GERHARD ROTH INSTITUT FÜR HIRNFORSCHUNG UNIVERSITÄT BREMEN HABEN WIR EINE WAHL? © G. Roth, 2007 AUSGANGSFRAGE Wir haben das unabweisbare Gefühl, dass wir – innerhalb weiter Grenzen – in unserem täglichen Leben frei entscheiden, d.h. zwischen Handlungsalternativen wählen und damit unser Leben selbst bestimmen können. Ist dies tatsächlich so, oder handelt es sich um eine Illusion? ZWEI PHILOSOPHISCHE POSITIONEN Pan-Determinismus: Alle Ereignisse der Welt sind kausal determiniert. Damit steht zumindest im Prinzip seit Beginn des Weltalls fest, wie ich mich zu einem beliebigen Zeitpunkt entscheiden und was ich tun werde. Entscheidungs- und Wahlfreiheit ist eine Illusion! Willensfreiheit/Mentale Verursachung: Der menschliche Geist bzw. Wille kann sich bei seinen Entscheidungen außerhalb der Naturkausalität stellen und die generelle Determiniertheit allen Geschehens durchbrechen. Entscheidungs- und Wahlfreiheit ist keine Illusion! Probleme des Pan-Determinismus • Es gibt zumindest im mikrophysikalischen Bereich „objektive“ Zufälle. Diese können im makrophysikalischen Bereich zu kleinen Abweichungen bzw. „Fluktuationen“ führen, die sich zu großen Abweichungen „auswachsen“ und damit das Naturgeschehen partiell indeterminiert (probabilistisch) werden lassen. • Komplexe Systeme sind prinzipiell nicht genau berechenbar, gleichgültig ob sie streng oder nur partiell determiniert sind. • Mein zukünftiges Verhalten kann nur dann determiniert sein, wenn es mir nicht bekannt ist. Wäre es mir bekannt, so könnte ich mein Verhalten entsprechend ändern und damit die Voraussage falsifizieren („Zukunfts-Paradox“). Probleme des Konzepts der Willensfreiheit und der mentalen Verursachung Es gibt keinerlei empirischen Beweis für die Existenz rein mentaler, d.h. nicht an hirnphysiologische Prozesse gebundene Entscheidungen. Da solche Vorgänge einen erheblichen Einfluss auf unser Handeln haben sollen, müsste ihr Effekt messbar sein. Es gibt auch keinerlei Denkmodell für „mentale Verursachung“. Alles menschliche Verhalten ist entweder durch Zufall oder durch bewusste und unbewusste Motive bestimmt. Dies gilt auch für Gründe, die – um wirksam zu werden – immer mit Motiven verbunden sein müssen („Motiv-Determinismus“). Eine mentale Verursachung, die nicht motiv-gebunden ist, würde un-motiviert bzw. unbegründet erscheinen und wäre von Zufall nicht zu unterscheiden. Die vorliegende Situation als Beispiel für Wahlhandlungen • Wir befinden uns im Leibniz-Saal der BBAW. Es besteht kein äußerer oder innerer Zwang, der uns hierher geführt hat. • Wir hatten eine reale Wahl, hierher zu kommen oder etwas anderes zu tun. • Es gab bewusste Gründe bzw. Ziele und unbewusste Motive, die uns veranlassten, dies und nicht etwas anderes zu tun. • Die Gründe und Ziele können wir verbalisieren, und die unbewussten Motive können Fachleute (Psychotherapeuten, Psychologen, Hirnforscher) im Prinzip herausfinden. • Hätten wir andere bewusste Gründe und andere unbewusste Motive gehabt, hätten wir etwas anderes getan. Gründe, Ziele und Motive wurzeln in unserer Persönlichkeit. Die Persönlichkeit eines Menschen ist wiederum festgelegt durch • die genetische Ausstattung • Eigentümlichkeiten der Hirnentwicklung • vorgeburtliche, und frühe nachgeburtliche Prägung und Erfahrung • Spätere psychosoziale Erfahrungen Diese Persönlichkeit gibt den Rahmen vor, in dem aktuelle Einwirkungen unserer Umwelt unsere Entscheidungen bestimmen. Die Konsequenzen unserer Entscheidungen verändern ihrerseits unsere Persönlichkeit (wenngleich im Erwachsenenalter meist nur in geringem Maße). Dies bedeutet, dass wir uns ständig ändern und deshalb in unterschiedlichen Situationen und zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedliche Entscheidungen treffen. AKTUAL-DETERMINISMUS In jeder Entscheidungssituation vollzieht sich in unserem Gehirn in ausgedehnten kognitiven, limbischen und motorischen Netzwerken innerhalb und außerhalb der Großhirnrinde ein teils bewusster, teils unbewusster Prozess des Abwägens von Handlungsgründen und -Motiven im Rahmen unserer Persönlichkeit. Dieser Prozess des Abwägens ist teils streng deterministisch, teils von Zufall bestimmt (probabilistisch) – dies ist in der Regel nicht zu entscheiden. Der Ausgang dieses Prozesse steht genau dann fest, wenn er abgeschlossen ist (Aktual-Determinismus) Innenansicht des menschlichen Gehirns mit dem limbischen System (blau) Hypothalamus (nach Spektrum der Wissenschaft, verändert) Limbisches System Willentliche Handlungsentscheidungen supplementärmotorisches Areal primärer motorischer Cortex somatosensorischer Cortex posterior-parietaler Cortex präfrontaler Cortex THALAMUS Nucleus ventralis lateralis/anterior Nucleus mediodorsalis Pyramidenbahn Globus pallidus Nucleus centromedianus LIMBISCHES SYSTEM HC, AMY, NACC, VTA Nucleus subthalamicus BASALGANGLIEN Ncl. caudatus Putamen Substantia nigra In jedem Fall aber hat das bewusste wollende und reflektierende Ich nur einen begrenzten Einfluss auf diesen Prozess des Abwägens. Dabei gilt, dass auch der bewusste und wollende IchZustand zumindest teilweise von unbewussten Motiven bestimmt wird. Das Gefühl der ausschließlich bewusst-willentlichen Steuerung unserer Handlungen ist eine Illusion. Das unbewusst arbeitende emotionale Erfahrungssystem (Amygdala, mesolimbisches System, Insel, vorderer Gyrus cinguli) hat bei den Handlungsentscheidungen das erste und das letzte Wort. Das erste beim Entstehen von Wünschen, Absichten und Zielsetzungen, das letzte bei der Entscheidung, ob das, was geplant ist, wirklich jetzt und so und nicht anders ausgeführt werden soll. Dies garantiert, dass alle Entscheidungen im Lichte vergangener individueller Erfahrungen getroffen werden. FAZIT Wir Menschen haben bei Abwesenheit äußeren und inneren Zwanges eine echte Wahlmöglichkeit. Was wir tun, ist nicht schon „seit jeher vorbestimmt“, sondern wird in dem Augenblick festgelegt, in dem bewusst und unbewusst arbeitende Netzwerke in unserem Gehirn Gründe, Ziele, Motive und die aktuelle Situation miteinander abwägen. Diese Entscheidungsprozesse geschehen aktual-deterministisch mit probabilistischen Anteilen. Eine Willensfreiheit im strengen Sinne einer rein mentalen Verursachung gibt es nicht. Sie wäre un-motiviert und vom Zufall nicht zu unterscheiden. In keinem Fall gibt es Anzeichen für eine die Naturkausalität sprengende „mentalen Verursachung“: Alle psychologischen und neurobiologischen Erkenntnisse zeigen, dass geistig-psychischen Prozesse aufs Engste an neurophysiologische Prozesse gebunden sind und im Rahmen der bekannten Naturgesetze ablaufen. Dies schließt nicht aus, dass solche geistig-neuronalen Prozesse „emergente“ Eigenschaften besitzen, die ansonsten in der Natur nicht zu finden sind. Sie „transzendieren aber das Naturgeschehen nicht. Wir haben also eine Wahl, obwohl wir (aktual)determiniert sind!