Eintritt zu bestimmten Räumen zu verdeutlichen, werde ich einige Beispiele nennen: - Hohes ökonomisches Kapital ermöglicht hohes kulturelles/symbolisches Kapital und damit soziales Kapital (finanzielle Mittel ermöglichen Deutschunterricht und damit größere Kontaktmöglichkeiten und soziale Anerkennung); - Niedriges ökonomisches Kapital bedingt niedriges kulturelles/symbolisches Kapital (geringe finanzielle Mittel wie das Taschengeld verhindern Deutschunterricht, Partizipation an kulturellen Ereignissen); - Hohes kulturelles/symbolisches Kapital kann höheres ökonomisches Kapital ermöglichen (gute Deutschkenntnisse, anerkannte Abschlüsse erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer Erwerbsarbeit – nach der Anerkennung). Auffällig ist, dass in einer Rangfolge der Kapitalsorten das ökonomische Kapital die ranghöchste Position einnimmt. Durch ökonomisches Kapital wird die Aneignung von anderen Kapitalsorten wahrscheinlich. Die Aneignung von ökonomischem Kapital ist allerdings weniger abhängig von der Verfügbarkeit des kulturellen/symbolischen und des sozialen Kapitals. In Bezug auf Bourdieus Inkorporierungskonzept [siehe Kapitel II.2.2.1)] kann festgehalten werden, dass AsylbewerberInnen mit hoher Wahrscheinlichkeit bei mehrjährigem Aufenthalt in Gemeinschaftsunterkünften die „objektiven Kräfteverhältnisse“ inkorporieren. Dies ist abWie die einzelnen AsylbewerberInnen ihre Kapitalien verorten, welchen Rang sie ihnen selbst geben, ist mit dem Begriff der Relationen eingeführt. Ebenso welcher Art die Relationen der „Einheimischen“ zu den Kapitalien der AsylbewerberInnen ist. Wie die Wirkungen der rechtlichen Strukturen auf die Kapitalien wirkten, wie sie sich verräumlicht haben. Außerdem ist die An- bzw. Aberkennung einiger Kapitalien aufgrund nicht vorhandener „Voraussetzungs-Kapitalien“ ein interessantes Ergebnis. 171 lesbar, indem sie ohne Hoffnung ihre Situation und ihre Ohnmacht annehmen, indem sie nach Normalität und Ruhe streben, oder resignieren. Im Falle einer kurzen Aufenthaltszeit oder eines Statuswechsels´ haben die Inkorporierungen nicht stattgefunden. Bei Anerkennung als Asylberechtigte/r ist die Aussicht auf Änderung der Lebenslage in vielen Bereichen gegeben: Eine eigene Wohnung, Verfügbarkeit über ökonomisches Kapital, Arbeitserlaubnis und Finanzierbarkeit von Deutschstunden. Der Glaube und die Bereitschaft, die Bedingungen, denen AsylbewerberInnen ausgesetzt sind, nicht hinzunehmen, sondern gegen sie anzugehen, ist bei AsylbewerberInnen mit erst kurzem Aufenthalt noch deutlich spürbar. Die Inkorporierungen der Machtverhältnisse sind noch nicht vollzogen, die Akzeptanz der Situation nicht vorhanden. Die Bewertung der sozialen Güter [siehe Kapitel II.2.3)] wie die an sie verteilten Lebensmittel und Kleidung durch die AsylbewerberInnen ist negativ. Qualität und Preis der Lebensmittel bzw. Materialbeschaffenheit und Ästhetik der Kleidungsstücke werden als mangelhaft, unzureichend in Auswahl und Qualität beschrieben. Diese sozialen Güter sind unmittelbar mit dem Körper der AsylbewerberInnen verbunden, die politische Macht wirkt auf den Körper. Der Körper wird nicht nur in der Eigenwahrnehmung „misshandelt“ durch ungewollte Lebensmittel oder Kleidung [siehe Kapitel II.2.5)], sondern kann in der Fremdwahrnehmung zu Diskriminierungen führen [siehe Kapitel II.2.3)]. Auf diese direkte Form der Einwirkung rechtlicher Strukturen auf räumliche habe ich bereits aus der Perspektive einiger WissenschaftlerInnen hingewiesen [siehe Kapitel II.3.4)Exkurs]. Durch das Kontrollsystem und dessen Funktion der Normalisierung, die durch Disziplinierung, Überwachung und durch eine bestimmte Verteilung im abstrakten und konkreten Raum durchgesetzt werden [siehe Kapitel II.3.4)], wird auch das Körperliche kontrolliert und diszipliniert. Die Bedürfnisse der AsylbewerberInnen nach bestimmten Lebensmitteln oder neuwertiger Kleidung können nicht befriedigt werden, die finanziellen Mittel und Entscheidungsmöglichkeiten sind für sie nicht vorhanden. Disziplinierung, Kontrolle und Normalisierung werden durch Kontrolle und Beschneidung der (körperlichen) Bedürfnisse vorgenommen. Die Erfahrungen und Vergleichshorizonte der AsylbewerberInnen, die vor den Verfolgungen und der Flucht liegen, als normales Leben im Iran, sind geprägt von dem Verfügen und der Anerkennung von Kapitalien wie Eigentum, Bildungsabschlüsse oder dichtes soziales Netzwerk. Diese Vergleichsmomente wirken in die Raumkonstitutionen der Gegenwart als Orientierung zur Beurteilung und dem Umgang mit der gegenwärtigen Situation [siehe Kapitel II.2.2.3)]. 172 Die Vergangenheit kurz vor dem physischen Ankommen in Deutschland ist ein Transit. Sie ist die Erinnerung an die Verfolgung, an die Flucht, an das Weggehen aus der Heimat und aus dem alten Leben. Die Flucht selbst ist Bewegung, sie ist ein in die Zukunft gerichtetes Verhalten, das kein Dauerzustand sein soll. Die Flucht impliziert ein (zumindest physisches) „Ankommen“ in der Zukunft und nimmt somit die Gegenwart ein, in der ein Verwurzeln nicht möglich ist [siehe Kapitel II.2.2)]. Die Gegenwart, der Asyl-Raum, ist ein Transit. Es ist durch gleichzeitiges Warten und Bewegung charakterisiert. Der Asyl-Raum ist einerseits ein Warten auf eine Entscheidung über den Asylantrag und andererseits impliziert er Bewegung durch Prozesse des Entscheidens oder konkret in der Verlegung von einem Heim in ein anderes. Außerdem ist der Asyl-Raum in der öffentlichen Wahrnehmung kaum oder nur in bestimmten Teilen sichtbar, nämlich in der Wahrnehmung der AsylbewerberInnen als „Opfer“ rassistischer Übergriffe oder als „TäterInnen“ von kriminellen Handlungen [siehe Kapitel II.2.2.1)]. Wie diese Tabuisierungs- bzw. Zuschreibungsprozesse verlaufen, wäre ein interessantes Forschungsthema. Sichtbar sind AsylbewerberInnen für verschiedene Instanzen politischer Machtausübung wie AmtsmitarbeiterInnen, PolitikerInnen der regionalen, landesweiten und nationalen Asyl-Politik oder den Personen, die in Gemeinschaftsunterkünften arbeiten. Erinnerungen an die Vergangenheit [siehe Kapitel II.2.2.3)] werden häufig als Leben beschrieben, das Normalität bis zum Zeitpunkt ihrer Verfolgung und ihrer Flucht, die wahrscheinlich Verdrängungsprozessen unterliegen, beinhaltet hat. Der Vergleichshorizont, der die Gegenwart erfüllt, ist ein vergangenes normales Leben mit Arbeit, Familie und eigener Wohnung, das nicht als AsylbewerberIn geführt werden kann. Die Zukunft [siehe Kapitel II.2.2.2)] liegt im Verborgenen, Erwartungslosigkeit gekoppelt mit Orientierungslosigkeit bestimmen Wahrnehmungen und Gedanken der AsylbewerberInnen. Die Zukunft kann nicht geplant werden, was sich als zermürbend und als Perspektivlosigkeit des eigenen Lebens auswirkt, die ebenfalls zum einem „Weder Hier- noch Dortsein“ führt. Die Inhalte der Wünsche, die AsylbewerberInnen in Bezug auf ihr Leben äußern, ist offensichtlich an der Herstellung einer Normalität orientiert, auf ein „Hiersein“ im konkreten wie abstrakten Sinne. 4.3 Die Fremdperspektive: Interpretation der Asyl-Räume Die Fremdperspektive auf das Leben in Gemeinschaftsunterkünften, der Asyl-Räume allgemein, beschränkt sich auf Beobachtungen. Es wurde dasselbe Verfahren angewandt wie bei den Interviews: Es lagen dieselben Dimensionen und Kategorien vor mit unterschiedlichen 173 Ausprägungen und Gewichtungen. Die Charakterisierung, Deutung und Interpretation von Orten gewinnt bei der Fremdperspektive erheblich an Bedeutung. Auf die Lage in der Stadt habe ich mich in den Beobachtungen kaum konzentriert, eher auf die nähere Umgebung der Gemeinschaftsunterkünfte, die Architektur und das Heimgelände. Sichtbarkeit [siehe Kapitel II.2.2.1)] und Kontrolle werden durch die Platzierungen [siehe Kapitel II.2.4)] mit dem Betreten des Heimgeländes wahrnehmbar. Den Grenzübertretenden wird die Transparenz der eigenen Person, die eigene Ohnmacht und ein Ausgeliefertsein mitgeteilt. Diese wird u. a. durch den erzwungenen Bezug zur eigenen Person, zum eigenen Körper [siehe Kapitel II.2.5)], der durch die Aufmerksamkeit vieler Blicke ausgelöst wird, ausgelöst. Die örtlichen Charakterisierungen der Gemeinschaftsunterkünfte sind in ihrer Architektur als beengend und monoton zu beschreiben. Beengung der Flure oder der Zimmer kann als Voraussetzung zur Umsetzung von Disziplin interpretiert werden [siehe Kapitel II.3.4)]. Die hohe Belegungsdichte von Personen in Gemeinschaftsunterkünften sorgt für ein dichtes soziales Netzwerk der sprachgleichen AsylbewerberInnen in Dresden. Die Relationen der AsylbewerberInnen untereinander sind einerseits von Kollegialität und Hilfsbereitschaft geprägt und andererseits von einer hohen Konfliktbereitschaft (zwischen unterschiedlichen Kulturen) geprägt Des weiteren verhindert die Belegungsdichte das Ausüben raumgreifender oder Konzentrstion erfordender Verhaltensweisen zu beliebigen Tages- oder Nachtzeiten. Diese Eigenschaft der Gemeinschaftsunterkünfte wirkt auf die Verhaltensweisen der AsylbewerberInnen zurück, auf die Relationen der AsylbewerberInnen untereinander und zu den HeimmitarbeiterInnen und auf ihren Umgang mit dem eigenen Körper und mit sozialen Gütern. Die Zimmereinrichtungen sind in ihrer Grundausstattung kalt und „billig“ aufgrund der eckigen Formen, der billigen Pressspanplatten oder den Eisengestellbetten, die an heimähnliche Institutionen wie Gefängnisse oder Psychiatrien erinnern. Zudem wird der Besitz sozialer Güter und deren Positionierungen durch die „Heimordnung“ geregelt. Ein Tausch oder Verstellen der Möbelstücke muss z. B. von der Heimleitung erlaubt werden [siehe Kapitel I.2.2)]. Die Überwachung der Kamera und die Sichtbarkeit wird fortgesetzt in der Architektur und den Positionierungen sozialer Güter. Die einzige Möglichkeit einer „Intimisierung“ liegt in der Gestaltung der Zimmer, die durch persönliche Gegenstände mit der eigenen Person aufgeladen werden können, um den Wohnbedürfnissen [siehe Kapitel II.3.2)] wenigstens teilweise nachgehen zu können. Asyl-Räume sind außerdem durch geringe Pflege des Heims gekennzeichnet. Dieses Fehlen lässt auf fehlende Identifikation mit Gemeinschaftszimmern schließen. Die Gemeinschaft der 174 HeimbewohnerInnen existiert nicht als Gemeinschaft im Sinne einer allgemeinen gegenseitigen Fürsorge, eines Mitdenkens oder einer Rücksichtnahme auf andere Personen. Sie ist auf bekannte oder befreundete HeimmitbewohnerInnen beschränkt und gilt nicht für eine „HeimGemeinschaft“. Viele der Ortscharakteristika der Gemeinschaftsunterkünfte weisen auf Stigmatisierungen der sich an ihr befindenden sozialen Gruppe hin. Schmutz und die Ästhetik der Gebäude, die Möbelstücke und die Zimmerbelegung, die Organisationsform der Heime und die Umschlossenheit der Gebäude, des Geländes deuten auf „Randgruppen“, auf Stigmatisierungen hin [siehe Kapitel II.2.6)] , die seitens der Einheimischen erkannt und als „nieder“ bewertet werden. Die Bedürfnisse der AsylbewerberInnen müssen durch die Einwirkung der Macht des Staates beschränkt werden [siehe Kapitel II.3.4)Exkurs]. Den AsylbewerberInnen bleibt der Zugang zu beispielsweise Freizeit-Räumen aufgrund fehlender Kapitalien verwehrt und sie müssen auf bestimmte Formen der Freizeitaktivitäten verzichten. Dem Streben nach Körperidealen sind Grenzen gesetzt, wenn z. B. körperdisziplinierendes Bodybuilding nicht bezahlt werden kann. Viele AsylbewerberInnen leiden unter Nervosität, haben häufig Augenränder oder sind mager. Körperbeschreibungen sind immer Beschreibungen des psychischen Zustands einer Person. Das metaphorisch gemeinte Verschwinden des Körpers, das Auflösen des „gesunden“ Körpers deutet auf ein Verschwinden der Person hin, auf eben die Unsichtbarkeit im Sinne einer Situationspräsenz in sozialen Konstellationen. Die Relationen der Heim- und AmtsmitarbeiterInnen zu AsylbewerberInnen habe ich als Machtrelation erlebt. Informationen und Wissen über die AsylbewerberInnen legen sie als Personen offen und können so Druck auf die in Abhängigkeit sich Befindenden. Die Machtrelationen wirken durch die HeimmitarbeiterInnen und die Verordnungen, die das Wohnen betreffen, auf räumliche und soziale Strukturen [siehe Kapitel II.2.7)]. Die Relationen sind von Kontroll- und Überwachungsmöglichkeiten und einer Art der Sichtbarkeit [siehe Kapitel II.2.2.1)] bestimmt, alle lebensorganisatorischen Bereiche sind offengelegt. Die Relationen zu Personen von Hilfsinstitutionen nahm ich in meinen Wahrnehmungskategorien als von Dankbarkeit der AsylbewerberInnen bestimmte wahr. Auch ich wurde anfangs von einigen als Sozialarbeiterin eingeordnet, was mir die Dankbarkeit, das Vertrauen und die Abhängigkeit der AsylbewerberInnen von helfenden Personen verdeutlichte. Diese Verschiebung meiner Position als Forscherin im Untersuchungsfeld erforderte eine ständige Positionsklärung dieser. Die Suche und Bitte um Hilfe, die folgende Dankbarkeit gegenüber den HelferInnen und eine Hoffnung auf eine verbindliche Beziehung waren charakterisierend für das Verhalten der A175 sylbewerberInnen. Ihr Verhalten zeigt ein Hilf- und Haltlosigkeit, auch eine Form der entrissenen Würde, die Asyl-Räume für AsylbewerberInnen charakterisiert. Die Position der HelferInnen ist meistens auf die Funktion des Helfens begrenzt und wird aus Berufsgründen nicht auf eine freundschaftliche Ebene erweitert. Beide Formen der Abhängigkeitsrelationen zeigen die gesetzlich bedingte und/oder unterstützte Unselbständigkeit der AsylbewerberInnen von anderen Personen und Institutionen in Deutschland. Da die Zusammensetzung der zur Verfügung stehenden und Anwendbarkeit findenden bourdieuschen Kapitalien auf den Zugang zu bestimmten Räumen und Selbständigkeitsgrad der Personen einwirkt, ist durch deren gesetzliche Beschränkung wie Lebensmittelvergabe, faktisches Arbeitsverbot, hohe Dichte der Zimmerbelegung und fehlender Deutschunterricht die Beteiligung an und der Zugang zu bestimmten Räumen beschränkt. Die Relationen der HeimbewohnerInnen untereinander sind heterogen: von Konkurrenzbeziehungen über kollegiale oder freundschaftliche bis hin zu feindlichen Beziehungen sind die Relationen charakterisiert. Die meisten Relationen sind m. E. von kollegialer Toleranz und Verständnis geprägt, da die Ähnlichkeit der problematischen Lebenssituation Nähe schafft. Der Eindruck, den Einheimische von AsylbewerberInnen gewinnen, ist durch Kleidung, die Frisur, die andere Hautfarbe und die oftmals geringen Deutschkenntnisse zur Distinktion und Stigmatisierung geschaffen. Sie können ein Gefühl des „Überlegenseins“ auslösen, eine Einschätzung der eigenen Position als die „höhere“, was ein positives Selbstbild und eine gesteigerte gesellschaftliche Anerkennung bedeutet. Da die AsylbewerberInnen für die meisten Personen lediglich in „öffentlichen Räumen“ wahrnehmbar sind und engere Kontakte selten zustande kommen, kann sich der beschriebene Eindruck der Einheimischen von AsylbewerberInnen halten. Die Einstellungen und die Position der Einheimischen müssen nicht kritisch überdacht oder reflektiert werden, so lange keine weiteren, tieferen Informationen (durch nähere Kontakte oder Informationen der öffentlichen Medien) zu ihnen gelangen. So wird die gesellschaftliche Stellung der AsylbewerberInnen in Ansehen, Prestige und Macht geschwächt bzw. deren Schwäche (re)produziert. In wenigen Momenten der Partizipation an gesellschaftlichen Ereignissen wie Diskothekbesuche oder Festlichkeiten ist eine positive Sichtbarkeit in Form von Anerkennung und Bestätigung der eigenen Person zu finden. Im Kreise von FreundInnen, Verwandten oder Bekannten wird Selbstbestätigung erfahren und kommt der eigenen Person positive Bedeutung zuteil. Aus meinen Beobachtungen konnte ich auf das Erfüllen oder Besetzen der Gegenwart durch Erinnerungen [siehe Kapitel II.2.2)] durch zwei Arten schließen: Einerseits löste die Interview-Situation Assoziationen zu den Erst-Interviews des BAFl aus. Aufgrund dieser Erfah176 rungen wurden die AsylbewerberInnen nervös und unsicher. Andererseits füllten die Erinnerungen an das Leben im Iran die Gegenwart aus, wenn sie von der Familie, dem Leben in ihrer Heimat erzählten. Die Erinnerung war in der Person sehr präsent, was einerseits der Erzählstil und andererseits die Gefühlsregungen zeigten. Freude und ein wenig Sehnsucht waren die Gefühle, die Regungen, die ich erkennen konnte. Die erste Variante der Erinnerungspräsenz impliziert eine Relation [siehe Kapitel II.2.7)] zu deutschen Institutionen, die von Beginn an von ohnmächtiger Abhängigkeit für die AsylbewerberInnen bestimmt war. Allein wegen der Interview-Situation war ihr konkretes und abstraktes „Hiersein“ in dieser Situation zu beginn vom abstrakten „Dortsein“ bestimmt. Die Grübeleien und der große Zeitumfang, der ihnen Raum zum Nachdenken, für Erinnerungen gibt, die aufgrund der gegenwärtigen Begrenzung des Lebens und der unbefriedigten Bedürfnisse als „Halt“ dienen, weisen auf ein „Weder Hier- noch Dortsein“ hin. Die Asyl-Räume werden von gesetzlichen Reglungen beeinflusst, charakterisierend sind die Ausschlüsse von gesellschaftlich anerkannten Räumen des Kontaktes und des Prestigegewinns. Die Voraussetzungen, also insbesondere ökonomisches Kapital, die hierfür benötigt werden, werden AsylbewerberInnen verweigert. Hingegen werden ihnen Räume der Beengung, der Abhängigkeit von anderen Personen oder Institutionen, die Warte-Räume zugewiesen. Kontrolle und eine ohnmächtige Position kennzeichnet die AsylbewerberInnen in unserer derzeitigen Gesellschaft, die Frage der Sichtbarkeit, der Transparenz ist immer mit Fragen der Machtverteilung verbunden. Noch nicht mal Kämpfe um eine legitime Sicht auf die Welt [siehe Kapitel II.3.1)], also auch um Sichtbarkeiten, sind für die AsylbewerberInnen möglich, weil ihnen die Mittel zum Kampf wie Sprachkenntnisse und Anerkennung als Asylberechtigte fehlen. Gesamtgesellschaftlich stellen sich bezüglich der Transparenz und der Sichtbarkeit von Menschen Fragen um beispielsweise eine Erweiterung der Überwachungsinstrumente und deren Konsequenzen. Der „gläserne Mensch“ hat sich nicht nur in historischen Ereignissen oder literarischen Beispielen gezeigt, sondern lässt sich anhand von Analysen im Umgang mit Gruppen in unserer Kultur erahnen. 4.4 Fazit 177 Das Fazit dieser Arbeit bezieht sich auf die wichtigsten inhaltlichen Ergebnisse bezüglich der Beantwortung der Forschungsfragen aus zwei Perspektiven und auf weitergehende Ideen für Wissenschaft und Politik. Inhaltlich sind die Asyl-Räume und die Bedeutung von AsylbewerberInnen in unserer Gesellschaft charakterisiert und interpretiert worden. Die Ausgangsfragen dieser Arbeit über die Charakterisierungen der Asyl-Räume sind in mehreren Aspekten thematisiert und beantwortet: Der Inhalt und die Form der Einwirkung umgesetzter rechtlicher Strukturen auf räumliche und soziale, Einflussfaktoren auf Konstitution und Synthetisierung von Asyl-Räumen, die Relationen der AsylbewerberInnen zu ihrer Mit- und Umwelt, Ortscharakteristika mit Spacings der Gemeinschaftsunterkünfte und schließlich eine metaphorische Charakterisierung der Asyl-Räume. Zu den Einflussfaktoren auf Asyl-Räume lässt sich festhalten, dass Konstituierungen und Synthetisierungen von Asyl-Räumen wesentlich von der Aufenthaltszeit in den Gemeinschaftsunterkünften beeinflusst werden. Deutschkenntnisse nehmen zu und wirken sich positiv aus. Auf negative Weise wirkt sich die zunehmende Aufenthaltszeit aus, indem Unzufriedenheiten und Resignation über die eigene Lebenssituation aufgrund der gesetzlichen Begrenzungen steigen und eine Bewusstwerdung über den fehlenden, metaphorisch gemeinten „Standort“ in der deutschen Gesellschaft stattfindet. Die Erkenntnis der eigenen Machtlosigkeit breitet sich aus. Die Inkorporierungen der “objektiven Machtverhältnisse“ haben stattgefunden. Die empirische Untersuchung raumsoziologischer Aspekte in der Eigenperspektive der AsylRäume ist durch das abstrakt und konkret gemeinte „Wegsein“, den Prozess des Verschwindens, aber dem immer wieder unternommenen Versuch der „Beheimatung“ gekennzeichnet. Die Ortscharakteristika der Gemeinschaftsunterkünfte befördern Konflikte zwischen den AsylbewerberInnen und mit HeimmitarbeiterInnen aufgrund der baulichen und organisatorischen Eigenschaften der Unterkünfte. Transparenz und hohe Wahrnehmbarkeit erschweren das Einleben und das Wohlfühlen. Die auf das Warten reduzierten Verhaltensweisen, die sich in der Monotonie des Alltags und der Lebensmittelauswahl, als mehrstündiges Fernsehschauen, als Drogenkonsum oder als psychische Störungen konkretisiert, bestimmen die AsylRäume. Der umfangreiche zeitliche „Leerlauf“ verstärkt die Unzufriedenheit über die Lebenssituation. Dieser Leerlauf wird mit Erinnerungen, Gedanken über die gegenwärtige Situation oder Ablenkungsverhalten gefüllt, um dem Gefühl des Ausgeliefertseins und der Ohnmacht etwas „Aktives“ entgegenzusetzen. Somit sind AsylbewerberInnen aus ihrer Perspektive von gesellschaftlich anerkannten Räumen wie Arbeits-Räumen, Diskussions-Räumen oder Freizeit-Räumen ausgeschlossen. Ursa178 che sind die fehlenden Kapitalien, insbesondere des ökonomischen, die in spezifischen Zusammensetzungen als Voraussetzung des Zutritts, der Konstituierung und der Partizipation dieser Räume dienen. Der für AsylbewerberInnen verbleibende Wunsch ist ein Zutritt zu Räumen, die eine Normalität ihres Lebens ermöglichen. Die Fremdperspektive, die der Forscherin, konzentriert sich auf die Ortscharakteristika, auf die Spacings und Relationen der vorhandenen sozialen Güter untereinander. Auffallend sind die Eingrenzungen, die Abgeschlossenheit des Heimgeländes bzw. des Heimgebäudes. Das Betreten ist als Grenzübergang deutlich gekennzeichnet und lässt die diese Grenze konstituierende Person aufmerksam oder vorsichtig, misstrauisch oder ängstlich werden. Das „fremde Gebiet“ mit seinen stigmatisierten Eigenschaften ist spürbar. Die hervorgerufenen Gefühle zeigen die der „Institution Gemeinschaftsunterkunft“ eingeschriebenen, politisch entschiedenen Regeln, die beim Konstituieren, vor allem beim Überschreiten der Grenze, ihre Wirkungskraft entfalten. Die Heimstruktur und -organisation mit den Zuweisungen und der Ästhetik von sozialen Gütern, die Distinktionen anderer Gruppen hervorrufen, wie kantige Möbelstücke aus Pressspanplatten, Deckenleuchten mit Neonröhren oder Eisenbettgestelle, erschweren die Identifizierung mit dem fremd eingerichteten Zimmer. Die hohe Belegungsdichte in Mehrbettzimmern beschränkt die AsylbewerberInnen in ihren Verhaltensmöglichkeiten, in ihren „Frei-Räumen“ und in ihren Bedürfnissen. Pflege und Reinigung der Gemeinschaftsflächen sind gering, was auf fehlende und verhindernde Beheimatung und „Intimisierung“, auf ein „Weder Hier- noch Dortsein“ schließen lässt. Die Relationen zu Einheimischen ist von einseitiger Abhängigkeit bestimmt. Hinzu kommen Distinktionen durch die Einheimischen aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes der AsylbewerberInnen, der geringen Deutschkenntnisse oder der Wohnform. Sie sind eine sichtbare Gruppe für staatliche Institutionen der Macht und unsichtbar in der öffentlichen Wahrnehmung für weite Teile der deutschen Bevölkerung. Die AsylbewerberInnen können kaum und wenn nur in einseitiger Weise im Kontext öffentlicher Räume synthetisiert werden. Aufgrund der fehlenden Mittel der Macht wie bestimmte Kapitalien werden die bestehenden Machtverhältnisse, die eine Unsichtbarkeit der AsylbewerberInnen anstreben, (re)produziert und Asyl-Themen wahrscheinlich weiterhin selten in (wissenschaftlichen) Diskursen er- scheinen. Die von AsylbewerberInnen konstituierten eigenen Privat-Räume können nicht die erforderlichen Wohnbedürfnisse, Bedürfnisse nach Intimität und Geborgenheit erfüllen. AsylbewerberInnen können die notwendigen Voraussetzungen zur Konstitution von Räumen des Kontakts zu Einheimischen und der Normalität nicht erfüllen. 179 Die Asyl-Räume sind m. E. mit der dieses Kapitel überschreibenden Metapher Kristevas treffend charakterisiert. Die AsylbewerberInnen befinden sich in einem fahrenden Zug, dessen Zeitpunkt und Ort des Haltens für sie ungewiss ist und einzig von der /dem ZugführerIn abhängt. Der jedes Anhalten ausschließende Transit beschreibt zugleich das Warten, den Stillstand der Personen und das Gefühl der Bewegung, des Schwebens in einem Zustand ohne „den Boden unter den Füßen zu spüren“, ohne die Möglichkeit einer Verwurzelung, einer Beheimatung. Die Landschaft draußen ist sichtbar für die drinnen Sitzenden, die AsylbewerberInnen, sie sehen das Leben außerhalb, die Möglichkeiten, die für andere, die Einheimischen, vorhanden sind. Draußen Seiende sehen einen Zug, der schnell vorbeifährt, sie erkennen keine Personen. Diese sind unsichtbar. Sichtbar sind die AsylbewerberInnen für die SchaffnerInnen, die die Zugfahrt organisieren. Die/der mächtige ZugführerIn ist für die Transportierten unsichtbar ähnlich den Mächtigen der Politik, die Entscheidungen treffen, ohne mit der realisierten Praxis in Kontakt zu kommen. Die Zukunft liegt im Verborgenen, der Haltezeitpunkt ist ungewiss. In wissenschaftlichen Diskursen kann diese Arbeit kann im Hinblick auf eine empirische Belegbarkeit von Bourdieus Konzepten über die Auswirkung der Verfügbarkeit über bestimmte Kapitalien auf die Position im abstrakten sozialen Raum gelesen werden. Allerdings ist sein Konstrukt des sozialen Raums generell, wie ich oben beschrieben habe, und seine Annahme ständiger Kämpfe im sozialen Raum bezüglich der ohnmächtigen AsylbewerberInnen hinfällig. Die Bedeutung eines empirisch erfahrbaren Raum-Begriffs ist für die Soziologie, in der ein solcher Raum-Begriff bisher fehlt, notwendig. Raum, der momentan in der politischen Sphäre bei der Zerstörung von symbolträchtigen Orten oder Kämpfen um ressourcenreiche Gebiete bedeutungsvoll ist, wird in allen sozialen Situationen konstituiert. An Aspekten der Raumkonstitution lässt sich Soziales ablesen und wird erforschbar. Dies sehe ich als einen Vorteil gegenüber Forschungsansätzen, die abstrakte „soziale Aspekte“ direkt empirisch erfassen wollen. Ihnen können wesentliche Aspekte des „Materiellen“ fehlen, das in Raumkonstitutionen Bestandteil des Sozialen ist. Die Umsetzung des Raum-Begriffs als empirisch fassbares Konstrukt hat m.E. gut funktioniert und gibt Perspektiven auf weitere Untersuchungen. Für weitere wissenschaftliche Arbeiten sind Fragen, die sich stärker mit Architektur und Stadtlage befassen, mit empirischen Methoden der Bildanalyse oder dem Erfassen des Umfelds der AsylbewerberInnen interessant. An diese Untersuchung anknüpfen können Forschungen mit größerem Umfang von Personen 180 in einigen Aspekten Aufschluss über eine Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse geben. Außerdem wäre interessant herauszufinden, wie die unterschiedlichen Arten der Unterbringung, die verschiedene Umsetzung der Gesetzestexte in den Bundesländern und die kulturelle Herkunft sich auf die Konstituierung und Synthetisierung der Asyl-Räume auswirkt. Interessant sind ebenfalls Themen, die sich mit dem Einfluss der öffentlichen Medien auf die öffentliche Wahrnehmung des Asyl-Themas beschäftigen. Ebenfalls könnten Einflussfaktoren, die auf die Wirklichkeits- und Möglichkeitshorizonte, auf Selbst- und Fremdperspektive der AsylbewerberInnen und Gruppen im näheren Umfeld wie AmtsmitarbeiterInnen oder HeimmitarbeiterInnen untersucht werden. Politisch handlungsweisend kann aus dieser Arbeit bezüglich der sächsischen Asylpolitik geschlussfolgert werden, dass die Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften weder durch den Wohnungsmarkt in Dresden noch durch ökonomische Argumente begründet werden kann. Über einen Zeitraum von mehreren Jahren bewirkt eine Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften Störungen im Psychischen, Sozialen und Physischen der AsylbewerberInnen. Die Belange der AsylbewerberInnen werden entgegen einer Forderung des Ausländerrechtes nicht berücksichtigt bei der Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften. Die gesetzlichen Einschränkungen, die zeitlichen Überschuss und Ausschluss von Räumen der Normalität beinhalten, wirken teilweise entgegengesetzt der eigentlichen Intention: Faktisches Arbeitsverbot, geringes Taschengeld und Sachleistungsprinzip sind Faktoren, die der öffentlichen Ordnung und Sicherheit schaden, da sie ursächlich an kriminellen Handlungen der AsylbewerberInnen beteiligt sind. Dezentrale Unterbringung in Wohnungen, Verkürzung der Verfahrenszeiten, wie sie seit dem letzten Jahr realisiert werden, eine sinnvolle Zeitstrukturierung und das Erlernen der deutschen Sprache sind die wesentlichen Komponenten, die zur Entkriminalisierung, Spannungsreduktion im psychischen, sozialen und physischen Bereich führen. Genannte Folgen dürften im Interesse der PolitikerInnen, der AsylbewerberInnen, der HeimmitarbeiterInnen, der AmtsmitarbeiterInnen und der BetreiberInnen sein. Zudem sind Änderungen der Begrifflichkeiten, die durch die Benennungsmacht des Staates realisiert werden können, im Asylkontext anzuraten: Es sollte bezüglich der Unterbringung der AsylbewerberInnen von „Wohnen“ gesprochen und geschrieben werden, zumal die Aufenthaltszeit sich über mehrer Jahre belaufen kann. Ebenso sind Begriffe wie „Taschengeld“ oder „AsylbewerberIn“ in Frage zu stellen, da sie einerseits eine Unselbständigkeit der Personen implizieren, andererseits verdeutlichen, dass die Person erst Rechte erhält, wenn sie das „Bewerbungsverfahren“ erfolgreich abgeschlossen 181 hat. Während dieser Zeit, vermutlich in abgeschwächter Intensität auch danach, sind AsylbewerberInnen macht- und rechtlos und aus vielen (gesellschaftlich anerkannten) Räumen ausgeschlossen. 182 Literatur Böhme, Gernot: Atmosphäre, Frankfurt/ Main 1995. Bohnsack, Ralf: Rekonstruktive Sozialforschung – Einführung in Methodologie und Praxis qualitativer Forschung, Opladen 2000. Bollnow, Otto Friedrich: Mensch und Raum, Stuttgart/ Berlin/ Köln 2000. Bourdieu, Pierre: Das Elend der Welt: Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Konstanz 1997. Bourdieu, Pierre: Die verborgenen Mechanismen der Macht – Schriften zu Politik und Kultur 1, Hamburg 1992. 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Wong, Diana/ Voigt, Gabriele/ Pfahler, Ursula/ Bosswick, Wolfgang: Vom Exil zur Diaspora: Asyl in einer deutschen Stadt, Nürnberg 1993. 188 Anhang Anhang I Beobachtungen während des Dokumentationsprojektes S. 1 Anhang II Fragebogen 1 S. 10 Anhang III Fragebogen 2 S. 12 Anhang IV Leitfadeninterview S. 15 Anhang V Inhaltliche Überblicke der Interviews mit Angaben zu den inter- S. 24 viewten Personen Anhang VI Inhaltliche Überblicke der Beobachtungen während der Inter- S. 31 views Anhang VII Tabellarische Übersicht der empirischen Themen und Anglei- S. 40 chung mit den beiden theoretisch erarbeiteten Dimensionen Anhang VIII Beobachtungen während der Interviews S. 46 Anhang IX Themenzentrierte Zusammenfassungen „Beheimatung“ der In- S. 54 terviews und der Beobachtungen während der Interviews Anhang X Themenzentrierte Zusammenfassungen „Kontrolle“ der Inter- S. 101 views und der Beobachtungen während der Interviews Anhang XI Interviews gesamt S. 134 Anhang XII Ausprägungen und Kodierregeln der Dimension „Kontrolle“ S. 208 Anhang XIII Ausprägungen und Kodierregeln der Dimension „Beheimatung“ S. 217 Anhang XIV Typenbildung in Abhängigkeit von Einflussfaktoren der Dimensi- S. 234 on „Kontrolle“ Anhang XV Typenbildung in Abhängigkeit von Einflussfaktoren der Dimensi- S. 245 on „Beheimatung“ Anhang XVI Bildmaterial S. 286 189