Warum es keine standardisierte Soziale Diagnose geben kann

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Warum es keine standardisierte Soziale Diagnose geben kann
Dr. Michael T. Wright, LICSW, MS
Forschungsgruppe Public Health
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung
Fachtagung „Soziale Diagnose“
14.-15. April 2005
Fachhochschule Oldenburg/ Ostfriesland/ Wilhelmshaven
Das neunzehnte Jahrhundert war in den USA und in Europa die Epoche der intensiven
Industrialisierung. Eine bisher unübertroffene Fülle an Entdeckungen und Erfindungen im
Bereich der Technik wurde begleitet – und in vielen Fällen erst ermöglicht – durch eine
Formalisierung der Strukturen und Methoden der Naturwissenschaften. Der Glaube an
wissenschaftlichen Fortschritt als treibende Kraft der gesellschaftlichen Weiterentwicklung
war groß, die Möglichkeiten für die Zukunft schienen grenzenlos. Die Bestimmungsmacht
über Wahrheit, die früher ausschließlich im Bereich der Theologie und der Philosophie lag,
wurde auf die Wissenschaft übertragen. Das Prinzip der Rationalität vor allem durch die
systematische Anwendung der analytischen Methode wurde als Schlüssel für die Erklärung
und Lösung von Problemen jeglicher Art angesehen. Diese Methode entsprang einem
positivistischen Weltbild, demnach folgende Grundsätze gelten:
•
•
•
•
•
Die Welt ist quantitativ messbar.
Objektivität ist erforderlich.
Alles wird durch universale, gesetzmäßige kausale Prinzipien bestimmt.
Kausalität kann präzise definiert werden.
Neue Erkenntnisse über die Welt werden durch Experimente gewonnen.
Die Medizin hat diese Sichtweise direkt übernommen und zum Grundverständnis gemacht.
Sie erklärte die Rolle der Ärzte als Naturwissenschaftler in der Praxis. Es folgten nicht nur
klare Kriterien für die Definition von Krankheit und deren Ursachen (in der Form von
Diagnose) sondern auch die Standardisierung der Behandlung von Krankheit.
Diese Vorstellung von „Wissenschaft“ und „Wissenschaftlichkeit“ hatte sich längst in der USamerikanischen Gesellschaft etabliert als 1917 das Buch „Social Diagnosis“ von Mary
Richmond erschien. Richmond war eine Leitfigur der großen Sozialreformbewegungen, die
mit unterschiedlicher Ausprägung in den industrialisierten Ländern des späten neunzehnten
Jahrhunderts entstanden. In den USA sprachen sich die Meinungsführer ausdrücklich für eine
„wissenschaftliche Herangehensweise“ in der Sozialreform aus, die mit dem Begriff
„scientific charity“ oder „scientific philanthropy“ (etwa: wissenschaftliche Wohlfahrtsarbeit)
bezeichnet wurde (Axinn und Levin, 1992). Dieser „wissenschaftliche“ Anspruch legte den
Schwerpunkt auf eine Einzelfallarbeit, die durch Diagnose und Behandlung, d.h. durch einen
therapeutischen Ansatz gekennzeichnet sein sollte. Mary Richmond, die wie zahlreiche
Zeitgenossen die Arbeit von Sigmund Freud als Grundlage dieses neuen wissenschaftlichen
Verständnisses der Praxis betrachtete, formulierte dies so: „Schließlich ist der wichtigste
Maßstab der sozialen Einzelfallarbeit die Weiterentwicklung der Persönlichkeit des
Klienten.“1 (Richmond, 1992, S. 260). In ihren Schriften über die soziale Einzelfallarbeit ist
1
Alle Zitate wurden vom Autor übersetzt
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Richmond bemüht, eine methodische Basis für die neue Profession der Sozialarbeit zu
schaffen, um dadurch nicht nur die Praxis der Sozialarbeiter zu verbessern sondern auch mehr
Anerkennung für den spezifischen Beitrag der Sozialarbeit zur Linderung sozialer Probleme
zu verdeutlichen.
Richmond beklagte die Unvollständigkeit ihrer methodischen Ausführungen sowie die noch
fehlenden Beweise für die Wirksamkeit der Einzelfallarbeit, war aber zuversichtlich, dass
durch Forschung und die weitere Systematisierung der Praxis „die Wahrheit“ sozialer
Probleme und deren Ursachen entdeckt werden könnten. Dementsprechend machte sie nach
naturwissenschaftlichem Vorbild eine Genauigkeit in der Praxis der Diagnose zum Ziel
(Richmond, 1917; S. 51):
„Der Gebrauch des Begriffs ‚Diagnose’ beschränkt sich nicht auf die Medizin,
sondern findet auch Anwendung in der Zoologie und der Botanik, zum Beispiel als
„eine kurze, präzise, einzig richtige Definition“. In der sozialen Diagnose wird
ebenfalls versucht, so genau wie möglich die soziale Situation sowie die
Persönlichkeit des Klienten zu definieren.“
Dem Zeitgeist der Entdeckung und des Forschritts entsprechend stellt Richmond in einem
anderen Werk fest: (1922, S. 257):
„Wichtige Bausteine für eine praxisleitende Philosophie werden hier in diesem Buch
vorgestellt – aber im vollen Bewusstsein dessen, dass andere, grundlegend wichtigere
Bausteine bald entdeckt werden könnten.“
Dem Appell Mary Richmonds folgend machte sich die US-amerikanische Sozialarbeit zu
Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts auf die Suche nach einer standhaften wissenschaftlichen
Grundlage für die Praxis. Beinahe hundert Jahre später sind Fakultäten für Sozialarbeit an
zahlreichen US-amerikanischen Universitäten etabliert. Alle akademischen Abschlüsse bis zur
Promotion werden in über 600 akkreditierten Studiengängen angeboten. Mehr als 400
Fachzeitschriften werden in der nationalen wissenschaftlichen Literaturdatenbank der
Sozialarbeit erfasst. Zahlreiche Spezialisierungen und Schwerpunkte der Fachsozialarbeit
werden anerkannt – nicht nur diverse Formen der klientenbezogenen oder der so genannten
klinischen Sozialarbeit, sondern auch Sozialmanagement, Forschung und politische
Themenfelder. Für die meisten Arbeitsbereiche existieren Leitlinien und Standards.
Staatsexamen und Berufsregister kennzeichnen die verschiedenen Stufen der staatlichen
Anerkennung,
die
auch
die
Abrechnung
von
Beratungsgesprächen
über
Krankenversicherungsträger ermöglicht.
Entgegen der Vorstellung von Mary Richmond hat jedoch die weitere Professionalisierung
der Sozialarbeit in den USA weder zu einer Standardisierung der Methoden noch zu einer
eigenständigen, allgemein akzeptierten theoretischen oder empirischen Grundlage für die
Praxis geführt. Wie der renommierte Francis Turner – Autor zahlreicher Aufsätze und
Lehrbücher zu Methoden der klinischen Sozialarbeit – feststellt, gab es in der Geschichte der
nordamerikanischen Sozialarbeit noch nie eine so große Vielfalt an Praxisansätzen und so
ausgeprägte Meinungsunterschiede zu deren Anwendung wie heute. Dies gilt auch für die
Praxis der sozialen Diagnose. Wie zu Zeiten von Mary Richmond bleibt sogar der Begriff
„Diagnose“ unter Praktikern und Theoretikern noch umstritten, vor allem wegen dessen
medizinischer Konnotationen (Turner, 2002).
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Wie kommt es, dass bis heute noch keine allgemeingültige Definition der sozialen Diagnose
existiert? Was ist die Folge dieses Zustandes für die Sozialarbeit, vor allem für die weitere
Professionalisierung der Sozialarbeit in Deutschland?
Obwohl der Positivismus bereits im neunzehnten Jahrhundert von Auguste Comte auf die
wissenschaftliche Abhandlung sozialer Probleme übertragen wurde und bis heute noch eifrige
Anhänger in vielen sozialwissenschaftlichen Bereichen genießt, gab es im Gegensatz zu den
Naturwissenschaften zu keiner Zeit einen erkenntnistheoretischen Konsens. Was überhaupt
„das Soziale“ ist, wie es zu untersuchen und beschreiben ist oder wie gesellschaftliche
Probleme angegangen werden sollen wird je nach theoretischem Ansatz sehr unterschiedlich
betrachtet. Neben der Arbeit von Comte wurden zur gleichen Zeit Grundlagen für andere
gegen den Positivismus gerichtete Traditionen der Sozialwissenschaft gelegt, vor allem für
die verstehende oder interpretative Tradition (z.B. nach Max Weber oder Wilhelm Dilthey)
und die kritische Tradition (z.B. nach Karl Marx oder später Theodor Adorno). Mit
unterschiedlichen Schwerpunkten und methodischen Herangehensweisen lehnen diese
Traditionen Objektivität, die Quantifizierung der sozialen Realität sowie die Beschränkung
auf experimentelle Verfahren in der Empirie ab. Stattdessen werden das Subjektive und das
Situative sowie die Notwendigkeit des menschlichen Handels zur Beseitigung
gesellschaftlicher Missstände in den Vordergrund gestellt. Aus diesen Traditionen heraus ist
eine unüberschaubare Vielfalt der heute existierenden Erklärungsmuster und
Handlungsansätze entstanden: Konstruktivismus, Psychoanalyse, feministische Theorie,
Systemtheorie, Materialismus, Empowerment-Theorie, Diffusionstheorie, Funktionalismus,
Strukturalismus, Rollentheorie, Integrationstheorie etc. etc. etc. Die Liste der Möglichkeiten
wächst ständig.
Nicht nur die theoretische Vielfalt sondern auch der zunehmende Zweifel an theoretischen
Erklärungen, der durch die postmoderne Kritik sichtbar geworden ist, erschwert erheblich die
Suche nach einer einheitlichen wissenschaftlichen Grundlage für die Praxis. In unserer
globalisierten Welt und in einer stark vom Individualismus geprägten Gesellschaft glaubt man
einfach nicht mehr an „große Erzählungen“, das heißt, man glaubt nicht, dass es eine Theorie
geben könnte, die den Menschenzustand endgültig erklärt. In der Praxis ist man besonders
stark mit der Vielfalt der Klientenrealitäten konfrontiert: Die Komplexität und Unfassbarkeit
des subjektiven Erlebens in einer multikulturellen Gesellschaft entzieht sich jeglicher
Möglichkeit einer übergreifenden Klassifizierung.
Ein weiterer Aspekt, der uns davon abhält, eine standardisierte Praxis der Diagnose und
Behandlung zu entwickeln, ist die heutige Fokussierung der Sozialarbeit – sowohl in
Deutschland als auch in den USA – auf die Selbstbestimmung des Hilfesuchenden. In den
letzten dreißig Jahren hat sich auf Grund eines wachsenden Bewusstseins über
gesellschaftliche Machtverhältnisse – auch hinsichtlich des Machtgefälles zwischen sozialen
Einrichtungen und Hilfesuchenden – eine Werthaltung entwickelt, die die Wünsche und
Weltanschauung des Hilfesuchenden in den Mittelpunkt stellt. Es hat sich nicht nur eine große
Sensibilität in Bezug auf die Stigmatisierung und Ausgrenzung, die durch fremdbestimmte
Problemdefinitionen und –lösungen entstehen können, entwickelt. Auch unterschiedliche
Grundwerte, die Menschen innerhalb einer Gesellschaft vertreten, finden immer mehr
Beachtung.
Der vielfältige, selbstkritische sozialwissenschaftliche Diskurs, die hoch differenzierte,
relativierende Sichtweise der Postmoderne sowie die radikale Individualisierung der
Praxisbeziehung waren für Mary Richmond unvorstellbar – sind aber unsere Realität. Obwohl
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diese Realität eine Standardisierung der Praxis unmöglich macht, heißt das nicht, dass weitere
Professionalisierungsbestrebungen der Sozialarbeit der Beliebigkeit ausgesetzt sind.
Zwei Grundaussagen von Richmond sind nach wie vor von zentraler Bedeutung: die
systematische Problemanalyse ist ein zentrales Merkmal der professionellen Sozialarbeit, und
jeder Sozialarbeiter muss diese Analyse begründen können. Zum letzten Punkt kommentiert
Richmond (1922, S. 257): „Kein Einzelfallhelfer muss die Philosophie seiner Kollegen
annehmen. Er muss jedoch eine Philosophie für seine Arbeit haben.“
Unsere Aufgabe in der weiteren Professionalisierung der Sozialarbeit – auch durch die
weitere Akademisierung der Profession – ist es, Praktiker dabei zu unterstützen, eine Schärfe
in der Problembetrachtung hilfebedürftiger Menschen dadurch zu erreichen, dass sie sich
Klarheit sowohl über ihre eigene Werthaltung als auch über ihre eigene theoretische
Grundorientierung in ihrer Arbeit verschaffen. Dabei sind die bereits existierenden
sozialwissenschaftlichen Theorien von großem Nutzen, da sie eine Auseinandersetzung mit
grundlegenden Themen der Entstehung und Behandlung sozialer Probleme fördern. Einige
Praktiker finden durch diese Auseinandersetzung eine „theoretische Heimat“, die sie in ihrer
Arbeit dauerhaft begleitet. Die Identifizierung mit einem bestimmten Theoretiker oder mit
einer bestimmten theoretischen Richtung ist jedoch nicht das Ziel, sondern eine
Sensibilisierung für die oft impliziten persönlichen Erklärungsmuster, die die Praxis leiten
und mit einem bestimmten Menschenbild zusammenhängen. Professionalität bedeutet, dass
diese implizite theoretische Grundlage explizit gemacht wird und durch regelmäßige und
transparente Prozesse der Überprüfung der eigenen Arbeit – auch durch Einbeziehung der
Wirkung der Arbeit – reflektiert wird. Das Ergebnis sollte sein, dass Sozialarbeiter in die
Lage versetzt sind, ihr Handeln stets begründen zu können – und dies auf der Basis
nachvollziehbarer Kriterien der Plausibilität, die sich auf eine empirische Grundlage stützen
(wobei sich „empirisch“ nicht auf formale Untersuchungen beschränkt, sondern auch die
interne Dokumentation der Ergebnisse von Interventionen sowie externe Daten über die
Entwicklung des zu bekämpfenden sozialen Problems einschließt).
Dies hat zur Folge, dass nicht die von außen entwickelten Theorien und Praxismethoden,
sondern die aus der Praxiserfahrung vor Ort entstehenden lokalen Theorien und empirischen
Beobachtungen im Mittelpunkt einer professionellen und qualitätsgesicherten Praxis stehen.
Dementsprechend ist der wichtigste Maßstab für die Praxis der Diagnose und Behandlung
nicht die Frage, ob eine bestimmte sondern ob überhaupt eine theoretische Erklärung für die
Arbeit vorliegt. Zudem muss diese Erklärung die Entwicklung angemessener Maßnahmen
ermöglichen. Deren Eignung lässt sich letztendlich daran messen, inwieweit die
Hilfesuchenden angesprochen werden und ob die von der Einrichtung im Rahmen deren
Auftrags formulierten Ziele erreicht werden können.
Es ist eine große wissenschaftliche und praktische Herausforderung zu definieren, wie eine
derart dezentralisierte Qualitätssicherung in der Praxis zu unterstützen ist, eine Form der
Qualitätssicherung, die Professionalität nicht als Normierung und Standardisierung, sondern
als transparenten Prozess der diskursiven, theoretisch geleiteten, empirisch gestützten
Gestaltung versteht.
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Literatur
Axinn, J; Levin, H (1992) Social welfare. A history of the American response to need.
London, New York: Longman Publishing Group.
Richmond, ME (1917) Social diagnosis. New York: Russell Sage Foundation.
Richmond, ME (1922) What is social case work? New York: Russell Sage Foundation.
Turner, FJ (2002) Diagnosis in social work. New imperatives. New York: The Haworth
Social Work Practice Press.
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