Stephanie Waldow (Hg.) Von armen Schweinen und bunten Vögeln Ethik – Text – Kultur Herausgegeben von Joachim Jacob, Christine Lubkoll, Mathias Mayer und Claudia Öhlschläger Band 10 Stephanie Waldow (Hg.) Von armen Schweinen und bunten Vögeln Tierethik im kulturgeschichtlichen Kontext Wilhelm Fink Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Dr. German Schweiger-Stiftung und des Elitestudiengangs ,Ethik der Textkulturen‘ der Universitäten Augsburg und Erlangen-Nürnberg. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. 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Tiere in der Schöpfung: Theologische Perspektiven .................... 53 MECHTHILD HABERMANN „Du armes Schwein!“ – Vom sprachlichen Umgang mit dem Tier................................... 71 WOLFRAM BUBLITZ Von politischen Fröschen und literarischen Mäusen: Die Ambivalenz der Tiermetapher aus linguistischer Sicht.......... 95 HUBERT ZAPF Kreatur und Kreativität: Zur Rolle von Tieren in der amerikanischen Literatur .............. 125 STEPHANIE WALDOW Von schlauen Füchsen und sprechenden Pferden. Die Fabel als Animots............................................................... 141 CHRISTINE LUBKOLL Von Mäusen, Affen und anderem Getier. Kafkas narrative Ethik zwischen Anthropologie und Diskurskritik .............................................. 155 6 INHALT ROLAND BORGARDS Robinson und die Schule des Tötens. Tierschlachtungen bei Daniel Defoe, Joachim Heinrich Campe, Karl Wezel und Michel Tournier ................ 175 JÖRG LUY Denn sie wissen nicht, ob sie dürfen. – Zum kulturgeschichtlichen Hintergrund der Tiertötungsfrage in Ethik und Recht unter besonderer Würdigung des „vernünftigen Grundes“ gemäß Tierschutzgesetz. ............. 187 HANS KUDLICH Das Tier im Recht (?) ............................................................. 203 JESSICA ULLRICH Achtung Lebende Tiere! Ästhetik und Ethik in der zeitgenössischen Kunst ................... 217 GEORG KLEIN Wie etwas in uns..................................................................... 241 Einleitung Die Frage nach dem Verhältnis von Tier und Mensch ist eine der grundlegendsten politischen, philosophischen und ethischen Fragen des Abendlandes. Mehr noch: das Verständnis des Mensch-Seins bestimmt sich von Beginn an in Abgrenzung vom und in Auseinandersetzung mit dem Tier-Sein. Aus diesem Grund ist die Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Tier immer auch gekoppelt an die Frage nach dem Verständnis des Seins des Menschen. Obwohl dies eine Debatte ist, die so alt ist wie die Menschheitsgeschichte selbst, kann man in den letzten Jahren einen erstaunlichen Aufschwung in der Diskussion um das Verhältnis von Mensch und Tier beobachten. Neben dem gesellschaftspolitischen Streit um den richtigen Umgang mit dem Tier, der Auseinandersetzung um die Angemessenheit von Tierversuchen und dem Aufschwung von bewusst vegetarischer und veganer Ernährung widmet sich auch die Wissenschaft zunehmend diesem Verhältnis und untersucht Repräsentationsformen von Tieren in der Kunst, den Medien, der Literatur und dem öffentlichen Leben. Kulturelle und symbolische Bedeutungen von Tieren werden herausgearbeitet und die Rolle von Tieren bzw. Tierbildern in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Denksystemen untersucht. Aber nicht nur die Wissenschaft, auch die Kunst, die Ökonomie, das Recht, die Landwirtschaft oder die Medizin beleuchtet das Verhältnis von Tier und Mensch und richtet dabei ihr Augenmerk besonders auf die historischen Veränderungen im Umgang mit dem Tier und den Einstellungen des Menschen dem Tier gegenüber. Im Bewusstsein dessen, dass es sich bei diesen gesellschaftlichen Feldern immer um Diskurse handelt, richtet sich die Aufmerksamkeit besonders auf die kommunikativen Aspekte, also auf die Interaktion mit und die Rede über Tiere. Die sog. Animal Studies oder auch Human-Animal Studies, die sich dem Verhältnis von Tier und Mensch in besonderer Weise angenommen haben, stammen ursprünglich aus dem anglo-amerikanischen Raum, wo sie sich seit den 1980er Jahren herausgebildet haben. Ausgehend von den Geistes- und Sozialwissenschaften widmen sich aber auch die Naturwissenschaften, etwa die Biologie, die Medizin oder die Zoologie den Animal Studies.1 Seit der Jahrtausendwende werden die Debatten aus dem Forschungsfeld der Animal Studies auch verstärkt in Deutschland geführt.2 1 2 Vgl. dazu exemplarisch: Haraway, Donna, „Im Streit um die Natur der Primaten. Auftritt der Töchter im Feld des Jägers 1960-1980“, in: Donna Haraway. Die Neuerfindung der Natur – Primaten, Cyborgs und Frauen, hg. v. Carmen Hammer u. Immanuel Stieß, Frankfurt a. M., 1995, S. 123-159; Ebd.: The Companion Species Manifesto. Dogs, People, and Significant Otherness, Chicago, 2003; Gefährten – Konkurrenten – Verwandte. Die Mensch-TierBeziehung im wissenschaftlichen Diskurs, hg. v. Carola Otterstedt u. Michael Rosenberger Göttingen, 2009. Exemplarisch: Borgards, Roland u. Pethes, Nicolas, Tier Experiment Literatur. Wissensgeschichtliche Konstellationen im 20. Jahrhundert, Würzburg, 2013; Hüppauf, Bernd: Vom Frosch. Eine Tiergeschichte zwischen Tierphilosophie und Ökologie, Bielefeld, 2011; Tierische 8 EINLEITUNG Der vorliegende Band, der aus einer interdisziplinären Ringvorlesung hervorgegangen ist, an der neben den Philologien, den Kunstwissenschaften, der Philosophie, der Theologie auch die Tiermedizin und die Rechtwissenschaft beteiligt war, nimmt eine Zuspitzung der Animal Studies auf die Frage der Ethik vor.3 Das weite Feld der Verhältnisbestimmung von Tier und Mensch soll hier konkret unter ethischen Gesichtspunkten untersucht werden. Ethik wird dabei nicht verstanden als Mitleidsethik4, sondern als Infragestellung der Grenzen zwischen Mensch und Tier. Untersucht werden dabei ebenso die gesellschaftlichen Machtverhältnisse, die das Tier als das Andere auszugrenzen versuchen, als auch die Versuche, das Tierische im Menschlichen anzuerkennen. Im Mittelpunkt steht also die kritische Auseinandersetzung mit der Grenzziehung zwischen Tier und Mensch bzw. mit dem Tier, das als Abgrenzungsfolie dient, vor dessen Hintergrund sich das Mensch-Sein konstituiert.5 In erster Linie 3 4 5 Geschichte. Die Beziehung von Mensch und Tier in der Kultur der Moderne, hg. v. Dorothee Brantz u. Christof Mauch, Paderborn, 2009; Ich, das Tier. Tiere als Persönlichkeiten in der Kulturgeschichte, hg. v. Jessica Ullrich, Friedrich Weltzien u.Heike Fuhlbrügge, Berlin, 2008; Wischermann, Clemens, Von Katzen und Menschen. Sozialgeschichte auf leisen Sohlen, Konstanz, 2007; Eitler, Pascal u. Möhring, Maren, „Eine Tiergeschichte der Moderne. Theoretische Perspektiven“, in: Traverse – Zeitschrift für Geschichte 3, 2008, S. 91-105; Mensch und Tier in der Kulturgeschichte Europas, hg. v. Peter Dinzelbacher, Stuttgart, 2000; Münch, Paul, Tiere und Menschen – Geschichte und Aktualität eines prekären Verhältnisses, Paderborn. 1997. Neben diesen eher kulturwissenschaftlichen und historischen Überblicksdarstellungen finden sich neuerdings auch eine Reihe spezifisch literaturwissenschaftlicher oder kunstwissenschaftlicher Auseinandersetzungen mit dem Verhältnis von Tier und Mensch. Vgl. hierzu beispielsweise: Eitler, Pascal, „In tierischer Gesellschaft. Ein Literaturbericht zum Mensch-Tier Verhältnis im 19. und 20. Jahrhundert“, in: Neue Politische Literatur 54, 2008, S. 207-224; Tiere im Film. Eine Menschheitsgeschichte der Moderne, hg. v. Maren Möhring, Massimo Perinelli u. Olaf Stieglitz, Köln, 2009; Schmidt, Dietmar, Die Physiognomie der Tiere. Von der Poetik der Fauna zur Kenntnis des Menschen, Paderborn, 2011. In Vorbereitung befindet sich das kulturwissenschaftliche Handbuch Tiere von Roland Borgards, das 2015 im Metzler Verlag erscheinen wird und sicherlich nochmal die besondere Virulenz der Debatte markiert. Vgl. dazu auch den erst vor kurzem erschienen Sammelband von Friederike Schmitz, der zentrale Positionen zur Tierethik versammelt. Schmitz, Friederike, Tierethik. Grundlagentexte, Frankfurt a. M., 2014. Außerdem: Linzey, Andrew, Why animal suffering matters. Philosophy, Theology, and Practical Ethics, Oxford, 2009; The Oxford Handbook of Animal Ethics, hg. v. Tom L. Beauchamp u. R.G. Frey, Oxford, 2011; Wolf, Jean-Claude, Tierethik. Neue Perspektiven für Menschen und Tiere, Freiburg (Schweiz), 1992. Im Anschluss an Schopenhauer beschäftigt sich Wolf mit der Theorie einer Mitleidsethik und grenzt diese von der Moral ab. Während Mitleid, welches eher einen punktuellen Affekt darstelle, der je nach Beziehung zu dem Leidenden oder nach Stimmungslage unterschiedlich ausfallen könne, verlange die Moral eine dauerhafte Rücksichtnahme. Darüber hinaus würden zur Moral auch Fragen der Gerechtigkeit gehören. Vgl. Wolf, Ursula, „Einleitung“, in: Ebd.: Texte zur Tierethik, Leipzig, 2008, S. 18. Dazu: Schopenhauer, Arthur, „Preisschrift über die Grundlage der Moral“, in: Ebd..: Arthur Schopenhauers Werke in Fünf Bänden, hg. v. Ludger Lütkehaus, Zürich, 1988, Bd. 3, S. 459-631. Impulsgeber diese Diskussion betreffend ist sicherlich Peter Singer, der Mitte der 1970er Jahre den von Ryder entwickelten Begriff des ‚Speziesismus‘ in seinem zentralen Buch ‚Animal Liberation‘ weiterentwickelt. Singer hat die gesamte tierethische Debatte sowohl in der Philosophie als auch in dem juridischen Diskurs maßgeblich geprägt. Vgl. dazu auch den Beitrag von Jörg Luy EINLEITUNG 9 wird diese Abgrenzung traditionell logozentrisch abgeleitet und legitimiert. Das Nicht-Menschliche erfährt auf diese Weise eine Ausgrenzung und wird zum ‚Ganz Anderen‘. Die Arbeitsgruppe Chimaira spricht hier auch von einem „Anthropologozentrismus“.6 Derrida fasst die Debatte schließlich zusammen, indem er sie mit einer Kritik am Logozentrismus verbindet: „Der Logozentrismus ist zuallererst eine These über das Tier, das des logos, das des logos Haben-Könnens beraubt ist.“7 Häufig dient jene Abgrenzung, die von Exotismus und Angst geprägt ist, dazu, das scheinbar spezifisch Menschliche zu bewahren und stellt damit einen wichtigen Orientierungspunkt im menschlichen Sein dar. Diese Grenzen zu hinterfragen und damit einen kritischen Blick auf das Bild vom Mensch-Sein zu werfen ist Aufgabe der Tierethik, so wie sie der vorliegende Band versteht. Insbesondere Kunst und Literatur sind an einer solchen Infragestellung interessiert und entwickeln von dort ausgehend ihr spezifisches Verständnis von Tierethik. Häufig entstehen dabei sog. dritte Räume, in denen sich Tier und Mensch begegnen und neue Möglichkeiten der Inter- und Transkation erproben.8 Eine wichtige Leitfrage dabei ist, ob die von Menschen generierten und auf das Tier übertragenen moralischen Wertmaßstäbe der Andersartigkeit des Tieres gerecht werden oder ob es sich hier nicht ebenfalls um einen anthropozentrischen Machtdiskurs handelt, den es zu reflektieren gilt.9 Entscheidend ist hier, inwiefern den Tieren ein Geist zugesprochen werden kann, der in der abendländischen Tradition nicht nur die Voraussetzung für eine moralische Handlungsfähigkeit darstellt, sondern sogar darüber befindet, in welcher Weise und Intensität die moralischen Bedürfnisse des Tieres berücksichtigt werden müssen. Es handelt sich hier um eine lange und traditionsreiche Debatte, die bereits in der Antike mit Aristoteles beginnt, sich über Descartes, Montaigne, Heidegger, Adorno/Horkheimer bis hin zu Derrida erstreckt, um nur einige wenige Vertreter zu nennen.10 6 7 8 9 10 in dem vorliegenden Band. Singer, Peter, Animal Liberation, New York, 2010; Ryder, Richard, The Political Animal: The Conquest of Speciesism, London, 1998, S. 320. Chimaira – Arbeitskreis für Human Animal Studies: Human-Animal Studies. Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier Verhältnisse, Bielefeld, 2011, S. 13. Vgl. außerdem den erst kürzlich erschienenen Sammelband der gleichen Arbeitsgruppe: Tiere – Bilder – Ökonomen. Aktuelle Forschungsfragen der Human-Animal Studies, Bielefeld, 2011. Derrida, Jacques, Das Tier, das ich also bin, Wien, 2006, S. 52. Vgl. hierzu die Überlegungen von Derrida und Agamben. Derrida: Das Tier, das ich also bin; Agamben, Giorgio, Das Offene. Der Mensch und das Tier, Frankfurt a. M., 2002. Vgl. dazu Wolf, die zwischen einem moralischen und einem juristischen Recht unterscheidet. Ein Tierschutzrecht, welches den Schutz des einzelnen Tieres zur Absicht habe, müsse Tieren gegenüber das selbe Moralsystem zugrundelegen, welches auch für Menschen gilt, nämlich die Anerkennung und den Schutz dessen, was den Individuen durch grundlegende moralische Rechte zugesprochen wird. Wolf, Ursula, „Die Mensch-Tier-Beziehung und ihre Ethik“, in: Ebd..: Texte zur Tierethik, S. 170-192, hier S. 171. Vgl. dazu exemplarisch die Ausführungen von Sorabji, Richard, Animal Minds and Human Morals. The Origins of the Western Debate, Ithaca, New York, 1993; Wild, Markus, Der Geist der Tiere, Frankfurt a. M., 2005; Ebd., Tierphilosophie zur Einführung, Hamburg, 2008; Wolf, Ur- 10 EINLEITUNG Die Frage nach dem Geist der Tiere schließt unmittelbar an die Auseinandersetzung um die moralische Handlungsfähigkeit an. Moralische Subjekte im eigentlichen Sinne sind, so zeichnet Wolf die Debatte nach, nur Wesen, die die Fähigkeit besitzen, moralische Sätze zu verstehen und in Handlung umzusetzen. Das Tier ist also in diesem Sinne nicht moralisch handlungsfähig. Allerdings gehört es, folgt man Wolfs Argumentation weiter, zum Kreis der Objekte der Moral, welche unter dem Schutz der moralischen Normen stehen.11 Ihr moralisches Recht besteht darin, Rücksicht, Respekt und Würde einzufordern.12 Eine Zuspitzung der Diskussion erfolgt durch Bentham, der nicht mehr die Frage nach dem Geist der Tiere in den Mittelpunkt rückt, sondern die Erfahrung des Leidens. Es geht nach Bentham weder um Sprache und Vernunft, sondern um die Leidensfähigkeit und diese sei bei Tieren wie Menschen gleichermaßen gegeben. Aus diesem Grund müssen auch die moralischen Bedürfnisse von Tieren berücksichtigt werden. Die Frage lautet also nicht: „Können sie denken oder: Können sie sprechen“ sondern: Können Sie leiden?“13 Bentham begründet damit die Utilitarismus-Debatte in der Tierethik, der sich dann auch Singer verschreibt, und kritisiert die starre Grenzziehung zwischen Tier und Mensch, indem er für eine Berücksichtigung der Tiere als moralische Objekte plädiert. Die Diskussion um eine angemessene Tierethik sowie um deren Grenzen und Möglichkeiten erweist sich also als äußerst virulent nicht nur in den Wissenschaften, sondern auch in der gesellschaftlichen Wahrnehmung. Aus diesem Grund versucht der vorliegende Band, Aspekte der Tierethik aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen heraus zu beleuchten und dabei auch die gesellschaftlichen Rückkopplungsprozesse offen zu legen. Die beteiligten Disziplinen erörtern diese Aspekte jedoch nicht nur aus ihrer eigenen disziplinären Perspektive heraus, sondern zeigen zudem Wechselwirksamkeiten auf und stellen vor allem die historischen und kulturellen Aspekte der Tierethik in den Mittelpunkt. Dabei zeigt sich, dass die Debatte um die Tierethik oftmals an der Schnittstelle von Literatur und Wissen entsteht. Das in gängigen Wissenschafts- und Gesellschaftsdiskursen entworfene Verhältnis von Tier und Mensch wird häufig in den Literaturen und Künsten aufgegriffen und dort subversiv in Frage gestellt. Daher erweist sich vor allem der ästhetische Zugang als in besonderem Maße sensibel für die stets vom Menschen gezogenen Grenzen zwischen Tier und Mensch und reflektiert über deren zugrundliegende moralischen Wertmaßstäbe und über die damit verbundenen Konsequenzen. Konsequenzen, die nicht nur das Zusammenleben von 11 12 13 sula, Das Tier in der Moral, Frankfurt a. M., 2004. Hilfreich ist außerdem die Einführung von Schmitz, Friederike, „Geschichte der Philosophie des Mensch-Tier-Verhältnisses“, in: Ebd.: Tierethik, S. 31-48. Wolf, Die Mensch-Tier Beziehung und ihre Ethik, S. 173. Dazu: Schneider, Manuel, „Über die Würde des Tieres. Zur Ethik der Mensch-Tier Beziehung“, in: Den Tieren gerecht werden. Zur Ethik und Kultur der Mensch-Tier-Beziehungen, hg. v. Ebd., Kassel, 2001, S. 227-239. Bentham, Jeremy, „Eine Einführung in die Prinzipien der Moral und Gesetzgebung“, in: Brüder – Bestien – Automaten. Das Tier im abendländischen Denken, hg. v. Manuela Linnemann, Erlangen, 2000, S. 135. EINLEITUNG 11 Tier und Mensch betreffen, sondern auch das genuine Verständnis des MenschSeins an sich, welches sich abzugrenzen sucht vom Tier-Sein. Gerade in der Begegnung mit dem Tier kann der Mensch nicht nur über seine eigene Verfasstheit reflektieren, er wird auch mit dem konfrontiert, was dem Tier scheinbar fehlt: die Sprache. Und so wird die Diskussion um einen angemessenen Umgang mit dem Tier schließlich auch zur Reflexion über die Frage nach der Verfasstheit der menschlichen Sprache. Tierethik ist nicht einfach nur Sympathie mit dem Tier, auch nicht Tiermoral, die das Tier vor dem Zugriff des Menschen verteidigen möchte. Solche Fragen der Tierhaltung oder der Tierversuche werden meist in einem politischen Diskurs verhandelt, der hier nur am Rande zur Sprache kommt. Tierethik, so wie sie die vorliegenden Beiträge verstehen, heißt, nach dem Tier in der Sprache zu fragen, die erstaunlich durchlässigen Grenzen zwischen Tier und Mensch zu beleuchten und diese in ihrem kulturgeschichtlichen Wandel zu diskutieren. Dabei zeigt sich, dass gerade die Brechungen von Grenzerfahrungen und -begegnungen zwischen Mensch und Tier sowohl aus theologisch-kirchlicher wie ästhetischliterarischer Perspektive sich als besonders interessant und fruchtbar erweisen. In den Beiträgen geht es dabei weniger um den moralisch richtigen Umgang mit dem Tier, sondern eher um das Aufzeigen der Genese und des Wandels moralischer Wertsetzungen, die im Umgang mit dem Tier zur Anwendung gelangen und wie diese reflektiert und in Frage gestellt werden können. Dabei erweisen sich Kunst und Wissenschaft als gleichermaßen kritische Impulsgeber. Vorstellung der Beiträge Der Beitrag von Mayer stellt die grundlegende Frage nach der Grenze von Mensch und Tier und untersucht deren Zustandekommen, deren Rechtfertigung und auch deren Infragestellung. Insbesondere die Literatur spielt bei dieser Infragestellung eine exponierte Rolle, da sie als „Reflexionsort kultureller Wertsetzungen“ verstanden wird. Der Autor unterscheidet hier drei Aspekte der Literatur: das Magische, das Moralische und das Ethische. Das magische Verhältnis zwischen Tier und Mensch bilden vor allem Märchen und Mythos ab, da hier die Grenzziehungen zwischen Tier und Mensch aufgrund von wechselseitigen Transformationen zum Verschwinden gebracht werden. Einen moralischen Umgang mit Tieren praktiziere insbesondere die Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts. Angeregt durch die Überlegungen von Bentham und Schopenhauer entstehe eine Tiermoral, die die Missstände aufzeige und für ein Verständnis der Tiere plädiere. Allerdings weise die Literatur, wie etwa an Stifters Abdias deutlich werde, auch darauf hin, dass der Mensch die „Grammatiken der Tiersprachen“ nicht richtig lesen könne und von daher eine Tiermoral immer eine defizitäre und vom Menschen aus gedachte sei. Die Literatur der Moderne schließlich erprobe einen ethischen Umgang mit dem Verhältnis Tier – Mensch. Sie stelle nicht mehr einen obersten Wert in den Mittelpunkt, sondern sei im Bewusstsein der Anders- 12 EINLEITUNG heit des Tieres verfasst und fordere dementsprechend Respekt vor dieser Andersheit. Kulenkampff sucht in seinem Aufsatz nach der Beantwortung der Frage, ob es ein richtiges oder falsches Verhalten gegenüber Tieren gebe, ganz unabhängig von bestehenden Tierschutzgesetzen. Diese Frage siedelt er im Bereich der Tierethik an, da es nicht darum gehe, normative Verhaltensweisen auszumachen, sondern den Umgang mit dem Tier beständig zu überprüfen. Dabei sieht er sich vor allem mit drei Aspekten konfrontiert: dem Normproblem, dem Abgrenzungsproblem und dem Begründungsproblem. Basierend auf der philosophiegeschichtlichen Tradition im Umgang mit dem Tier (Speziesismusdebatte, biblische Traditionsgeschichte, Animal rationale, Personalität und Rechtsdebatte, Gleichheitsdebatte zwischen Tier und Mensch und schließlich der Aspekt der Tier- bzw. Menschenwürde) geht der Aufsatz der grundlegenden Frage nach, ob es einen moralisch relevanten Unterschied zwischen Tier und Mensch gibt und wie dieser aus ethischer Perspektive zu bewerten sei. Die Hauptaufgabe der Tierethik, so wie Kulenkampff sie versteht, besteht dann darin, diesen moralischen Unterschied beständig zu reflektieren und in Frage zu stellen. Ausgehend von dem Vorwurf, dass das Verhältnis Tier/Mensch im Christentum von Speziesismus und Anthropozentrismus geprägt sei, erprobt Oberdorfer in seinem Aufsatz einen anderen Blick auf den biblischen Text. Basierend auf einem kulturgeschichtlichen Überblick, der das facettenreiche Verhältnis von Tier und Mensch in der Bibel erörtert (Tieropfer, Reinheit bzw. Unreinheit von Tieren, Aspekt der Fremdheit von Tieren usw.), kann der Aufsatz zeigen, dass das Christentum seinen Schwerpunkt zwar auf die als spezifisch menschlich gedachte Seele legt, sich aber dennoch zahlreiche Hinweise im biblischen Text finden lassen, die Ausgangspunkt für eine moderne Tierethik sein können. Insbesondere macht Oberdorfer darauf aufmerksam, dass sich die Heilserfüllung nicht nur auf den Menschen bezieht, sondern das Tier explizit mit einbezieht. Auch der Aspekt der Verantwortung des Menschen gegenüber dem Tier wird in der Bibel herausgestellt und auf die damit verbundene Bewahrung der geschöpflichen Eigenwürde des Tieres hingewiesen. Habermann untersucht in ihrem Aufsatz die sprachliche Bezugnahme auf das Tier in der deutschen Gegenwartssprache. Das Sprechen über Tiere zeuge gleichermaßen von einer Anthropomorphisierung, Individualisierung, Verdinglichung und Anonymisierung. Die Untersuchung erfolgt auf den Ebenen des Sprachsystems, der Kognitiven Linguistik, der Onomastik und auf der korpusbasierten Diskursanalyse. Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen hier vor allem die Besonderheiten bei der sprachlichen Bezeichnung für Tiere, ihrer Grammatik sowie ihrer Referenz, der metaphorische Gebrauch, der sich bis hinein in die Namensgebung von Vor-, Familien- oder Kosenamen widerspiegelt und schließlich der Gebrauch von Schimpfwörtern. Das Sprechen über Tiere, so zeigt der Beitrag auf, bewegt sich dabei zwischen Zuneigung und Abneigung, zwischen Liebe und Degradierung bis hin zu Verdrängung und Gleichgültigkeit. Vor allem wird aber EINLEITUNG 13 auch die Macht des sprachlichen Diskurses deutlich, der die Beziehung Mensch/Tier maßgeblich beeinflusst und ausdrückt. Bublitz arbeitet in seinem Aufsatz die Omnipräsenz, die welterschließende Kraft und die Polyfunktionalität der konzeptuellen Metapher heraus. Im Mittelpunkt des Beitrags steht die rhetorische, die kognitive und schließlich die ethische Perspektive der Metapher, die sich insbesondere durch eine Evaluierung von Welt auszeichnet. Im Falle der Tiermetapher bedeutet dies, dass die ethische Perspektive das hinter der Metapher stehende anthropologische Deutungsmuster entlarvt und somit das Selbstverständnis des Menschen offenbart. Der Beitrag macht sich stark für eine Kognitive Metapherntheorie, da hier die Polyvalenz der Metapher am deutlichsten zum tragen komme. Aus ethischer Sicht liegt ihr Verdienst nicht nur darin, den Weg für eine Kultur der Alltagsmetapher bereitet zu haben, sondern vor allem darin, die sinnstiftende und evaluierende Funktion der Metapher herauszuarbeiten, die es der Metapher ermöglicht, Meinungsbildungsprozesse zu beeinflussen und Bewusstseinsveränderungen auszulösen. Auf diese Weise könne anhand der Metaphernanalyse das Manipulationspotenzial von Texten entlarvt und die dabei ablaufenden hermeneutischen Prozesse aufgedeckt werden. Nach einem historischen Überblick über das Bild des Tieres in der amerikanischen Literatur arbeitet Zapf das Verhältnis von Kreatur und Kreativität anhand ausgewählter Beispiele heraus. Hier stehen vor allem Emily Dickinsons deathbed poems und Herman Melvilles Moby Dick im Vordergrund. Zapf kann aufzeigen, dass die Beziehung zwischen Mensch und Tier in der Literatur nicht nur thematisch und motivisch aufgearbeitet wird, sondern auch eine tragende Funktion im Bereich der ästhetischen Gestaltung und in der ethischen Orientierung übernimmt. Die Mensch/Tier-Beziehung versteht Zapf als reflexive Interaktion und metaphorische Transformation, bei der ein Wechselspiel zwischen Fremd und Eigen sowie zwischen Kultur und Natur entsteht. Das Tier bleibt dabei aber für den Menschen in seiner Andersartigkeit stets unverfügbar. Abschließend macht der Beitrag deutlich, dass jegliche ethische Reflexion über Tiere stets Teil eines kulturellen Konstrukts ist und aus diesem Grund auch nie den kulturellen Kontext ganz verlassen kann. Waldow zeigt in ihrem Beitrag auf, dass die anthropologische Differenz ein Ergebnis komplexer sprachlicher Vorgänge ist und nicht zuletzt ein Resultat sprachlicher Machtdiskurse darstellt, in denen sich der Mensch seine vermeintliche Vormachtstellung gegenüber dem Tier sichert. Gleichzeitig sei es aber auch die Sprache, insbesondere die poetische Sprache, die diese anthropologische Differenz aufhebe oder zumindest hinterfrage. Insbesondere die Fabel erweise sich hier als zentraler ethischer Austragungsort, da sie das Verhältnis von Mensch und Tier reflektiere, die Beschreibungshoheit des Menschen gegenüber dem Tier in Frage stelle und dem Tier im literarischen Raum die Fähigkeit zur Vernunft zuspreche. Darüber hinaus sei es ein besonderes Anliegen der Fabel, die Andersheit des Tieres anzuerkennen und es nicht als ein vom Menschen typisiertes und domestiziertes wahrzunehmen. Die Fabel diskutiere auf diese Weise Grenzen und 14 EINLEITUNG Möglichkeiten der Selbstermächtigung des Menschen und plädiere für ein humanes Miteinander von Mensch und Tier. Der Beitrag liest die Fabel mit Derrida als ‚animots’, die einen produktiven Gegendiskus eröffnet und die Beziehung zwischen Mensch und Tier als eine offene gestaltet. Kafkas Tiere bewegen sich, so der Beitrag von Lubkoll, im Grenzbereich von Tier und Mensch. Auf diese Weise erkunden sie nicht nur die Frage nach dem Ort des allgemein Menschlichen, sondern sie suchen auch nach dem Anderen, dem Tierischen im Menschlichen. Dabei spielen insbesondere die Machtstrukturen, die sich im gesellschaftlichen Diskurs abbilden, eine zentrale Rolle. Wie ist nun eine Ethik vor dem Hintergrund dieser von Kafka immer wieder ins Zentrum gerückten Machstrukturen zu denken? Dieser Frage geht der Beitrag anhand von Kafkas Texten in drei Schritten nach. Erstens wird nach dem Umgang mit dem Tier als Kreatur gefragt. Zweitens wird eine kritische Reflexion der diskursiven Vereinnahmung des Tieres erprobt und die Projektionsbildungen herausgearbeitet, die das Tier allein vom Menschen aus denken. Und schließlich geht es drittens um die Akzeptanz der Andersheit des Tieres, die von Kafka immer wieder thematisiert wird und die die Frage nach dem Zusammenhang von Natur und Ethik stellt. Ausgehend von Kant beschäftigt sich der Beitrag von Borgards mit der kulturgeschichtlichen Entwicklung der Figur des Robinson Crusoe und der Frage nach der Tierschlachtung. Im Mittelpunkt der Betrachtung steht dabei zunächst der Text von Daniel Defoe, vor dessen Hintergrund die Bearbeitungen von Joachim Heinrich Campe, Karl Wezel und Michel Tournier diskutiert werden. Bei Defoe steht vor allem die Ambivalenz des Tötens, die sich zwischen Notwendigkeit und Trauer bewegt, im Vordergrund. Sie zeigt Robinson als ein moralisch handelndes Wesen, welches zwischen zulässiger und unzulässiger Gewalt zu unterscheiden lernt. Diesen Lernprozess versteht Borgards als Teil einer Arbeit am moralischen Selbst. Bei Campe erfahre diese Szene eine Potenzierung, da die Tötung des Tieres nun mit der Zerstörung der natürlichen Harmonie zwischen Tier und Mensch einhergehe, die es zu reflektieren gelte. Mit Kant kann Borgards hier aufzeigen, dass eine ethische Tiertötung auf einem Lernprozess basiert und spricht dementsprechend von einer „Schule des Tötens.“ Seine Überlegungen abschließend widmet sich der Beitrag der Tiertötung bei Tournier, in dem Robinson völlig frei von ethischen Überlegungen tötet. Der Akt des Tötens wird zum Selbstzweck und ist das Ergebnis einer Anthropologie, zu der es Alternativen zu entwickeln gelte. Auch Luy widmet sich der Problematik der Tiertötung, allerdings aus einer juristischen und moralischen Perspektive heraus. Auch in Zeiten einer sog. schmerzfreien Tiertötung stelle sich die Frage nach einem vernünftigen und zulässigen Grund der Schlachtung. Diesem Bereich des vernünftigen Grundes geht der Beitrag nach und zeigt die Schwierigkeiten im Umgang mit Begründungsmechanismen auf. Obwohl die deutsche Rechtsprechung diesen vernünftigen Grund mit in ihren Gesetzestext aufgenommen hat, herrsche weiter Unklarheit darüber, wie dieser Grund zu rechtfertigen sei und was unter Vernunft in diesem Zusam- EINLEITUNG 15 menhang zu verstehen sei. Dies ist nach Luy vor allem deshalb der Fall, da es keine ethische Diskussion über die Formulierung des Gesetzestextes gab. Ausgehend von dieser Beobachtung regt Luy zu einer Auseinandersetzung mit der Tiertötung unter ethischen Gesichtspunkten an und betont, dass der ethische Umgang mit dem Tier einem Wertewandel unterworfen sei, den es in seiner historischen und kulturgeschichtlichen Relevanz zu untersuchen gelte. Der rechtswissenschaftliche Beitrag von Kudlich schließt unmittelbar an diese Diskussion an und untersucht den rechtlichen Zusammenhang, in dem Tiere häufig stehen. In den meisten Fällen gehe es dabei aber nicht um die Rechtsposition des Tieres, sondern um die Rechtsposition an Tieren. Diesen Umstand erläutert er anhand einiger Beispiele wie der rechtlichen Legitimation des Tierschutzes, der zivilrechtlichen Tierhaltung, der Notwehr gegenüber Tieren oder auch dem Tier im Beleidigungs-(Straf)Recht. Zusammengenommen weist der Beitrag auf das Grundproblem hin, dass Tiere zwar im deutschen Recht nicht als Sachen verstanden werden, es aber dennoch kein spezifisches Tier-Recht gibt. Dieser Umstand lässt einen großen Spielraum für den Rechtsausleger offen, den es unter ethischen Aspekten zu diskutieren gelte. Ullrich beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der Debatte um einen ethischen Umgang mit Tieren im Rahmen von Kunstwerken, die maßgeblich von dem Künstler Mark Dion und dem Kunsthistoriker Steve Baker angeregt wurde. Im Fokus stehen dabei Kunstwerke, die die Relevanz dieser Frage verdeutlichen, indem sie mehr oder weniger offensiv mit dem Tier und seiner realen Körperlichkeit als Teil des Kunstwerks umgehen. Insbesondere seit den 1960er Jahren finde sich eine zunehmende Präsenz des lebenden Tieres im Rahmen von Kunstwerken, was u.a. mit einem erweiterten Kunstbegriff, der Realität direkt zu übertragen versuche, einhergehe. Dieser Kunstbegriff schließt auch die Zurschaustellung und Inkaufnahme des Sterbens des Tieres mit ein. Ullrich untersucht hier exemplarisch die Installationen Helena von Marco Evaristtis und Exposición No.1 von Guillermo Vargas. Die Paradoxie, so Ullrich, bestehe vor allem darin, dass beide Künstler sich selbst als moralische Instanzen verstehen, die das Sterben des Tieres in Kauf nehmen, um mit ihren künstlerischen Beiträgen auf die Verletzung der Tierrechte hinzuweisen. Diese Vorgehensweise wird von Ullrich kritisch hinterfragt und in ihrer ethischen Fragwürdigkeit diskutiert. Den Band beschließt ein literarischer Beitrag von Georg Klein. Dem Autor, der bekannt ist für sein autoreflexives Schreiben, geht es in seinen Texten nicht um die Abbildung einer wie auch immer verstandenen ‚ersten Wirklichkeit’. Der literarische Text, so Klein in einem Interview, stelle keine Realität zweiter Ordnung dar. Vielmehr bilde sich – wenn es überhaupt eine mimetische Vorstellung gäbe – das kreative System selbst ab. Dazu gehört für Klein auch, Grenzen immer wieder in Frage zu stellen und diese zu überschreiten. Grenzen zwischen Gattungen und Genres, zwischen Realität und Fiktion, zwischen Hoch- und Populärkultur oder wie hier zwischen Tier und Mensch. Für seine Texte erhielt Klein u.a. den Ingeborg-Bachmann-Preis und den Preis der Leipziger Buchmesse. Zu- 16 EINLEITUNG letzt erschien der Roman Die Zukunft des Mars, der sich wie viele andere seiner Texte bewusst einer eindeutigen Zuordnung verweigert. MATHIAS MAYER Papiertiger im bissigen Text. Das Tier, die Literatur und der Respekt Bei Platon ist die folgende Geschichte überliefert. Als die Götter im Begriff waren, die sterblichen Wesen zu schaffen, beauftragten sie Epimetheus und Prometheus. Der eine drängelt sich vor und übernimmt die Verteilung der Güter, Prometheus soll sie dann begutachten. „Bei der Verteilung nun verlieh Epimetheus einigen Stärke ohne Schnelligkeit, die Schwächeren begabte er mit Schnelligkeit; einige bewaffnete er, anderen, denen er eine wehrlose Natur gegeben, ersann er eine andere Kraft zur Rettung“.1 Behausung und Größe, Zeugungskraft und Schutz vor Kälte oder Hitze, – alles regelt Epimetheus nach der Maßgabe, „daß nicht eine Gattung gänzlich verschwände“. Aber weil er eben „doch nicht ganz weise war“, hat er unversehens alle Kräfte bereits für die Tiere ausgegeben, für den Menschen ist nichts übrig geblieben. Als Prometheus die vorgenommene Verteilung besichtigt, findet er den Menschen „nackt, unbeschuht, unbedeckt, unbewaffnet“, so dass er ihn noch wenigstens mit dem gestohlenen Feuer und der Weisheit ausstattet. Die in Platons Mythos von der nachgeordneten Erschaffung des Menschen aufscheinende These vom Mängelwesen Mensch ist eine prominente, aber keineswegs eine kanonische Stimme in der Auseinandersetzung mit dem Tier. Andere kehren die These um und sprechen von der Überlegenheit der menschlichen Vernunft gegenüber der natürlichen Ausstattung des Tieres. Die Annahme einer „Stufenleiter“, die auch mit dem christlichen Menschenbild kompatibel ist, sichert dem Menschen, der Vernunft, der Sprache, der Seele fraglos den ersten Platz. Aber dieser Anthropozentrismus ist nicht selbstverständlich, vielmehr kennt die Antike bereits aus unterschiedlichen Motivationen heraus Gebote der Tierschonung und des Vegetarismus, wobei Vorstellungen der Seelenwanderung und der Verwandtschaft wie auch der Gesundheit eine Rolle spielen. Pythagoras und Empedokles gehören in diesen Zusammenhang, und Porphyrius vertritt etwa die These der Tiervernunft.2 Bei dem spätantiken Kulturphilosophen Plutarch, einer Lieblingslektüre Schillers und Brechts, kommt es zu einem Dialog zwischen Odysseus und dem Schwein Gryllos, das ihm klar macht, dass keineswegs alle der Gefährten, die von Kirke in Schweine verwandelt worden waren, ihre Rückverwandlung wünschen, denn die Tierexistenz sei glücklicher und tugendhafter als die der Menschen.3 1 2 3 Platon, „Protagoras“ 321 e, in: Sämtliche Werke, in der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, hg. v. Walter F. Otto, E. Grassi, G. Plamböck, Bd. 1, Hamburg, 1975, S. 62. Dierauer, Urs, „Mensch und Tier im griechisch-römischen Denken“, in: Tiere und Menschen, hg. v. Paul Münch, Paderborn u.a.,1998, S. 37-85, S. 70. Ebd., S. 74. 18 MATHIAS MAYER Das vermeintliche Überlegenheitsverhältnis von Mensch und Schwein wird gekündigt und zeigt die Provokationskraft der Auseinandersetzung mit dem Tier. Schlagartig geht sie auch aus Lichtenbergs Aphorismus hervor: „Es regnete so stark, daß alle Schweine rein und alle Menschen dreckig wurden“.4 Faszination und Beunruhigung, Arroganz und Angst, Sympathie und Respekt haben das Verhältnis von Mensch und Tier bis zuletzt begleitet, das aber vor allem durch die Frage nach der Legitimation von Gewalt, von der Tötung des Tieres zum Zweck des Überlebens, des Wissens und der Nahrung durch das Mängelwesen Mensch in Bewegung gehalten wird. Den damit verbundenen Problemen möchte ich ein Stück weit nachgehen, inwiefern nicht allein von Seiten des Tierschutzes und der Tierethik, sondern auch von der Literatur als einem Reflexionsort kultureller Wertsetzungen Antworten auf diese Herausforderung zu erwarten sind. I Die in vielen Feldern sich etablierende Tierethik ist eben aufgrund ihrer theologischen, juristischen und kulturgeschichtlichen Kontexte keineswegs als eine philosophische Binnendisziplin zu begrenzen. Sie ist mehr als eine von vielen BereichsEthiken oder Praxismöglichkeiten angewandter Ethik, denn sie problematisiert außer dem moralischen Umgang mit dem Tier ebenso die Fragestellung, die InFrage-Stellung der Grenze von Mensch und Tier. Die bis heute intensiv geführte Debatte über Tierschutz und Tierrechte ist dabei eines von vielen Anzeichen für diese komplexe Gegenüberstellung, in der Nachbarschaft und Abgrenzung wichtig sind. Die Stichworte Humanität und Bestialität können, als abstrahierte Kategorien menschlicher oder animalischer Eigenheit, das ambivalente Verhältnis von Mensch und Tier widerspiegeln. Denn nicht allein die Idealisierung der Humanität kann dem Menschen zugesprochen werden, sondern wir wissen zu Genüge von Ausbrüchen einer hasserfüllten Bestialität zwischen Menschen, die keinem Tier zuzuschreiben wären. Es handelt sich mithin um ein kulturell und natürlich bewegliches Verhältnis, bei dem Nähe und Abstand großen Schwankungen unterliegen. Es ist überdies ein dialektisches Verhältnis, indem Fragen des Menschseins, der Humanität, gerade aus dem Umgang mit dem Tier abzulesen sind. „Man begreift einen Philosophen nur, wenn man genau vernimmt und versteht, was er von der Grenze zwischen dem Menschen und dem Tier zu zeigen beabsichtigt, und was zu zeigen er in Wahrheit scheitert“.5 Dieses begrenzt dialektische Verhältnis von Mensch und Tier kommt kulturgeschichtlich dadurch zum Ausdruck, dass schon immer Vorstellungen von Tier4 5 Lichtenberg, Georg Ch., Sudelbücher, F 100, in: Schriften und Briefe, hg. v. Wolfgang Promies, 4 Bde., München, 1968, Bd. I, S. 475. Derrida, Jacques, Das Tier, das ich also bin, dt. von Markus Sedlaczek, Wien, 2006, S. 158. PAPIERTIGER IM BISSIGEN TEXT 19 schutz und Vegetarismus sich gegen den Gedanken der mechanischen Unempfindlichkeit des Tieres behauptet haben. Es sind wohl vor allem fünf unterschiedliche Ansätze, die sich unterschwellig bis in die zeitgenössische Diskussionen herausgeschält haben. Am einfachsten dürfte sich die Position des schlichten Anthropozentrismus beschreiben lassen, der inzwischen mit dem Vorwurf eines rassistischen „Speziesismus“ belegt ist.6 Darunter lässt sich die schon antik belegbare These vom vernunftlosen Instinkt der Tiere fassen,7 die im frühen Christentum fortgeschrieben wurde, wenn Basilius der Große im 4. Jahrhundert die Tierseele materialistisch aus den Elementen erklärt,8 die aber auch für Descartes’ mechanistische Theorie gültig bleibt, wonach – so Pierre Bayle – gerade die theologische Erklärung der menschlichen Unsterblichkeit besonders gut mit Descartes begründet werden konnte.9 Eine demgegenüber rational begründete Verpflichtung des Menschen, dem Tier für geleistete Dienste dankbar zu sein und es vor Quälerei zu schützen, wird von Kant in der Metaphysik der Sitten entwickelt, allerdings weniger als Pflicht gegenüber dem Tier denn als Pflicht, die der Mensch gegenüber sich selbst als Vernunftwesen hat.10 Daran lassen sich wohl diskursethische Überlegungen anschließen, die von einer „moralanalogen Verantwortung“ für die nicht diskursfähigen Tiere spricht. Eine dritte Linie tierethischer Theorie wird mit dem Stichwort des Utilitarismus in Verbindung gebracht, also dem Gedanken, das größtmögliche Glück zu erzielen. Grundlage für eine tierethische Wendung dieser Philosophie ist die mit der Descartes-Kritik einhergehende Frage nach der Empfindungs- und Leidensfähigkeit des Tieres. Der englische Utilitarist Jeremy Bentham stellte in den 1780er Jahren die grundlegende, die Grenze von Mensch und Tier entscheidend belastende Frage: „The question is not, Can they reason? not Can they talk? but Can they suffer?“11 Bentham reagiert damit auf zum Teil grausame Praktiken von Tierversuchen, die sich aus der Mechanismus-Vorstellung Descartes’ ihr gutes Gewissen hatten holen können. In der Folge solcher empathischer Solidarität bildete sich Anfang des 19. Jahrhunderts zuerst in England, dann auch in Deutschland der Tierschutzgedanke aus, der durch Vereinsgründungen und Verbote von Tierquälerei zu einem neuen Bewusstsein führte. Eine entsprechende philosophische Theorie, die als ein viertes Stadium zu fassen wäre, wird mit Schopenhauers Mitleidsethik verknüpft, die 6 7 8 9 10 11 Singer, Peter, „Rassismus und Speziesismus“, in: Texte zur Tierethik, hg. v. Ursula Wolf, Stuttgart, 2008, S. 25-32. Dierauer, Mensch und Tier, S. 70f. Walz, Rainer, „Die Verwandtschaft von Mensch und Tier in der frühneuzeitlichen Wissenschaft“, in: Tiere und Menschen, hg. v. Paul Münch, 1998, S. 295-310, S. 299. Ebd. S. 311. Vgl. Gräfrath, Bernd, Zwischen Sachen und Personen. Über die Entdeckung des Tieres in der Moralphilosophie der Gegenwart, in: Tiere und Menschen, hg. v. P. Münch, 1998, S. 383-405. Hier zit. nach Gräfrath, Zwischen Sachen und Personen, S. 388. 20 MATHIAS MAYER in ihrer antijudaischen Ausrichtung, einer Leugnung biblischer Barmherzigkeitstradition auch problematische Folgen (im Nationalsozialismus) gezeitigt hat. Aber auch die bloße Punktualität und Affekthaftigkeit des Mitleids sowie die Vernachlässigung der Gerechtigkeit sind gegen Schopenhauers allerdings einflussreiches Engagement ins Feld geführt worden.12 Ein fünftes Paradigma tierethischer Diskussion ist dann, als Folge und Steigerung moralischer Empathie, die Forderung nach Tierrechten, als juristische Problematik, die vollends die Tierethik aus einer philosophischen Binnendisziplin herauslöst. Die von der Tierschutzbewegung in Anschlag gebrachte Überzeugung gilt den einen als „ebenso gefährlich wie absurd“,13 während andere von einem Meta-Recht ausgehen, dergestalt „dass Tiere ein sehr grundlegendes Recht haben, ein Recht, das auf einer höheren Stufe steht als jedes besondere Recht, nämlich das Recht, von jeder Person, die moralische Prinzipien hat, als moralisches Objekt behandelt oder berücksichtigt zu werden“.14 Gegenüber solchen vorwiegend nicht mehr polarisierend, aber doch binär, wenn auch mit großer Dynamik argumentierenden Paradigmen kann abschließend noch ein Versuch thematisiert werden, das Verhältnis von Mensch und Tier in einer tertiären Konstellation zu problematisieren. Besonders beeindruckend, so scheint mir, ist in diesem Zusammenhang das Buch Vom Frosch, in dem Bernd Hüppauf 2011 eine Kulturgeschichte zwischen Tierphilosophie und Ökologie entfaltet, die eben nicht mehr von den Oppositionen Natur-Kultur, NaturZivilisation oder männlich-weiblich ausgeht,15 sondern das „Verhältnis zu einem gemeinsamen Dritten, der Natur als Umwelt“ in den Blick rückt.16 Eine hier geforderte „Fundamentalökologie“ umfasst ebenso den „inhärenten Wert der Natur“ wie sie auch die Imagination des Menschen, seine kulturellen Setzungen integriert;17 denn in diesem Naturbegriff sind dann „Tier und Mensch gleichermaßen aufgehoben“,18 so dass der Frosch, der Ökofrosch, gar vom bösen Ekeltier zum „Tier der Sorge“ mutieren kann.19 Damit scheint mir auch der an sich berechtigte Einspruch überwunden, den der Philosoph Ludwig Siep in seinem Buch Konkrete Ethik von 2004 formuliert hatte, indem er sich gegen den „abstrakten Rationalismus“ eines „pathozentrischen Utilitarismus“ wendet, wonach dem Mensch „keinerlei Vorzug seiner Inte- 12 13 14 15 16 17 18 19 Wolf, Ursula, „Einleitung“, in: Texte zur Tierethik, hg. v. U. W., Stuttgart, 2008, S. 9-22, S. 17f. Cohen, Carl, „Warum Tiere keine Rechte haben“, in: Texte zur Tierethik, hg. v. Ursula Wolf, Stuttgart. 2008, S. 51-55, S. 53. Rollin, Bernhard E. „Moraltheorie und Tiere“, in: Texte zur Tierethik, hg. v. Ursula Wolf, Stuttgart, 2008, S. 40-50, S. 48. Hüppauf, Bernd, Vom Frosch. Tierphilosophie und Ökologie, Bielefeld, 2011, S. 23. Ebd., S. 59f. Ebd., S. 309. Ebd., S. 314. Ebd., S. 326. PAPIERTIGER IM BISSIGEN TEXT 21 ressen gegenüber gleich schmerzempfindlichen Wesen zuzugestehen“ sei.20 Siep möchte dem am Ende der scala naturae stehenden Menschen einen privilegierten, aber auch verantwortlichen Platz zusprechen. Sehr wohl, so Siep, folge aus der „Vorstellung eines guten Gesamtzustandes, eines temporären ‚Kosmos‘“ keineswegs die „völlige Gleichwertigkeit von allem, was existiert und gedeihen kann“.21 Was hat das alles mit der Literatur zu tun? Stellt sie nur das ästhetische Echo tierethischer Aspekte dar, die wir bislang weniger anschaulich vorgeführt haben? Zunächst einmal: aus dem Panorama tierethischer Positionen kann man sehen, dass eine Neuvermessung des Mensch-Tier-Verhältnisses möglich wird, wenn man eine dritte Größe noch dazu nimmt. Dabei zeigt sich, so meine These, eine besondere Chance des Literarischen: Nicht allein die Fundamentalökologie bietet eine notwendige oder fruchtbare Dehnung des Mensch-Tier-Verhältnisses, sondern unter allen Künsten ist es die Literatur, die dem Tier (im Text) ein besonderes Asyl gewährt hat und einen eigenständigen Blick auf das Verhältnis von Mensch und Tier zu werfen erlaubt. II Unter den Erscheinungsformen der Kunst ist es besonders die Literatur, die den bodenlosen oder animalischen Blick erlaubt, von dem Derrida spricht:22 jenen Blick, der „mir die abgründigen Grenzen des Menschlichen zu sehen“ erlaubt, „das Unmenschliche oder das Anhumane, die Enden des Menschen, das heißt das Überschreiten der Grenzen, von dem her sich der Mensch selbst anzukündigen wagt“. Zwar kennt die prähistorische Malerei sowohl die berühmten Tierdarstellungen wie auch diejenigen von Mischwesen, z. B. die Guennol-Löwin,23 aber die Kunst stößt nur in Ausnahmeerscheinungen noch zum Tierbild vor, etwa bei Franz Marc oder bei Marc Chagall. Außerhalb der Mythologie spielen indes Mischwesen kaum eine Rolle. Das Tier übernimmt vorwiegend, etwa im Porträt des Adels, eine symbolische oder repräsentative Funktion. Die Literatur aber weist von Anfang an und bis heute eine Fülle von MenschTier-Begegnungen auf, die sich in unterschiedlichen kulturellen oder ideologischen Umständen vom griechischen Froschmäusekrieg bis zu Huxleys Animal Farm erstreckt und ganz eigenständige Formen und Gattungen hervorgebracht hat. Nicht nur der Mythos mit seiner für die Kunst einflussreichen Reichhaltigkeit an Verwandlungsmythen, die schon in Ovids Metamorphosen eine zentrale Rolle spielen, sondern die Tiergeschichte selbst, das Märchen sodann und nicht zuletzt die Fabel: sie alle legen auf jeweils ihre Weise Zeugnis ab von der Begeh20 21 22 23 Siep, Ludwig, Konkrete Ethik. Grundlagen der Natur- und Kulturethik, Frankfurt am Main, 2004, S. 302. Ebd., S. 303. Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 32. Hüppauf, Vom Frosch, S. 37. 22 MATHIAS MAYER barkeit der Grenze zwischen Mensch und Tier, von der in der Fiktion leichter zu erhellenden Durchlässigkeit zwischen vermeintlicher Vernunft einerseits und angeblicher Unvernunft andererseits, von Sprachfähigkeit hier und Sprachlosigkeit dort, vom Esel als Tier und dem gar nicht so seltenen Esel als Mensch. Gerade ein Genre wie die Fabel, für das es in den anderen Künsten kein Beispiel gibt, testet diese vermeintliche Grenzziehung immer aus und arbeitet dabei mit dem Prinzip spiegelverkehrter Lernprozesse. Das Märchen oder die Tiergeschichte, außerhalb unmittelbarer Didaktisierungsstrategien, heben die Grenze von Sprachlosigkeit und Unvernunft auf, sodass man sagen kann: Die Literatur spielt im Umgang des Menschen mit dem Tier, in diesem heiklen Versuch einer Selbstdefinition durch Abgrenzung, eine Schlüsselrolle. Die Literatur ist somit nicht nur ein Ort unter anderen, an denen dieses Verhältnis dargestellt oder illustriert wird. Sie ist im Anspruch der Reflexion dieser Grenze privilegiert, – d. h. das Tier im Text ist etwas anderes, ist mehr als das Tier im Bild, in der Musik, im Film. „Der Mensch muß sich, um menschlich zu sein, als Nicht-Mensch erkennen“, heißt es in Giorgio Agambens Philosophie über Das Offene. Der Mensch und das Tier.24 In diesem Zusammenhang von Erkenntnis und TierMensch-Verhältnis besetzt die Literatur fraglos eine entscheidende Position, die man als Entfaltung diverser Stadien beschreiben kann: Ich möchte daher die These von der grundsätzlichen Bedeutung der Literatur als privilegiertem Reflexionsort der Mensch-Tier-Grenze in drei Aspekte zerlegen, die ich nach und nach charakterisieren werde. Ich nenne sie die Stadien des Magischen, des Moralischen und des Ethischen. Diese drei Aspekte, die sich keineswegs ausschließen, aber die ich als drei idealisierte Ausgestaltungen in drei sich steigernden Lesarten vorschlagen möchte, bilden zunächst eine historische Entwicklung ab. Was hier als das magische Verhältnis der Mensch-Tier-Beziehung bezeichnet werden soll, wäre von einer Figur der unproblematischen Austauschbarkeit, der Grenzüberschreitung geprägt, wie wir sie im Mythos und im Märchen vielfach beobachten können. Eine animistische Nähe zwischen Mensch und Tier, die aufgrund der naiven Lebenserfahrung auch die Momente des Bedrohlichen umfasst, kommt in Rotkäppchens Gespräch mit dem Wolf ebenso zum Ausdruck wie in der Szene zwischen der jüngsten Königstochter und dem Frosch, der noch nicht als feiner Prinz zu erkennen ist. Berücksichtigt man die Wechselseitigkeit der Transformationsgeschichten, die Menschen zu Tieren, Tiere zu Menschen werden lassen, von ihren mythischen und kosmologischen Konstellationen her, dann zeigt sich die Metamorphose als Muster einer Lebenskette, die die unterschiedlichen Stadien der Lebewesen gerade nicht nur als Geschichte eines Aufstiegs, als Bildungsroman der Menschwerdung erzählt. Hybridbildungen wie Vampire oder Werwölfe spiegeln eine tabuisierte Schattenseite des Menschen. Gottfried Benns Gedichtzeile von 1917 „Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch“, 24 Agamben, Giorgio, Das Offene. Der Mensch und das Tier, aus dem Italienischen von Davide Giuriato, Frankfurt am Main, 2003, S. 38. PAPIERTIGER IM BISSIGEN TEXT 23 zeigt eine zynische Umkehr metaphysisch verankerter Privilegien.25 Auf diese Art wird deutlich, dass das Tier im Stadium magisch-animistischer Austauschbarkeit nicht nur als idyllisches Vorbild menschlicher Unvollkommenheit gelten kann: etwa, wenn der Staat der Bienen oder Ameisen, der Verstand der Elefanten oder die Architektur der Biber gerühmt werden.26 Aber neben diese idyllische Verklärung tritt eine satirische Entlarvung, bei der das Vorbild des Tieres in ein negatives Abziehbild des Menschen gespiegelt wird, – besonders anschaulich bei Plutarch, der das Schwein Gryllos dem Odysseus eine Abfuhr erteilen lässt. Günter Eichs bitteres Hörspielfragment Gespräch der Schweine bietet dazu einen modernen Anschluss.27 Insofern könnte man dieses magische Stadium der Mensch-Tier-Beziehungen unter Zugrundelegung von Schillers literarischen Grundrechenarten als idyllisch bzw. satirisch bezeichnen: dass die elegische Facette fehlt, spricht für die lange Zeit fraglose Stabilität solcher Austauschprozesse, die durch Descartes materialistische Polarisierung aufgebrochen wurden. III Eine gewaltsame Zäsur der lange bestehenden Austauschprozesse und Grenzüberschreitungen stellt Descartes’ radikale Leugnung der Tierseele dar. Seine materialistische Reduktion des Tieres28 hat eine doppelte Wirkung gezeitigt: Zum einen war sie, sicherlich ungewollt, christlich kompatibel, da sie die Unsterblichkeit des Menschen begründen half, zum andern schuf sie ein gutes Gewissen für die wissenschaftlich gefühllose Behandlung der Tiere in den Experimenten vor allem des 18. Jahrhunderts, die Bernd Hüppauf in seinem Buch Vom Frosch geradezu von einem „Blutbad“ sprechen ließ.29 Albrecht von Hallers rationalistische Einwände gegen Tierversuche (von 1752),30 Knigges Verdächtigung, Grausamkeit gegen Tiere begünstige Grausamkeit gegen Menschen (von 1788),31 und Kants pflichtethische Argumentation der Dankbarkeit (von 1797) haben nicht diejenige Wirkung entfaltet, die Jeremy Benthams Frage „Can they suffer?“ in den 1780er Jahren auslöste. Der aus England nach Deutschland importierte Tierschutzgedanke, der sich 1837 in Stuttgart mit der Gründung des ersten Tierschutzvereins manifestierte, hatte dabei moraltheologische Grundlagen, die im protestantischen 25 26 27 28 29 30 31 Benn, Gottfried, „Der Arzt“, in: G. B, Sämtliche Werke, hg. v. Gerhard Schuster in Verbindung mit Ilse Benn, Bd. 1, Stuttgart, 1986, S. 14. Münch, Paul, „Die Differenz zwischen Mensch und Tier. Ein Grundlagenproblem frühneuzeitlicher Anthropologie und Zoologie“, in: Tiere und Menschen, hg. v. P. M., Paderborn, 1. Aufl. 1998, S. 323-347, hier S. 324. Herrn Tobias Krüger danke ich für den Hinweis. Eine Theorie, die schon bei Basilius dem Großen, ca. 330-379, zu beobachten war, der das Tier aus den Elementen erklärt hatte: Vgl. Walz, Rainer, Die Verwandtschaft von Mensch und Tier, S. 299. Hüppauf, Vom Frosch, S. 231. Ebd., S. 248. Münch, Die Differenz zwischen Mensch und Tier, S. 339. 24 MATHIAS MAYER Württemberg eng mit dem literarischen Feld verknüpft waren. Albert Knapp, der als Pfarrer den Gründungsaufruf zur Tierschutzbewegung hatte drucken lassen, brachte 1847 das Buch Das ängstliche Harren der Kreatur heraus und war sowohl mit Friedrich Theodor Vischer bekannt wie auch mit Eduard Mörike. Mörikes Märchen Der Bauer und sein Sohn von 1838 kann – mit David Friedrich Strauß – als ein „Mährchen gegen Thierquälerei“ beschrieben werden.32 Lässt sich in der Mitte des 19. Jahrhundert vor dem Hintergrund Benthams und der Mitleidsethik Schopenhauers von einem verbreiteten auch literarischen Engagement für die Tiere sprechen, von einer Tiermoral, die Missstände aufdeckt und für Verständnis wirbt, so steigert sich die Empathie mit dem Tier bis zur menschlichen Selbstanklage, vorwiegend in der Behandlung eines Tieres der Nähe, das den Anspruch an die Verständigung, die Verstehbarkeit des Tieres besonders stellt. Gerhard Neumann hat den Hund geradezu zum „Beglaubigungsmuster menschlicher Identität“ ausgerufen33 und sich dabei auf den Hund Argos aus der Odyssee, auf Platon, Cervantes und Hoffmann bezogen. Diese „Authentizität der Nähe“34 erweist sich aber unter tiermoralischer Sicht als eine Hypothek, die die begrenzte Wahrnehmung des Menschen anklagt. Der Hund ist nur vermeintlich das Tier der Nähe, – die Geschichten Marie von Ebner-Eschenbachs, Krambambuli, oder Thomas Manns, von der brutalen Tötung des geliebten Hundes durch den von schwachem Selbstbewusstsein geprägten Tobias Mindernickel, der zum „Hundemörder“ wird,35 sind Zeugnisse einer Unmenschlichkeit, die aus dem verfehlten Umgang mit dem Tier und als Spiegelung Schopenhauerscher Empathie evident wird. Wohl sehr viel radikaler hat dieses Szenarium Adalbert Stifter in seiner Geschichte des unglücklichen Juden Abdias gestaltet, der seine nordafrikanische Heimat, seine Frau und seine Tochter, am Ende auch den Verstand verliert. Darin findet sich die folgende Episode, die von einer aufklärerischen Fabel inspiriert ist: Mit diesem Hunde hatte Abdias ein Unglück, als wenn es mit dem Manne immer hätte so sein müssen, daß sich die Dinge zu den seltensten Widrigkeiten verketten. Es war zu einer Zeit, da sich eben in vielen Teilen der Gegend Fälle von Hundswut ergeben hatten, daß Abdias eine Reise nach Hause machte, und zwar auf einem Maultiere reitend und wie gewöhnlich von Asu begleitet. In einem Walde, der nur mehr einige Meilen von seinem Hause entfernt war und der Länge nach gegen jenen Föhrenwald mündete, von dem wir oben gesprochen haben, merkte er an dem Tiere eine besondere Unruhe, die sich ihm aufdrang, weil er sonst nicht viel hinge32 33 34 35 David Friedrich Strauß an Ernst Friedrich Kauffmann, 2. Dezember 1838, in: Mörike, Eduard, Werke und Briefe, hg. v. Hubert Arbogast, Hans-Henrik Krummacher, H. Meyer, B. Zeller, Bd. 6: Erzählungen, Teil 2: Lesarten und Erläuterungen, hg. v. Mathias Mayer, Stuttgart, 2008, S. 79. Neumann, Gerhard, „Der Blick des Anderen. Zum Motiv des Hundes und des Affen in der Literatur“, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 40, 1996, S. 87-122, hier S. 102. Ebd., S. 109. Herrn Julian Werlitz danke ich für den Hinweis. PAPIERTIGER IM BISSIGEN TEXT 25 schaut hatte. Der Hund gab unwillige Töne, er lief dem Maultiere vor, bäumte sich, und wenn Abdias hielt, so kehrte er plötzlich um und schoß des Weges fort, woher sie gekommen waren. Ritt Abdias nun wieder weiter, so kam das Tier in einigen Sekunden wieder neuerdings vorwärts und trieb das alte Spiel. Dabei glänzten seine Augen so widerwärtig, wie Abdias es nie gesehen hatte, so daß ihm ängstliche Besorgnisse aufzusteigen begannen. Über eine Weile kamen sie zu einem kleinen, flachen Wässerlein, durch welches man hindurchreiten mußte. Hier wollte der Hund nun gar nicht hinein. An seinen Lippen zeigte sich ein leichter Schaum, er stellte sich vor, und mit heiserem Schluchzen schnappte er nach den Füßen des Maultieres, da es dieselben ins Wasser setzen wollte. Abdias nahm eine seiner berberischen Pistolen aus dem Halfter, hielt das Maultier einen Augenblick zurück und drückte das Gewehr gegen den Hund ab. Er sah durch den Rauch, wie das Tier taumelte und blutete. Dann ritt er in der Verwirrung durch das Wasser und jenseits weiter. Nachdem er eine halbe Stunde Weges zurückgelegt hatte, bemerkte er plötzlich, daß er einen Gürtel mit Silbermünze, den er zu diesem Zwecke immer umhatte, nicht mehr habe – und er erkannte den ungeheuren Irrtum in Hinsicht des Hundes. Er hatte den Gürtel an einer Waldstelle, an welcher er sich eine Weile aufgehalten hatte, hingelegt und sah nun, daß er ihn dort vergessen habe. Sogleich jagte er zurück. In Schnelligkeit war das Wässerlein erreicht, aber Asu war nicht dort, er lag nicht an der Stelle, auf welcher er erschossen worden war, sondern es zeigten sich nur Blutspuren da. Abdias jagte weiter zurück, und auf dem Wege sah er überall Blut. Endlich kam er an die Waldstelle, er fand dort den Gürtel – und den sterbenden Hund vor demselben liegend. Das Tier machte vor Freuden unbeholfene Versuche zu wedeln und richtete das gläserne Auge auf Abdias. Da dieser auf den Hund niederstürzte, ihm Liebkosungen sagte und die Wunde untersuchte, wollte das Tier mit matter Zunge seine Hand lecken – aber es war nicht mehr möglich, und nach einigen Augenblicken war es tot. Abdias sprang nun auf und wollte sich die weißen Haare ausraufen – er heulte – er stieß ungeheure Verwünschungen aus – er lief gegen das Maultier hin und riß die zweite Pistole aus dem Halfter und krampfte seine Finger darum. Nach einer Weile warf er sie in das Gras des Waldes. Den Gürtel nahm er zehnmal auf, warf ihn zehnmal hin und stampfte ihn mit den Füßen. Endlich, als schon beinahe die Nacht hereingebrochen war, da er doch den Hund kaum in der Hälfte des Nachmittages erschossen hatte, nahm er den Gürtel mit Dithas Gelde wieder auf und band ihn um. Er suchte die hingeworfene Pistole in dem Grase und steckte sie in das Halfter. Dann bestieg er das Maultier und schlug wieder den Weg nach Hause ein. Da schon das Morgengrauen auf das öde Tal nieder schien, kam er an seinem Hause an, alle Kleider mit dem Blute des ermordeten Tieres besudelt; denn er hatte es beinahe in seinen Schoß gelegt, als er die Wunde untersuchte. Er hatte wohl wenig Glauben an die Rettung gehabt, da er wußte, wie gut er in der Wüste schießen gelernt hatte. Den Tag, als er angekommen war, gönnte er sich Ruhe, am andern aber mietete er sich zwei Männer, reisete mit ihnen zu der Waldesstelle, und sie mußten den Hund vor seinen Augen in die Erde verscharren.36 Hier ist das Tier, das eine Einsicht dem blindwütigen Menschen nicht verständlich machen kann, die moralisch überlegene Instanz, Abdias’ Verzweiflung über sein unsinniges Verhalten bringt ihn an den Rand des Freitods. Die in dieser Er36 Stifter, Adalbert, „Abdias“, in: Gesammelte Werke, 14 Bde., hg. v. Konrad Steffen, Basel und Stuttgart, 1972, Bd. 2, S. 320-323