In: Widerspruch Nr. 19/20 Ende der Linken? (1990), S.143-157 Neuerscheinungen Rezensionen Besprechungen Neuerscheinungen Niklas Luhmann Paradigm lost. über die ethische Reflexion der Moral. Rede anläßlich der Verleihung des HegelPreises 1989. Laudatio von Robert Spaemann; Niklas Luhmanns Herausforderung der Philosophie Frankfurt/Main 1990 (Suhrkamp), brosch., 73 S., 8.- DM Luhmanns Paradigmazuweisung einer „ethischen Reflexion der Moral“ um faßt solche Ethiken, die auf die Begründung moralischer Normen und Werte ausgerichtet sind und auf die Rationalitätsgrundlagen moralischer Urteile. Nach Luhmanns Darstellung zeichnet sich eine solche Moralphilosophie erst in Theorien der letzten Jahrzehnte des 19. Jhr.s ab. Als Beispiele werden Kants aprioristische Vernunftethik und Benthams Utilitarismus genannt, aber auch die „Umkehrphilosophie“ des Marquis de Sade läßt sich unter das besagte Paradigma fassen. Luhmann bringt die Entstehung des Paradigmas in Zusammenhang mit den ersten sammenhang mit den ersten Veränderungen von eher schichtenbezogenen sozialen Ordnungsrahmen zu eher funktionalen Ordnungsrahmen von Gesellschaften. Moralische Normen und Werte können nicht mehr zweifelsfrei als gesellschaftlich vermittelte Repräsentationen einer göttlichen oder naturwüchsigen Ordnung bestätigt werden. Das Paradigma hat so mit einem „Zweifel an der Moral“ zu tun, gegen den „die Ethik sich in sich als Theorie“ abzusichern versucht habe und noch abzusichern versuche. Eine solche Orientierung von Ethiken und Ethikwellen gilt für Luhmann als paradoxes „paradigm lost“, das auch als „paradigm regained“ zu verstehen ist, soweit man die zugleich ethisch und gesellschaftstheoretisch motivierten Sprachhandlungstheorien der letzten Jahrzehnte einbeziehen kann. Ethisch argumentierende Moral - und Gesellschaftstheorien müssen sich selber für moralisch gut halten, bzw. sich mit den zu begründenden Nor- men und Werten in Einklang sehen. Wie „jeder binäre Code“ aber - so Luhmann - führt auch der „Moralcode“ „bei einer Anwendung auf sich selbst zu Paradoxien“. Es läßt sich nicht entscheiden, „ob die Unterscheidung von gut und schlecht ihrerseits gut oder nicht vielmehr schlecht ist“. Eine ethische Reflexion der Moral führt in diese Paradoxie hinein, weil die Theorien in ihren Begründungsbemühungen nicht aus dem so eröffneten Geltungsbereich von Normen und Werten herausgehalten werden können. Überdies überlagern sich ein „Moralcode“ und ein „Wahrheitscode“, denn auch ethische Begründungen nehmen eine Unterscheidung von „wahr“ und „falsch“ in Anspruch. So mußte etwa von 'guten, weil wahren', aber auch von 'wahren, obwohl schlechten' Theorien ausgegangen werden können. Selbst die Frage, ob eine Theoriebildung überhaupt unter einem „Code der Moral“ begriffen werden kann, kann bei einer ethischen Reflexion von Moral nicht ohne Paradoxien gestellt werden. Eine Ethik, „die sich selber als moralisches Unternehmen“ versteht, überträgt ihre eigene Moralität auf einen Gegenstand, von dem so noch nicht ausgemacht ist, ob sie ihm zukommt oder zukommen kann. Eine solche Ethik verfehlt für Luhmann eine „Abkoppelung von Moral“ etwa im ökonomischen und im administrativen Bereich, sowie überhaupt den geringen Grad an Integrationsfähigkeit, den Moral in modernen („funktional ausdifferenzierten“) Gesellschaften hat. Dementsprechend könne die Ethik auch keine treffenden Konfliktanalysen bieten, sondern entfalte eher ein Konflikterzeugungspotential. Angemessen kann die Funktion von Moral in modernen Gesellschaften nach Luhmann dann untersucht werden, wenn Moral als soziales System einer „Kommunikation“ aufgefaßt wird, die allenfalls „Hinweise auf Achtung und Mißachtung mitführt“. Normen - und Wertedispositionen kommen in diesem Funktionsbegriff von Moral nicht vor, weil sie in den von Luhmann untersuchten sozialen Systemen selber relativ funktionslos seien oder eine Disfunktionalität zeigten und Paradoxien erzeugten wie das Theoriesystem einer ethischen Reflexion von Moral selber. Ist dann aber Luhmanns Moralforschung lediglich affirmativ an demjenigen orientiert, was gesellschaftlich der Fall ist, und ist sie nicht in der Affirmation zirkulär? Eine solche Frage ist aus Luhmanns Sicht falsch gestellt, berührt aber eine Schwierigkeit, auf die die Theoriekonstruktion selber eine Antwort sein soll. Sofern in Gesellschaften eine „Amoralität“ selber Gegenstand moralischer Beurteilung ist, muß die soziologische Theorie sich in ihrer „Amoralität“ einem derartigen moralischen Diskurs entziehen können. Für Luhmann ist dies aber eine Frage des Abstraktionsgrades der Theorie und der EbenenDifferenzierungen, die sie eröffnen kann. Eine systemtheoretische Soziologie der Moral soll die Funktion von Neuerscheinungen Moral moralfrei untersuchen können. Eine Distanzierung von Moral ist aus systemtheoretischer Sicht unter drei Bedingungen möglich, oder besser: auszuarbeiten. Die Theorie muß den eigenen Moralbegriff (den amoralischen der Funktionalität von Moral) als durch sie selbst erzeugt gewährleisten und verstehen können. Weiter muß sie diesen Moralbegriff als von ihr unabhängig, virtuell als „Umwelt“ wie von außen untersuchen können. Drittens muß sie die Distanzierung von dem eigenen Systemerzeugnis wiederum als durch die Theorie konstituiert erklären können. Dies sei hier erwähnt, um klarzustellen, daß (anders als in Luhmanns Redetext) die Paradigmendiskussion auf dem Boden einer Soziologie der Moral allein nicht geführt und nicht entschieden werden kann. Übergeordnet und entscheidend im Blick auf die oben genannte Schwierigkeit sind die Überlegungen zu einer Selbstreferenz einer Theorie der Autopoiesis selbstreferentieller sozialer Systeme[2] . Es handelt sich um Überlegungen zu einem Paradigmenwechsel in der Systemtheorie ihrerseits, um Überlegungen zur selbstreferentiellen Struktur der Erzeugung von Unterscheidungshinsichten und Elementen in Theorien sozialer Systeme. Es sind Prolegomena zu einer künftigen Theorie, auch wenn sie selbstverständlich das in Anwendung sehen, was sie entwickeln. Erprobt wird eine neue „Leitdifferenz“ der Theorie, die einer „Differenz von Identität und Differenz“ (nicht: einer Identität von Identität und Differenz). Unterscheidungshinsichten sollen so von sich selbst unterscheidbar gehalten werden. Die Weite des autopoietischen Zirkels wäre es dann, mit dem das Paradigma einer ethischen Reflexion der Moral zu konkurrieren hätte. Denn dieses Paradigma erlaubt nicht, eine Selbstbezüglichkeit (in der Verwendung des „Moralcodes“) zu explizieren und die Explikation selbst wiederum zum Gegenstand zu machen. Das in „Soziale Systeme“ vorgestellte Theorieprojekt sieht R. Spaemann in seiner „Laudatio“ als „Herausforderung der Philosophie“ an, aber als eine unphilosophische und „antiphilosophische“. Durchaus Hegels Verhältnisbestimmung von „Wahrheit“ und „System“ verwandt, verzichte Luhmanns Werk - darin „radikaler als Philosophie“ - auf „Abschlußgedanken“ und in seiner Autopoiesisvorstellung auf einen „Gedanken des Absoluten“. Gerade in dem Versuch, eine Autopoiesis der Theorie ihrerseits noch einmal unter eine Selbstreferentialität der Theorie zu stellen, entfalle ein „Absolutes“ der Theorie. „Philosophie“ könne jedoch auf „letzte Gedanken“ nicht verzichten, und zwar um der „Selbstachtung“ von „jedermann“ willen, gerade dann, wenn über deren „Funktion“ nachgedacht werde. „Philosophie“ müsse Luhmanns reflektierte „Modernität“ nicht akzeptieren. Für die „praktische Philosophie“ ist nach Spaemann ein „Abschlußgedanke“ notwendig - eine „Einsicht in das, was jetzt zu tun ist“. Als moralphilosophisches Diktum über Ethik ist diese Position aber den Einwänden Luhmanns gegen eine „ethische Reflexion der Moral“ ausgesetzt. Bei einer derartigen, nicht mehr vermittelbaren Gegenüberstellung von Philosophie und Nichtphilosophie dürfte jedoch eine Rezeption von Systemtheorie, die selber nicht systemtheoretischer Art ist, kaum stehenbleiben. Luhmann selbst hebt die Vorläufigkeit des Begriffs einer „Autopoiesis“ der Theorie hervor. „Autopoiesis“ komme zunächst noch in einem „metaphorischen Sprachgebrauch“ vor und sei als „linguistische Notlösung“ anzusehen. Ob es dabei bleibt, hängt für Luhmann entscheidend von dem Einbezug und von der Weiterentwicklung einer „naturalistischen Epistemologie“ ab. Letztere könne die Ebene eines Vergleichs des sozialen Systems 'Theorie' mit organischen und psychischen Systemen abgeben bzw. weiter ausbilden. Ohne interdisziplinäre Bestätigung selbstreferentieller Systeme trägt der hochabstrakte Zirkel einer übergeordneten autopoietischen Theorie selbstreferentieller Systeme die Züge eines strukturbetonten Modells der Unterscheidung von Unterscheidungshinsichten. Eine interdisziplinäre Systemforschung soll den Zirkel semantisch füllen, d.h. die Unterscheidungen verinhaltlichen. Dies kann sie nur, wenn sie sich in den Zirkel einschließt und im übergeordneten autopoietischen Modell funktioniert. Soll nun der „metaphorische Sprachgebrauch“ der Theorie überwunden werden, hat man es dann mit Problemen einer Theoriesprache zu tun, die auf eine Sinnerzeugung durch Strukturerzeugung setzt? Und ist dies dann ihr „Sachverhalt“, den sie zu „beschreiben“ hat? Es sind dies Fragen, die sich auf die (unausdrückliche) Sprachauffassung von Luhmanns Theoriekonstruktion richten. So können durchaus Fragen von außen an Luhmanns Theorie sozialer Systeme gerichtet werden, die sich nicht müdem Hinweis zurückweisen lassen, sie seien nicht systemtheoretisch immanent gestellt. Es sind dies Fragen, die die Mittel des Autopoiesis-Konzeptes betroffen, von dessen Plausibilität ja eine Exklusion z.B. von sprachbezogenen Untersuchungen zur Systemtheorie abhinge. Ohne Betrachtung von außen läßt sich kaum entscheiden, welche Anteile aus der metaphysischen Tradition der Metaphorik Luhmanns zukommen. Zuweisungen wie unphilosophisch/ philosophisch oder gar antiphilosophisch/ philosophisch aber tragen kaum etwas zu einem der anregendsten Diskurse des 20. Jhr.s bei, zumal unter Systemtheorie keineswegs etwas Einheitliches verstanden wird. Mit der eher dogmatischen Festlegung, was „Philosophie“ zu sein habe, streitet Spaemann Luhmanns Arbeiten zum Teil dasjenige ab, was er an ihnen lobt, deren interdisziplinäre Bedeutung. Eine „Herausforderung der Philosophie“ wird hervorgehoben, eine Einmischung in deren Angelegenheiten aber abgelehnt. Neuerscheinungen Ignaz Knips 1 N. Luhmann: Soziologie der Moral, in: Ders./St.H. Pfürtner (Hrsg.): Theorietechnik und Moral, Frankfurt 1978, S.8 ff. 2 N. Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, 2.Aufl. Frankfurt 1988. Axel Honneth Die zerrissene Welt des Sozialen. Sozialphilosophische Aufsätze Frankfurt/Main 1990 (Suhrkamp), brosch., 203 S., 16.- DM In „Die zerrissene Welt des Sozialen“ veröffentlicht Honneth sozialphilosophische Aufsätze aus den achtziger Jahren. Will man die Aufsätze auf ein Oberthema bringen, so geht es um die Möglichkeiten von Gesellschaftskritik heute. Im Mittelpunkt steht dabei sowohl eine Auseinandersetzung mit der französischen Philosophie, als auch mit der kritischen Theorie. Wie groß die Parallelen zwischen beiden Theorien ist, zeigt Honneth im Aufsatz „Foucault und Adorno“, der thematisch an Honneths „Kritik der Macht“ anknüpft. Die überraschende Nähe der Dialektik der Aufklärung zum machttheoretischen Werk Foucaults zeigt sich bis in Formulierungen hinein, wenn es beispielsweise um den Doppelcharakter der Aufklärung geht. Doch diese Konvergenz bietet Honneth auch den Schlüssel zur Kritik: Foucaults und Adomos Fixierung aus herrschaftssicherndes Verfügungswissen sowie eine herrschaftsverschleiernde Rechtsform in der Aufklärungsepoche schafft die Voraussetzung, „die das Bild der europäischen Moderne in beiden Theorien so eigentümlich einschränkt und konturenlos sein läßt“ (S .85). Es ist eine Einseitigkeit, wie Honneth feststellt, die trotz berechtigter Kritik der Moderne nicht in der Lage ist, auf kulturelle und moralische Fortschritte zu reagieren. Man könnte die „Die zerrissene Welt des Sozialen“ so lesen, als ob die Aufsätze dieses Defizit der Theorie Foucaults wie auch der kritischen Theorie zu lösen versuchen. In diesem Sinne verweist Honneth die kritische Theorie auf sich selbst. „Kritische Theorie. Vom Zentrum zur Peripherie einer Denktradition“, unter diesem Titel untersucht Honneth den „äußeren Kreis“ des Frankfurter Instituts für Sozialforschung. Bei Neumann, Kirchheimer, Fromm und Benjamin sieht Honneth handlungstheoretische Ansätze vergraben, die in den Schriften Adornos und Horkheimers gänzlich fehlen. Ein Aufsatz über das Frühwerk Lukács', besonders seinen „romantischen Antikapitalismus“, rundet das Bild der Aktualität kritischer Gesellschaftstheorien zu Beginn dieses Jahrhunderts ab. Das Portrait der französischen Philosophen - Levi-Strauss, MerleauPonty, Bourdieu, Sartre und Castoriadis - zeigen Alternativen zur gegen- wärtigen, postmodernen französischen Philosophie auf. Die Aufsätze über Castoriadis und Sartre sind nicht nur deshalb interessant, weil Castoriadis hierzulande fast unbekannt und Sartre fast vergessen ist, sondern weil Honneth mit Castoriadis' Revolutionstheorie und Sartres Intersubjektivitätstheorie radikale Gesellschaftskritiken aktualisiert. Eine Radikalität, die man etwa bei Habermas vermißt, was auch zu Schwachstellen seiner Theorie kommunikativer Rationalität führt. Dem widmet sich Honneth im letzten Aufsatz „Moralbewußtsein und Klassenherrschaft“. Ausgehend von einer Kritik an Habermas, daß seine Gesellschaftstheorie „all jene Formen existierender Gesellschaftskritik systematisch übergehen muß, die von der politisch-hegemonialen Öffentlichkeit nicht anerkannt werden“ (S.184), versucht Honneth mit dem Begriff „Unrechtsbewußtsein“ das klassenspezifische Moralbewußtsein Unterdrückter auszumachen. An Untersuchungen der frühen 70er Jahre zum Spätkapitalismus und zum stillgestellten Klassenkampf knüpft Honneth an, um die Verhinderung der kollektiven Artikulation des Unrechtsbewußtseins darzustellen. „Die zerrissene Welt des Sozialen“ dokumentiert auch eine Zerrissenheit der Gesellschaftskritik - vornehmlich in die beiden Blöcke: kritische Theorie und französische Philosophie. Anschaulich macht Honneth deutlich, daß diese Zerrissenheit überwunden werden muß, mit Habermas gegen Habermas, vor allem aber mit Radika- lität, die der hiesigen kritischen Gesellschaftstheorie fehlt. Roger Behrens Anke Thyen Negative Dialektik und Erfahrung. Zur Rationalität des Nichtidentischen Frankfurt/Main 1989 (Suhrkamp), kart., 336 S., 38.- DM Die Kritik der neueren kritischen Theorie an der älteren fixiert sich in der Regel auf die Aporien der „Dialektik der Aufklärung“. Dabei wird die geschichtsphilosophische Konstruktion mit „katastrophischem Blick“, wie Habermas sagt, mit einer Einseitigkeit kritisiert, die auch nachfolgende Werke Adornos und Horkheimers unter den Vorwurf der Geschichtsphilosophie subsumiert. Adornos nichtidentisches Denken und auch seine Versöhnungskonzeption, schlichtweg die ganze „Negative Dialektik“, fallen damit unter den Tisch. Anke Thyen legt mit ihrem Buch „Negativ Dialektik und Erfahrung“ nun eine ganz andere Interpretation von Adornos Werk vor. Damit gelingt es ihr, zugleich die vorschnelle kommunikationstheoretische Wende zu revidieren und Adornos Konzept einer dialektischen Rationalität zu aktualisieren. Ausgangspunkt ist für Thyen, ähnlich wie in Habermas' „Theorie des kommunikativen Han- Neuerscheinungen delns“, das Webersche Rationalitätskonzept. Doch entgegen Habermas' Gleichsetzung von Zweckrationalität und Instrumentalität arbeitet sie aus dem Weberschen Werk und aus dem Odyssee-Exkurs der „Dialektik der Aufklärung“ heraus, daß Zweckrationalität und Instrumentalität nicht gleichzusetzen sind. Wie Thyen durch eine Lesart der Homerischen Odyssee aus einer erkenntnistheoretischen Perspektive zeigt, „verdankt sich die Konstitution des neuzeitlichen Selbst nicht nur der - zudem kognitivistisch verkürzten - instrumentellen Rationalität, sondern impliziert darüber hinaus selbstreflexive Orientierung, die sich nicht im instrumentellen Denken und Handeln der um ihre bloße physische Selbsterhaltung kämpfenden Subjekte erschöpft“ (S. 111). Diese Erkenntnistheorie gilt es herauszuarbeiten, um zu zeigen, da der Vorwurf der Geschichtsphilosophie an die „Dialektik der Aufklärung“ „nicht kritische Theorie insgesamt“ trifft (S.109). Die „Dialektik der Aufklärung“, so Thyen, entfaltet lediglich auf der „Makroebene“ die Dialektik des Denkens (vgl. S.131). Thyen geht es dabei um den Unterschied zwischen der Konstatierung des totalen Verblendungszusammenhangs und der „Ontologie des falschen Zustands“ (Adorno) einerseits und zur Erkenntnistheorie andererseits. Gerade die in der „Negativen Dialektik“ explizierte Erkenntnistheorie Adornos ist es nämlich, mit der die kritische Theorie selbst die Aporien der Dialektik der Aufklärung theorieimmanent reflektiert (S.109). Hier finden sich die Möglichkeiten selbstreflexiven Denkens dargestellt. Keineswegs ist die „Negative Dialektik“ daher „als ein Exerzitium, eine Übung, zu verstehen“, wie Habermas meint, sondern als Theorie dialektischer Rationalität von Identität und Nichtidentität. Für Thyen fungiert Nichtidentität dabei nicht als Gegenbegriff zur Identität, sondern Nichtidentität „ist vielmehr der konstruktive Grenzbegriff des Begrifflichen, der Identität selber“ (S.198). Diese Entfaltung von Identität und Nichtidentität führt zu einer Aktualisierung der „Idee der Versöhnung“, zu einem Verweis auf das somatische Moment, welches durch die kommunikationstheoretische Wende, die Erfahrung auf intersubjektive Erfahrung reduziert, vergraben wurde. Da Erfahrung sich nicht auf Intersubjektivität reduzieren läßt, sich für Adorno aber auch nicht entgegen aller Kritik in einem bewußtseinsphilosophischen Begriff vom Subjekt verstrickt, stellt Thyen an Adornos materialem Subjektbegriff dar, der sich sowohl gegen das idealistische Bewußtseinssubjekt wendet, wie auch gegen ein kommunikativ verflüssigtes Subjekt. Thyen zeigt, wie Adorno mit seiner Subjekt- und Erkenntnistheorie einerseits Gedanken Sohn-Rethels aufgreift, da nämlich zwischen Warenstruktur und Bewußtseinsstruktur ein Zusammenhang besteht, da Adorno aber auch über Sohn-Rethel hinaus greift und damit auch ein wichtiges Moment der Manschen Theorie auf- nimmt, in dem Bewußtsein und Erfahrung sich nicht monologisch aus der Ökonomie ergeben, sondern auch über sie hinausweisen kann. Diese Fähigkeit zur Selbstreflexion des Denkens enthält neue Möglichkeiten einer Metaphysik. Ansätze dafür sieht Thyen bei Adorno selbst impliziert (vgl. S.218). Metaphysik wäre nach Adornos Konzept einer Rationalität des Nichtidentischen, wie Thyen im Schlußkapitel ihres Buches in Aussicht stellt, negative Metaphysik. Für die praktische Philosophie hätte das Konsequenzen, die auch ein Defizit kritischer Theorie zu füllen in der Lage wären: die Formulierung einer Ethik. Diese Ethik hat genauso wie die negative Metaphysik ihre Bezugspunkte in der Gesellschaftstheorie Adornos: sie betreffen „den Zusammenhang von Philosophie und lebensgeschichtlicher Individualität, die sich geschichtlich ausprägt... Unter Bedingungen der Moderne verhält sich Denken analog zu den zerfallenen Vernunftmomenten. Denken, das das Ganze, nicht das antagonistische, zerfallene Ganze, denken will, kann nur Zuflucht nehmen bei der philosophischen Tradition“ (S.284 ff). Bei aller Komplexität des Themas, an das Anke Thyen sich heranwagt, ist ihr Buch dennoch so verständlich, da es ihr nicht nur hinsichtlich einer theoriegeschichtlichen Problematik gelingt den „monolithischen Block“ der „Negativen Dialektik“ zu entschlüs- seln, sondern Adornos Theorie überhaupt transparent zu machen. Roger Behrens Alain Finkielkraut Die Niederlage des Denkens Reinbek 1989 (Rowohlt), Paperback, 156 S., 14.- DM Die Kontroverse von Aufklärung und Gegenaufklärung hat sich bis in die Gegenwart fortgesetzt. Alain Finkielkraut weist in seiner Darstellung der Geschichte dieser Kontroverse die Niederlage des Denkens in jedem Lebensbereich nach. Erleben wir nun das Ende der Aufklärung? Die Theoretiker der Aufklärung hatten uns gelehrt, daß das Denken und die Wissenschaft die notwendigen Voraussetzungen der Freiheit sind, „daß die Freiheit zwar ein allgemeines Recht ist, daß jedoch nur aufgeklärte Menschen auch frei genannt werden können.“ (S.58) Der Niederlage des Denkens folgt unausweichlich das Ende der Freiheit. In der Gegenwart verkehrt sich das Denken in NichtDenken und die Freiheit in Willkür und Eklektizismus. Die Gegenaufklärung mit allen ihren Konsequenzen setzt sich durch: Intoleranz, Infantilismus, Nivellierung aller Werte und Unwerte, Regression in die Barbarei. Begriffe wie „Nation“ oder „Kultur“ erfahren radikale Umwandlungen. Sie verlieren ihren Allgemeinheitscha- Neuerscheinungen rakter und beschränken sich aufs Besondere. Infolge dessen verschwindet ihr rationales Moment. Alain Finkielkraut will diese Begriffswandlung aus der Geschichte verstehen: Das Eigentümliche und Partikulare wurde - etwa von Herder - gegen das Universelle und Allgemeine der Französischen Aufklärung gestellt. Praktisch wirksam wurde es aber erst nach der Niederlage in Jena und der Napoleonischen Besetzung. Ähnliches geschieht mit dem Begriff der Nation: Für die französischen Revolutionäre gründet sich die Nation auf einem Gesellschaftsvertrag; sie konstituiert sich aus dem Willen ihrer Mitglieder. In Opposition dazu leugnet die Gegenaufklärung den freien Willen. Der Wille des Einzelnen wird durch die Zugehörigkeit zur nationalen Totalität beherrscht. Hier steht also die freiwillige, auf Vernunft basierende Entscheidung der Mitglieder einer Gesellschaft gegen die obligatorische (Zwangs) Gemeinschaft aufgrund der Geburt. An den Geist der Aufklärung wurde nach dem 2.Weltkrieg zunächst angeknüpft. Im November 1945 verkündete das Statut der UNESCO Vorsätze, die jeden zukünftigen Nazismus abwehren sollten. Es wird der Versuch unternommen, die abstrakten Menschen- und Bürgerrechte zu überwinden. Die konkreten Lebensformen der Menschen sollten im Begriff der „Menschenwürde“ einbezogen werden. Diese Synthese von Allgemeinem und Besonderem schei- terte aber an der „Philosophie der Entkolonialisierung“. Sie bekämpft mit Recht den abstrakten Humanismus, der ein bestimmtes Menschenbild zum allgemeingültigen erklärt, aber sie hält nur das Besondere fest. Sie leugnet die universellen Werte zugunsten der besonderen Wertsetzungen jeder einzelnen Kultur. Somit wird die jeweils eigene Kultur die alleinbestimmende und alleinherrschende. Diese dominiert die Individuen in einem Maße, daß jeder Fluchtversuch zwecklos ist. „Wie die alten Lobsänger der Rasse halten die gegenwärtigen Fanatiker der kulturellen Identität den einzelnen im Gewahrsam seiner Zugehörigkeit.“(S.85) Sie werden zu Befürwortern einer multikulturellen Gesellschaft, in der die fremden Kulturen - etwa der Einwanderer aus der „Dritten Welt“ samt ihren menschenfeindlichen Bräuchen (z.B. Frauendiskriminierung und -mißhandlung) - affirmiert werden. „Aus Angst, den Einwanderern Gewalt anzutun, verbindet man sie mit der Livree, die die Geschichte ihnen zugeschnitten hat. Um sie so leben zu lassen, wie es ihnen paßt, versagt man es sich, sie vor möglichen Untaten oder Mißbrauch ihrer jeweiligen Tradition zu schützen. Um die Grausamkeit der Entwurzelung zu mildern, übergibt man sie wehrlos, auf Gedeih und Verderb wieder ihrer Gemeinschaft und schafft es so, die Anwendung der Menschenrechte auf die Menschen des Westens zu beschränken, und das alles in dem Glauben, diese Rechte zu erweitern, wenn man jedem die Wahl läßt, in seiner Kultur zu leben. Entstanden aus dem Kampf zur Befreiung der Völker, führt der Relativismus zum Lob der Knechtschaft.“ (S.113) Schließlich eliminiert die Kulturindustrie das Denken durch das Verwischen der Grenze zwischen Kultur und Unterhaltung. Früher hatte beim Bürger die Kultur kein großes Ansehen genossen, da sie außerhalb des Rahmens der Verwertung stand: sie galt als nutzlos. Das „rechnerische Denken“ der Gegenwart dagegen „entdeckt den Nutzen des Nutzlosen, investiert systematisch in die Welt der Begierden und Freuden, und nachdem es die Kultur zu einer unwirtschaftlichen Ausgabe degradiert hat, erhebt es nun jedes Vergnügen zu kultureller Würde: Kein transzendenter Wert darf die Ausbeutung der Freizeit und die Steigerung des Konsums hemmen oder gar bestimmen können. Allerdings - und dieser Unterschied macht die relative Überlegenheit der Welt von gestern aus bekämpften die gebildeten Menschen die Tyrannei des rechnerischen Denkens als Dummheit, während die postmoderne Verbreitung dieses Denkens so gut wie keinen Protest auslöst.“(S.127) Seinen Protest drückt Alain Finkielkraut in seiner Darstellung der Gegenwart auf bitter-ironische Weise aus. Protest und nachdrückliche Warnung zugleich, denn das „geniale Rennpferd“ aus Robert Musils Roman kommt uns wirklich zuvor. Nicos Constantinides A. Corbin, A. Farge, M. Perrot u.a. Geschlecht und Geschichte. Ist eine weibliche Geschichtsschreibung möglich? Frankfurt/M. 1989 (S.Fischer) brosch., 34.- DM Die vorliegende Aufsatzsammlung widmet sich einem äußerst interessanten, dessen ungeachtet jedoch nach wie vor noch relativ vernachlässigten Themenkomplex: der Frauengeschichtsschreibung. Wie in mehreren der elf Aufsätze anklingt, konnte sich diese Disziplin zwar offenbar mittlerweile aus dem Dunkel vollkommener Ignoranz seitens der 'offiziellen' Historiographie lösen, aber mehr als verhaltene Akzeptanz können Frauengeschichtlerinnen wohl auch heute im allgemeinen nicht erwarten. Dafür gibt es mehrere Gründe, denn wie sich in den verschiedenen Beiträgen zeigt, stellt Frauengeschichtsschreibung eine in mancher Hinsicht unbequeme Erscheinung für die traditionelle Historiographie dar. So wird vor allem unser überkommener Geschichtsbegriff in Frage gestellt, wie er sich im 19. Jhr. herausgebildet hat. Seine Konzentration auf das (von Männern bestimmte) öffentliche Geschehen, die sog. Nationalgeschichte, verbannt die Frauen - immerhin die Hälfte der Bevölkerung - konsequent in eine Sphäre der Geschichtslosigkeit, wie Michelle Perrot bereits im Vorwort beklagt. Neuerscheinungen Diese Entlarvung der Unzulänglichkeit traditioneller Historiographie bildet den Ausgangspunkt der Frauengeschichtsschreibung. Daß sie jedoch zunächst nicht immer frei von 'alten Fehlem' war, kommt in Arlette Farges Aufsatz zum Tragen. So dominierte zu Beginn (ca. zwischen 1970 und 1980) ein ideologisches Interesse der Historikerinnen - es handelte sich hierbei fast ausschließlich um engagierte Feministinnen, was eine 'doppelte Parteilichkeit' der Frauengeschichtsschreibung bewirkte: geprägt von Ideologie und Identifizierung mit dem Projekt. Dabei erfolgte nun zunächst konsequent aus Frauensicht ein deskriptives Umreißen der neuen Disziplin, wobei zwei Topoi vorherrschten: verkannte bzw. vergessene Heldinnen und die Gruppe der Unterdrückten. In diesem Zusammenhang stand das Thema der 'weiblichen Natur' nahezu unangefochten im Vordergrund. Auf diese Weise bewegte sich Frauengeschichtsschreibung jedoch ständig nur im Spannungsfeld von Herrschaft und Unterdrückung. Spätestens seit den 80er Jahren kam es zu einer Abkehr von der 'Elendsargumentation' hin zu einer intensiven Methodikdiskussion die für die gesamte Geschichtswissenschaft sehr fruchtbar sein könnte. Anstatt den rein 'männlichen' Geschichtsblick mit dem rein 'weiblichen' zu vertauschen, ist man nun bestrebt, die ganze Geschichte der Menschheit zu zeigen - in seiner gesamten komplexen Komplementarität. Dabei zeigt sich die Notwendigkeit, nach anderen Methoden der Quellenaufarbeitung zu suchen, als es bisher üblich war. Dies setzt zunächst die Erkenntnis voraus, daß hierbei stets eine gewisse Parteilichkeit im Spiel ist. Die Geschichtslosigkeit der Frauen resultiert nicht etwa aus dem Fehlen entsprechender Quellen, sondern aus der (bisher männlichen) Sichtweise und den damit verbundenen Auswahlkriterien der Wissenschaftler, wie Pauline Schmitt-Pantel an einem Beispiel aufzeigt. Sylvie van de Vasteele-Schweitzer und Daniéle Voldman postulieren für die Frauengeschichtsschreibung eine stärkere Berücksichtigung mündlicher Quellen, da Sprechen gegenüber Schreiben stets das vorherrschende Ausdrucksmittel von Frauen war. Dies wird durch Agnés Fines Beitrag über die Aussteuer noch unterstrichen, wobei gerade in dieser Arbeit die Bedeutung der Volkskunde für die Frauengeschichtsschreibung offenbar wird. Insgesamt implizieren nahezu alle Aufsätze dieses Sammelbandes eine Plädoyer für mehr Interdisziplinarität in der Geschichtswissenschaft, die stärkere Einbeziehung beispielsweise der Volkskunde, der Anthropologie, der Soziologie etc. Die Lektüre der vorliegenden Arbeiten zieht ein Reflektieren über unseren allgemeinen Geschichtsbegriff und dessen Defini- tion nach sich. Die Anordnung der einzelnen Aufsätze scheint sehr schlüssig, denn die verschiedenen angesprochenen Aspekte und Argumentationsstrukturen setzen sich in logischer Reihe fort. Die programmatische Frage des Untertitels nach der (prinzipiellen) Möglichkeit einer weiblichen Geschichtsschreibung wird aufgrund der Texte mit Ja beantwortet - aber nicht mit den Methoden und Instrumentarien des überkommenen, traditionellen Geschichtsbegriffs. Ute Brylla Frank Hartmann Max Horkheimers materialistischer Skeptizismus. Frühe Motive der Kritischen Theorie Frankfurt/Main-New York 1990 (Campus), geb., 267 S., 54.- DM Mit seiner Arbeit greift Hartmann zunächst die Rezeption der Kritischen Theorie in der Gegenwart wieder auf. Besonders die, welche in den 60er Jahren über die von der Frankfurter Schule ausgelösten Irritationen diskutiert. Die Kritik an Horkheimers Entwurf verdichtete sich seitdem zu dem Vorwurf, Kritische Theorie wecke illusionäre Hoffnungen. Hartmann entwirft einen Weg aus der Argumentationsnot, in der sich die Sekundärliteratur bei der Beschäftigung mit der Kritischen Theorie befindet. Er zeigt deren Schwierigkeiten anhand einiger Literaturbeiträge exemplarisch auf. Von vielen Seiten, so Hartmann, wird der Kritischen Theorie zur Last gelegt, sie sei bloß theoretisch und nicht im geringsten handlungsorientiert, da sie die Revolution im Sinne von Marx und der Sowjetphilosophie ablehnt. Hartmann versucht zu beweisen, daß diese Kritik auf einer Fehlinterpretation der Kritischen Theorie beruht. Denn die Kritische Theorie ist nach ihrem eigenen Selbstverständnis ein Teil des (sich reflektierenden) gesellschaftlichen Prozesses und somit dem gesellschaftlichen Wandel unterworfen. Sie hat daher kein statisches Geschichtskonzept, was die Voraussetzung für die Postulierung einer 'geschichtlichen Notwendigkeit' wie der Revolution wäre, sondern sie fordert, ein positiver gesellschaftlicher Wandel müsse durch einen Wandel der Ideale herbeigeführt werden. Hierin liegt die Handlungsbezogenheit der Kritischen Theorie. Die Frage, ob die Kritische Theorie eine marginale Theorie sei, beantwortet Hartmann wie folgt: "Die Rolle der Kritischen Theorie war eine eher marginale - bis zu dem Punkt, an dem der Studentenprotest der sechziger Jahre ihre Reflexionen aktualisierte, um sie gegen jenen homogenen Konservativismus zuzuspitzen, um dessen Preis die Demokratisierung in Deutschland erkauft worden war"(S.224). Es stellt sich also die Frage, ob die Ideale beipielsweise der Studentenbewegung, nämlich Freiheit und Selbstbestimmung, Gerechtigkeit Neuerscheinungen und Solidarität mittels der Kritischen Theorie in die Praxis umgesetzt werden können. Hartmann stellt fest, daß Horkheimer "(trotz) der teils geradezu defätistischen Grundstimmung seiner Vernunft - und zivilisationskritischen Texte ... seine Hoffnung auf ein Vernunftpotential der abendländischen Kultur" baut (S.223). Durch dieses Vernunftpotential können Zivilisation, Emanzipation und alle anderen Ideale in die Praxis umgesetzt werden. Hartmann analysiert im zweiten Teil seiner Arbeit die Grundlagen der Kritischen Theorie bei Marx, Weber, Lukács und Schopenhauer, insbesondere deren Konzeptionen zum Verhältnis von Theorie und Praxis und zeigt auf, daß Horkheimers Philosophie - wie die Entwürfe seiner theoretischen Vorläufer - der Befreiung der Menschen von ungerechten Herrschaftsstrukturen verpflichtet ist. In seinem Epilog würdigt es Hartmann als besonderes Verdienst der Kritischen Theorie, daß sie versucht habe, "zeitdiagnostisch fruchtbar" zu werden, und "sich gegenüber der Politik nicht abgeschottet" habe. "Die daraus ... entstandenen Defizite regen", so Hartmann, "zur weiterführenden Reflexion über die Bedingungen einer 'Kritischen Gesellschaftstheorie' an" (S.230). Das Buch Hartmanns hat für die Rezeption Horkheimers neue Rahmenbedingungen geschaffen und viele bisher aufgetretene Irritationen ausgeräumt. Dabei liegt die besondere Stärke seiner Arbeit darin, daß nun nicht mehr geleugnet werden kann, daß die Kritische Theorie essentiell eine Handlungsperspektive in sich birgt. Durch seine Argumentation beweist Hartmann, daß die Kritische Theorie auch und vor allem für die aktuelle gesellschaftliche Praxis ein nützlicher Ansatz ist. A.K.M.Salahuddin Frederik van Geldern Habermas' Begriff des historischen Materialismus, Frankfurt/Main 1990 (Peter Lang),geb., 261 S., 77.- DM Rick Roderick Habermas und das Problem der Rationalität. Eine Werkmonographie Hamburg 1990 (Argument), 210 S., 28.- DM Ausführliche jüngere Auseinandersetzungen mit dem Werk Habermas' sind selten, zumeist beschränken sich Interpreten und Kritiker auf kurze Stellungnahmen oder einzelne Aspekte. Gerade deshalb verdienen van Gelderns und Rodericks Werkmonographien Aufmerksamkeit: dieser zeichnet Habermas' gesamte Theorieentwicklung einschließlich der Theorie des kommunikativen Handelns nach, jener stellt Habermas' MarxKritik und Reformulierung des historischen Materialismus ins Zentrum seiner Analyse. Beide Autoren verfahren genetisch. Zum einen präparieren sie prägnant Habermas' Anknüpfen an die Forschungsprogramme der frühen Frankfurter Schule in den 30er Jahren heraus, zum anderen arbeiten sie sowohl Bezüge zur Entwicklung kritischer Gesellschaftstheorie in der Tradition von Marx als auch die Auseinandersetzung mit anderen philosophischen Positionen ein (hier sei vor allem Rodericks knappe, aber umfassende Berücksichtigung der amerikanischen Diskussion um Habermas hervorgehoben, die bisher dem deutschsprachigen Publikum so nicht zugänglich war) und zum dritten diskutieren sie die Stufen der Habermas'schen Theorieentwicklung aus der Perspektive ihrer immanenten Ansprüche und Defizite. Rodericks Analyse geht von der in 'Erkenntnis und Interesse' zentralen Kategorie der Selbstreflexion aus, zeigt anhand des Habermas'schen Nachwortes von 1973 sowohl deren Zweideutigkeit in der Vermengung des Kantschen und des Marxschen Begriffes von Kritik auf, als auch deren Überwindung durch die Differenzierung zwischen rationaler Rekonstruktion und kritischer Selbstreflexion und begründet daraus die kommunikationstheoretische Wende der kritischen Theorie. Die sich daran anschließende Formierung der Kommunikationstheorie unterteilt Roderick in vier Etappen - zum einen die Theorie der kommunikativen Kompetenz, der systematisch verzerrten Kommunikation und der idealen Sprechsituation, zum anderen die Diskurstheorie und die Konsensustheorie der Wahrheit, zum dritten die Theorie der Universalgrammatik und der gesellschaftlichen Evolution und zum vierten die Theorie des kommunikativen Handelns und der kommunikativen Rationalität -, denen er ausführliche Studien widmet. Van Gelderns Buch, das als Detailanalyse der bei Roderick in der dritten Stufe der Habermas'schen Theorieentwicklung abgehandelten Theorie der gesellschaftlichen Evolution gelesen werden kann, zieht eine Linie zu 'Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus', die ihren Anfangspunkt in Habermas' 'Literaturbericht zur philosophischen Diskussion um Marx und den Marxismus' von 1957 hat und bereits dort in programmatischer Formulierung die von Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns beanspruchte dialektische Aufhebung Marxscher Theorie nachweist. Parallel dazu zeigt van Geldern - was in der bisherigen Habermasrezeption weitgehend unberücksichtigt blieb -, wie Habermas in 'Philosophische Anthropologie, ein Lexikonartikel' von 1958 das durch seine Marxkritik zum Problem gewordene Verhältnis von Theorie und Praxis und die so in Frage gestellte materialistische Dialektik als sowohl kritische Philosophie und zugleich Kritik der traditionellen Philosophie durch die Aufnahme von Ergebnissen der philosophischen Anthropologie vor allem Schelers, Plessners und Gehlens auf neue Füße zu stellen versucht. 'Zwischen Philo- Neuerscheinungen sophie und Wissenschaft, Marxismus als Kritik' von 1960, das als das von Marx hinterlassene und daran anzuknüpfende Erbe dessen Begriff von Kritik als Krisenbewußtsein und Realkritik der innerweltlichen Ursachen der objektiven Krise erläutert, schließt den Kreis der Schriften ab, die van Geldern als Schritte auf dem Weg zu 'Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus' für sich thematisiert. Die Analysen von 'Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus' demonstrieren die Synthese der in den Frühschriften nachgewiesenen Einzelaspekte des Habermas'schen Denkens und richten sie auf die Theorie des kommunikativen Handelns aus. Beide Autoren gelangen aus wie skizziert - je unterschiedlicher Themenstellung zu übereinstimmender Kritik an Habermas und zu einer - bei van Geldern eingeschränkter - Rehabilitation von Marx. Van Gelderns Einwand argumentiert von der Theorie des kommunikativen Handelns her. Die dort zentralen Kategorien des instrumentellen und kommunikativen Handelns, wie auch die materialen Teile der Theorie der gesellschaftlichen Evolution können in ihrer Verarbeitung von Anthropologie und Psychoanalyse, von erkenntnis- und kommunikationstheoretischen Fragestellungen nur die subjektive Seite des historischen und gesellschaftlichen Prozesses adäquat reflektieren, werden aber zugleich für die Reflexion der objektiven Seite dieses Prozesses in Anschlag gebracht. Demgegenüber nimmt Marx' produktionstheoreti- sches Paradigma seinen theoretischen Ausgang von wie auch immer vermittelten objektiv Seiendem, was diesen, im Gegensatz zu Habermas, zumindest vor der gesellschaftlich und politisch völlig inadäquaten idealistischen Konsequenz, praktische Verhältnisse nur durch die Veränderung des Bewußtseins entscheidend beeinflussen zu können, schützt. Auf gleicher argumentativer Ebene geht Rodericks Einwand weiter: Habermas' Kommunikationstheorie kann nur als Ergänzung, nicht aber als Ersatz des Produktionsparadigmas eine sinnvolle Weiterentwicklung kritischer Gesellschaftstheorie sein, wenn sie nicht die idealistischen Dilemmata, wie Marx sie in der 'Kritik der Deutschen Ideologie' auf den Begriff gebracht hat, auf dem theoretischen Niveau des 20. Jahrhunderts reproduzieren will. Die von Habermas' Kommunikationstheorie in Frage gestellten gesellschaftlichen Entwicklungen sind Ausdruck bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse, die auch aus philosophischer Perspektive nicht durch kommunikatives Handeln, sondern nur durch konkrete Transformation gesellschaftlicher Lebensformen zu verändern sind. Roderick empfiehlt eine kritische Gesellschaftstheorie, die Habermas' Kommunikationstheorie in das Produktionsparadigma integriert und sich zunächst auf deskriptiver Ebene erneuter Untersuchung von Klassen, Machtstrukturen und politischen Organisationen widmen sollte. Christian Sebald Anna Kusser Dimensionen der Kritik von Wünschen Frankfurt/Main 1989 (Hain/Athenäum), geb.. 60.- DM Ein Wunsch drängt auf Erfüllung. Daß er meistens nicht in Erfüllung geht, ist für viele Menschen heute zu einer alltäglichen Erfahrung geworden. Auf den ersten Blick mag das lediglich an den äußeren Widerständen liegen, die einer Einlösung entgegenstehen. Was aber passiert innerhalb eines Individuums vom Aufsteigen bewußter Wünsche aus der unbewußten vitalen Triebdynamik über das konkretisierende Wollen und Tunwollen bis hin zum geplanten und gerichteten Versuch einer praktischen Verwirklichung? Eben jener Graubereich der Motiviertheit allen menschlichen Handelns (die von Schopenhauer herausgearbeitete vierte Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde) ist in der wissenschaftlichen Forschung bisher wenig bearbeitet worden. Dies mag an der Schwierigkeit diesbezüglicher empirischer Forschungen liegen. Denn auf Wünsche oder einer Handlung vorausgehende Motive kann entweder nur post festum geschlossen werden, qua Rekonstruktion und Schluß aus den tatsächlich erfolgten Handlungen, oder man ist bezüglich der Wünsche von Personen auf deren Selbstaussagen angewiesen. Dabei ergibt sich dann allerdings das Problem, daß Selbstaussagen - oder das Wunschbewußtsein einer Person überhaupt nicht in jedem Fall wahr, d.h. dem Sachverhalt adäquat sein müssen. Aus dem Verlauf der Geschichte - so könnte man meinen - ließe sich u.a. jedenfalls lernen, daß Wünsche, zu deren Wesen es gehört, sich mit den Gegebenheiten wie sie einmal sind, nicht abzufinden, sondern das Gegebene zu transzendieren, eine notwendige Voraussetzung aller Handlung, nicht aber ein hinreichender Grund für verändernde Praxis sind. In ihrer nicht immer leicht zu lesenden Untersuchung mit dem Titel: "Dimensionen der Kritik von Wünschen" geht Anna Kusser nun der Frage nach, wie man einer kritischen Bewertung von Wünschen wissenschaftstheoretisch beikommen könne. Ausgehend von er Diskussion einer zweckrationalen Wunschkritik einerseits (die lediglich "falsches Wunschbewußtsein" bezüglich "tatsächlicher" Wünsche kritisiert) und dem Typus einer externen Wunschkritik andererseits (die den Maßstab der Kritik in dezisionistischer Weise von außen an das Individuum heranträgt) entwickelt Anna Kusser ihren eigenen Ansatz, der die drei grundlegenden Momente eines Wunsches berücksichtigt: 1) den Stellenwert eines Wunsches oder die bewußte graduelle Bewertung eines bestimmten Wunsches unter anderen (das evaluative Moment); Neuerscheinungen 2) das entsprechende Verlangen, den Wunsch in einer ihm angemessenen Handlung zu verwirklichen (das motivationale Moment); 3) den Grad der antizipierten Befriedigung (das satisfaktive Moment). Diese drei Momente eines Wunsches betreffen den Ort der Wunschproduktion, den Innenraum eines wünschenden Individuums. Fallen sie in der ihnen entsprechenden Weise zusammen, realisiert das Individuum sein subjektives Wohl; fallen sie auseinander, wird dies vom Individuum als Diskrepanz und - wenn diese bewußt gemacht wird - als Leid erfahren. Überprüfbar werden mögliche Diskrepanzen eines Wunsches erst mittels dessen entsprechender (diskrepanter) Vergegenständlichung in Selbstaussage, Realisierung des Wunsches in praktischer Handlung und erlebter (oder nicht erlebter) Befriedigung. Die Stärke dieses Ansatzes liegt darin, daß sich das Leid erfahrende Individuum die Kritik der Diskrepanz in aller Regel zueigen machen wird. Nach Anna Kussers eigenen Worten ist nun "der Maßstab dieser Kritik die Kongruenz von Evaluation, Motivation und Satisfaktion - ein rein formaler" (S.194). Darin äußert sich die Begrenztheit dieses Ansatzes. Denn die Wünsche eines Individuums, das keine diskrepanten Momente aufweist, das also auch nicht bewußt unter seinen Wünschen leidet, sind unter den Bedingungen einer formalen Wunschkritik überhaupt nicht kritisierbar. Die sierbar. Die Kritik beschränkt sich auf die Kritik der Diskrepanz. Daß ein Individuum gerade diesen oder jenen, einen inhaltlich bestimmten Wunsch hat, dazu kann diese Kritik nichts aussagen. Zur Vergegenwärtigung sei hier nur z.B. der Tötungswunsch infolge einer Beleidigung oder in Absicht der Rächung eines vorangegangenen Mordes angeführt, dessen (moralische) Bewertung, Ausführung und satisfaktives Moment in manchen kulturellen Kontexten durchaus nicht auseinanderfallen muß. Ebensowenig erfaßt sind auch all jene Wünsche, die sich auf allgemeine, gesellschaftliche Gegebenheiten richten und die damit vom Individuum als einzelnem, isoliertem überhaupt nicht umgesetzt werden können. Der Anspruch an eine Wunschkritik, zu den entscheidenden Fragen der Moral und der Gesellschaft Stellung zu nehmen, kann aber nicht aufgegeben werden. Aus dem Dilemma der Kritik, das darin besteht, entweder einen inhaltlich bestimmten Maßstab extern und damit dezisionistisch an individuelle Wünsche heranzutragen oder aber - wie dies Anna Kusser tut - einen internen, dafür aber formalen Maßstab zu wählen, ergibt sich m.E. daß nur eine historische Wunschkritik, also eine Kritik, die ihre (jeweils relativen) Maßstäbe aus einer eingehenden historischen Analyse bezieht (einschließlich einer Theorie des Verhältnisses von Individuum und Allgemeinheit/Wesen), in der Lage ist, sowohl inhaltlich bestimmte als auch nicht- dezisionistische Aussagen über Wünsche zu treffen. Wolfgang Thorwart