03.11.2016 Jahrestagung 2016 2.11.2016, Bern 15 Jahre Reform der Invalidenversicherung: Bilanz und Perspektiven Psychische Krankheiten: Welche Herausforderungen, welche Lösungen? Niklas Baer Inhalt 1. Invalidisierungen aus psychischen Gründen 2. Die jungen IV-Rentner 3. IV und Arbeitgeber 4. IV und Ärzte 1 03.11.2016 Trotz Fortschritten noch nicht am Ziel Quelle: OECD (2014), Mental Health and Work: Switzerland. Die entscheidenden Störungen bei IV-Rentnern aus «psychogenen» Gründen Prozent 0 5 10 15 20 25 30 35 Persönlichkeitsstörung rezidivierende Depression somatoforme Störung somatische Erkrankung Schizophrenie Ängste Polytoxikomanie Belastungsstörung Alkohol Neurasthenie Diagnosen mit n>20; Baer, Frick & Fasel 2009 2 03.11.2016 Arbeitsmarktfern: zB die Integrationsmassnahmen IV-Integrationsmassnahmen nach Ort der Massnahme 2 008 2 000 1 800 1 600 1 400 1 200 1 000 800 600 400 200 0 2 012 Psychose Reaktive St. Bewegungsapp . Andere Nicht arbeitsplatzbasierte Integrationsma ssn ahme n Psychose Reaktive St. Bewegu ngsapp . And ere Arbeitsplatzbasierte Integrationsm assnahm en Source: OECD (2014), Mental Health and Work: Switzerland. Ausstieg aus der IV-Rente gelingt selten Austritte von Personen mit einer psychischen Störung und Total der Austritte als Anteil aller IVBezüger nach Alter, 2012 Psychische Störungen Total 7 6 5 4 3 2 1 0 20-24 25-29 30-34 35-39 40-44 45-49 50-54 55-59 60-64 Quelle: OECD (2014), Mental Health and Work: Switzerland. 3 03.11.2016 Die IV kann die Probleme alleine nicht lösen B. Share of people with mental ill-health on the main social benefits Average, maximum and minimum of the ten countries above Average Minumim Maximum 80 70 73.2 60 66.3 65.7 50 35.1 40 30 31.9 33.1 30.2 20 23.6 10 0 Disability benefit Sickness benefit Unemployment benefit Social assistance Source: OECD (2015), Fit Mind, Fit Job. Invalidisierungen bei jungen psychisch Kranken Durchschnittliche jährliche Veränderung bei IV-Neurenten in % und nach Alter, 1995-2012 Alle IV-Neurenten 8 6 4 2 0 -2 -4 -6 18-19 20-24 IV-Neurenten aus psychischen Gründen 25-29 30-39 40-64 Quelle: OECD (2014), Mental Health and Work: Switzerland. Quelle: Faktenblatt BSV 4.12.2015 4 03.11.2016 Langer Vorlauf der Arbeitsprobleme Ersterkrankungsalter IV-Rentner nach Code 646 gemäss IVAkten 25% 20% 15% Baer, Frick, Fasel (2009) 10% 5% 0% 0-5 Verteilung Ersterkrankungsalter bei Personen mit psychischen Störungen, NCS-R 2001-03 Kessler et al. (2005) 5-10 10-15 15-20 20-25 Median age of onset 25-30 30-35 35-40 25th percentil e 40-45 45-50 50-55 55-60 60-65 75th percentile 50 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0 Anxiety disorder Mood disorder Impulse-control disorder Substance use disorder Any mental disorder Junge IV-Rentner: Rentenrelevante Diagnosen 0% 5% 10% 15% 20% 25% F7 (Intelligenzminderung) F2 (Schizophrenie) F6 (Persönlichkeitsstörungen) F8 (Entwicklungsstörungen) F3 (Affektive Störungen) F9 (Sozial-emotionale Störungen im Kindes-/Jugendalter) F4 (Neurotische Störungen, inkl. Essstörungen F5) F0 (hirnorganische Störungen) Keine F-Diagnose F0-Diagnosen: F2-Diagnosen: F3-Diagnosen: F4-Diagnosen: F6-Diagnosen: F7-Diagnosen: F8-Diagnosen: F9-Diagnosen: v.a. "leichte kognitive Störung" sowie "Persönlichkeits-und Verhaltensstörungen". v.a. "paranoide Schizophrenie" sowie die "hebephrene Schizophrenie" v.a. "bipolare affektive Störung", "depressive Episode" und "rezividierende depressive Störung" v.a. "Phobische Störungen", "Zwangsstörungen" und "Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen" v.a. "emotional instabile Persönlichkeitsstörung" - zudem "kombinierte und andere Persönlichkeitsstörungen", "ängstliche" und "abhängige" Persönlichkeitsstörung. v.a. "leichte Intelligenzminderung" mit und ohne Verhaltensstörungen v.a. "tief greifende Entwicklungsstörungen" (z.B. frühkindlicher Autismus) sowie "umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache" v.a. "einfache Aktvitäts-und Aufmerksamkeitsstörung" sowie die "hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens" häufig 5 03.11.2016 Junge IV-Rentner: Bildungsabbruch Abbruch obligatorische Schule Abbruch Berufsausbildung 60% 40% 20% 0% Junge IV-Rentner: «Berufliche Massnahmen» der IV 25 Schizophrenie Neurotische Störungen Affektive Störungen / Entwicklungsstörungen Prozent der IV-Rentner/innen 20 Hirnorganische Störungen Median Gesamt Persönlichkeitsstörung / Intelligenzminderung / Sozial-emotionale Störungen des KJ-Alters / keine F-Diagnose 15 10 5 0 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 Anzahl Berufliche Massnahmen 14 15 16 17 18 19 23 6 03.11.2016 Junge IV-Rentner: Begutachtung Kein Gutachten vorhanden 0% Gutachten vorhanden 20% F6 (Persönlichkeitsstörungen) 40% 60% 80% 100% 62% F0 (hirnorganische Störungen) 43% F7 (Intelligenzminderung) 33% F3 (Affektive Störungen) 28% F2 (Schizophrenie) 24% F9 (Sozial-emotionale Störungen im Kindes/Jugendalter) 12% F4 (Neurotische Störungen, inkl. Essstörungen F5) 10% F8 (Entwicklungsstörungen) 8% Keine F-Diagnose 0% Junge IV-Rentner: Dauer IV-Erstkontakt - Berentung 50 Schizophrenie 45 Affektive Störungen 40 Neurotische/Persönlichkeitsstörungen 35 Anzahl 30 25 Median Gesamt 20 15 10 5 0 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 Jahre (Median) 7 03.11.2016 Die misten psychisch Kranken sind erwerbstätig A. Employment-population ratio (employed people as a proportion of the working-age population), by severity of mental ill-health, latest available year Severe ill-heatlh Moderate ill-heatlh No ill-health 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 Switzerland Norway Australia Netherlands United States United Kingdom Sweden Denmark Austria Belgium Source: OECD (2015), Fit Mind, Fit Job. Produktivitätsverluste bei erwerbstätigen psychisch Kranken D. Productivity loss through mental ill-health Workers who have not taken sick leave but show reduced productivity (in the previous four weeks), due to an emotional or physical health problem, by mental health status and country Mental ill-health No ill-health Mental ill-health (Europe) No ill-health (Europe) 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 POL AUT BEL HUN CZE DNK NLD DEU LUX SWE FRA SVK IRL ESP EST GBR FIN ITA PRT SVN GRC a. Percentage of w orkers not absent in the previous four w eeks but w ho accomplished less than they w ould have liked as a result of an emotional or physical health problem. The data are an average of the 21 countries in the 2010 Eurobarometer. Source: OECD (2015), Fit Mind, Fit Job. 8 03.11.2016 Wenig Bewusstsein und Support in CH-Unternehmen Anteil der Unternehmen mit Kontakt zu internen oder externen Psychologen, 2009 70 60 50 40 30 20 10 0 SWE FIN DNK BEL NLD NOR ESP SVN POL ITA LUX IRL FRA SVK PRT HUN AUT CHE GBR CZE EST DEU TUR GRC Source: OECD, 2015, Fit Mind, Fit Job; OECD calculations based on: Panel A, the Adult Psychiatric Morbidity Survey, 2007; Panels B through D, the 2009 European survey of enterprises on new and emerging risks (ESENER) of the European Agency for Safety and Health at Work; https://osha.europa.eu/sub/esener/en. Arbeitgeber: Kaum Schulung für alltägliche Probleme «Bitte erinnern Sie sich an eine/n Mitarbeiter/in… − mit psychischen Auffälligkeiten − ungenügenden Leistungen oder problematischem Verhalten − Belastungen für Chef, Team, Produktivität» «Ist Ihnen jemand in den Sinn gekommen?» (n=320) «Wurden Sie jemals geschult, wie man psychisch auffällige Mitarbeitende führen kann?" Nein 9.1% Ja 90.9% Ja 28.9% Nein 71.1% Quelle: (Baer et al.), Befragung von Führungskräften und Personalverantwortlichen in der Region Oberaargau (BE), 2015 (Publikation in Vorbereitung) 9 03.11.2016 Fehlende Unterstützung in kleinen Betrieben Baer, Frick, Auerbach, Basler et al. (Publikation in Erarbeitung) Psychisch auffällige Mitarbeitende 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% war entwertend; stritt Fehler ab, gab immer den anderen Schuld; die Stimmung schwankte sehr stark; impulsiv; inkonstant; wenig Ausdauer vergass häufig Dinge; konnte sich nicht konzentrieren; keine Eigeninitiative; verlangsamt, passiv; wirkte freudlos, desinteressiert hatte Probleme mit Autoritäten, unterlief Arbeiten/Neuerungen, war immer negativ; übernahm keine Verantwortung konnte nicht abstrahieren, war intellektuell rasch überfordert brachte Aufgaben nicht zu Ende; hat über lange Zeit unverhältnismässig viele Überstunden gemacht; wirkte ausgelaugt grosser Geltungsdrang; konnte gut reden, leistete aber nicht viel; egoistisch, nutzte andere aus; rastete bei konstruktiver Kritik aus war sehr unselbständig und anhänglich, musste sich für alles rückversichern, redselig, wirkte "klebrig" verweilte viel zu lange an einer Aufgabe, war nie zufrieden mit dem Resultat; Verhaltensweisen wirkten zwanghaft, bspw. extrem übertriebene Hygiene war ständig mit seinen Schmerzen beschäftigt (und daher in der Arbeitsleistung beeinträchtigt) hatte Angst vor harmlosen Dingen, bspw. den Lift zu benutzen; vermied selbst notwendige minimale Kontakte zu Arbeitskollegen; hatte Probleme mit… verhielt sich rücksichtslos, hielt sich an keine Regeln, hat betrogen/gestohlen, zeigte nie echte Reue Quelle: Befragung von Führungskräften und Personalverantwortlichen in der Region Oberaargau (BE), 2015 10 03.11.2016 Interventionen der Führungskräfte / HR (BS/BL 2010, N=1055) 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% Gespräche, persönliche Unterstützung Arbeitsorganisation diskutiert Pflichten, Konsequenzen angesprochen Arbeitskollegen informiert, unterstützt an Leistungsmotivation appelliert empfohlen, sich zusammenzureissen beobachtet und zugewartet Arbeitsaufgaben angepasst an Arzt/Psychologen verwiesen den direkten Vorgesetzten gecoacht arbeitsrechtliche Massnahmen eingeleitet Personal-/Sozial-/betriebsärtztliche Dienste… Gespräch mit Angehörigen Auszeit empfohlen externe Stellen beigezogen Interventionen der Führungskräfte / HR (Oberaargau 2015, N=320) 0% 20% 40% 60% 80% 100% ich habe die Situation beobachtet und war achtsam ich habe MA persönlich unterstützt, viele Gespräche mit ihm/ihr geführt ich habe MA sehr klar und direkt auf sein Arbeitsproblem angesprochen ich habe MA geraten, professionelle Hilfe aufzusuchen ich habe MA an die Pflichten erinnert, Konsequenzen angesprochen, klare Vorgaben gemacht und diese kontrolliert ich habe an die an sich vorhandene Leistungsmotivation von MA appelliert ich habe die Tätigkeit / den Arbeitsplatz von MA an seine/ihre Probleme angepasst ich habe arbeitsrechtliche Massnahmen eingeleitet ich habe MA aufgezeigt, dass es helfen kann, sich zusammenzureissen ich habe mit MA eine Karriereplanung gemacht, um ihn/sie wieder mehr zu motivieren ich habe MA bei der IV-Stelle gemeldet Quelle: Befragung von Führungskräften und Personalverantwortlichen in der Region Oberaargau (BE), 2015 11 03.11.2016 Interventionen der Führungskräfte / HR (D-Schweiz 2015, N=1554) 0% 20% 40% 60% 80% 100% Ich war achtsam und habe nicht übereilt reagiert Ich habe MA persönlich unterstützt, viele Gespräche mit ihm/ihr… Ich habe MA direkt angesprochen, gesagt, dass das so nicht… Ich habe MA geraten, professionelle Hilfe aufzusuchen Ich habe die Arbeitskollegen informiert und/oder unterstützt Ich habe weitere interne oder externe Stellen… Ich habe MA an die Pflichten erinnert, Konsequenzen… Ich habe an die Leistungsmotivation von MA appelliert Ich habe das Gespräch mit dem ganzen Team gesucht Ich habe MA klare Vorgaben gemacht und engmaschig kontrolliert Ich habe die Arbeitsaufgaben oder-zeiten von MA angepasst engen Kontakt mit MA während Krankschreibung Ich habe dem gesamten Team klare Spielregeln vorgegeben Ich habe MA aufgezeigt, dass es helfen kann, sich… Ich habe das Problem mit MA an Teamsitzungen direkt… Ich habe MA geraten, eine Auszeit zu nehmen verlangt, dass MA zum Arzt geht, wenn er/sie bei uns… Ich habe arbeitsrechtliche Massnahmen eingeleitet Ich habe das Gespräch mit seinem/ihrem Arzt / Therapeuten… Ich habe MA bei der IV-Stelle gemeldet Baer, Frick, Auerbach, Basler et al. (Publikation in Erarbeitung) Das Dilemma – eine Frage der Betriebskultur sicher/eher nein 0% 20% sicher/eher ja 40% 60% 80% 100% Würde es Ihnen helfen, wenn MA ihr Problem Ihnen gegenüber offenlegen? Würde es den Teamkollegen helfen, wenn MA ihr Problem offenlegen? Würden Sie MA behalten wollen, die ihre psychischen Probleme erst nach der Anstellung offenlegen? Würden Sie MA anstellen, die beim Bewerbungsgespräch erwähnen, dass sie psychische Probleme haben? 12 03.11.2016 Anreize für ausführlichere IV-Arztberichte (n=184) «Wie stark würden die folgenden Aspekte Ihre Bereitschaft beeinflussen, sich in einem IVArztbericht ausführlich mit der Arbeitsbiografie, der Arbeitsproblematik, den nötigen Eingliederungsmassnahmen und den nötigen Arbeitsanpassungen eines Patienten auseinanderzusetzen?» Stark erhöhen Leicht erhöhen Nicht beeinflussen 0% 20% Leicht verringern 40% 60% Stark verringern 80% 100% Wenn meine Einschätzungen routinemässig in die Eingliederungsplanung einfliessen würden Wenn die IV anschliessend routinemässig mit mir Rücksprache nehmen würde Wenn die IV-Arztberichte/Revisionsberichte entsprechend meinem effektiven Zeitaufwand entlöhnt würden Wenn ich routinemässig zu Beginn des IV-Verfahrens zu einem interdisziplinären Assessment eingeladen würde, wo ich meine Einschätzungen einbringen und mit RAD/IVEingliederungsverantwortlichen diskutieren kann Letzte 2 AuF-Zeugnisse (psych. Praxen, 2016) jüngstes AuF-Zeugnis (n=108) zweitjüngstes AuF-Zeugnis (n=108) 30 Anzahl Wochen 25 20 15 10 5 0 Für welche Dauer Wie lange hat die Wie lange wird die Dauer der AuF haben Sie im AuF bei dieser AuF bei dieser insgesamt (Wochen) jüngsten Zeugnis aktuellen aktuellen eine AuF Krankheitsepisode Krankheitsepisode ausgewiesen? insgesamt / bis noch dauern? (Wochen) heute gedauert (Wochen) (Wochen) Wie viele AuFZeugnisse haben Sie im Rahmen dieser aktuellen Krankheitsepisode bisher schon erstellt (Stückelung der Zeugnisse)? 13 03.11.2016 Nach 3 Monaten wird die Rückkehr schwierig A. Return to work after sickness, Belgium 2010 B. Return to work after sickness, Sweden, spells started in 2006 (mental ill-health vs. other health conditions) Mental ill-health Other health conditions Percentage of people remaining on sickness/disability benefits 100 100 90 90 80 80 70 70 60 60 50 50 40 40 30 30 20 20 10 10 0 1 3 5 7 9 11 13 15 17 19 21 23 Time since onset of sickness absence (months) 0 1 4 7 10 13 16 19 22 25 28 31 34 37 40 43 Time since onset of sickness absence (months) Source: OECD (2015), Fit Mind, Fit Job. 14