Freie Beiträge

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Kindheit und Entwicklung 14 (3), 169 ± 180 Hogrefe Verlag, Göttingen 2005
Freie Beiträge
Geschlechtsunterschiede im Auftreten
von psychischen und Verhaltensstörungen
im Jugendalter
FrancËoise D. Alsaker und Andrea Bütikofer
Institut für Psychologie der Universität Bern
Zusammenfassung. Im vorliegenden Beitrag werden die wichtigsten Geschlechtsunterschiede im Auftreten von psychischen und Verhaltensstörungen vom Einsetzen der Pubertät bis ins Heranwachsendenalter hinein dargestellt und mögliche Erklärungen für diese Unterschiede diskutiert. Exemplarisch werden zwei Formen von Problemverhalten dargestellt, deren Prävalenz sich in dieser Entwicklungsphase stark verändert: depressive Symptome und Störungsbilder, und externalisierendes Problemverhalten, im Speziellen Aggression und Delinquenz, sowie der Konsum verschiedener psychoaktiver Substanzen. Diese Störungen und die entsprechenden Geschlechtsunterschiede werden in Zusammenhang mit der Lösung von zentralen Entwicklungsaufgaben des Jugendalters gebracht. Abschlieûend werden Implikationen für die Prävention und die Forschung formuliert.
Schlüsselwörter: Geschlechtsunterschiede, Problemverhalten, Adoleszenz, Depression, Aggression, Delinquenz, Konsum psychoaktiver Substanzen, Entwicklungsaufgaben
Gender differences in the occurrence of mental and behavioral disorders during adolescence
Abstract. In the present article, the most important gender differences in the occurrence of mental and behavioral disorders from the
beginning of puberty to young adulthood are presented and possible explanations for these differences are discussed. Two types of
problem behavior ± showing substantial change in prevalence during adolescence ± are addressed: depressive symptoms and disorders,
and externalizing problem behavior, in particular aggression, delinquency, and use of psycho-active substances. These disorders and
gender differences in their prevalence are discussed with regards to the completion of developmental tasks. Finally, implications for
prevention and research are formulated.
Key words: sex differences, problem behavior, adolescence, depression, aggression, delinquency, psycho active substances, developmental tasks
Die Adoleszenz bringt zahlreiche Veränderungen mit
sich, die Einwirkungen auf die Selbstdefinition und das
soziale Verhalten des heranwachsenden Menschen haben. Die vielen Veränderungen und Übergänge sind sowohl als Chancen als auch mögliche Belastungen bis
hin zu Überforderungen zu betrachten; denn jede Neuorientierung birgt auch die Gefahr der Desorientierung.
So gehört die Auseinandersetzung mit existierenden
Normen und Werten zum Prozess der Identitätsfindung
(Marcia, 1980), aber der Weg bis zur eigenen erarbeiteten Definition der Identität kann durch Phasen von risikoreichem oder ziellosem Experimentieren geprägt sein,
oder sogar in Verzweiflung über sich und die Welt enden.
Lange wurde die Adoleszenz auch als eine Phase der
Verwirrung (Burns, 1979) oder der Krise und des Sturm
und Drangs bezeichnet. Zwar ist diese Ansicht häufig
aufgrund der Selektionskriterien früherer Studien (z. B.
psychiatrische Anlaufstellen) kritisiert und seit den erDOI: 10.1026/0942-5403.14.3.169
sten breiteren Studien zur Selbstauffassung von Jugendlichen einer Normalpopulation Ende der 60er-Jahre (Offer, 1969; Offer, Ostrov & Howard, 1984) revidiert worden, jedoch scheint sie in Laienvorstellungen immer
noch Gültigkeit zu haben. Dies wird zusätzlich durch
die Medien verstärkt; Letzteres übrigens auch bereits in
den 80er-Jahren (Falchikov, 1986).
Die Diskrepanz zwischen dem ausgewogenen Bild
der Adoleszenz, welches Ergebnisse von Surveystudien
zeichnen und den alltagspsychologischen Beobachtungen von Laien lässt sich zum Teil dadurch erklären, dass
normabweichendes Verhalten leicht erkennbar ist und
von jeder sozialen Gruppe (auch Gesellschaft oder Kultur) unmittelbar als Gefährdung der herrschenden Ordnung wahrgenommen wird. Das trifft ganz besonders
auf die externalisierenden Formen von Problemverhalten
zu, die meistens Probleme für andere bereiten und deren
Prävalenz dadurch überbewertet wird.
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FrancËoise D. Alsaker und Andrea Bütikofer
Die generalisierte Wahrnehmung der Adoleszenz als
krisenhafte Periode hat zeitweise auch dazu geführt, dass
Störungen in dieser Lebensphase bagatellisiert worden
sind, da man davon ausging, dass es sich lediglich um
vorübergehende Phänomene handelte (z. B. adolescence-limited delinquency; Moffitt, 1993) und die jugendliche Person aus der Störung hinauswachsen würde (Petersen, 1988). Längsschnittstudien zur Selbstabwertung
(Alsaker & Olweus, 1992, 1993) oder zur Depression
(Harrington, 1993; Merikangas & Angst, 1995; Rutter,
1986) in der Adoleszenz haben jedoch eindeutig gezeigt,
dass solche Probleme, wenn sie auftreten, von stabiler
Natur sind.
Zusammenfassend kann man sagen, dass eine Distanzierung von den geltenden Normen Teil eines notwendigen Selbstdefinitionsprozesses ist und damit alleine noch
keine Störung darstellen muss. Man dürfte in diesem
Sinne behaupten, dass normabweichendes Verhalten
während der Adoleszenz eher als normal und gar entwicklungsfördernd zu betrachten sei. So haben beispielsweise Shedler und Block (1990) den experimentierenden
Drogenkonsum unter Berücksichtigung solcher Mechanismen analysiert. Wir wissen aber auch, dass die Adoleszenz eine zentrale Phase in der Entwicklung von verschiedenen Typen von sowohl internalisierendem Problemverhalten wie Depression (z. B. Harrington, 1993),
als auch externalisierenden Problemen wie Delinquenz
(z. B. Moffitt, 1993) ist. Darüber hinaus können sich
diese Verhaltensweisen in dieser Phase auch zu stabilen
Problemen entwickeln und die weitere Entwicklung dadurch sehr stark prägen (Alsaker, 2000; Cairns & Cairns,
1994; Nagin, Farrington & Moffitt, 1995). Es stellt sich
deshalb die Frage nach der Grenzziehung zwischen normal abweichendem Verhalten und Problemverhalten
(vgl. Waligora, 2003).
Die Qualifizierung von Verhaltensweisen als Problemverhalten steht immer in Zusammenhang mit seinen
Konsequenzen, aber auch mit Normen, Erwartungen
und Entwicklungsaufgaben (vgl. Havighurst, 1956; Dreher & Dreher, 1985). Streng genommen bedeutet dies,
dass man Problemverhalten stets in Abhängigkeit von
Kultur, sozialem Umfeld, Geschlecht und Alter definieren müsste (Flammer & Alsaker, 2002). Nun ist es jedoch
so, dass eine bestimmte Verhaltensweise durchaus in einem bestimmten Alter und in einer gegebenen (Sub-)
Kultur angepasst oder normativ sein mag und dennoch
für die weitere Entwicklung des Individuums als problematisch eingestuft werden muss. Beispielsweise wenn
alle Mädchen im Alter von 16 Jahren extrem harte Diäten
durchführen würden, könnte dieses Verhalten einer adoleszenten Norm zu einem bestimmten Zeitpunkt, in einer
bestimmten Kultur entsprechen und im Sinne der Normativität angemessen sein. Dennoch müsste dieses Verhalten für die weitere Entwicklung dieser Mädchen als
problematisch eingestuft werden. Das heiût, ein Bezug
zur Funktionalität des Verhaltens innerhalb verschiede-
ner Entwicklungsbereiche ist immer nötig. Ein und dasselbe Verhalten kann in einem Bereich durchaus funktional und gleichzeitig in einem anderen Bereich dysfunktional sein. Im eben genannten Beispiel wäre das extreme
Diätverhalten für die soziale Integration funktional, aber
körperlich und gemessen an verschiedenen Entwicklungsaufgaben dysfunktional. Die Funktionalität muss
auch im Zusammenhang mit dem Umfeld analysiert werden. Was für eine Person funktional sein kann, kann für
andere im Umfeld problematisch sein (ein typisches Beispiel stellt instrumentelles aggressives Verhalten dar).
Entsprechend diesen Ausführungen benutzen wir hier
die Definition von Flammer und Alsaker (2002, S. 268)
und betrachten Problemverhalten als ¹Verhalten, das
eine Gefährdung für die eigene Entwicklung oder die
Entwicklung anderer darstelltª. Sowohl normatives als
auch abweichendes Verhalten können in diesem Sinne
als Problemverhalten bezeichnet werden, wenn sie ein
Risiko in Bezug auf die persönliche langfristige Entwicklung eines Individuums oder seiner Umgebung darstellen.
Im vorliegenden Beitrag werden die wichtigsten Geschlechtsunterschiede im Auftreten von Problemverhalten vom Einsetzen der Pubertät bis ins Heranwachsendenalter hinein dargestellt und mögliche Erklärungen
für diese Unterschiede diskutiert. Wir gehen exemplarisch auf zwei Formen von Problemverhalten ein, deren
Prävalenz sich in dieser Entwicklungsphase stark verändert, und versuchen diese in Zusammenhang mit der Lösung von zentralen Entwicklungsaufgaben zu bringen.
Wir setzen uns einerseits mit depressiven Symptomen
und Störungsbildern ± als internalisierendem Problemverhalten ± und andererseits mit einer Gruppe von externalisierenden Formen von Problemverhalten, welche
häufig zusammen auftreten, auseinander. ± Auf biologische Faktoren dieser Entwicklungsverläufe gehen wir dabei nicht ein und verweisen auf frühere Ausgaben dieser
Zeitschrift (vgl. Holtmann & Schmidt, 2004; Holtmann,
Poustka & Schmidt, 2004).
Depression
Mehrere Autoren haben darauf hingewiesen, dass Jungen
vor der Pubertät entweder gleich häufig oder sogar häufiger als Mädchen unter Depression leiden und sich dieses Verhältnis in der Pubertät umkehrt (vgl. Groen & Petermann, 2002; Harrington, 1993). Dies macht diese Störung von einer Geschlechterperspektive her gesehen besonders interessant.
Bis vor ungefähr drei Jahrzehnten ging man davon
aus, dass Depression ± so wie man sie unter diesem Begriff für Erwachsene bereits seit der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts definiert hatte (Berrios, 1996) ± bei
Geschlechtsunterschiede im Auftreten von psychischen und Verhaltensstörungen im Jugendalter
Kindern und Jugendlichen nicht oder nur selten in Erscheinung tritt (Essau, 2002). Heute wird die diagnostische Klassifikation affektiver Störungen auch für Kinder
und Jugendliche anerkannt und es herrscht Einigkeit darüber, dass Depression im Jugendalter von der Erscheinung her derjenigen im Erwachsenenalter sehr ähnlich
ist. Der Begriff Depression wird in der Forschung allerdings nicht mehr nur als Bezeichnung der klinisch relevanten Störung (u. a. Major Depression), sondern auch
für mildere Formen von depressiven Verstimmungen verwendet.
Depression wird in der Forschung vermehrt als Kontinuum betrachtet. An dem einen Ende findet man normale Reaktionen auf negative Lebensereignisse und am
anderen Ende extreme emotionale Zustände (z. B. tiefe
Melancholie) bis hin zur suizidalen Gefährdung (vgl.
Angold, 1988). Um Forschungsergebnisse diskutieren zu
können, scheint es uns wichtig, vorab einige der meist
verwendeten Begriffe darzustellen.
Gemäû DSM-IV (Sass, Wittchen & Zaudig, 1996)
kann entweder eine klinische Depression ± ¹Major Depressionª ± oder eine schwächere länger andauernde
Depression ± ¹dysthyme Störungª ± diagnostiziert werden. Eine Major Depression erfordert das Vorkommen
von mindestens fünf von neun Symptomen innerhalb
von mindestens zwei Wochen, wobei entweder eine depressive oder eine reizbare Verstimmung (bei Kindern
und Jugendlichen, vgl. Essau & Petermann, 2002) oder
ein deutlich vermindertes Interesse an fast allen Aktivitäten vorkommen müssen. Andere Symptome betreffen
¾nderungen in folgenden Bereichen: Gewicht, Appetit,
Schlaf, Psychomotorik, Energie, Selbstwert, Schuldgefühle, Konzentration und wiederkehrende Gedanken an
den Tod (inkl. suizidale Gedanken). In der DSM-IVKlassifikation wird zwischen Major Depression mit einer einzelnen Episode und einer rezidivierenden Major
Depression unterschieden. In der ICD-10-Klassifikation
gibt es entsprechend die Bezeichnungen ¹Depressive
Episodeª und ¹Rezidivierende Depressive Störungª
(siehe Übersicht 1 in Essau & Petermann, 2002,
S. 293).
Eine dysthyme Störung ist weniger intensiv, dauert
aber länger. Sie wird diagnostiziert, wenn der oder die Jugendliche über einen Zeitraum von mindestens einem
Jahr eine depressive oder reizbare Verstimmung aufweist. Während der depressiven Verstimmung bestehen
mindestens zwei von sechs Symptomen betreffend Appetit, Schlaf, Energie, Selbstwert, Konzentration und Gefühlen der Hoffnungslosigkeit. Die entsprechende ICD10-Bezeichnung ist Dysthemia. Zusätzlich zu diesen klaren Störungsbildern ermöglichen beide Klassifikationssysteme die Bezeichnung ¹nicht näher bezeichnete depressive Störung/Episodeª.
171
Neben diesen anerkannten Klassifikationssystemen
arbeiten Forscherinnen und Forscher mit weiteren Begriffen. Beispielsweise unterscheiden Petersen, Compas
und Mitarbeitende (1993) zwischen drei Kategorien:
l
l
l
depressive Stimmung,
depressives Syndrom und
klinische Depression.
Depressive Stimmung tritt oft zusammen mit anderen
negativen Emotionen wie Furcht, Schuldgefühlen, ¾rger,
oder Verachtung auf, jedoch nie zusammen mit Freude
(Watson & Kendall, 1989). Das depressive Syndrom wird
als eine Konstellation von Emotionen und Verhaltensweisen betrachtet, die durchweg gemeinsam miteinander
auftreten (z. B. Weinen oder ein Gefühl der Einsamkeit,
der Wertlosigkeit, der Schuld, des Misstrauens). Von einem depressiven Syndrom sprechen Petersen et al.
(1993) nur dann, wenn die diagnostischen Kriterien einer
klinischen Depression gemäû den Klassifikationssystemen psychischer Störungen der American Psychiatric
Association (DSM-IV) oder der Weltgesundheitsorganisation WHO (ICD-10) nicht zutreffen.
Prävalenzraten zu Depression in der Adoleszenz
müssen aus sehr unterschiedlichen Studien und Stichproben abgeleitet werden. Die Schätzung der Prävalenz wird
dadurch erschwert, dass sehr unterschiedliche Messinstrumente und Grenzwerte benutzt werden und dass nicht
immer klar zwischen Depressivität, depressivem Syndrom und klinischer Depression differenziert wird. Aus
diesem Grund variieren die Angaben aus verschiedenen
Studien sehr stark.
Merikangas und Angst (1995) berichten auf der Basis
von acht verschiedenen epidemiologischen Erhebungen
in Normalpopulationen Punktprävalenzraten einer Major
Depression bei Jugendlichen zwischen 0.4 % und 5.7%.
Auch Essau und Petermann (2002) berichten von entsprechenden Zahlen auf der Basis von neun Studien, welche zwischen 1993 und 1998 publiziert wurden (zwischen 0.7 % und 6 %). Die Lebenszeitprävalenz reichte
in der Übersicht von Merikangas und Angst von 1.9%
bis 18.4%, und in der Übersicht von Essau und Petermann (2002) von 9.3% bis 18.4% (Zahlen aus vier Studien).
Weiter variieren die Zahlen auch je nachdem, ob die
Einschätzung der Symptome von den Eltern oder den Jugendlichen selbst kommt: Eltern schätzen ihre jugendlichen Kinder seltener als depressiv ein (10 % bis 20%) im
Vergleich zu deren Selbsteinschätzungen (20 % bis 40 %)
(Petersen et al., 1993).
Sowohl klinisch relevante Depressionen als auch depressive Verstimmungen scheinen von der Kindheit hin
zur Jugendzeit zuzunehmen (Fleming & Offord, 1990;
Rutter, 1986). Diese Zunahme betrifft Mädchen stärker
als Jungen (z. B. Kandel & Davies, 1982; Kashani et al.,
1987). Die Ergebnisse aus den 80er-Jahren lassen sich
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FrancËoise D. Alsaker und Andrea Bütikofer
auch durch die Ergebnisse der kürzlich veröffentlichten,
repräsentativen Gesundheitsbefragung von 16- bis 20jährigen Jugendlichen in der Schweiz (¹SMASH 2002ª)
bestätigen: Während 10 % der Mädchen als depressiv
eingestuft wurden, traf dies lediglich bei gut der Hälfte
der Jungen (5.6 %) zu (Narring et al., 2004). Essau
(2002) berichtet, dass Studien mit Jugendlichen zweibis dreimal höhere Depressionsraten bei Mädchen im
Vergleich zu Jungen enthüllen. Während sich im Kindesalter kaum bedeutsame Geschlechtsunterschiede abzeichnen, sind diese im Jugendalter vergleichbar mit
denjenigen bei Erwachsenen. Dieser eindeutige Geschlechtsunterschied scheint nicht auf Artefakte wie den
Antwortstil oder die unterschiedliche Offenheit zurückzuführen zu sein (Nolen-Hoeksema, Girgus & Seligman,
1991).
Die Zunahme der Depression in der Adoleszenz erklärt sich Harrington (1993) mit einer Abnahme der protektiven Faktoren in diesem Lebensabschnitt, durch welche die Jugendlichen möglicherweise vulnerabler werden. Sie verbringen weniger Zeit mit ihrer Familie (Larson & Richards, 1991) und die allgemeine Distanzierung
von den Eltern kann dazu führen, dass sie weniger elterliche Unterstützung bekommen oder wahrnehmen. Eine
alternative Erklärung dafür, warum Kinder seltener unter
Depressionen leiden, ist die Tatsache, dass ihre Fähigkeiten zur Selbstreflexion noch wenig entwickelt sind und
sie sich selbst oft überschätzen. Dieser Umstand mag
Kinder vor negativen Kognitionen und somit auch vor
Depression schützen.
Warum werden aber Mädchen im Jugendalter anfälliger für Depression? Diese Anfälligkeit scheint mit einem
geringeren Selbstwert und einem negativeren Körperbild
der Mädchen zusammenzuhängen (Allgood-Merton, Lewinsohn & Hops, 1990). Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper zeigt sich schon bei Mädchen ab einem Alter
von neun Jahren (Davison, Markey & Birch, 2003). Der
niedrigere Selbstwert der Mädchen ist durch zahlreiche
Studien belegt worden (siehe Flammer & Alsaker, 2002);
Erklärungen dafür (warum Mädchen einen niedrigeren
Selbstwert haben), sind jedoch selten und es ist fraglich,
inwiefern man den tiefen Selbstwert als Vorläufer bzw.
Ursache oder eher als Symptom von Depression betrachten soll.
Ein wichtiger Faktor in der Erklärung des Geschlechtsunterschieds bei Depression ist unserer Meinung nach die Verschiedenheit des Timings und der Bedeutung der Pubertät überhaupt. Es ist belegt, dass insbesondere körperlich früh entwickelte Mädchen ein höheres Risiko zur Entwicklung depressiver und anderer internalisierender Störungen aufweisen. Dies ist möglicherweise mitunter ein Resultat der gröûeren Unzufriedenheit mit ihrem Aussehen, welche wiederum mit unrealistischen weiblichen Körperidealen zusammenhängt
(Alsaker, 1992, 1995; Stattin & Magnusson, 1990).
Diese Konfrontation mit einem unerreichbaren Ideal
könnte sowohl ihre höhere Tendenz zur Depressivität als
auch ihren tieferen Selbstwert erklären.
Darüber hinaus sind Mädchen während der Pubertät
möglicherweise auch mit mehr Herausforderungen konfrontiert als Jungen. Bei ihnen fällt beispielsweise ein
Schulwechsel (Übertritt in die Sekundarstufe) öfter mit
äuûeren Anzeichen der Pubertätsentwicklung zusammen als bei Jungen (Petersen, Sarigiani & Kennedy,
1991). Das bedeutet, dass Mädchen häufiger mehrere
wichtige Entwicklungsaufgaben gleichzeitig meistern
müssen, was an sich als Stressfaktor betrachtet werden
kann (Alsaker, 1996). Die Anhäufung von Entwicklungsaufgaben trifft die frühreifen Mädchen besonders
stark. Während die Auseinandersetzung mit den pubertären körperlichen Veränderungen als normative Entwicklungsaufgabe betrachtet werden kann, da sie zum
einen oder anderen Zeitpunkt von allen gelöst werden
muss, werden früh und spät reifende Jugendliche zusätzlich auch mit timing-gebundenen, nicht normativen
Aufgaben konfrontiert (Alsaker, 1996). Das heiût, dass
sie eine Kumulation von normativen und nicht normativen Aufgaben erleben. Diese zusätzlichen nicht normativen Aufgaben sind für die Frühreifen und die Spätreifen auch sehr unterschiedlich: Während spätreife Mädchen sehr gut auf die kommenden Veränderungen und
Reaktionen des Umfelds vorbereitet sind, werden die
frühreifen Mädchen mit Aufgaben konfrontiert, mit welchen weder sie noch ihre Umgebung gerechnet hatten.
Obwohl das Timing der körperlichen Veränderungen
der Pubertät mit ein wichtiger Faktor ist, um Geschlechtsunterschiede in den Depressionsraten zu verstehen, so kann die höhere Depressionstendenz der frühreifen Mädchen jedoch nur zum Teil dadurch erklärt
werden. Es ist wichtig zu beachten, dass die Frühreife
oft bereits existierende Probleme akzentuieren kann
(Caspi & Moffitt, 1991).
Dadurch, dass Mädchen generell früher pubertieren
als Jungen (insbesondere was die äuûerlichen Anzeichen
betrifft), werden Mädchen auch früher als Jungen mit der
notwendigen Anpassung ihres Körperbilds und Selbstkonzepts an ihre erwachsenenähnliche Erscheinung konfrontiert und auch neuen Erwartungen Dritter ausgesetzt.
Dies bedeutet für die Mädchen eine wesentlich frühere
Auseinandersetzung mit den geltenden Geschlechtsrollen, der Bedeutung der sexuellen Reifung und Erwartungen an das jugendliche Alter als dies für Jungen der Fall
ist. Durch die säkulare Akzeleration reifen Mädchen
heute auch erheblich früher als vor 150 Jahren (Tanner,
1989). Die Konfrontation mit den oben erwähnten Entwicklungsaufgaben mag für sehr viele Mädchen zu früh
sein, weil ihre Kindheit damit im Vergleich zu den Jungen verfrüht aufhört. Das heiût, dass sie möglicherweise
auch viel zu früh einige der Privilegien und Schutzfaktoren der Kindheit verlieren (siehe oben).
Geschlechtsunterschiede im Auftreten von psychischen und Verhaltensstörungen im Jugendalter
Die pubertäre Reifung bringt weitere ¾nderungen
mit sich, auf welche die Mädchen meistens nicht vorbereitet sind. Das eine ist die normale Gewichtszunahme,
welche vor allem durch eine Fettzunahme bedingt ist.
Viele Mädchen erleben als Folge eine Stagnation oder
sogar einen leichten Rückgang ihrer Kraft. Dies kann
mitentscheidend sein für die rückgängige Motivation
vieler Mädchen, sich sportlich zu betätigen. Die SMASH
2002-Studie hat zum Beispiel gezeigt, dass Mädchen signifikant weniger physische Aktivität angaben als Jungen
(Narring et al., 2004). Die Hälfte der Mädchen hatte sogar zu wenig physische Aktivität (WHO-Normen). Dies
bedeutet, dass ein Teufelskreis entstehen kann und dass
Mädchen schlussendlich weniger Möglichkeiten haben,
ihren Körper als effizientes Instrument zu erleben. Dies
passt sehr gut zu der Annahme, dass Mädchen sehr früh
lernen, ihren Körper eher als Objekt aus einer Auûenperspektive zu betrachten (McKinley, 1998) als auf ihre körperliche Kompetenz zu achten; dies scheint bei Jungen
umgekehrt zu sein.
Mädchen und Jungen unterscheiden sich auch in ihrem Bewältigungsstil. Nolen-Hoeksema (1987) hat beispielsweise beschrieben, wie Frauen über entstehende
Probleme ± inklusive depressive Stimmung ± grübeln
und sie auf diese Weise sogar noch verstärken, während
Männer sich eher abzulenken scheinen. Dies mag mit
grundsätzlicheren Unterschieden zwischen Frauen und
Männern verbunden sein, die heute noch zu wenig erforscht sind. Zum Beispiel weiû man, dass Mädchen in
der frühen Kindheit den Jungen verbal überlegen sind, ihre Sprachfertigkeiten jedoch abhängig sind von ihren Gesprächspartnern und Modellen (z. B. Bornstein, Haynes,
Painter & Genevro, 2000; Gleason & Ely, 2002; Ladegaard & Bleses, 2003).
Die Rolle der weiblichen Hormone ist sehr umstritten
und es fehlen klare Belege dafür, dass bei einer depressiven Episode eine biologische Fehlregulation der Hormone auftritt (Flammer & Alsaker, 2002). Ein Zusammenhang zwischen depressiver Verstimmung und hormonellen Schwankungen ist auch diskutiert worden. Besonders Befunde, welche zeigen, dass Phasen von geringerer Produktion von Östrogen ein gewisses Risiko für
solche Verstimmungen bergen, sind in diesem Zusammenhang interessant (Harrington, 1993), jedoch bis
heute nicht schlüssig bewiesen.
Kognitive Faktoren können in der Entwicklung und
Aufrechterhaltung depressiver Symptome eine wichtige
Rolle spielen. Interessant wäre deshalb zu untersuchen,
inwiefern Mädchen zu einem frühen Zeitpunkt dahin sozialisiert werden, spezifische dysfunktionale kognitive
Muster zu entwickeln, welche unter anderem internale,
globale und stabile Attributionen, negative Selbstbewertungen und einen geringen Glauben an persönliche Kontrolle beinhalten (vgl. Alsaker, 2000; Groen & Petermann, 2002).
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Obwohl viele der Erklärungen für die Geschlechtsunterschiede bei Depression im Jugendalter immer noch hypothetischer Natur sind, kann zusammenfassend festgehalten werden, dass Mädchen, ganz besonders früh entwickelte, ein höheres Risiko aufweisen als Jungen, während der Adoleszenz eine depressive Störung zu entwickeln. Wissenschaftlich bestätigte Modelle, welche die zu
beobachtende geschlechtsspezifische Verletzbarkeit erklären, liegen bisher noch nicht vor. Bestehende Erklärungsansätze, die oben teilweise besprochen wurden, deuten jedoch darauf hin, dass eine Kumulation von Stressoren und neuen teilweise non-normativen Entwicklungsaufgaben während der körperlichen Reifung besonders
kritisch ist. Zu klären bleibt jedoch z. B. die Frage, ob Mädchen von der Abnahme protektiver Faktoren (Harrington,
1993) stärker betroffen sind als Jungen. Noch ungeklärt
bleibt auch die Entwicklung von dysfunktionalen Schemata und Reaktionen in Problemsituationen (z. B. das Grübeln = sog. Rumination). Allgemein erscheint ein Fokus
auf eine Stärkung des Selbstwerts und der Kompetenzerfahrungen von Mädchen in einem frühen Alter sinnvoll.
Externalisierende Probleme
Externalisierendes Problemverhalten umfasst eine Reihe
von Handlungen, die von einem einfachen Normbruch
bis hin zur groben physischen Gewalt reichen. Nachfolgend werden drei Formen von externalisierendem Problemverhalten dargestellt, welche einerseits stark miteinander korrelieren und andererseits interessante Unterschiede in den Geschlechterdifferenzen zeigen: Aggressives Verhalten gegen Personen, delinquentes Verhalten
und Konsum von legalen und illegalen Substanzen.
Antisoziales Verhalten:
Aggression und Delinquenz
Aggressives Verhalten kann sehr unterschiedliche Ausdrucksformen annehmen. Aggressive Handlungen sind
nur in seltenen Fällen körperlicher Art. Verbale und äuûerst subtile Formen der Aggression kommen im Allgemeinen häufiger vor. Grundsätzlich geht es bei aggressivem Verhalten immer um ein Verhalten, welches zum
Ziel hat, eine andere Person absichtlich zu verletzen.
Um auch Formen der instrumentellen Aggression (Aggression ist ein Mittel zum Ziel) oder von eher habituellen Verhaltensweisen berücksichtigen zu können, muss
die Absichtsdefinition umformuliert werden, d. h. dass
ein Verhalten, welches mit dem Bewusstsein der verletzenden Wirkung ausgeübt wird, auch als aggressiv gekennzeichnet wird (Alsaker, 2003).
Man unterscheidet im Allgemeinen zwischen direkten und indirekten Formen der Aggression. Direkte Ag-
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FrancËoise D. Alsaker und Andrea Bütikofer
gression ist unmittelbar und offensichtlich gegen eine
Person (oder deren Eigentum) gerichtet. Täter und Opfer
sind miteinander konfrontiert. Bei den indirekten Formen der Aggression findet keine solche Konfrontation
statt. Indirekte Formen haben für die Täterin oder den
Täter den eindeutigen Vorteil, dass sie den Anschein erwecken können, dass gar keine Absicht bestand, jemanden zu schädigen. Es können beispielsweise Mitschüler/
innen als Werkzeuge für den Angriff auf die Zielperson
gebraucht werden. Obwohl die direkten Formen unmittelbar am dramatischsten sind und besonders in den Medien am meisten Aufmerksamkeit erlangen, nimmt ihr
Anteil in der Adoleszenz ab, während der Anteil der indirekten Formen zunimmt.
Ein Groûteil der Studien über die letzten 20 Jahre
zeigt deutliche Unterschiede im aggressiven Verhalten
von Mädchen und Jungen (z. B. Coie & Dodge, 1998;
Maccoby & Jacklin, 1980; Parke & Slaby, 1983): Jungen
sind häufiger unter den Aggressoren zu finden und Mädchen werden am häufigsten von Jungen aggressiv behandelt (z. B. Olweus, 1996). Problematisch an diesen Ergebnissen ist aber, dass vor allem direkte physische Formen der Aggression gemessen wurden. Auf dieses Problem ist man in den 90er-Jahren aufmerksam geworden
und man hat in der Folge entsprechend vermehrt auch indirekte Aggressionsformen untersucht. Zusammengefasst zeigen die Befunde, dass Mädchen in der Anwendung indirekter Aggressionsformen den Jungen überlegen sind, während Letztere sich häufiger direkten Formen der Aggression bedienen (Björkqvist, Lagerspetz &
Kaukiainen, 1992; Crick, 1997; Cairns & Cairns, 1994).
Interessanterweise verändert sich die bevorzugte Aggressionsform in gegengeschlechtlichen Auseinandersetzungen: Jungen verwenden weniger oft physische Aggression gegenüber Mädchen als gegenüber Jungen, während
Mädchen gegenüber Jungen öfter physisch aggressiv
sind als gegenüber Mädchen (Cairns & Cairns, 1994).
Beobachtet man jedoch das Verhalten von hoch aggressiven Mädchen und Jungen, so scheinen die Geschlechtsunterschiede hinsichtlich Häufigkeit und Intensität der
Aggressionsausbrüche zu verschwinden; dies taten
Cairns und Cairns (1994), indem sie das Verhalten von
40 Schülerinnen und Schülern untersuchten, welche im
Voraus von Lehrpersonen als extrem aggressiv bezeichnet worden waren. Die Autoren erwähnen auûerdem,
dass die üblichen Geschlechtsunterschiede in der Prävalenz von Gewaltakten in sehr gefährdeten Groûstadtquartieren der USA auch nicht zu finden sind.
Es besteht heute kein Zweifel daran, dass aggressive
Kinder ein erhöhtes Risiko für späteres aggressives Verhalten aufweisen. Aggressives Verhalten gehört zu den
stabilsten Merkmalen in der Entwicklung (Olweus,
1979) und ist auch ein guter Prädiktor für delinquentes
Verhalten. Mögliche Faktoren, die zur Erklärung der Geschlechtsunterschiede in aggressivem Verhalten in der
Adoleszenz herangezogen werden können, werden deshalb zusammen mit den Unterschieden im delinquenten
Verhalten diskutiert.
Unter delinquenten Handlungen versteht man im Allgemeinen antisoziale Handlungen, die gegen das Strafrecht verstoûen; deswegen wird der Begriff meistens erst
bei Jugendlichen verwendet. Betrachtet man ausschlieûlich Gerichtsurteile und polizeiliche Statistiken, läuft
man Gefahr, das tatsächliche Vorkommen zu unterschätzen, da viele Delikte gar nicht erst angezeigt werden oder
die Täterschaft unaufgeklärt bleibt (Flammer & Alsaker,
2002). Dadurch können beispielsweise auch Alterstrends
verzerrt werden, weil delinquente Jugendliche mit der
Zeit geschickter werden und nicht mehr so leicht ertappt
werden (vgl. Rutter, Giller & Hagell, 1998). Gemäû verfügbaren Statistiken zeigt sich zuerst eine Zunahme der
Anzahl Delikte, die von der jugendlichen Population ausgeübt wurden, bis ins junge Erwachsenenalter, gefolgt
von einer Abnahme. Alle Statistiken zum antisozialen
Verhalten zeigen deutliche Geschlechtsunterschiede zu
Ungunsten der Jungen. Loeber (1990) stellt jedoch fest,
dass diese Unterschiede in den 80er-Jahren etwas abgenommen haben. Dies als Folge davon, dass Mädchen insgesamt etwas mehr antisoziales Verhalten zeigen.
Im Schulkontext lassen sich bereits erste Verhaltensprobleme feststellen, welche in klinischen Klassifikationen je nach Symptomen und Symptomkonstellation Störung des Sozialverhaltens oder Störung mit Oppositionellem Trotzverhalten genannt werden (vgl. Scheithauer
& Petermann, 2002). Kinder und junge Adoleszente, die
ein solches Verhalten zeigen, haben häufig Schwierigkeiten mit ihren Gleichaltrigen. Viele von ihnen werden
abgelehnt und eine kleine Gruppe wird auch regelrecht
von anderen gemobbt (die so genannten Täter-Opfer oder
aggressiven Opfer; Alsaker, 2003; Schwartz, Proctor &
Chien, 2001). Es ist allerdings wichtig zu bemerken, dass
wiederum andere aggressive Schüler und Schülerinnen
sich sehr wohl in der sozialen Hierarchie geschickt
durchzusetzen wissen (die so genannte Mobbing-Täter;
Alsaker, 2003). Durch ihr gezielt eingesetztes, aggressives oder sonst aggressiv-dissoziales Verhalten erreichen
sie das Ansehen anderer Mitschülerinnen und Mitschüler
und sind eher als Anführer in der Klasse anzusehen. Es
scheint heute eindeutig belegt zu sein, dass Kinder und
Jugendliche mit antisozialem Problemverhalten, ob sie
nun abgelehnt oder eher bewundert werden, sich sehr
früh Gleichgesinnte suchen (Alsaker, 2003; Cairns,
Cairns, Neckermann, Gest & Gariepy, 1988; Patterson,
Capaldi & Bank, 1991) und dass ihr antisoziales Verhalten sich allmählich zur Delinquenz entwickelt (Loeber,
1990). Solche jugendlichen Delinquenten bezeichnet
Moffitt (1993) als die anhaltend-aggressiven (¹lifecourse persistentª) im Vergleich zu den Jugendlichen,
die lediglich während der Adoleszenz delinquent werden
(¹adolescence limitedª). Diese Begriffe finden wir als
zwei Subtypen der Störung des Sozialverhaltens im
Geschlechtsunterschiede im Auftreten von psychischen und Verhaltensstörungen im Jugendalter
DSM-IV (vgl. Scheithauer & Petermann, 2002). Jugendliche, welche erst in der Adoleszenz antisoziales Verhalten zeigen, sind laut Moffitt durch vorübergehendes
Problemverhalten gekennzeichnet, welches sich im frühen Erwachsenenleben, mit Einsetzen von Familienund Arbeitspflichten einstellt. Die Analyse eines späteren Follow-ups stellte diese Interpretation jedoch etwas
infrage (Nagin et al., 1995): Interessant ist vor allem,
dass die so genannten auf die Adoleszenz begrenzten Delinquenten mit 32 Jahren im Gegensatz zu den anhaltend
Aggressiv-Dissozialen keine Strafurteile mehr aufwiesen, jedoch selbst immer noch delinquente Taten angaben (Diebstahl, Einbrüche und Fahren unter Einfluss
von Alkohol). Diese jungen Erwachsenen hatten ihre delinquenten Aktivitäten auf Taten eingeschränkt, die seltener entdeckt oder gemeldet werden. Warum einige Jugendliche überhaupt mit delinquenten Aktivitäten anfangen, hat Moffitt (1993) mit der so genannten Reifelücke
(maturity gap)-Hypothese zu erklären versucht. Die Hypothese besagt, dass Delinquenz ein Mittel ist, um sich
zu einem Erwachsenenstatus zu verhelfen, weil Adoleszente heute körperlich reifen, lange bevor sie Zugang zu
Ressourcen und Statussymbolen der Erwachsenenwelt
erhalten. Es stellt sich dann die Frage, weshalb nicht
Mädchen häufiger delinquentes Verhalten zeigen, da sie
diese Reifelücke noch früher und eindeutiger erleben.
Weiter kann man sich fragen, ob die Situation der Jugendlichen Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts wirklich besser war. Diese Jugendlichen mussten bereits in
die Erwachsenenwelt (oft Arbeitswelt) eintreten als sie
noch Kinder waren oder wie solche aussahen (Alsaker,
1995). Man dürfte annehmen, dass der soziale Druck,
sich wie Erwachsene zu benehmen ± und dabei altersinadäquates Verhalten zu zeigen ±, damals noch gröûer
war.
Bei den Mädchen und Frauen kommt der anhaltendaggressive Lebensstil selten vor, ungefähr 10-mal seltener als bei den Jungen (Moffitt, Caspi, Rutter & Silva,
2001). Das heiût, dass praktisch alle Mädchen, die in irgendeiner Form antisozial werden, damit erst in der Adoleszenz beginnen oder es nur vorübergehend in der Adoleszenz sind. Der Geschlechtsunterschied in der Prävalenz von antisozialem Verhalten ist in der Adoleszenz
dann auch bedeutend geringer, das Verhältnis zwischen
Jungen und Mädchen beträgt nämlich 1.5 : 1 (Moffitt et
al., 2001).
Interessanterweise gibt es hinsichtlich aggressiv-dissozialem Verhalten bei Jugendlichen nicht nur Geschlechtsdifferenzen, sondern auch einige ¾hnlichkeiten
und dies besonders in der mittleren Adoleszenz (um das
Alter von 15 Jahren). Dies erklären sich Moffitt et al.
(2001) damit, dass zu diesem Zeitpunkt der gröûte Teil
der Mädchen körperlich reif ist, während dies bei der
Mehrheit der Jungen noch nicht der Fall ist. Die Autoren
erklären dies dadurch, dass die Reifelücke in dieser
Phase für die Mädchen bereits spürbar ist und sie sich
175
darum ± zu einem gröûeren Teil als ihre gleichaltrigen
Kollegen ± älteren Jugendlichen anschlieûen und versuchen, sich die Privilegien des Erwachsenenstatus u. a.
mit externalisierendem Problemverhalten zu verschaffen. Diese Tendenz, sich älteren Jugendlichen anzuschlieûen, haben andere Forscherteams bezüglich der
frühreifen Mädchen gezeigt (Stattin & Magnusson,
1990; Silbereisen, Petersen, Albrecht & Kracke, 1989).
Hier muss man sich deshalb fragen, ob dies auf ein Bedürfnis der frühreifenden Mädchen (Reifelücke) oder
eher der älteren Jungen zurückzuführen ist. Die Forschungsgruppen um Magnusson und Silbereisen haben
nämlich gezeigt, dass diese älteren Freunde häufiger in
der Arbeitswelt waren und häufiger deviantes Verhalten
zeigten. Für diese sehr reifen oder normbrechenden Jugendlichen waren möglicherweise zum Zeitpunkt der
zwei Studien ± Ende der 60er bis Mitte der 80er-Jahre ±
junge unerfahrene, aber schon körperlich reife Mädchen
besonders attraktiv. Henneberger und Deister (1996) haben auch gezeigt, dass frühreife Mädchen, die in einem
sozialen Umfeld lebten, in denen sie vor älteren Jugendlichen ¹geschütztª waren, nicht mehr normbrechendes
Verhalten zeigten als später entwickelte Mädchen. Es
steht noch aus zu prüfen, welche der beiden Hypothesen
± erlebte Reifelücke der Mädchen oder erleichterter Zugang zu sexuellen Partnerinnen für die Jungen ± die erhöhte Delinquenztendenz der frühreifen Mädchen am besten erklärt. Wir dürfen in diesem Zusammenhang die
Akzentuierungshypothese jedoch nicht vergessen (Caspi
& Moffitt, 1991). Es könnte nämlich auch sein, dass externalisierende Probleme bei Mädchen (wegen ihrem
eher indirekten Charakter) in der Kindheit bagatellisiert
oder übersehen werden, und dass die Pubertät und insbesondere die Frühreife diese akzentuiert und in diesem Alter auch sichtbar macht.
Risikofaktoren für aggressiv-dissoziales
Verhalten und mögliche Erklärungen
der Geschlechtsunterschiede
Verschiedene und interagierende Risikofaktoren tragen
dazu bei, dass ein Mensch delinquent wird. Je nach
dem, ob individuelle Unterschiede oder Unterschiede
zwischen Gruppen erklärt werden sollen, müssen individuelle und/oder gesellschaftliche Faktoren in Betracht
gezogen werden.
Gemäû Hartup und van Lieshout (1995) gibt es wenig
Evidenz für eine genetische Erklärung des aggressiven
oder aggressiv-dissozialen Verhaltens. Neuere Studien
weisen eher auf indirekte genetische Einflüsse über Dispositionen zu impulsivem Verhalten oder über neuropsychologische Störungen (siehe Scheithauer & Petermann,
2002). Groûe Anteile der Stabilität dieses Problemver-
176
FrancËoise D. Alsaker und Andrea Bütikofer
haltens können durch die Stabilität wichtiger Risikofaktoren im sozialen Kontext erklärt werden, z. B. Armut,
öffentliche Gewalt, Probleme in der Familie.
Wenn Geschlechtsunterschiede erklärt werden sollen,
müssen insbesondere Geschlechtsunterschiede hinsichtlich dem anhaltend-aggressiven Verhalten erklärt werden. Moffitt et al. (2001) finden in ihrer Dunedin-Längsschnitt-Studie Bestätigung für die Hypothese, dass Männer mit gröûerer Wahrscheinlichkeit antisozial werden
als Frauen, weil sie von geschlechterunspezifischen individuellen und sozialen Risikofaktoren in einem höheren
Ausmaû betroffen sind. Dies gilt insbesondere für neurokognitive Defizite, Hyperaktivität und problematische
Gleichaltrigenbeziehungen. Dies sind Risiko- und Ursachenfaktoren, die allerdings nicht in der Adoleszenz,
sondern in der frühen Kindheit zu orten sind, und auch
die Entwicklung dieser problematischen Verhaltensweisen in dieser frühen Lebensphase beeinflussen und deshalb in diesem Artikel nicht weiter ausgeführt werden.
Konsum von legalen und illegalen Drogen
Im Sinne der Reifelücke, ist es wichtig zu bemerken,
dass der frühe Konsum von legalen Substanzen, die den
Erwachsenen vorbehalten sind, eine Annäherung an die
angestrebte Erwachsenenrolle darstellen kann (Flammer
& Alsaker, 2002). Deshalb interessiert uns der Konsum
von Tabak und Alkohol sehr. Sowohl der Konsum von legalen als auch illegalen (harten und weichen) Drogen
stellt ein Risiko für die Entwicklung der Jugendlichen
dar. Während die Gefahren der Einnahme von harten
Drogen (u. a. Persönlichkeitsveränderungen und körperliche und psychische Abhängigkeit) eindeutig und allgemein bekannt sind, wird den Risiken der legalen Drogen
weniger Aufmerksamkeit geschenkt und sie werden auûerdem häufig kontrovers behandelt (Flammer & Alsaker, 2002).
Da die Adoleszenz generell als Zeit des Ausprobierens gilt, erstaunt es nicht, dass auch im Bereich Konsum
illegaler und legaler Substanzen experimentiert wird.
Verschiedene Ziele ± welche zu den Entwicklungsaufgaben dieser Altersgruppe gehören ± können damit verfolgt
werden: Identitätssuche, Erhöhung des Selbstwerts, Findung einer Rolle in einem sozialen Kontext, Befriedigung der Neugier oder Freude am Unbekannten. Wichtige Faktoren für den Ausgang des Experimentierens
scheinen allerdings das Alter beim ersten Konsum, die
gesamte Konsummenge und eine gute soziale und familiäre Einbettung zu sein (Flammer & Alsaker, 2002). Studien zum Übergang von weichen zu harten Drogen und
zum früh einsetzenden Alkoholmissbrauch deuten weiter
darauf hin, dass viele der Risikofaktoren, die eine delinquente Laufbahn voraussagen können (vgl. oben), auch
für Missbrauch von Alkohol und illegalen Substanzen
zentral sind. Das heiût, dass generell höhere Prävalenzraten bei Jungen als Mädchen zu erwarten ist.
Tabak
Tabak gehört zwar zu den eindeutigsten gesundheitsgefährdenden Substanzen, aber es ist in vielen Ländern
noch erlaubt, für diese Substanz Werbung zu machen,
die häufig gerade sehr jugendlich gebliebene, junge und
erfolgreiche Erwachsene darstellt und somit eindeutig
Jugendliche anspricht, die sich lieber mit dieser Altersklasse als mit älteren Erwachsenen identifizieren. Gemäû der bereits erwähnten Gesundheitsbefragung
SMASH 2002 scheint die Zahl der regelmäûig Rauchenden im Alter zwischen 16 und 20 Jahren zuzunehmen.
Während es im Alter von 13 bis 14 Jahren 4 % der Mädchen und 6 % der Jungen sind (Schmid, 2003), sind es mit
15 Jahren bereits 19% und 18 % und schlieûlich mit 20
Jahren 30 % respektive 40 % (Narring et al., 2004).
Es gibt einige Hinweise dafür, dass der Tabakkonsum
bei Jugendlichen zugenommen hat, und dies insbesondere bei Mädchen. Dies berichten auch Richter und Settertobulte (2003) von den Ergebnissen der aktuellsten, von
der Weltgesundheitsorganisation (WHO) unterstützten,
HBSC-Schüler/innen-Befragung (11- bis 15-Jährige)
aus Deutschland: Ursprünglich festzustellende Geschlechtsunterschiede sind ± bei seit den 90er-Jahren
steigendem Konsum ± heute nivelliert oder sogar umgekehrt, jedoch ausschlieûlich bei den gemäûigten Konsummustern.
Der Anstieg des Zigarettenkonsums bei jugendlichen
Mädchen mag mit einer Identifikation mit einer neuen
Geschlechterrolle verbunden sein. Mädchen heute haben
vielleicht immer noch das Bedürfnis, der Öffentlichkeit
und den Erwachsenen zu zeigen, dass sie sich frühere
Männerrechte angeeignet haben. Ein weiterer Grund für
den steigenden Konsum kann auch ± in einer Phase, in
der sie laut biologischem Programm zunehmen sollen ±
mit einem ganz anderen Bedürfnis im Zusammenhang
stehen, nämlich ihr Gewicht zu kontrollieren. Beide Hypothesen sind allerdings noch nicht empirisch geprüft.
Alkohol
Die Substanz, mit welcher Jugendliche meistens ihre ersten Erfahrungen machen, ist der Alkohol. Eine mit dem
Tabakkonsum vergleichbare Zunahme zeigt sich in der
Studie SMASH 2002 auch in Bezug auf den Alkoholkonsum. Während in der Studie von 1993 28% der Mädchen
angaben, ein- oder mehrmals pro Woche Alkohol zu konsumieren, waren es 2002 bereits 42 %. Auûerdem berich-
Geschlechtsunterschiede im Auftreten von psychischen und Verhaltensstörungen im Jugendalter
teten 30 % der Mädchen und 52 % der Jungen, in den 30
Tagen vor der Befragung mindestens einmal richtig betrunken gewesen zu sein. Trotz der stärkeren Zunahme
bei den Mädchen, sind nach wie vor groûe Geschlechtsunterschiede erkennbar; dies bestätigen auch die Ergebnisse der deutschen Stichprobe der HBSC-Studie (Richter & Settertobulte, 2003).
Cannabis
Nebst Alkohol ist Cannabis die von den Jugendlichen am
häufigsten konsumierte psychoaktive Substanz und in
der Regel die erste konsumierte illegale Substanz. Das
durchschnittliche Einstiegsalter ist in der deutschen
Stichprobe der HBSC-Studie 16.4 Jahre (Richter & Settertobulte, 2003). Den frühen Erstkonsum von Cannabis
bestätigen auch die Ergebnisse der Gesundheitsbefragung SMASH 2002: 48% der 16-jährigen Mädchen und
53 % der 16-jährigen Jungen gaben an, sie hätten bereits
einmal Cannabis konsumiert. Auûerdem berichteten 4%
der Mädchen und 13 % der Jungen zwischen 16 und 20
Jahren einen täglichen Konsum. Im Zusammenhang mit
dem Cannabis-Konsum gaben auch ungefähr 40%, der
weiblichen und männlichen Jugendlichen, welche mindestens 10-mal im Monat konsumierten, an, in der Schule oder auf der Arbeit diesbezüglich bereits Probleme gehabt zu haben (Tschumper & Diserens, 2004).
Synthetische Drogen
Synthetische Drogen, die auch Technodrogen oder Designerdrogen oder Life-Style-Drogen genannt werden,
können bereits bei geringeren Mengen starke Wirkung
erbringen, meist ist es eine Mischung von ¹GedankenBeschleunigungª
und
halluzinogenen
Effekten
(Schmiedbauer, 1997). Leider sind Ausmaû und Effekt
des Konsums noch nicht vollständig erforscht. Jedoch
gibt es aus der psychiatrischen Praxis Anzeichen dafür,
dass einige Konsumierende von Designerdrogen massive
Angstsymptome entwickeln.
Während der Cannabis-Konsum im Alter von 16 Jahren schon recht stark verbreitet ist, trifft dies nicht im
gleichen Ausmaû auf den Konsum von synthetischen
Drogen zu. Ergebnisse der Studie SMASH 2002 zeigen,
dass allerdings bereits 5 % der 16-Jährigen schon einmal
in ihrem Leben eine solche Substanz konsumiert haben,
und dass ungefähr 15 % bei den 20-Jährigen solche Erfahrungen haben, wobei männliche Jugendliche fast doppelt so häufig vertreten sind wie Mädchen. Es gibt aber
Hinweise dafür, dass die Mehrheit der Konsument/innen
eher einen Gelegenheits- und Genusskonsum betreiben
(Narring et al., 2004).
177
Mögliche Erklärungen
von Geschlechtsdifferenzen
Gemäû Reese und Silbereisen (2001, zit. nach Richter &
Settertobulte, 2003) weist die Tatsache, dass der Konsum
einiger psychoaktiver Substanzen im Jugendalter beginnt
und/oder in dieser Phase häufig oder intensiv auftritt, auf
mögliche Funktionen dieser Verhaltensweisen hin. Richter und Settertobulte (2003) sind der Auffassung, dass
der Konsum eng mit der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben (Identitätsentwicklung, Aufbau von Freundschaften, Ablösung von den Eltern etc.) zusammenhängt
und als Bewältigungsverhalten verantwortungsvoll eingesetzt durchaus adaptiv sein kann. Diese Sichtweise
hängt eng zusammen mit der kontroversen Diskussion
rund um das Experimentieren mit psychoaktiven Substanzen. Wie wir auch am Anfang des Artikels ausgeführt haben, kann normabweichendes Verhalten Teil der
Identitätssuche sein, kann aber auch die eigene Entwicklung oder die Entwicklung anderer gefährden. Deswegen
kann solches Verhalten erst als problematisch gekennzeichnet werden, wenn es die punktuelle Funktion nicht
erfüllt oder die weitere Entwicklung hemmt. Dies ist
auch die Sicht von Richter und Settertobulte (2003). Sie
betrachten den ¹Substanzkonsum [¼] vor allem dann
problematisch, wenn er sehr früh oder exzessiv einsetzt
oder wenn er in Kombination mit anderen problematischen Verhaltensweisen auftritt und daraus eine instrumentelle Gewohnheit wird, die zu einer frühen Einschränkung des Verhaltensrepertoires bei Problemen
und Anforderungen führtª (Richter & Settertobulte,
2003, S. 103). Von daher zu behaupten, dass das Experimentieren oder überhaupt der Konsum von psychoaktiven Substanzen in der Adoleszenz ¹gesundª ist, ist unserer Meinung nach nicht angebracht. Unsere Auffassung
ist, dass man solchen Konsum nicht unbedingt als Problemverhalten abstempeln, jedoch als Fachperson sehr
achtsam sein sollte, potenziell gefährdendes Verhalten
als harmlos zu propagieren. Immerhin berichten 10 % aller SMASH 2002-Jugendlichen (9 % der Mädchen und
12 % der Jungen) ± und 40% der häufiger konsumierenden Jugendlichen (siehe oben), dass sie wegen ihrem
Drogenkonsum bereits Leistungsprobleme in der Schule
oder am Arbeitsplatz hatten, oder auch wegblieben (Narring et al., 2004).
Warum konsumieren im Allgemeinen mehr Jungen
als Mädchen psychoaktive Substanzen? Wenn der Substanzkonsum ein Bewältigungsverhalten darstellen
sollte, wäre der Mehrverbrauch der Jungen ein Anzeichen von einem klaren Mangel an anderen Coping-Strategien, d. h. eigentlich der Unfähigkeit mit effizienten
Bewältigungsstrategien Substanzkonsum umzugehen.
Es könnte auch ein Indikator von erhöhter Belastung im
Vergleich zu den Mädchen sein. Während Mädchen (wie
bereits diskutiert) möglicherweise am Anfang der Pubertät mit vielen gleichzeitigen Belastungen konfrontiert
178
FrancËoise D. Alsaker und Andrea Bütikofer
werden, kann es sein, dass Jungen in einer späteren Phase
der Adoleszenz stärker dem allgemeinen gesellschaftlichen (und elterlichen) Leistungsdruck ausgesetzt werden. Ein ähnliches Argument brauchen Richter und Settertobulte (2003) auch, um den höheren Alkoholkonsum
bei Jugendlichen in höheren Wohlstandsschichten zu erklären.
Die geltenden Geschlechterrollen sind in dieser Konsumdiskussion auch sehr wichtig: Frauen trinken traditionell nicht, Männer schon. Das bedeutet, dass der Konsum von Alkohol für männliche Jugendliche als Mittel
zum Erlangen des Erwachsenenstatus wahrgenommen
werden kann, dass dies aber nicht unbedingt für Frauen
gilt. Der klare Konsumanstieg bei den weiblichen Jugendlichen könnte deshalb auch ein Indikator einer Wende in der geltenden Frauenrolle sein, wie es auch für den
Tabakkonsum der Fall sein kann. Ein weiterer Grund für
den genannten Anstieg ist allerdings viel konkreterer
Art: Der Anstieg des Alkoholkonsums überhaupt zwischen 1992 und 2002 scheint vor allem auf den Konsum
von gesüûten modischen Alkoholgetränken (Alkopops)
zurückzuführen zu sein (Narring et al., 2004). Diese Getränke sind für junge Mädchen besonders attraktiv, weil
die vielen Zusätze den Alkoholgeschmack maskieren.
Ein weiterer Faktor, der Konsumunterschiede zwischen weiblichen und männlichen Jugendlichen erklären
kann, betrifft die unterschiedlichen sozialen Umgangsformen mit Peers. Jungen bewegen sich bekanntlich in
gröûeren Gruppen von Gleichaltrigen und das Zusammensein mit den gleichgeschlechtlichen Peers gestaltet
sich anders als bei Mädchen, die sich eher zu zweit oder
in kleinen Gruppen treffen. Und während Mädchen sehr
gerne miteinander reden, bevorzugen die Jungen zusammen etwas zu tun. Youniss und Smollar (1985) fanden
bereits in den 80er-Jahren, dass Jungen sich häufig zu
Aktivitäten in Verbindung mit Alkohol oder anderen
Drogen trafen. Jungen gelangen wahrscheinlich leichter
in ¹Trinkgesellschaftenª, haben einen erleichterten Zugang zu Alkohol und anderen Drogen und stehen gleichzeitig unter einem stärkeren sozialen Druck (¹wenn man
nicht trinken kann, ist man ein Schwächlingª).
Der problematische Drogenkonsum ist allerdings
häufig mit anderen normbrechenden Aktivitäten verbunden und so wird auch ein gewisser Anteil der Geschlechtsunterschiede durch die häufigeren anhaltenden
Verhaltensprobleme der Jungen erklärt.
Die Geschlechtsunterschiede entsprechen in vielen
Aspekten den geltenden Geschlechterstereotypen: Frauen achten auf ihre Linie, sind mit sich selber unzufrieden
und ziehen sich in sich selbst zurück, wenn die Belastungen zu groû werden; Männer sind eher ausagierend und
konsumieren häufiger Drogen. Die eine Form ist keineswegs der anderen überlegen, alle Typen von Verhalten,
die wir als problematisch bezeichnet haben, sind für die
Entwicklung der betroffenen Jugendlichen kritisch, auch
wenn sie statistisch gesehen eine sehr groûe Anzahl Jugendlicher betreffen (und somit beinahe als normativ
gelten könnten).
Es ist aus den Diskussionen der Unterschiede und den
Erklärungsversuchen auch ersichtlich geworden, dass
konkrete präventive Maûnahmen nötig sind, die den jeweiligen Bedürfnissen der beiden Geschlechter angepasst sein müssen (vgl. auch Brezinka, 2003). Auf einer
etwas abstrakteren Ebene sind jedoch auch klare ¾hnlichkeiten in den Präventionsbedürfnissen deutlich herauszusehen.
l
l
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Erstens scheint eine Auseinandersetzung mit der eigenen Geschlechterrolle für die Lösung der aufkommenden Entwicklungsaufgaben in der Adoleszenz
von groûer Bedeutung zu sein.
Zweitens ist der Umgang mit dem sozialen Druck bei
Jugendlichen beider Geschlechter zentral.
Drittens wurde auch bei allen genannten psychischen
oder behavioralen Problemen ein eindeutiges Bedürfnis ersichtlich, gefährdete Jugendliche mit besseren
Bewältigungsstrategien auszurüsten.
Für beide Geschlechter gilt auûerdem, dass Prävention oder gegebenenfalls Interventionen so früh wie möglich angeboten werden sollten, da die Gefahr der Zementierung von problematischen Verhaltensweisen in diesem
Alter eindeutig besteht. Da viele der genannten Probleme
ihren Ursprung (vor allem Gewalt) oder mindestens gewisse Vorläufer in früheren Entwicklungsphasen haben
(vgl. Caspi & Moffitt, 1991), ist es unerlässlich, die Geschlechtsunterschiede, die in der Adoleszenz zum Vorschein kommen, mit möglichen geschlechtsspezifischen
Verursachern in der Kindheit in Verbindung zu setzen.
Dies bedeutet konkret, dass wir auch vermehrt Längsschnittstudien brauchen, die auf den Übergang von der
Kindheit zur Adoleszenz fokussieren.
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Prof. Dr. FrancËoise D. Alsaker
Dipl.-Psych. Andrea Bütikofer
Institut für Psychologie der Universität Bern
Muesmattstraûe 45
3000 Bern 9
Schweiz
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