Trauma und kollektives Gedächtnis. Gießen: Psychoso

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Kühner, A. (2008): Trauma und kollektives Gedächtnis. Gießen: Psychosozial, 312 S.
Der »Angelus Novus«, diese zarte Figur einer unscheinbaren Zeichnung
von Paul Klee, hat – neudeutsch gesprochen – Kultstatus erlangt, seitdem sie
von Walter Benjamin zum Sinnbild der Zweischneidigkeit des Fortschritts
ernannt wurde. Vom Sturm des technischen Fortschritts in die Zukunft
gerissen, blickt Benjamins Engel der Geschichte zurück und erkennt sich
auftürmende Trümmer des Verlusts, des Elends und des Vergessens. Vergessen werden die vielen genannten und ungenannten Opfer dieses Fortschritts,
zu denen auch Wissensgebiete der Geistes- und Sozialwissenschaften gehören. Ausgehend von der Frage, weshalb die Armen und Unterdrückten nicht
aufbegehren, sollten zwischen den Weltkriegen die revolutionären Erkenntnisse Sigmund Freuds in eine Psychologie des Sozialen eingearbeitet werden, um das Projekt der Aufklärung fortzusetzen und die Mitglieder der
neuen, postmonarchistischen, bürgerlichen Gesellschaften aus einer »selbstverschuldeten Unmündigkeit« herauszuführen. Dieses Projekt einer psychoanalytischen Sozialpsychologie ist jedoch wissenschaftlich und publizistisch
ins Stocken geraten. Scheint ihr der »direkte« Zugang zu unserem »Alltagsleben« (Henri Levebvre) methodologisch versperrt, so bieten sich ersatzweise
die »Trümmer« der Geschichte ihrer wissenschaftlichen Untersuchung an.
Auch die Psychoanalyse scheint sich über die Erforschung der psychischen
Auswirkungen von Traumatisierungen der vernachlässigten Bedeutung der
äußeren Realität wieder anzunähern. Allerdings hat sich der (ursprünglich
medizinische) Begriff des Traumas mittlerweile inflationär verbreitet.
Deshalb könnte man einer weiteren Publikation zu diesem Thema skeptisch begegnen, zumal Angela Kühner ein Jahr zuvor bereits eine Monographie über Kollektive Traumata (2007) vorgelegt hat. Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, daß sie in Trauma und kollektives Gedächtnis an diesem
Problem Bedeutung, Funktion und Notwendigkeit einer psychoanalytischen Sozialpsychologie herausarbeitet. Geschult in der pluralistischen
Untersuchungsweise einer »reflexiven Sozialpsychologie« (Heiner Keupp),
interessiert sie sich für die soziale Konstruktion bzw. Rekonstruktion von
Geschichte, also für das, was kritische Historiker heute mit Norbert Frei
»Vergangenheitspolitik« nennen. Gleichwie die individuelle Erinnerung an
traumatische Erfahrungen immer über- und verformt ist von einem unbewußten Entgegenkommen, ist die Erinnerungsarbeit einer Gesellschaft
geprägt von deren aktuellen Bedürfnissen. Das war auch seinerzeit der
Ansatzpunkt des Essays über »die Unfähigkeit zu trauern«, dessen Kernthese weitgehend »vergessen« bzw. verdrängt wurde.
Es kann nicht hoch genug geschätzt werden, daß eine junge Wissenschaftlerin im heutigen Wissenschaftsbetrieb sich mit einer Fragestellung profiliert, die dieses Wissen gegen den Zeitgeist zu behaupten versucht. Angela
Kühner gehört zu einer neuen Generation kritischer Sozialpsychologen, die
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nicht von der »Vaterlosigkeit« geschlagen ist, sondern die in ihrer wissenschaftlichen Entwicklung derart gehalten und gefördert wurde, daß sie sich
offen und mutig einem, wie sie formuliert, »vergleichenden Nachdenken über
extremes menschliches Leid« (S. 271) stellen kann. Dabei entwickelt sie ihre
Gedanken ungewöhnlich klar und nachvollziehbar und unbeeindruckt von
den zahllosen Fallstricken theorielastiger Methodenkritik, die allzuoft mehr
einen intellektuellen Narzißmus bedienen. Das ist ihr Problem nicht. Sie
sucht die unvoreingenommene Analyse eines psychosozialen Sachverhalts,
die sie sowohl stringent als auch umsichtig und begrifflich genau vorantreibt.
So ist aus ihrer Dissertation eine flüssig lesbare Abhandlung entstanden, die
als Diskussionsgrundlage für die Weiterentwicklung »liegen gebliebener«
(A. K.) Einsichten psychoanalytischer Sozialpsychologie fungieren könnte.
Um deren wissenschaftlichen Sackgassen zu entkommen, möchte Angela
Kühner dem inflationären Gebrauch des Traumabegriffs gerade dort einen
Riegel vorschieben, wo er auf gesellschaftliche Phänomene angewandt wird.
Denn »Kollektive sind«, wie sie schreibt, »selbstverständlich nicht traumatisiert« (S. 24), sondern was ein solches Kollektiv als traumatisch bezeichnet, ist Ergebnis eines komplexen Prozesses gesellschaftlicher Selbstwahrnehmung, der äußerst selektiv und z.B. von politischen Motiven bestimmt
sein kann, die der Abwehr kränkender, in Frage stellender Tatsachen dienen. Eben dieses Phänomen wurde von den Mitscherlichs analysiert, deren
bis heute brisante Thesen Kühner aufgreift, um die Herstellung kollektiver
Erfahrungen, genauer: eines gesellschaftlichen Bewußtseins von der eigenen
Geschichte, zu untersuchen.
Im 1. Kapitel diskutiert sie zunächst den klinischen Traumabegriff mit
besonderer Berücksichtigung der Langzeituntersuchungen von Hans Keilson (1979) und dessen Betonung der »postexpositorischen Phase«. Danach
ist für die Entwicklung psychischer Schwierigkeiten nach einer Traumatisierung entscheidend, »wie es unmittelbar danach und später weiterging«
(S. 43). Hinsichtlich der Verarbeitung der Nazi-Zeit betont sie für die Täterseite deren Verdrängung ihrer »Identifizierung mit der Macht« und verweist
u.a. auf die Untersuchungen von Gudrun Brockhaus (1997), die in der »verleugneten Angst vor der Anziehungskraft des Faschismus«einen mächtigen
Widerstand erkennt. Konkrete Beispiele wie das »medienvermittelte Trauma« des 11.9.2001 führen sie zu der kritischen Reflexion des Begriffs »kollektives Trauma«, das sie als »ein Ereignis« definiert, »das für die kollektive
Identität als besonders relevant erlebt wird und im kollektiven Gedächtnis
einen […] Sonderstatus einnimmt.« (S. 89) Implizit die Zeitdiagnose der
Mitscherlichs bestätigend bemerkt sie, daß »Vermeidung […] im kollektiven
Trauma häufig für den Schutz der Täter« stehe (S. 91), während sie beim
individuellen Trauma dem Schutz des Opfers diene. Aber Kühner will sich
mit solchen psychologischen Verallgemeinerungen nicht begnügen, sondern
macht die Frage, wie bestimmte gesellschaftliche Ereignisse zu einem kollektiven Trauma werden können, zum eigentlichen Gegenstand ihres Buches,
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ZEITSCHRIFT für psychoanalytische Theorie und Praxis, Jahrgang XXVII, 2012, 3/4
mit dem sie sich kurzgriffigen »psychologistischen Welterklärungen« (S. 97)
entgegenstellt.
Deshalb rezipiert sie im 2. Kapitel zuerst psychoanalytisch orientierte Erklärungen kollektiver Prozesse. Mehr kursorisch streift sie dabei den
dafür bis heute zentralen Text Massenpsychologie und Ich-Analyse von Freud
und den oben genannten Essay der Mitscherlichs, bei dem sie den Aspekt
der »Abwehr massiver Schuldgefühle auf Grund von realer Schuld« (S. 130)
hervorhebt und bemerkt, daß den Autoren ein Traumabegriff »fast vollständig« fehle. Dennoch entnimmt sie dem von Freud (am Beispiel von Kirche
und Heer) entwickelten Modell und dessen Anwendung auf die fanatisierten
Massen der Nazis die für ihre weitere Argumentation entscheidende Anregung. Sie würden belegen, daß »das Ich-Ideal eines der wichtigsten psychologischen Verbindungsglieder zwischen individuellen und kollektiven psychischen Prozessen« (S. 158) sei, ein Gedanke, der 1981 von Chasseguet-Smirgel
in ihrem Buch Das Ich-Ideal vertieft wurde. Weil es nach 1945 um die Niederlage und Kränkung von Nazi-Idealen ging, solle statt von einem »kollektiven Trauma« »besser von einer kollektiv wirksamen Entwertung von
Idealen gesprochen werden«. (ebd.)
Demzufolge muß zunächst untersucht werden, wie sich solche, die
Möglichkeit einer kollektiven Entwertung erst konstituierenden »kollektiven Idealisierungen« aufbauen. Hierfür rekurriert die Autorin u. a. auf den
Begriff des »psychosozialen Arrangements« von Stavros Mentzos, die Idee
der »gesellschaftlichen Produktion von Unbewußtheit« von Mario Erdheim
und das Konzept der Großgruppenidentität von Vamik Volkan. Dessen
Beobachtung »gewählter Ruhmesblätter« und damit »gewählter Traumata«
(unter anderem am Beispiel des Amselfeld-Mythos der Serben) entwickelt sie
zu einer Art dekonstruierendem Verständnis »kollektiver Traumata«, für das
die massenpsychologische Mobilisierungskraft eines Traumas entscheidend
ist. Deshalb spricht sie von »kollektiv relevanter Trauma-Narration, (bei der)
nicht die reale Traumatisierung im Vordergrund steht, sondern die Aneignung des Traumas.« (S. 153)
In sich schlüssig erarbeitet sie im 3. Kapitel ein kritisches Verständnis
»kollektiver Identität«, um sich »von ganz verschiedenen Seiten dem komplizierten Phänomen Kollektivität (zu nähern).« (S. 171) Hier kommt die unter
anderem von Keupp (außerhalb klinischer Praxis und Terminologie) entwickelte Relativierung des Identitätsbegriffs ausführlich zum Zuge. Unter dem
Eindruck dieser »Identitätsdiskurse« (S. 190) gelangt Kühner zu dem Ergebnis, daß »ein Kollektiv als etwas Stabiles nur in der Imagination existiert«
und daß deshalb »kollektive Identität kein konzeptuelles Werkzeug für die
wissenschaftliche Analyse« ist. Folglich sei »das Konstrukt »kollektives Trauma« weniger als Denkwerkzeug als vielmehr als sozialpsychologische Realität
(von Interesse), über das sich wissenschaftlich nachzudenken lohnt.« (S. 191)
Wenn »zwischen der Überschätzung des Realen und der Überschätzung
des Konstruktionscharakters« (S. 201) die empirische Realität und deren AusBuchbesprechungen
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wirkungen sich derart schwer rekonstruieren läßt, dann konzentriere sich
nach Kühner die weitere Untersuchung auf die Frage nach dem »kollektiven
Gedächtnis«, womit sich das 4. Kapitel auseinandersetzt. Mit Verweis auf
Walter Benjamins Kritik einer positivistischen Geschichtsschreibung rezipiert sie das Verständnis von kommunikativem und kulturellem (Assmann)
sowie sozialem (Welzer) Gedächtnis, wobei sie »als Sozialpsychologin […]
den Begriff »soziale Erinnerungspraxis« bevorzugt. (S. 222) Die Möglichkeiten einer geschichtswissenschaftlichen Tatsachenfeststellung scheinen sich in
der kulturellen, linguistischen usw. »Relativität der Repräsentation« zu verlieren (Historischer Relativismus). Einhalt gebietet der Autorin allerdings
das sprachlose Leiden der Opfer, wie es z. B. Saul Friedländer und Raoul
Hilberg dokumentiert haben. Während deren bedeutende Werke sich durch
ihre besondere Nähe zu den (verdrängten) historischen Fakten auszeichnen,
befaßt sich die Autorin mit dem Problem des »kollektiven Erinnerns« als
einem Schlüssel zur Traumaverarbeitung. Denn ein Trauma sei »dadurch
gekennzeichnet, daß es nicht in eine wohlgeformte Erzählung transformiert
werden kann«, weshalb ein »kollektives Trauma« durch »eine nicht kollektivierbare Erinnerung« zustande kommt. (S. 264)
Abschließend wird die Frage diskutiert, wie sich ein »Kollektiv« (die
Autorin vermeidet hier eine begriffliche Klärung) ein Trauma »aneignet«
und wiederholt, daß dies eine »kollektive Identifizierung« voraussetze,
womit sie wieder bei der Ausgangsfrage psychoanalytischer Sozialpsychologie ankommt. Denn Freuds genuiner Beitrag besteht in der Analyse jener
unbewußten Psychodynamik, mit der sich der Einzelne an eine Gruppe bzw.
Masse und deren Führer emotional bindet und sie zu einem wesentlichen Teil
seiner Identität werden läßt. Auf ihrer »Suchbewegung zwischen den Disziplinen« (S. 275) greift die Autorin den Freud-Text inhaltlich leider nicht mehr
auf, sondern legt ihre eigenen Begriffe quasi darüber. Auch wenn dadurch
der Eindruck entsteht, als wolle Angela Kühner mit ihrer theoretischen
Untersuchung in erster Linie eingefahrene Diskurse korrigieren, so darf man
dabei nicht übersehen, welches sozialwissenschaftliche Erklärungspotential
sie damit zugleich eröffnet. Denn die Unfähigkeit zu trauern setzt sich gerade deshalb durch die Generationen fort, weil die »Narration« der Identifizierung mit den Nazi-Idealen und damit die eigene innere Beteiligung am
Größenwahn des »Dritten Reichs« »ausgestanzt« (Lorenzer) werden mußte.
Deshalb bietet ihr Buch allen, die dieser Sprachlosigkeit in der deutschen
Vergangenheitspolitik begegnen wollen, eine wertvolle Differenzierung der
Argumentation und des Nachdenkens über unsere schwierige Vergangenheit.
(Thomas C. Bender, Freiburg i. Br.)
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