In: Widerspruch Nr. 19/20 Ende der Linken? (1990), S.143

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In: Widerspruch Nr. 19/20 Ende der Linken? (1990), S.143-157
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Neuerscheinungen
Niklas Luhmann
Paradigm lost. über die ethische
Reflexion der Moral. Rede anläßlich der Verleihung des HegelPreises 1989.
Laudatio von Robert Spaemann; Niklas Luhmanns Herausforderung der
Philosophie
Frankfurt/Main 1990 (Suhrkamp),
brosch., 73 S., 8.- DM
Luhmanns Paradigmazuweisung einer
„ethischen Reflexion der Moral“ um
faßt solche Ethiken, die auf die Begründung moralischer Normen und
Werte ausgerichtet sind und auf die
Rationalitätsgrundlagen moralischer
Urteile. Nach Luhmanns Darstellung
zeichnet sich eine solche Moralphilosophie erst in Theorien der letzten
Jahrzehnte des 19. Jhr.s ab. Als
Beispiele
werden
Kants
aprioristische Vernunftethik und
Benthams Utilitarismus genannt, aber
auch die „Umkehrphilosophie“ des
Marquis de Sade läßt sich unter das
besagte Paradigma fassen. Luhmann
bringt die Entstehung des Paradigmas
in Zusammenhang mit den ersten
sammenhang mit den ersten Veränderungen von eher schichtenbezogenen sozialen Ordnungsrahmen zu eher funktionalen Ordnungsrahmen
von Gesellschaften. Moralische Normen und Werte können nicht mehr
zweifelsfrei als gesellschaftlich vermittelte Repräsentationen einer göttlichen oder naturwüchsigen Ordnung
bestätigt werden. Das Paradigma hat
so mit einem „Zweifel an der Moral“
zu tun, gegen den „die Ethik sich in
sich als Theorie“ abzusichern versucht habe und noch abzusichern
versuche. Eine solche Orientierung
von Ethiken und Ethikwellen gilt für
Luhmann als paradoxes „paradigm
lost“, das auch als „paradigm regained“ zu verstehen ist, soweit man die
zugleich ethisch und gesellschaftstheoretisch motivierten Sprachhandlungstheorien der letzten Jahrzehnte
einbeziehen kann.
Ethisch argumentierende Moral - und
Gesellschaftstheorien müssen sich
selber für moralisch gut halten, bzw.
sich mit den zu begründenden Nor-
men und Werten in Einklang sehen.
Wie „jeder binäre Code“ aber - so
Luhmann - führt auch der „Moralcode“ „bei einer Anwendung auf sich
selbst zu Paradoxien“. Es läßt sich
nicht entscheiden, „ob die Unterscheidung von gut und schlecht ihrerseits gut oder nicht vielmehr schlecht
ist“. Eine ethische Reflexion der Moral führt in diese Paradoxie hinein,
weil die Theorien in ihren Begründungsbemühungen nicht aus dem so
eröffneten Geltungsbereich von Normen und Werten herausgehalten werden können. Überdies überlagern sich
ein „Moralcode“ und ein „Wahrheitscode“, denn auch ethische Begründungen nehmen eine Unterscheidung von „wahr“ und „falsch“
in Anspruch. So mußte etwa von 'guten, weil wahren', aber auch von 'wahren, obwohl schlechten' Theorien
ausgegangen werden können. Selbst
die Frage, ob eine Theoriebildung überhaupt unter einem „Code der Moral“ begriffen werden kann, kann bei
einer ethischen Reflexion von Moral
nicht ohne Paradoxien gestellt werden.
Eine Ethik, „die sich selber als moralisches Unternehmen“ versteht, überträgt ihre eigene Moralität auf einen
Gegenstand, von dem so noch nicht
ausgemacht ist, ob sie ihm zukommt
oder zukommen kann. Eine solche
Ethik verfehlt für Luhmann eine
„Abkoppelung von Moral“ etwa im
ökonomischen und im administrativen Bereich, sowie überhaupt den geringen Grad an Integrationsfähigkeit,
den Moral in modernen („funktional
ausdifferenzierten“) Gesellschaften
hat. Dementsprechend könne die Ethik auch keine treffenden Konfliktanalysen bieten, sondern entfalte eher
ein
Konflikterzeugungspotential.
Angemessen kann die Funktion von
Moral in modernen Gesellschaften
nach Luhmann dann untersucht werden, wenn Moral als soziales System
einer „Kommunikation“ aufgefaßt
wird, die allenfalls „Hinweise auf
Achtung und Mißachtung mitführt“.
Normen - und Wertedispositionen
kommen in diesem Funktionsbegriff
von Moral nicht vor, weil sie in den
von Luhmann untersuchten sozialen
Systemen selber relativ funktionslos
seien oder eine Disfunktionalität zeigten und Paradoxien erzeugten wie das
Theoriesystem einer ethischen Reflexion von Moral selber.
Ist dann aber Luhmanns Moralforschung lediglich affirmativ an demjenigen orientiert, was gesellschaftlich
der Fall ist, und ist sie nicht in der Affirmation zirkulär? Eine solche Frage
ist aus Luhmanns Sicht falsch gestellt,
berührt aber eine Schwierigkeit, auf
die die Theoriekonstruktion selber
eine Antwort sein soll. Sofern in Gesellschaften eine „Amoralität“ selber
Gegenstand moralischer Beurteilung
ist, muß die soziologische Theorie
sich in ihrer „Amoralität“ einem
derartigen moralischen Diskurs entziehen können. Für Luhmann ist dies
aber eine Frage des Abstraktionsgrades der Theorie und der EbenenDifferenzierungen, die sie eröffnen
kann. Eine systemtheoretische Soziologie der Moral soll die Funktion von
Neuerscheinungen
Moral moralfrei untersuchen können.
Eine Distanzierung von Moral ist aus
systemtheoretischer Sicht unter drei
Bedingungen möglich, oder besser:
auszuarbeiten. Die Theorie muß den
eigenen Moralbegriff (den amoralischen der Funktionalität von Moral)
als durch sie selbst erzeugt gewährleisten und verstehen können. Weiter
muß sie diesen Moralbegriff als von
ihr unabhängig, virtuell als „Umwelt“ wie von außen untersuchen
können. Drittens muß sie die Distanzierung von dem eigenen Systemerzeugnis wiederum als durch die Theorie konstituiert erklären können. Dies
sei hier erwähnt, um klarzustellen, daß
(anders als in Luhmanns Redetext)
die Paradigmendiskussion auf dem
Boden einer Soziologie der Moral allein nicht geführt und nicht entschieden werden kann.
Übergeordnet und entscheidend im
Blick auf die oben genannte Schwierigkeit sind die Überlegungen zu einer
Selbstreferenz einer Theorie der Autopoiesis selbstreferentieller sozialer
Systeme[2] . Es handelt sich um
Überlegungen zu einem Paradigmenwechsel in der Systemtheorie ihrerseits, um Überlegungen zur selbstreferentiellen Struktur der Erzeugung
von Unterscheidungshinsichten und
Elementen in Theorien sozialer Systeme. Es sind Prolegomena zu einer
künftigen Theorie, auch wenn sie
selbstverständlich das in Anwendung
sehen, was sie entwickeln. Erprobt
wird eine neue „Leitdifferenz“ der
Theorie, die einer „Differenz von Identität und Differenz“ (nicht: einer
Identität von Identität und Differenz). Unterscheidungshinsichten sollen so von sich selbst unterscheidbar
gehalten werden. Die Weite des autopoietischen Zirkels wäre es dann, mit
dem das Paradigma einer ethischen
Reflexion der Moral zu konkurrieren
hätte. Denn dieses Paradigma erlaubt
nicht, eine Selbstbezüglichkeit (in der
Verwendung des „Moralcodes“) zu
explizieren und die Explikation selbst
wiederum zum Gegenstand zu machen.
Das in „Soziale Systeme“ vorgestellte
Theorieprojekt sieht R. Spaemann in
seiner „Laudatio“ als „Herausforderung der Philosophie“ an, aber als eine unphilosophische und „antiphilosophische“. Durchaus Hegels Verhältnisbestimmung von „Wahrheit“
und „System“ verwandt, verzichte
Luhmanns Werk - darin „radikaler als
Philosophie“ - auf „Abschlußgedanken“
und
in
seiner
Autopoiesisvorstellung auf einen
„Gedanken des Absoluten“. Gerade
in dem Versuch, eine Autopoiesis der
Theorie ihrerseits noch einmal unter
eine Selbstreferentialität der Theorie
zu stellen, entfalle ein „Absolutes“ der
Theorie. „Philosophie“ könne jedoch
auf „letzte Gedanken“ nicht verzichten, und zwar um der „Selbstachtung“ von „jedermann“ willen, gerade
dann, wenn über deren „Funktion“
nachgedacht werde. „Philosophie“
müsse Luhmanns reflektierte „Modernität“ nicht akzeptieren. Für die
„praktische Philosophie“ ist nach
Spaemann ein „Abschlußgedanke“
notwendig - eine „Einsicht in das, was
jetzt zu tun ist“. Als moralphilosophisches Diktum über Ethik ist diese Position aber den Einwänden Luhmanns gegen eine „ethische Reflexion
der Moral“ ausgesetzt.
Bei einer derartigen, nicht mehr vermittelbaren Gegenüberstellung von
Philosophie und Nichtphilosophie
dürfte jedoch eine Rezeption von Systemtheorie, die selber nicht systemtheoretischer Art ist, kaum stehenbleiben. Luhmann selbst hebt die
Vorläufigkeit des Begriffs einer „Autopoiesis“ der Theorie hervor. „Autopoiesis“ komme zunächst noch in
einem „metaphorischen Sprachgebrauch“ vor und sei als „linguistische Notlösung“ anzusehen. Ob es
dabei bleibt, hängt für Luhmann entscheidend von dem Einbezug und
von der Weiterentwicklung einer „naturalistischen Epistemologie“ ab.
Letztere könne die Ebene eines Vergleichs des sozialen Systems 'Theorie' mit organischen und psychischen
Systemen abgeben bzw. weiter ausbilden. Ohne interdisziplinäre Bestätigung selbstreferentieller Systeme trägt
der hochabstrakte Zirkel einer übergeordneten autopoietischen Theorie
selbstreferentieller Systeme die Züge
eines strukturbetonten Modells der
Unterscheidung von Unterscheidungshinsichten. Eine interdisziplinäre Systemforschung soll den Zirkel
semantisch füllen, d.h. die Unterscheidungen verinhaltlichen. Dies
kann sie nur, wenn sie sich in den
Zirkel einschließt und im übergeordneten autopoietischen Modell funktioniert. Soll nun der „metaphorische
Sprachgebrauch“ der Theorie überwunden werden, hat man es dann mit
Problemen einer Theoriesprache zu
tun, die auf eine Sinnerzeugung durch
Strukturerzeugung setzt? Und ist dies
dann ihr „Sachverhalt“, den sie zu
„beschreiben“ hat? Es sind dies Fragen, die sich auf die (unausdrückliche) Sprachauffassung von Luhmanns Theoriekonstruktion richten.
So können durchaus Fragen von außen an Luhmanns Theorie sozialer
Systeme gerichtet werden, die sich
nicht müdem Hinweis zurückweisen
lassen, sie seien nicht systemtheoretisch immanent gestellt. Es sind dies
Fragen, die die Mittel des Autopoiesis-Konzeptes betroffen, von dessen
Plausibilität ja eine Exklusion z.B. von
sprachbezogenen
Untersuchungen
zur Systemtheorie abhinge. Ohne Betrachtung von außen läßt sich kaum
entscheiden, welche Anteile aus der
metaphysischen Tradition der Metaphorik Luhmanns zukommen. Zuweisungen wie unphilosophisch/ philosophisch oder gar antiphilosophisch/ philosophisch aber tragen
kaum etwas zu einem der anregendsten Diskurse des 20. Jhr.s bei, zumal
unter Systemtheorie keineswegs etwas
Einheitliches verstanden wird. Mit der
eher dogmatischen Festlegung, was
„Philosophie“ zu sein habe, streitet
Spaemann Luhmanns Arbeiten zum
Teil dasjenige ab, was er an ihnen
lobt, deren interdisziplinäre Bedeutung. Eine „Herausforderung der Philosophie“ wird hervorgehoben, eine
Einmischung in deren Angelegenheiten aber abgelehnt.
Neuerscheinungen
Ignaz Knips
1 N. Luhmann: Soziologie der Moral, in: Ders./St.H. Pfürtner (Hrsg.):
Theorietechnik und Moral, Frankfurt
1978, S.8 ff.
2
N. Luhmann: Soziale Systeme.
Grundriß einer allgemeinen Theorie,
2.Aufl. Frankfurt 1988.
Axel Honneth
Die zerrissene Welt des Sozialen.
Sozialphilosophische Aufsätze
Frankfurt/Main 1990 (Suhrkamp),
brosch., 203 S., 16.- DM
In „Die zerrissene Welt des Sozialen“
veröffentlicht Honneth sozialphilosophische Aufsätze aus den achtziger
Jahren. Will man die Aufsätze auf ein
Oberthema bringen, so geht es um
die Möglichkeiten von Gesellschaftskritik heute. Im Mittelpunkt steht dabei sowohl eine Auseinandersetzung
mit der französischen Philosophie, als
auch mit der kritischen Theorie. Wie
groß die Parallelen zwischen beiden
Theorien ist, zeigt Honneth im Aufsatz „Foucault und Adorno“, der
thematisch an Honneths „Kritik der
Macht“ anknüpft. Die überraschende
Nähe der Dialektik der Aufklärung
zum machttheoretischen Werk Foucaults zeigt sich bis in Formulierungen hinein, wenn es beispielsweise um
den Doppelcharakter der Aufklärung
geht. Doch diese Konvergenz bietet
Honneth auch den Schlüssel zur Kritik: Foucaults und Adomos Fixierung
aus herrschaftssicherndes Verfügungswissen sowie eine herrschaftsverschleiernde Rechtsform in der
Aufklärungsepoche schafft die Voraussetzung, „die das Bild der europäischen Moderne in beiden Theorien so
eigentümlich einschränkt und konturenlos sein läßt“ (S .85). Es ist eine
Einseitigkeit, wie Honneth feststellt,
die trotz berechtigter Kritik der Moderne nicht in der Lage ist, auf kulturelle und moralische Fortschritte zu
reagieren. Man könnte die „Die zerrissene Welt des Sozialen“ so lesen,
als ob die Aufsätze dieses Defizit der
Theorie Foucaults wie auch der kritischen Theorie zu lösen versuchen.
In diesem Sinne verweist Honneth
die kritische Theorie auf sich selbst.
„Kritische Theorie. Vom Zentrum
zur Peripherie einer Denktradition“,
unter diesem Titel untersucht Honneth den „äußeren Kreis“ des Frankfurter Instituts für Sozialforschung.
Bei Neumann, Kirchheimer, Fromm
und Benjamin sieht Honneth handlungstheoretische Ansätze vergraben,
die in den Schriften Adornos und
Horkheimers gänzlich fehlen. Ein
Aufsatz über das Frühwerk Lukács',
besonders seinen „romantischen Antikapitalismus“, rundet das Bild der
Aktualität kritischer Gesellschaftstheorien zu Beginn dieses Jahrhunderts ab.
Das Portrait der französischen Philosophen - Levi-Strauss, MerleauPonty, Bourdieu, Sartre und Castoriadis - zeigen Alternativen zur gegen-
wärtigen, postmodernen französischen Philosophie auf. Die Aufsätze
über Castoriadis und Sartre sind nicht
nur deshalb interessant, weil Castoriadis hierzulande fast unbekannt und
Sartre fast vergessen ist, sondern weil
Honneth mit Castoriadis' Revolutionstheorie und Sartres Intersubjektivitätstheorie radikale Gesellschaftskritiken aktualisiert. Eine Radikalität, die
man etwa bei Habermas vermißt, was
auch zu Schwachstellen seiner Theorie kommunikativer
Rationalität
führt. Dem widmet sich Honneth im
letzten Aufsatz „Moralbewußtsein
und Klassenherrschaft“. Ausgehend
von einer Kritik an Habermas, daß
seine Gesellschaftstheorie „all jene
Formen existierender Gesellschaftskritik systematisch übergehen muß,
die von der politisch-hegemonialen
Öffentlichkeit nicht anerkannt werden“ (S.184), versucht Honneth mit
dem Begriff „Unrechtsbewußtsein“
das klassenspezifische Moralbewußtsein Unterdrückter auszumachen. An
Untersuchungen der frühen 70er Jahre zum Spätkapitalismus und zum
stillgestellten Klassenkampf knüpft
Honneth an, um die Verhinderung
der kollektiven Artikulation des Unrechtsbewußtseins darzustellen.
„Die zerrissene Welt des Sozialen“
dokumentiert auch eine Zerrissenheit
der Gesellschaftskritik - vornehmlich
in die beiden Blöcke: kritische Theorie und französische Philosophie. Anschaulich macht Honneth deutlich,
daß diese Zerrissenheit überwunden
werden muß, mit Habermas gegen
Habermas, vor allem aber mit Radika-
lität, die der hiesigen kritischen Gesellschaftstheorie fehlt.
Roger Behrens
Anke Thyen
Negative Dialektik und Erfahrung. Zur Rationalität des Nichtidentischen
Frankfurt/Main 1989 (Suhrkamp),
kart., 336 S., 38.- DM
Die Kritik der neueren kritischen
Theorie an der älteren fixiert sich in
der Regel auf die Aporien der „Dialektik der Aufklärung“. Dabei wird
die geschichtsphilosophische Konstruktion mit „katastrophischem
Blick“, wie Habermas sagt, mit einer
Einseitigkeit kritisiert, die auch nachfolgende Werke Adornos und Horkheimers unter den Vorwurf der Geschichtsphilosophie subsumiert. Adornos nichtidentisches Denken und
auch seine Versöhnungskonzeption,
schlichtweg die ganze „Negative Dialektik“, fallen damit unter den Tisch.
Anke Thyen legt mit ihrem Buch
„Negativ Dialektik und Erfahrung“
nun eine ganz andere Interpretation
von Adornos Werk vor. Damit gelingt es ihr, zugleich die vorschnelle
kommunikationstheoretische Wende
zu revidieren und Adornos Konzept
einer dialektischen Rationalität zu aktualisieren. Ausgangspunkt ist für
Thyen, ähnlich wie in Habermas'
„Theorie des kommunikativen Han-
Neuerscheinungen
delns“, das Webersche Rationalitätskonzept. Doch entgegen Habermas'
Gleichsetzung von Zweckrationalität
und Instrumentalität arbeitet sie aus
dem Weberschen Werk und aus dem
Odyssee-Exkurs der „Dialektik der
Aufklärung“ heraus, daß Zweckrationalität und Instrumentalität nicht
gleichzusetzen sind. Wie Thyen durch
eine Lesart der Homerischen Odyssee
aus einer erkenntnistheoretischen
Perspektive zeigt, „verdankt sich die
Konstitution des neuzeitlichen Selbst
nicht nur der - zudem kognitivistisch
verkürzten - instrumentellen Rationalität, sondern impliziert darüber hinaus selbstreflexive Orientierung, die
sich nicht im instrumentellen Denken
und Handeln der um ihre bloße physische Selbsterhaltung kämpfenden
Subjekte erschöpft“ (S. 111). Diese
Erkenntnistheorie gilt es herauszuarbeiten, um zu zeigen, da der Vorwurf der Geschichtsphilosophie an
die „Dialektik der Aufklärung“ „nicht
kritische Theorie insgesamt“ trifft
(S.109). Die „Dialektik der Aufklärung“, so Thyen, entfaltet lediglich
auf der „Makroebene“ die Dialektik
des Denkens (vgl. S.131).
Thyen geht es dabei um den Unterschied zwischen der Konstatierung
des totalen Verblendungszusammenhangs und der „Ontologie des falschen Zustands“ (Adorno) einerseits
und zur Erkenntnistheorie andererseits. Gerade die in der „Negativen
Dialektik“ explizierte Erkenntnistheorie Adornos ist es nämlich, mit der
die kritische Theorie selbst die Aporien der Dialektik der Aufklärung
theorieimmanent reflektiert (S.109).
Hier finden sich die Möglichkeiten
selbstreflexiven Denkens dargestellt.
Keineswegs ist die „Negative Dialektik“ daher „als ein Exerzitium, eine
Übung, zu verstehen“, wie Habermas
meint, sondern als Theorie dialektischer Rationalität von Identität und
Nichtidentität. Für Thyen fungiert
Nichtidentität dabei nicht als Gegenbegriff zur Identität, sondern Nichtidentität „ist vielmehr der konstruktive Grenzbegriff des Begrifflichen,
der Identität selber“ (S.198). Diese
Entfaltung von Identität und Nichtidentität führt zu einer Aktualisierung
der „Idee der Versöhnung“, zu einem
Verweis auf das somatische Moment,
welches durch die kommunikationstheoretische Wende, die Erfahrung
auf intersubjektive Erfahrung reduziert, vergraben wurde. Da Erfahrung
sich nicht auf Intersubjektivität reduzieren läßt, sich für Adorno aber auch
nicht entgegen aller Kritik in einem
bewußtseinsphilosophischen Begriff
vom Subjekt verstrickt, stellt Thyen
an Adornos materialem Subjektbegriff dar, der sich sowohl gegen das idealistische Bewußtseinssubjekt wendet, wie auch gegen ein kommunikativ verflüssigtes Subjekt.
Thyen zeigt, wie Adorno mit seiner
Subjekt- und Erkenntnistheorie einerseits Gedanken Sohn-Rethels aufgreift, da nämlich zwischen Warenstruktur und Bewußtseinsstruktur ein
Zusammenhang besteht, da Adorno
aber auch über Sohn-Rethel hinaus
greift und damit auch ein wichtiges
Moment der Manschen Theorie auf-
nimmt, in dem Bewußtsein und Erfahrung sich nicht monologisch aus
der Ökonomie ergeben, sondern auch
über sie hinausweisen kann. Diese
Fähigkeit zur Selbstreflexion des
Denkens enthält neue Möglichkeiten
einer Metaphysik. Ansätze dafür sieht
Thyen bei Adorno selbst impliziert
(vgl. S.218). Metaphysik wäre nach
Adornos Konzept einer Rationalität
des Nichtidentischen, wie Thyen im
Schlußkapitel ihres Buches in Aussicht stellt, negative Metaphysik.
Für die praktische Philosophie hätte
das Konsequenzen, die auch ein Defizit kritischer Theorie zu füllen in der
Lage wären: die Formulierung einer
Ethik. Diese Ethik hat genauso wie
die negative Metaphysik ihre Bezugspunkte in der Gesellschaftstheorie
Adornos: sie betreffen „den Zusammenhang von Philosophie und
lebensgeschichtlicher Individualität,
die sich geschichtlich ausprägt... Unter Bedingungen der Moderne verhält sich Denken analog zu den
zerfallenen
Vernunftmomenten.
Denken, das das Ganze, nicht das
antagonistische, zerfallene Ganze,
denken will, kann nur Zuflucht nehmen bei der philosophischen Tradition“ (S.284 ff).
Bei aller Komplexität des Themas, an
das Anke Thyen sich heranwagt, ist
ihr Buch dennoch so verständlich, da
es ihr nicht nur hinsichtlich einer theoriegeschichtlichen Problematik gelingt den „monolithischen Block“ der
„Negativen Dialektik“ zu entschlüs-
seln, sondern Adornos Theorie überhaupt transparent zu machen.
Roger Behrens
Alain Finkielkraut
Die Niederlage des Denkens
Reinbek 1989 (Rowohlt), Paperback,
156 S., 14.- DM
Die Kontroverse von Aufklärung und
Gegenaufklärung hat sich bis in die
Gegenwart fortgesetzt. Alain Finkielkraut weist in seiner Darstellung
der Geschichte dieser Kontroverse
die Niederlage des Denkens in jedem
Lebensbereich nach. Erleben wir nun
das Ende der Aufklärung?
Die Theoretiker der Aufklärung hatten uns gelehrt, daß das Denken und
die Wissenschaft die notwendigen
Voraussetzungen der Freiheit sind,
„daß die Freiheit zwar ein allgemeines
Recht ist, daß jedoch nur aufgeklärte
Menschen auch frei genannt werden
können.“ (S.58) Der Niederlage des
Denkens folgt unausweichlich das
Ende der Freiheit. In der Gegenwart
verkehrt sich das Denken in NichtDenken und die Freiheit in Willkür
und Eklektizismus. Die Gegenaufklärung mit allen ihren Konsequenzen
setzt sich durch: Intoleranz, Infantilismus, Nivellierung aller Werte und
Unwerte, Regression in die Barbarei.
Begriffe wie „Nation“ oder „Kultur“
erfahren radikale Umwandlungen. Sie
verlieren ihren Allgemeinheitscha-
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rakter und beschränken sich aufs Besondere. Infolge dessen verschwindet
ihr rationales Moment. Alain Finkielkraut will diese Begriffswandlung
aus der Geschichte verstehen: Das
Eigentümliche und Partikulare wurde
- etwa von Herder - gegen das Universelle und Allgemeine der Französischen Aufklärung gestellt. Praktisch
wirksam wurde es aber erst nach der
Niederlage in Jena und der Napoleonischen Besetzung.
Ähnliches geschieht mit dem Begriff
der Nation: Für die französischen
Revolutionäre gründet sich die Nation auf einem Gesellschaftsvertrag;
sie konstituiert sich aus dem Willen
ihrer Mitglieder. In Opposition dazu
leugnet die Gegenaufklärung den freien Willen. Der Wille des Einzelnen
wird durch die Zugehörigkeit zur nationalen Totalität beherrscht. Hier
steht also die freiwillige, auf Vernunft
basierende Entscheidung der Mitglieder einer Gesellschaft gegen die obligatorische (Zwangs) Gemeinschaft
aufgrund der Geburt.
An den Geist der Aufklärung wurde
nach dem 2.Weltkrieg zunächst angeknüpft. Im November 1945 verkündete das Statut der UNESCO Vorsätze, die jeden zukünftigen Nazismus
abwehren sollten. Es wird der Versuch unternommen, die abstrakten
Menschen- und Bürgerrechte zu überwinden. Die konkreten Lebensformen der Menschen sollten im Begriff der „Menschenwürde“ einbezogen werden. Diese Synthese von
Allgemeinem und Besonderem schei-
terte aber an der „Philosophie der
Entkolonialisierung“. Sie bekämpft
mit Recht den abstrakten Humanismus, der ein bestimmtes Menschenbild zum allgemeingültigen erklärt,
aber sie hält nur das Besondere fest.
Sie leugnet die universellen Werte zugunsten der besonderen Wertsetzungen jeder einzelnen Kultur. Somit
wird die jeweils eigene Kultur die alleinbestimmende und alleinherrschende. Diese dominiert die Individuen in einem Maße, daß jeder
Fluchtversuch zwecklos ist. „Wie die
alten Lobsänger der Rasse halten die
gegenwärtigen Fanatiker der kulturellen Identität den einzelnen im Gewahrsam seiner Zugehörigkeit.“(S.85)
Sie werden zu Befürwortern einer
multikulturellen Gesellschaft, in der
die fremden Kulturen - etwa der
Einwanderer aus der „Dritten Welt“
samt ihren menschenfeindlichen
Bräuchen (z.B. Frauendiskriminierung
und -mißhandlung) - affirmiert werden. „Aus Angst, den Einwanderern
Gewalt anzutun, verbindet man sie
mit der Livree, die die Geschichte ihnen zugeschnitten hat. Um sie so leben zu lassen, wie es ihnen paßt, versagt man es sich, sie vor möglichen
Untaten oder Mißbrauch ihrer jeweiligen Tradition zu schützen. Um die
Grausamkeit der Entwurzelung zu
mildern, übergibt man sie wehrlos,
auf Gedeih und Verderb wieder ihrer
Gemeinschaft und schafft es so, die
Anwendung der Menschenrechte auf
die Menschen des Westens zu beschränken, und das alles in dem
Glauben, diese Rechte zu erweitern,
wenn man jedem die Wahl läßt, in
seiner Kultur zu leben. Entstanden
aus dem Kampf zur Befreiung der
Völker, führt der Relativismus zum
Lob der Knechtschaft.“ (S.113)
Schließlich eliminiert die Kulturindustrie das Denken durch das Verwischen der Grenze zwischen Kultur
und Unterhaltung. Früher hatte beim
Bürger die Kultur kein großes Ansehen genossen, da sie außerhalb des
Rahmens der Verwertung stand: sie
galt als nutzlos. Das „rechnerische
Denken“ der Gegenwart dagegen
„entdeckt den Nutzen des Nutzlosen,
investiert systematisch in die Welt der
Begierden und Freuden, und nachdem es die Kultur zu einer unwirtschaftlichen Ausgabe degradiert hat,
erhebt es nun jedes Vergnügen zu
kultureller Würde: Kein transzendenter Wert darf die Ausbeutung der
Freizeit und die Steigerung des Konsums hemmen oder gar bestimmen
können. Allerdings - und dieser Unterschied macht die relative Überlegenheit der Welt von gestern aus bekämpften die gebildeten Menschen
die Tyrannei des rechnerischen Denkens als Dummheit, während die
postmoderne Verbreitung dieses
Denkens so gut wie keinen Protest
auslöst.“(S.127)
Seinen Protest drückt Alain Finkielkraut in seiner Darstellung der
Gegenwart auf bitter-ironische Weise
aus. Protest und nachdrückliche Warnung zugleich, denn das „geniale
Rennpferd“ aus Robert Musils Roman kommt uns wirklich zuvor.
Nicos Constantinides
A. Corbin, A. Farge, M. Perrot u.a.
Geschlecht und Geschichte. Ist
eine weibliche Geschichtsschreibung möglich?
Frankfurt/M.
1989
(S.Fischer)
brosch., 34.- DM
Die vorliegende Aufsatzsammlung
widmet sich einem äußerst interessanten, dessen ungeachtet jedoch nach
wie vor noch relativ vernachlässigten
Themenkomplex: der Frauengeschichtsschreibung. Wie in mehreren
der elf Aufsätze anklingt, konnte sich
diese Disziplin zwar offenbar mittlerweile aus dem Dunkel vollkommener
Ignoranz seitens der 'offiziellen' Historiographie lösen, aber mehr als verhaltene Akzeptanz können Frauengeschichtlerinnen wohl auch heute im
allgemeinen nicht erwarten.
Dafür gibt es mehrere Gründe, denn
wie sich in den verschiedenen Beiträgen zeigt, stellt Frauengeschichtsschreibung eine in mancher Hinsicht
unbequeme Erscheinung für die traditionelle Historiographie dar. So wird
vor allem unser überkommener Geschichtsbegriff in Frage gestellt, wie er
sich im 19. Jhr. herausgebildet hat.
Seine Konzentration auf das (von
Männern bestimmte) öffentliche Geschehen, die sog. Nationalgeschichte,
verbannt die Frauen - immerhin die
Hälfte der Bevölkerung - konsequent
in eine Sphäre der Geschichtslosigkeit, wie Michelle Perrot bereits im
Vorwort beklagt.
Neuerscheinungen
Diese Entlarvung der Unzulänglichkeit traditioneller Historiographie bildet den Ausgangspunkt der Frauengeschichtsschreibung. Daß sie jedoch
zunächst nicht immer frei von 'alten
Fehlem' war, kommt in Arlette Farges
Aufsatz zum Tragen. So dominierte
zu Beginn (ca. zwischen 1970 und
1980) ein ideologisches Interesse der
Historikerinnen - es handelte sich
hierbei fast ausschließlich um engagierte Feministinnen, was eine 'doppelte Parteilichkeit' der Frauengeschichtsschreibung bewirkte: geprägt
von Ideologie und Identifizierung mit
dem Projekt. Dabei erfolgte nun zunächst konsequent aus Frauensicht
ein deskriptives Umreißen der neuen
Disziplin, wobei zwei Topoi vorherrschten: verkannte bzw. vergessene Heldinnen und die Gruppe der
Unterdrückten. In diesem Zusammenhang stand das Thema der 'weiblichen Natur' nahezu unangefochten im Vordergrund. Auf diese Weise
bewegte sich Frauengeschichtsschreibung jedoch ständig nur im Spannungsfeld von Herrschaft und Unterdrückung.
Spätestens seit den 80er Jahren kam
es zu einer Abkehr von der 'Elendsargumentation' hin zu einer intensiven
Methodikdiskussion die für die gesamte Geschichtswissenschaft sehr
fruchtbar sein könnte.
Anstatt den rein 'männlichen' Geschichtsblick mit dem rein 'weiblichen' zu vertauschen, ist man nun bestrebt, die ganze Geschichte der
Menschheit zu zeigen - in seiner gesamten komplexen Komplementarität. Dabei zeigt sich die Notwendigkeit, nach anderen Methoden der
Quellenaufarbeitung zu suchen, als es
bisher üblich war. Dies setzt zunächst
die Erkenntnis voraus, daß hierbei
stets eine gewisse Parteilichkeit im
Spiel ist. Die Geschichtslosigkeit der
Frauen resultiert nicht etwa aus dem
Fehlen entsprechender Quellen, sondern aus der (bisher männlichen)
Sichtweise und den damit verbundenen Auswahlkriterien der Wissenschaftler, wie Pauline Schmitt-Pantel
an einem Beispiel aufzeigt.
Sylvie van de Vasteele-Schweitzer und
Daniéle Voldman postulieren für die
Frauengeschichtsschreibung
eine
stärkere Berücksichtigung mündlicher Quellen, da Sprechen gegenüber Schreiben stets das vorherrschende Ausdrucksmittel von Frauen
war. Dies wird durch Agnés Fines
Beitrag über die Aussteuer noch unterstrichen, wobei gerade in dieser
Arbeit die Bedeutung der Volkskunde
für die Frauengeschichtsschreibung
offenbar wird.
Insgesamt implizieren nahezu alle
Aufsätze dieses Sammelbandes eine
Plädoyer für mehr Interdisziplinarität
in der Geschichtswissenschaft, die
stärkere Einbeziehung beispielsweise
der Volkskunde, der Anthropologie,
der Soziologie etc. Die Lektüre der
vorliegenden Arbeiten zieht ein Reflektieren über unseren allgemeinen
Geschichtsbegriff und dessen Defini-
tion nach sich. Die Anordnung der
einzelnen Aufsätze scheint sehr
schlüssig, denn die verschiedenen angesprochenen Aspekte und Argumentationsstrukturen setzen sich in logischer Reihe fort. Die programmatische Frage des Untertitels nach der
(prinzipiellen) Möglichkeit einer weiblichen Geschichtsschreibung wird
aufgrund der Texte mit Ja beantwortet - aber nicht mit den Methoden
und Instrumentarien des überkommenen, traditionellen Geschichtsbegriffs.
Ute Brylla
Frank Hartmann
Max Horkheimers materialistischer Skeptizismus. Frühe Motive
der Kritischen Theorie
Frankfurt/Main-New York 1990
(Campus), geb., 267 S., 54.- DM
Mit seiner Arbeit greift Hartmann zunächst die Rezeption der Kritischen
Theorie in der Gegenwart wieder auf.
Besonders die, welche in den 60er
Jahren über die von der Frankfurter
Schule ausgelösten Irritationen diskutiert. Die Kritik an Horkheimers Entwurf verdichtete sich seitdem zu dem
Vorwurf, Kritische Theorie wecke
illusionäre Hoffnungen.
Hartmann entwirft einen Weg aus der
Argumentationsnot, in der sich die
Sekundärliteratur bei der Beschäftigung mit der Kritischen Theorie befindet. Er zeigt deren Schwierigkeiten
anhand einiger Literaturbeiträge exemplarisch auf. Von vielen Seiten, so
Hartmann, wird der Kritischen Theorie zur Last gelegt, sie sei bloß theoretisch und nicht im geringsten handlungsorientiert, da sie die Revolution
im Sinne von Marx und der Sowjetphilosophie ablehnt. Hartmann versucht zu beweisen, daß diese Kritik
auf einer Fehlinterpretation der Kritischen Theorie beruht. Denn die Kritische Theorie ist nach ihrem eigenen
Selbstverständnis ein Teil des (sich reflektierenden) gesellschaftlichen Prozesses und somit dem gesellschaftlichen Wandel unterworfen. Sie hat
daher kein statisches Geschichtskonzept, was die Voraussetzung für die
Postulierung einer 'geschichtlichen
Notwendigkeit' wie der Revolution
wäre, sondern sie fordert, ein positiver gesellschaftlicher Wandel müsse
durch einen Wandel der Ideale herbeigeführt werden. Hierin liegt die
Handlungsbezogenheit der Kritischen
Theorie.
Die Frage, ob die Kritische Theorie
eine marginale Theorie sei, beantwortet Hartmann wie folgt: "Die Rolle
der Kritischen Theorie war eine eher
marginale - bis zu dem Punkt, an dem
der Studentenprotest der sechziger
Jahre ihre Reflexionen aktualisierte,
um sie gegen jenen homogenen Konservativismus zuzuspitzen, um dessen
Preis die Demokratisierung in
Deutschland
erkauft
worden
war"(S.224). Es stellt sich also die
Frage, ob die Ideale beipielsweise der
Studentenbewegung, nämlich Freiheit
und Selbstbestimmung, Gerechtigkeit
Neuerscheinungen
und Solidarität mittels der Kritischen
Theorie in die Praxis umgesetzt werden können.
Hartmann stellt fest, daß Horkheimer
"(trotz) der teils geradezu defätistischen Grundstimmung seiner Vernunft - und zivilisationskritischen
Texte ... seine Hoffnung auf ein Vernunftpotential der abendländischen
Kultur" baut (S.223). Durch dieses
Vernunftpotential können Zivilisation, Emanzipation und alle anderen
Ideale in die Praxis umgesetzt werden.
Hartmann analysiert im zweiten Teil
seiner Arbeit die Grundlagen der Kritischen Theorie bei Marx, Weber, Lukács und Schopenhauer, insbesondere
deren Konzeptionen zum Verhältnis
von Theorie und Praxis und zeigt auf,
daß Horkheimers Philosophie - wie
die Entwürfe seiner theoretischen
Vorläufer - der Befreiung der Menschen von ungerechten Herrschaftsstrukturen verpflichtet ist. In seinem
Epilog würdigt es Hartmann als besonderes Verdienst der Kritischen
Theorie, daß sie versucht habe, "zeitdiagnostisch fruchtbar" zu werden,
und "sich gegenüber der Politik nicht
abgeschottet" habe. "Die daraus ...
entstandenen Defizite regen", so
Hartmann, "zur weiterführenden Reflexion über die Bedingungen einer
'Kritischen Gesellschaftstheorie' an"
(S.230).
Das Buch Hartmanns hat für die Rezeption Horkheimers neue Rahmenbedingungen geschaffen und viele
bisher aufgetretene Irritationen ausgeräumt. Dabei liegt die besondere
Stärke seiner Arbeit darin, daß nun
nicht mehr geleugnet werden kann,
daß die Kritische Theorie essentiell
eine Handlungsperspektive in sich
birgt. Durch seine Argumentation
beweist Hartmann, daß die Kritische
Theorie auch und vor allem für die
aktuelle gesellschaftliche Praxis ein
nützlicher Ansatz ist.
A.K.M.Salahuddin
Frederik van Geldern
Habermas' Begriff des historischen Materialismus,
Frankfurt/Main
1990
(Peter
Lang),geb., 261 S., 77.- DM
Rick Roderick
Habermas und das
Problem der Rationalität. Eine
Werkmonographie
Hamburg 1990 (Argument), 210 S.,
28.- DM
Ausführliche jüngere Auseinandersetzungen mit dem Werk Habermas'
sind selten, zumeist beschränken sich
Interpreten und Kritiker auf kurze
Stellungnahmen oder einzelne Aspekte. Gerade deshalb verdienen van
Gelderns und Rodericks Werkmonographien Aufmerksamkeit: dieser
zeichnet Habermas' gesamte Theorieentwicklung einschließlich der Theorie des kommunikativen Handelns
nach, jener stellt Habermas' MarxKritik und Reformulierung des historischen Materialismus ins Zentrum
seiner Analyse. Beide Autoren verfahren genetisch. Zum einen präparieren
sie prägnant Habermas' Anknüpfen
an die Forschungsprogramme der
frühen Frankfurter Schule in den 30er
Jahren heraus, zum anderen arbeiten
sie sowohl Bezüge zur Entwicklung
kritischer Gesellschaftstheorie in der
Tradition von Marx als auch die Auseinandersetzung mit anderen philosophischen Positionen ein (hier sei vor
allem Rodericks knappe, aber umfassende Berücksichtigung der amerikanischen Diskussion um Habermas
hervorgehoben, die bisher dem
deutschsprachigen Publikum so nicht
zugänglich war) und zum dritten diskutieren sie die Stufen der Habermas'schen Theorieentwicklung aus
der Perspektive ihrer immanenten
Ansprüche und Defizite.
Rodericks Analyse geht von der in
'Erkenntnis und Interesse' zentralen
Kategorie der Selbstreflexion aus,
zeigt anhand des Habermas'schen
Nachwortes von 1973 sowohl deren
Zweideutigkeit in der Vermengung
des Kantschen und des Marxschen
Begriffes von Kritik auf, als auch deren Überwindung durch die Differenzierung zwischen rationaler Rekonstruktion und kritischer Selbstreflexion und begründet daraus
die
kommunikationstheoretische Wende
der kritischen Theorie. Die sich daran anschließende Formierung der
Kommunikationstheorie
unterteilt
Roderick in vier Etappen - zum einen
die Theorie der kommunikativen
Kompetenz, der systematisch verzerrten Kommunikation und der idealen
Sprechsituation, zum anderen die
Diskurstheorie und die Konsensustheorie der Wahrheit, zum dritten die
Theorie der Universalgrammatik und
der gesellschaftlichen Evolution und
zum vierten die Theorie des kommunikativen Handelns und der kommunikativen Rationalität -, denen er ausführliche Studien widmet.
Van Gelderns Buch, das als Detailanalyse der bei Roderick in der dritten
Stufe der Habermas'schen Theorieentwicklung abgehandelten Theorie
der gesellschaftlichen Evolution gelesen werden kann, zieht eine Linie zu
'Zur Rekonstruktion des historischen
Materialismus', die ihren Anfangspunkt in Habermas' 'Literaturbericht
zur philosophischen Diskussion um
Marx und den Marxismus' von 1957
hat und bereits dort in programmatischer Formulierung die von Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns beanspruchte dialektische Aufhebung Marxscher Theorie
nachweist.
Parallel dazu zeigt van Geldern - was
in der bisherigen Habermasrezeption
weitgehend unberücksichtigt blieb -,
wie Habermas in 'Philosophische
Anthropologie, ein Lexikonartikel'
von 1958 das durch seine Marxkritik
zum Problem gewordene Verhältnis
von Theorie und Praxis und die so in
Frage gestellte materialistische Dialektik als sowohl kritische Philosophie
und zugleich Kritik der traditionellen
Philosophie durch die Aufnahme von
Ergebnissen der philosophischen
Anthropologie vor allem Schelers,
Plessners und Gehlens auf neue Füße
zu stellen versucht. 'Zwischen Philo-
Neuerscheinungen
sophie und Wissenschaft, Marxismus
als Kritik' von 1960, das als das von
Marx hinterlassene und daran anzuknüpfende Erbe dessen Begriff von
Kritik als Krisenbewußtsein und Realkritik der innerweltlichen Ursachen
der objektiven Krise erläutert, schließt
den Kreis der Schriften ab, die van
Geldern als Schritte auf dem Weg zu
'Zur Rekonstruktion des historischen
Materialismus' für sich thematisiert.
Die Analysen von 'Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus'
demonstrieren die Synthese der in
den Frühschriften nachgewiesenen
Einzelaspekte des Habermas'schen
Denkens und richten sie auf die Theorie des kommunikativen Handelns
aus. Beide Autoren gelangen aus wie
skizziert - je unterschiedlicher
Themenstellung
zu
übereinstimmender Kritik an Habermas und zu einer - bei van Geldern
eingeschränkter - Rehabilitation von
Marx. Van Gelderns Einwand
argumentiert von der Theorie des
kommunikativen Handelns her. Die
dort zentralen Kategorien des
instrumentellen und kommunikativen
Handelns, wie auch die materialen
Teile der Theorie der gesellschaftlichen Evolution können in ihrer Verarbeitung von Anthropologie und
Psychoanalyse, von erkenntnis- und
kommunikationstheoretischen Fragestellungen nur die subjektive Seite des
historischen und gesellschaftlichen
Prozesses adäquat reflektieren, werden aber zugleich für die Reflexion
der objektiven Seite dieses Prozesses
in Anschlag gebracht. Demgegenüber
nimmt Marx' produktionstheoreti-
sches Paradigma seinen theoretischen Ausgang von wie auch immer
vermittelten objektiv Seiendem, was
diesen, im Gegensatz zu Habermas,
zumindest vor der gesellschaftlich
und politisch völlig inadäquaten idealistischen Konsequenz, praktische
Verhältnisse nur durch die Veränderung des Bewußtseins entscheidend
beeinflussen zu können, schützt.
Auf gleicher argumentativer Ebene
geht Rodericks Einwand weiter: Habermas'
Kommunikationstheorie
kann nur als Ergänzung, nicht aber als
Ersatz des Produktionsparadigmas
eine sinnvolle Weiterentwicklung kritischer Gesellschaftstheorie
sein,
wenn sie nicht die idealistischen Dilemmata, wie Marx sie in der 'Kritik
der Deutschen Ideologie' auf den
Begriff gebracht hat, auf dem theoretischen Niveau des 20. Jahrhunderts
reproduzieren will. Die von Habermas' Kommunikationstheorie in Frage
gestellten
gesellschaftlichen
Entwicklungen
sind
Ausdruck
bestimmter
gesellschaftlicher
Verhältnisse,
die
auch
aus
philosophischer Perspektive nicht
durch kommunikatives
Handeln,
sondern nur durch konkrete
Transformation gesellschaftlicher Lebensformen zu verändern sind. Roderick empfiehlt eine kritische Gesellschaftstheorie, die Habermas' Kommunikationstheorie
in
das
Produktionsparadigma integriert und
sich zunächst auf deskriptiver Ebene
erneuter Untersuchung von Klassen,
Machtstrukturen und politischen Organisationen widmen sollte.
Christian Sebald
Anna Kusser
Dimensionen der Kritik von Wünschen
Frankfurt/Main
1989
(Hain/Athenäum), geb.. 60.- DM
Ein Wunsch drängt auf Erfüllung.
Daß er meistens nicht in Erfüllung
geht, ist für viele Menschen heute zu
einer alltäglichen Erfahrung geworden. Auf den ersten Blick mag das lediglich an den äußeren Widerständen
liegen, die einer Einlösung entgegenstehen. Was aber passiert innerhalb
eines Individuums vom Aufsteigen
bewußter Wünsche aus der unbewußten vitalen Triebdynamik über
das konkretisierende Wollen und
Tunwollen bis hin zum geplanten und
gerichteten Versuch einer praktischen Verwirklichung?
Eben jener Graubereich der Motiviertheit allen menschlichen Handelns
(die
von
Schopenhauer
herausgearbeitete vierte Wurzel des
Satzes vom zureichenden Grunde) ist
in der wissenschaftlichen Forschung
bisher wenig bearbeitet worden. Dies
mag
an
der
Schwierigkeit
diesbezüglicher
empirischer
Forschungen liegen. Denn auf
Wünsche oder einer Handlung
vorausgehende Motive kann entweder
nur post festum geschlossen werden,
qua Rekonstruktion und Schluß aus
den tatsächlich erfolgten Handlungen,
oder man ist bezüglich der Wünsche
von Personen auf deren Selbstaussagen angewiesen. Dabei ergibt sich
dann allerdings das Problem, daß
Selbstaussagen - oder das Wunschbewußtsein einer Person überhaupt nicht in jedem Fall wahr, d.h. dem
Sachverhalt adäquat sein müssen. Aus
dem Verlauf der Geschichte - so
könnte man meinen - ließe sich u.a.
jedenfalls lernen, daß Wünsche, zu
deren Wesen es gehört, sich mit den
Gegebenheiten wie sie einmal sind,
nicht abzufinden, sondern das Gegebene zu transzendieren, eine notwendige Voraussetzung aller Handlung,
nicht aber ein hinreichender Grund
für verändernde Praxis sind.
In ihrer nicht immer leicht zu lesenden Untersuchung mit dem Titel:
"Dimensionen der Kritik von Wünschen" geht Anna Kusser nun der
Frage nach, wie man einer kritischen
Bewertung von Wünschen wissenschaftstheoretisch beikommen könne.
Ausgehend von er Diskussion einer
zweckrationalen Wunschkritik einerseits (die lediglich "falsches Wunschbewußtsein"
bezüglich "tatsächlicher" Wünsche kritisiert) und dem
Typus einer externen Wunschkritik
andererseits (die den Maßstab der
Kritik in dezisionistischer Weise von
außen an das Individuum heranträgt)
entwickelt Anna Kusser ihren eigenen
Ansatz, der die drei grundlegenden
Momente eines Wunsches berücksichtigt:
1) den Stellenwert eines Wunsches
oder die bewußte graduelle Bewertung eines bestimmten Wunsches unter anderen (das evaluative Moment);
Neuerscheinungen
2) das entsprechende Verlangen, den
Wunsch in einer ihm angemessenen
Handlung zu verwirklichen (das motivationale Moment);
3) den Grad der antizipierten Befriedigung (das satisfaktive Moment).
Diese drei Momente eines Wunsches
betreffen den Ort der Wunschproduktion, den Innenraum eines wünschenden Individuums. Fallen sie in
der ihnen entsprechenden Weise zusammen, realisiert das Individuum
sein subjektives Wohl; fallen sie auseinander, wird dies vom Individuum
als Diskrepanz und - wenn diese bewußt gemacht wird - als Leid erfahren. Überprüfbar werden mögliche
Diskrepanzen eines Wunsches erst
mittels dessen entsprechender (diskrepanter) Vergegenständlichung in
Selbstaussage, Realisierung des Wunsches in praktischer Handlung und erlebter (oder nicht erlebter) Befriedigung. Die Stärke dieses Ansatzes liegt
darin, daß sich das Leid erfahrende
Individuum die Kritik der Diskrepanz
in aller Regel zueigen machen wird.
Nach Anna Kussers eigenen Worten
ist nun "der Maßstab dieser Kritik die Kongruenz von Evaluation, Motivation und Satisfaktion - ein rein
formaler" (S.194). Darin äußert sich
die Begrenztheit dieses Ansatzes.
Denn
die
Wünsche
eines
Individuums, das keine diskrepanten
Momente aufweist, das also auch
nicht bewußt unter seinen Wünschen
leidet, sind unter den Bedingungen
einer
formalen
Wunschkritik
überhaupt nicht kritisierbar. Die
sierbar. Die Kritik beschränkt sich auf
die Kritik der Diskrepanz. Daß ein
Individuum gerade diesen oder jenen,
einen inhaltlich bestimmten Wunsch
hat, dazu kann diese Kritik nichts aussagen.
Zur Vergegenwärtigung sei hier nur
z.B. der Tötungswunsch infolge einer
Beleidigung oder in Absicht der
Rächung eines vorangegangenen
Mordes angeführt, dessen (moralische) Bewertung, Ausführung und satisfaktives Moment in manchen kulturellen Kontexten durchaus nicht auseinanderfallen muß. Ebensowenig
erfaßt sind auch all jene Wünsche, die
sich auf allgemeine, gesellschaftliche
Gegebenheiten richten und die damit
vom Individuum als einzelnem, isoliertem überhaupt nicht umgesetzt
werden können. Der Anspruch an eine Wunschkritik, zu den entscheidenden Fragen der Moral und der Gesellschaft Stellung zu nehmen, kann aber
nicht aufgegeben werden. Aus dem
Dilemma der Kritik, das darin besteht, entweder einen inhaltlich bestimmten Maßstab extern und damit
dezisionistisch an individuelle Wünsche heranzutragen oder aber - wie
dies Anna Kusser tut - einen internen,
dafür aber formalen Maßstab zu wählen, ergibt sich m.E. daß nur eine historische Wunschkritik, also eine Kritik, die ihre (jeweils relativen) Maßstäbe aus einer eingehenden historischen
Analyse bezieht (einschließlich einer
Theorie des Verhältnisses von Individuum und Allgemeinheit/Wesen), in
der Lage ist, sowohl inhaltlich bestimmte
als
auch
nicht-
dezisionistische Aussagen über Wünsche zu treffen.
Wolfgang Thorwart
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