Entstehung, Symptomatik und Behandlung psychischer Erkrankungen Wolfgang Gaebel Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Heinrich-Heine-Universität LVR-Klinikum Düsseldorf Psychische Erkrankungen - Definition Psychische Erkrankungen sind ... Störungen im Erleben, Befinden und Verhalten (psychopathologisches Syndrom), begleitet von neurobiologischen, ggf. somatischen und psychosozialen Funktionsstörungen, verursacht/bedingt durch ein Zusammenspiel genetischer, neurobiologischer und psychosozialer Faktoren, deren Verlauf sich mit wechselnder Ausprägung über die ganze Lebensspanne erstrecken und – – – – durch störungsspezifische Beeinträchtigungen (impairments), psychosoziale Behinderungen (disabilities) und Benachteiligungen (handicaps) sowie somatische Begleiterkrankungen und vitale Komplikationen (z.B. Suizid, verkürzte Lebenserwartung) gekennzeichnet sein kann. Entstehung psychischer Störungen – Biopsychosoziales Modell Soziale Faktoren Biologische Faktoren z.B. Risikogene, entzündliche oder degenerative Hirnerkrankungen z.B. belastende Lebensereignisse wie Verlust nahestehender Angehöriger Psychologische Faktoren z.B. Neigung zu voreiligem Schlussfolgern, Stress-Intoleranz Interindividuell differente Kombination von Ursachenfaktoren Klinische Manifestation einer psychischen Störung Psychopathologische Störungsdimensionen* und diagnostischer Prozess Bewusstseinsstörungen Orientierungsstörungen Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörungen Formale Denkstörungen Befürchtungen und Zwänge Wahn Sinnestäuschungen Ich-Störungen Störungen der Affektivität Antriebs- und psychomotorische Störungen Circadiane Besonderheiten Andere Störungen (z.B. Suizidalität) * Arbeitsgemeinschaft Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie Symptom(e) Syndrom Zusatzbefunde Diagnose Klassifikation Diagnostischer Prozess: nicht nur „Krankengeschichte“ Angehörige PATIENT Fremdanamnese Zusatzuntersuchungen Beobachtbare Symptome Laborbefunde, cCT, cMRT, EEG In der Exploration erfragbare Symptome z.B. Stimmenhören z.B. Abgelenktheit Organische Ursache ? Syndromale Diagnose Diagnose nach ICD-10 Diagnostische Störungsklassen nach ICD-10 F0 F1 F2 F3 F4 F5 F6 F7 F8 F9 F99 Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen Affektive Störungen Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen oder Faktoren Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen Intelligenzminderung Entwicklungsstörungen Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend Nicht näher bezeichnete psychische Störungen Die Einjahresprävalenz psychischer Störungen ist hoch und relativ konstant 12-Monatsprävalenz im Bundesgesundheitssurvey 1998: 31,1% Jacobi F et al., Psychol Med. 2004 May;34(4):597-611. 12-Monatsprävalenz im DEGS1-Survey 2011 allenfalls gering davon unterschiedlich (+1 bis 2%) Vergleich der beiden Studien derzeit nur unter methodischem Vorbehalt möglich, daher ist es noch unklar, ob ein „realer“ leichter Anstieg oder gar eine leichte Abnahme vorliegt Eine systematische Übersichtsarbeit zu internationalen Längsschnittuntersuchungen (33 Studien) zeigte in der Mehrheit der Studien keine Zunahme der Prävalenz psychischer Störungen Richter D & Berger K, Psychiatr Praxis 2013; 40: 176-183 Therapieformen, -kombinationen, indikations-/stadienspezifischer Gesamtbehandlungsplan Psychotherapie Somatotherapie Gesamtbehandlungsplan Prävention, Akut-Langzeit, Rehabilitation - partizipativ - Disziplinen: Soziotherapie Psychiatrie und Psychotherapie Psychosom. Medizin u. Psth Psycholog. Psychotherapie Zusatztitel Psychotherapie Nervenheilunde Neurologie Hausärzte und andere Fachärzte Erkennens- und Behandlungsrate psychischer Erkrankungen muessen verbessert werden Laut einer WHO-Analyse beträgt die „Behandlungsrate“ selbst bei schweren psychischen Störungen weltweit bestenfalls 50-60% (auch in Deutschland) The WHO World Mental Health Survey Consortium. Prevalence, severity, and unmet need for treatment of mental disorders in the World Mental Health Surveys. JAMA 2004;291:2581-2590. Die Behandlungsrate psychischer Störungen in DEGS-1 war je nach Diagnose sehr unterschiedlich und lag zwischen 25% (Alkoholabhängigkeit) und 80% (Bipolar-I-Erkrankung) http://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Studien/Degs/degs_w1/Symposium/degs_p sychische_stoerungen.pdf?__blob=publicationFile Eine Untersuchung von 902 Fällen von Depressionen in Hausarztpraxen zeigte, dass die Diagnoserate bei 45% lag, Hausärzte jedoch die psychische Problematik häufiger erkannten, aber anderen psychischen Störungen zuordneten Sielk et al., Psychiatr Praxis 2009; 36: 169-174 Ambulante Behandlung erfolgt vor allem bei Hausärzten DGPPNStudie 2012 Arbeitsunfähigkeit aufgrund psychischer Erkrankungen nimmt zu Quelle: TK-Gesundheitsreport 2013 Steigende Inanspruchnahme des Versorgungssystems Trotz relativ stabiler Prävalenzraten und stabiler relativer Inanspruchnahmeprävalenz zeigt sich ein Anstieg der absoluten Inanspruchnahme-Zahlen von medizinischer Versorgung aufgrund von psychischen Störungen. Fallzahlentwicklung in der ambulanten neurologischen, psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlung Stationäre Fallzahlentwicklung mit Hauptdiagnose einer psychischen Störung in allen Krankenhäusern Deutschlands 2000-2010 Patientenzahl (x 1000) 500 450 400 350 300 250 200 150 100 50 0 F00F09 F10F19 F20F29 F30F39 F40F48 F50F59 F60F69 F70F79 F80F89 F90F98 Hauptdiagnose Albrecht et al., Strukturen und Finanzierung der neurologischen und psychiatrischen Versorgung in Deutschland, Berlin, 2007. Diagnosedaten der Patienten und Patientinnen in Krankenhäusern, Statistisches Bundesamt, Fachserie 12, Reihe 6.2.1. Inanspruchnahme stationärer Behandlung steigt weiter an Hauptdiagnose einer psychischen Störung: Fallzahl pro 100.000 Einwohner Steigende Fallzahl stationärer Behandlungen mit der Hauptdiagnose einer psychischen Störung in Deutschland* 2000: 856 Fälle pro 100.000 Einwohner 1100 1050 1000 950 900 850 2010: 1083 Fälle pro 100.000 Einwohner 800 2000 2001 2002 2003 2004 2005 Quelle: Gesundheitsberichtserstattung des Bundes. http://www.gbe-bund.de/gbe10/i?i=561D (Bevölkerungszahl) http://www.gbe-bund.de/gbe10/i?i=545D (Stationäre Fallzahl mit psychischer Störung als Hauptdiagnose) *Erfasst wurden alle stationären Einrichtungen unabhängig von ihrer Fachrichtung 2006 2007 2008 2009 2010 Erwerbsunfähigkeit aufgrund psychischer Erkrankungen nimmt zu Erwerbsminderungsrenten 1993-2010 Anteile der Indikationen [%] 40 Psych. Erkrankungen Herz/Kreislauf Skelet/Muskel 35 30 25 20 15 10 5 0 1993 1996 1999 2002 2005 2008 Quelle: Rentenversicherung in Zeitreihen, S. 88 ff. Stigma und Diskriminierung psychisch erkrankter Menschen Der Circulus vitiosus von Stigma und Diskriminierung Niedrige politische Priorität • Andere Aspekte der Gesundheitsversorgung und bei der Gleichstellung Behinderter haben mehr Gewicht • => Antistigma als politische Aufgabe Pervasives Stigma • Familie • Enges soziales Netzwerk • Personen, die in psychiatrischen Institutionen arbeiten • Psychiatrische Institutionen und Behandlungsmethoden Soziale Ausgrenzung • Sozialer Rückzug • Selbstbeschränkendes Verhalten Stigma und Diskriminierung • Diskriminierungserlebnisse in allen Lebensbereichen • Antizipation des Stigmas • Selbst-Stigmatisierung Ökonomische Faktoren Fehlende Behandlung • Individuum: Armutsrisiko • Behandlungskosten • Indirekte Krankheitskosten WHO Report Mental Health and Development (2010) Fields of Discrimination 1 People with mental health conditions are subject to: • Stigma and discrimination: e.g., in housing, education, employment, as well as in social and family relationships • Violence and abuse: e.g., people with mental health conditions were 11 times more likely to be targets of violent crimes • Restrictions in exercising civil and political rights: e.g., of 63 democracies, only 4 (Canada, Ireland, Italy, Sweden) do not restrict in any way the right of people with mental health conditions to vote • Exclusion from participating fully in society: e.g., only 8 of 42 selected lower and middle income countries have mental health service user organisations providing community and individual assistance (WHO 2009) WHO Report Mental Health and Development (2010) Fields of Discrimination 2 People with mental health conditions are subject to: • Reduced access to health and social services: e.g., in low and middleincome countries 75% to 85% of people with severe mental illness do not have access to needed mental health treatment. In high-income countries, between 35% and 50% do not receive needed treatment. • Lack of educational opportunities: e.g., children with sub-clinical mental health conditions also have poorer educational outcomes. • Exclusion from income generation and employment opportunities: e.g., among all sources of disability, mental health conditions are associated with the highest rates of unemployment (70% - 90%). • Increased disability and premature death: e.g., people with mental health conditions are more likely to develop significant physical health conditions as diabetes, heart disease, stroke and respiratory disease. Das Stigma der Psychiatrie in den Medien Allgemein herrscht eine negative Darstellung psychiatrischer Einrichtungen vor, die auf die Psychiatrie verallgemeinert wird fehlende wissenschaftliche Ausbildung unwissenschaftliche Methoden unwirksame Therapien Auch die Darstellung psychiatrischer Behandlung ist oft negativ (unwirksam, intransparent, ungerechtfertigt Macht ausübend) unwirksame und strafend eingesetzte ‚Elektroschocks‘ erzwungene Behandlungen psychoanalytische Verfahren „Hollywood-Mythos der Psychiatrie“: Erfolgreiche Therapie ist kein langsamer, graduell fortschreitender Prozess, sondern mit einzelnen kathartischen Ereignissen verbunden Sartorius et al., World Psychiatry 2010; 9: 131-144 Inhaltsanalyse: Darstellung von Psychiatern im Film Analyse von 106 Filmen: Die dargestellten Psychiater waren ... freundlich (63%) grenzüberschreitend (45%): - darunter sexuelle Übergriffe (24%) - darunter nicht sexuelle Übergriffe (31%) - beides (9%) inkompetent (48%) Ghairabeh, Acta Psychiatrica Scand 2005; 111: 316-319 Psychopathie im Film Analyse von 400 Filmen nach forensischen Kriterien => 124 fiktionale psychopathische Charaktere Realistische Darstellungen von Psychopathen (Mangel an Empathie, Kaltblütigkeit, Unfähigkeit zu lieben, fehlende Scham oder Reue, fehlende Einsichtsfähigkeit, Unfähigkeit aus vergangenen Erfahrungen zu lernen, Unbarmherzigkeit) bleiben die Ausnahme, auch wenn sie in letzter Zeit zunehmend zu finden sind. Im Vordergrund steht zumeist bizarres oder „böses“ Verhalten Zu differenzieren ist jedoch auch die Rolle von Literatur und Film als „Vermittler stellvertretender Erfahrungen“: So ist die Darstellung von vermeintlichen Psychopathen in den sog. „Slasher“-Filmen („Halloween“, „Freitag der 13.“) so extrem und unrealistisch, dass sie eher als „Ikonisierung des Bösen“ denn als Darstellung psychischer Devianz (Psychopathie) zu verstehen sind. Leistedt, J Forensic Sci 2014; 59: 167-174 Wie sind Diagnostik und Therapierate zu verbessern? Bessere Erkennung psychischer Erkrankungen und Erhöhung der Behandlungsquote bei den Primärbehandlern z.B. „Psychiatrische Grundversorgung“ für Allgemeinmediziner Erhöhung der Akzeptanz der Diagnose und Behandlungsmöglichkeiten psychischer Erkrankungen z.B. Informationsveranstaltungen für (Nicht-)Betroffene über die Symptome und therapeutischen Möglichkeiten bei psychischen Störungen Verbesserung der Qualität der Versorgung bei psychischen Erkrankungen z.B. bessere Vernetzung der Versorgungseinrichtungen, Integrierte Versorgungsmodelle, Implementierung und Evaluation von Leitlinien, vermehrte Berücksichtigung psychischer Erkrankungen im Programm der Nationalen Versorgungsleitlinien, Entwicklung von sektorübergreifenden Qualitätsindikatoren (z.B. DGPPN-QIs) Vertrauen in die Psychiatrie? Ergebnisse einer systematischen Literaturübersicht im Rahmen des Projekts „European Guidance“ der European Psychiatric Association (EPA) Vertrauen in der Arzt-Patientenbeziehung und zu psychiatrischen Versorgungsdiensten ist das Ergebnis einer komplexen, multidimensionalen und zeitlich variablen Interaktion Vertrauensfördernd sind Sachinformationen über psychische Erkrankungen und ihre Behandlungsmöglichkeiten, Vertraulichkeit, Sicherheit, Verlässlichkeit und Verzicht auf Zwangsmaßnahmen in der therapeutischen Beziehung Entwicklung daraus resultierender evidenzbasierter Empfehlungen zur Verbesserung des Vertrauens, für Drehbuchautoren relevant v.a. durch die Empfehlung der Vermittlung von Sachinformationen und der Vermeidung von Stigmatisierung psychisch Kranker Gaebel W, Muijen M, Baumann AE, Bhugra D, Wasserman D, van der Gaag RJ, Heun R, Zielasek J. Eur Psychiatry. 2014 Feb;29(2):83-100. Aktionsbündnis Seelische Gesundheit • Bundesweites Netzwerk zur Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen und Förderung der seelischen Gesundheit • Ca. 80 Mitgliedsorganisationen aus den Bereichen Psychiatrie und Gesundheitsförderung • Initiiert von der DGPPN und Open the doors e.V. • Unter Schirmherrschaft des Bundesministers für Gesundheit Zusammenfassung Bei gleichbleibender Prävalenz zeigen sich erhöhte Inanspruchnahmeraten, die Gründe hierfür sind noch unklar, eine zunehmende Akzeptanz professioneller Hilfe bei psychischen Störungen dürfte eine Rolle spielen Aufgrund (neurowissenschaftlicher) Erkenntnisfortschritte werden sich Diagnostik, Therapie, Rehabilitation und Prävention psychischer Erkrankungen weiter differenzieren und individualisieren Neue Versorgungsmodelle, Leitlinien und Qualitätsindikatoren müssen in der Praxis implementiert sowie hinsichtlich ihrer Praktikabilität und Auswirkungen auf das Versorgungssystem – wie vor allem auch das neue Entgeltsystem - evaluiert werden Initiativen zur Destigmatisierung müssen evidenzbasiert, trialogisch und mit „langem Atem“ umgesetzt werden. Den Medien kommt in diesem Zusammenhang eine entscheidende Bedeutung zu. Entstehung, Symptomatik und Behandlung psychischer Erkrankungen Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!