Veröffentlichungen des Instituts für Neue M usik und M usikerziehung Darm stadt Band 2 4 Me heut« Neun Beiträge. Herausgegeben von Carl'Dahlhaus Mainz •London - New York •Tokyo B estell-N r. ED 7188 © B. S ch o tt's Söhn e, M ainz, 1983 U m schlag g estaltu ng : G ü n th er Stiller, Taun usstein Printed in G erm any ■B S S 45413 IS B N 3-7957-1764-7 IS S N 0418-3827 INHALTSÜBERSICHT Vorbemerkung Reinhold Brinkmann Einleitung am Rande 9 Carl Dahlhaus Zum Spätwerk Arnold Schönbergs 19 Christian Martin Schmidt Schönbergs Streichtrio opus 45 33 Rudolf Stephan Alban Berg 45 Giselher Schubert Zur Rezeption der Musik Anton von Weberns 63 Hermann Danuser Hanns Eisler - Zur wechselhaften Wirkungsgeschichte engagierter Musik 87 Friedrich Hommel Aus der Frühzeit der Kranichsteiner Ferienkurse Fragestellungen, Überlegungen, Folgerungen zur Situation der Neuen Musik. Ein Exkurs lo5 Hans-Christian Schmidt Der Widerspenstigen Zähmung: Vom zweiten Dasein der Wiener Schule in der Schule 116 Werner Klüppelholz Kontrapunkt und Konfusion. Über das Schreiben und Hören von Musik im 2o. Jahrhundert 138 VORBEMERKUNG Die Wahl des Kongreßthemas der 37. Hauptarbeitstagung (8 . bis 13. April 1983) des Darmstädter Instituts für Neue Musik und Musikerziehung, "Die Wiener Schule heute", ging von der Beobachtung aus, daß die Wirkungs- oder Re­ zeptionsgeschichte der Komponisten, die man zur "Wiener Schule" zählt - gleichgültig, wie weit oder eng man den Begriff faßt -, extrem verschieden ist. Gehört das Oeuvre Alban Bergs längst dem festen Konzert- und Opernrepertoire an, so ist Anton von Webern, das durch Mißverständnis ein­ flußreiche Vorbild der seriellen Komponisten in den 195oer Jahren, inzwischen fast vergessen; Arnold Schönberg ist im allgemeinen Bewußtsein nur durch tonale und einige der frühen atonalen Werke präsent, während die dodekaphonen Stücke eher einen Gegenstand der Analyse als der leben­ digen musikalischen Erfahrung bilden und das Spätwerk noch weitgehend unentdeckt blieb; und Hanns Eisler ist in einen Streit der Ideologien hineingezogen worden, in dem seine fragmentarischen Theoreme manchmal wesentlicher erscheinen als seine Kompositionen. Der Herausgeber dankt den Referenten für ihre Mitarbeit, Frau Christine Werner (Darmstadt) für organisatorische Hilfe und dem Verlag B. Schott's Söhne für die Sorgfalt der Drucklegung. Darmstadt/ im Juni 1983 Carl Dahlhaus 7 Reinhold Brinkmann EINLEITUNG AM RANDE Eine grundlegende Einleitung im anspruchsvollen Wortsinn, eine "Vorrede" also, in der zentrale Ideen vorab vorge­ stellt, Voraussetzungen diskutiert, Ergebnisse vorbereitet werden - eine solche Einleitung als fundamentum formuliert man notwendigerweise nach den Hauptkapiteln eines Buches, zumindest jedoch, nachdem deren Inhalt feststeht und skiz­ ziert ist. Von einer analogen Situation kann heute, am Beginn eines Kongresses mit einer breiten Palette von Re­ feraten, Seminaren und Kolloquien, keine Rede sein. Und so darf ich mir die Freiheit nehmen, einige eher subjek­ tive Anmerkungen zum Generalthema zu machen, es am Rande umkreisend und abklopfend, ohne große Rücksicht auf die folgenden Referate. Dabei hege ich keine wie immer gear­ tete kritische oder polemische Absicht und meine auch nicht, "Chaos in die Ordnung" bringen zu sollen oder zu können - das war nach dem bedenkenswerten programmatischen Satz eines prominenten Mitglieds der sogenannten Wiener Schule die "Aufgabe von Kunst" am Beginn der fünfziger Jahre. Wohl aber möchte ich einige wenige Punkte berühren, die vielleicht übersehen werden könnten, wenn man sich allein positiv auf das Zentrum des Generalthemas konzen­ triert . 1. In diesem Zentrum stehen, das ist keine Frage, die drei Namen, denen die ersten Referate dieses Kongresses gelten werden. Schönberg selbst hat das ausgesprochen: "Laßt uns - für den Augenblick wenigstens - alles ver­ gessen, was uns je hätte trennen können; so bleibt doch für die Zukunft erhalten, was erst posthum zu wirken beginnen könnte: man wird uns drei - Berg, Webern, Schönberg - zusammen nehmen müssen, wie eine Einheit, weil wir mit Intensität und opferbereiter Ergebenheit an einmal erschaute Ideale geglaubt haben und niemals von ihnen gelassen hätten, auch wenn es gelungen wäre, uns irre zu machen". Diese von Schönberg benannte Einheit des Denkens und Glau­ bens in Sachen Kunst ist unzweifelhaft, sie wurde in Wis­ senschaft wie Publizistik vielfach dargestellt. Und sie auch rechtfertigt den Begriff einer "Wiener Schule" der neuen Musik (der schon früh angewandt wurde, vgl. Egon Wellesz, Schoenberg et la jeune ecole viennoise, in: Revue musicale mensuelle SIM VIII, 1912). Trotzdem möchte ich gleich zu Beginn des Kongresses davor warnen, diese Einheit über Gebühr zu betonen, zu überschätzen. Und dies bereits 9 im ästhetisch-kompositorischen Bereich. Gerade die Ent­ faltung der Werke der drei Komponisten in der Geschichte, vermittelt vor allem auch durch die kompositorische Re­ zeption, hat in Wissenschaft wie Praxis die Ohren für Differenzierungen geschärft. Heute verblaßt der Schulzusammenhang vor den Individualitäten. Mein erstes Plädoyer also gilt der entschiedenen Zeichnung spezifischer künst­ lerischer Physiognomien und ihrer geschichtlichen Wirkung. Aber dann, und dies wird stets unterschätzt: Differenzie­ rung auch außerhalb der Werke. Bezeichnend an Schönbergs zitiertem Text ist sein beschwörender Ton ("Laßt uns für den Augenblick wenigstens - alles vergessen, was uns hätte trennen können ...") . Und Trennendes gab es in der Tat, vor allem zwischen Schönberg und Webern, insbeson­ dere in den späteren Jahren. Damit meine ich weniger jene Brüche der Freundschaft durch das stets latente wechsel­ seitige Konkurrenzdenken, das Beharren auf Prioritätsan­ sprüchen im kompositorischen Bereich (das wird manifest werden, sobald endlich der zweite Band der SchönbergSchriften und die Briefwechsel ediert sein werden), son­ dern die in meinen Augen letztlich doch fundamentale Dif­ ferenz im Verhältnis beider zur Realität. Als Zeitgenossen, als politische Menschen und damit für uns heute als Zeugen ihrer geschichtlichen Situation sind Schönberg und Webern nicht auf einen Nenner zu bringen. Merkwürdig verquer und widersprüchlich scheint ihr Verhalten: der aristokratisch­ monarchisch denkende, deutschnationale Konservative (Schönberg) wird ein hellsichtig früher und kompromiß­ loser Gegner des Nationalsozialismus - der in der austrosozialistischen Arbeitermusikbewegung Aktive (Webern) da­ gegen, der engste Vertraute seiner geschundenen oder emi­ grierten jüdischen Freunde und selbst Verfemte, kommt in Briefen der frühen Kriegsjahre zu jener unfaßbaren Bewun­ derung Adolf Hitlers: "Und es wäre noch Einiges zu nennen, das auf ein Fort­ schreiten in der inneren Reinigung absolut hinweist. Das ist heute Deutschlandl Aber eben das n a t i o ­ n a l s o z i a l i s t i s c h e !!! Nicht irgend­ eines ! Das ist eben der n e u e S t a a t , zu dem die Saat vor nun mehr als 2o Jahren gelegt worden ist. Ja ein n e u e r S t a a t i s t e s , wie er noch niemals bestanden hat. E i n N e u e s i s t es! Geschaffen von diesem einzigen Manne!!! Sehn Sie, Sie spüren meine Sorge: man könnte es als selbstverständ­ lich (schließlich) nehmen, was so e i n m a l i g entstand, was eben nur d i e s e r N a t u r ent­ springen konnte, diesen E i n m a l i g e n zum Urhe­ ber hat..."(H.u.R.Moldenhauer, Anton von Webern, Zürich 198o, S .479f.). lo Das Vokabular Weberns kennen wir: es ist jene Emphase (hier durch ein neues George-Erlebnis verstärkt, vgl. den Brief vom 21.12.194o) des "Neuen", das in seinen Vorträgen über den Weg der neuen Musik als Signum der geschichtlichen Leistung der Wiener Schule gilt. Den Innovationsgedanken, verbunden mit der Vorstellung der schöpferisch-genialen Natur, auf den großen Moralisten Schönberg ebenso angewendet zu sehen wie auf den Unmen­ schen Hitler - das ist für mich (und dies darf ich hier sehr persönlich sagen) eine der schmerzlichsten und an­ dauernden Irritationen der letzten Jahre. Sie tangiert für mich das Bild Weberns insgesamt. Trotz aller verste­ henden Einsicht in die schwierige Lage Weberns, seine furchtbare Isolation, seine zusammengedrängte, gedemütigte Existenz in den späten dreißiger und frühen vier­ ziger Jahren - hier gibt es wohl keine Brücke, keine Ein­ heit der Ideale und des unbeirrbaren Glaubens. Ich meine: auch das gehört zum Problem der Wiener Schule heute. 2. Auf die Rezeption der Webernschen Musik hat dies si­ cher keinen Einfluß gehabt. Ob späte Esoterik und man­ gelnder Realitätssinn korrelativ sind, wäre überdies erst noch zu erweisen. Dennoch: auch unter dem Rezeptions aspekt bietet das Werk Weberns heute die größten Probleme (Das gilt auch für den wissenschaftlichen Zugriff auf das Oeuvre. Während ein Schönberg-Archiv etabliert ist, eine wissenschaftliche Gesamtausgabe erscheint, während der Berg-Nachlaß zugänglich wird, eine Gesamtausgabe in Pla­ nung ist, sind die Materialien zu Webern, sind zentrale Manuskripte und Dokumente - trotz öffentlichem Verspre­ chen vor einem Jahrzehnt - immer noch durch private Ver­ fügung unzugänglich.) Berg und auch Schönberg sind im Musikleben generell durch gesetzt, so weit, wie man es auch bei optimistischer Ein­ schätzung angesichts einer hochkomplizierten atonalen Faktur der Musik innerhalb der tonalen Konkurrenz des historisch orientierten Konzertbetriebs kaum je hat glau­ ben können. Weberns Wirkung dagegen ist, wie Christian Martin Schmidt im Kongreßprogramm richtig bemerkt, ver­ blaßt. Das mag unter anderem gattungsgebundene Prämissen haben. Es sind bei Berg wie Schönberg die großdimensio­ nierten Werke, Opera mit symphonischem Anspruch, die an der Spitze der Gunst stehen: das Violinkonzert, "Wozzeck" und "Lulu" - nicht die Lyrische Suite oder das Kammer­ konzert; "Moses und Aron" - nicht das 3. Streichquartett oder das Streichtrio. Werke solchen Ausmaßes, solchen Tons, hat Webern bekanntlich nicht komponiert, und gewiß hat auch der am großen Orchesterklang orientierte Publi­ kumsgeschmack hier selektierend mitgewirkt. Doch kann das 11 nicht primär sein. Denn auch unter den Komponisten, den Experten also, hat sich offenbar eine neue Bewertung der Wiener Trias ergeben - ebenfalls zu Ungunsten Weberns. 1955 hatte Ernst Krenek über Webern emphatisch geschrie­ ben: der "Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden"; das war das Credo der Darm­ städter Schule: Weberns Werk als historische Legitimation der neuen seriellen Technik, des Denkens in Strukturen von Klang und Stille (Boulez 1954: "Dieses Werk ist d i e Schwelle geworden... eine erregende Gefahr..."). In den siebziger Jahren dagegen formuliert Hans Werner Henze ein neues Paradigma: nicht Webern sei der bedeu­ tendste Komponist des 2o. Jahrhunderts, sondern - Gustav Mahler. Die Abkehr von der Systematik eines primär struk­ turell begründeten Denkens in Tönen, die ein solcher Pa­ radigmenwechsel bekundet, die Hinwendung zu einer nun betont emotionell artikulierten Expressivität des Klanges (mitsamt den kompositionstechnischen Implikationen dieser neuen Traditionsvergewisserung) an der gegenwärtigen Re­ zeption der "Wiener Schule" im kompositorischen Bereich sichtbar za machen - das könnte eine aktuelle Aufgabe dieses Kongresses sein. Aus einem scheinbar akademischen Tagungsthema erwüchsen Aspekte einer Gegenwartsdiagnose. Daß unter diesem Gesichtspunkt Anton Webern der interes­ santeste Komponist wäre, ist offenkundig. Einen parallelen aufschließenden Aspekt dieser prinzi­ piellen Wandlung der kompositorischen Szene: die verän­ derte Einschätzung eines Rekurses auf ästhetische Theorie, werde ich in anderem Zusammenhang noch streifen. Zunächst jedoch sei hilfsweise eine Zwischenbetrachtung einge­ schaltet . 3. Wir reden von einer Zweiten Wiener Schule. Es ist viel­ leicht nicht unnütz, auf das Mißverständnis in dem Bezug der Zählung hinzuweisen. Denn: Wiener Schule erster Zäh­ lung, das war zunächst eine Erfindung Wiener Musikwissen­ schaftler, um die Wiener Provenienz der Wiener Klassik entgegen der Setzung einer Mannheimer Schule der Vorklassik durch Hugo Riemann zu behaupten. "Gründlichkeit ohne Pedanterey, Anmuth im Ganzen, noch mehr in einzelnen Theilen, immer lachendes Colorit, großes Verständnis der blasenden Instrumente,vielleicht etwas zu viel komisches Salz, sind der Charakter der Wienerschule", schrieb bereits Christian Friedrich Daniel Schubart am Ende des 18. Jahrhunderts in seinen "Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst"(S.77). Und zu dieser "Wiener Schule" der Vorklassik zählten in der Schule des Wiener Musikwissenschaftlers Guido Adler (zu der am Beginn unseres Jahrhunderts auch Anton Webern, Karl Horwitz, Heinrich Jalowetz und andere Mitglieder der 12 Zweiten Wiener Schule gehörten) die Monn, Wagenseil, Muffat, Starzer - lokale Größen Wiens zur Zeit Maria Theresias. Die Zählung einer Zweiten Wiener Schule aber bezieht sich natürlich nicht auf diese Vorklassiker, sondern auf die Trias der Haydn, Mozart, Beethoven (und dies auch nach dem Selbstverständnis der Schönberg-Generation), auf die dann der Schulbegriff in Bezug auf Wien übertragen worden war. Auf dem Hintergrund dieser Begriffsverwirrung also reden wir von einer Zweiten Wiener Schule. Aber wer gehört ei­ gentlich dazu? Alle Schüler Schönbergs von Webern bis zu John Cage und deren Schüler ebenfalls? Oder definiert sich der SchulZusammenhang durch eine geistige und kom­ positorische Haltung? Schönberg, Berg, Webern und Eisler bedenkt der Kongreß - neben dem Schulhaupt also drei sei­ ner Schüler. Wellesz, Leibowitz, Apostel, Jemnitz, Pisk werden im Eröffnungskonzert in den SchulZusammenhang ge­ stellt: ein Kontrapunkt-Schüler und Biograph Schönbergs aus dem Wien des Jahrhundertbeginns; ein Schönberg- und Webern-Schüler aus dem Berlin der frühen dreißiger Jahre; ein Schönberg- und vor allem Berg-Schüler im Wien der zwanziger Jahre; ein Schüler von Reger und Straube, der auch nach Studien bei Schönberg im Berlin des zweiten Jahrzehnts weiter im Regerschen Idiom komponierte; ein Schüler Schrekers und Schönbergs aus dem Wien wieder des Jahrhundertbeginns. Und nicht ganz ohne Ironie hat ein aufmerksamer Zuhörer dieses Eröffnungskonzerts bemerkt, er habe selten in einem Konzertprogramm eine derart mas­ sierte kompositorische Hindemith-Nachfolge (und dazu noch keineswegs eine gute) erlebt... Wie sah es Schönberg selbst? In einem Text vom Oktober 1932 hat er neben den in obiger Notiz genannten einige weitere Namen aufgeführt: "Meine Gegner. Ich habe immer wieder die Frage geprüft, ob ich so an­ gegriffen werde, weil ich zu wenig Talent habe, zu wenig kann, nicht recht genug arbeite oder auf einem Irrweg bin. Nun aber halte ich folgende Tatsachen gegeneinander: I. a) Nationalen Musikern gelte ich als i n t e r ­ n a t i o n a l , b) Im Ausland aber gilt meine Musik als zu d e u t s c h . II. a) Nationalisten gelte ich als K u l t u r b o l s c h e w i k . b) Die Kommunisten aber lehnen mich als b ü r g e r l i c h ab. III.a) Antisemiten perhorreszieren mich als Juden, meine Richtung als jüdisch. 13 b) Aber in meine Richtung sind mir fast keine Juden gefolgt. Dagegen sind vielleicht die einzigen, die in der von mir angegebenen Rich­ tung weiterschreiten, die Arier: Norbert von Hannenheim, Anton von Webern, Alban Berg, Winfried Zillig, Nikos Skalkottas. Und die Komponisten, die (außer meinen Schülern) mir am nächsten stehen, sind die Arier: Bartok, Hauer, Krenek und Hindemith..." Ganz andere Namen also; Eisler nicht erwähnt, Zemlinsky, Schreker nicht (wenngleich zugegebenermaßen der Anlaß die Auswahl bestimmt haben dürfte). Und zu Wellesz stand der spätere Schönberg sehr distanziert, um es milde aus­ zudrücken. 1944 notiert er: "He still calls himself a pupil of mine - or at least never protested against being called one - though he never should have pretended it. The truth is that he studied during 1 (one single) year together with another young musician - Rudolf Weirich - counterpoint, elementary counterpoint and nothing eise. He worked very little and extremely poorly, while Weirich was brilliant..." Scheint es nicht vernünftig zu sein, den Begriff ein­ engend zu gebrauchen und nur die Situation im Wien des Jahrhundertbeginns und den engsten Schülerkreis einzu­ begreifen? Müßte man nicht sonst auch die amerikanischen Schüler einbeziehen? Warum dann zum Beispiel nicht Leon Kirchner, der heute an Harvard lehrt und in dessen Wer­ ken, die hierzulande kaum bekannt sind (Hans Rosbaud führte einmal sein Erstes Klavierkonzert auf), und Un­ terricht sich eine lebendige und eigenständige SchönbergTradition erhalten hat? Oder Earl Kim, ebenfalls SchönbergSchüler und an der gleichen Institution tätig, der stark zu Weberns strukturellem Komponieren neigt? Eines ist sicher: es hat sich um Schönberg vieles getan, was nicht mehr auf Wien beziehbar ist und in dem Begriff einer Wiener Schule nicht mehr aufgeht. Ich meine sogar, dies gelte auch für Schönberg selbst. Wenn man aber so weitherzig ist, dann darf ein anderer Name nicht fehlen. Es handelt sich um einen Komponisten und Theoretiker, den man heute gern vergißt, aburteilt, schmäht, und der gerade an diesem Institut eine außer­ ordentliche Wirkung getan hat. Auf ihn abschließend hin­ zuweisen im Kontext dieses Kongreßthemas ist auch, aber mehr als eine Ehrenpflicht. Zur Zweiten Wiener Schule gehört in vielfältiger Hinsicht ihr großer Theoretiker. 4. Am 11. September 19o3, also zwanzig Jahre nach Anton Webern, ist Theodor W.Adorno geboren. Er wäre in diesem 14 Jahr 8 0 geworden. Und Adorno, Kompositionsschüler und Freund Alban Bergs, hat an diesem Darmstädter Institut für Neue Musik und Musikerziehung in den Jahren 1952 und 1954 auf Einladung Erich Dofleins seine Plädoyers gegen eine musikpädagogische Musik, seine Kritik des Musikanten vorgetragen, deren Wirkung auf das Bewußtsein von Musik, auch über den engeren Kreis der Musikpädagogen hinaus, kaum überschätzt werden kann. Daß dies eine Wirkung aus dem Geist der Wiener Schule war, darf man mit Fug und Recht behaupten. Ich spreche an dieser Stelle drei Punkte knapp an. a) Am 13.12.1926 schrieb Alban Berg an Arnold Schönberg über Adorno: "Die Aufführung von Wiesengrunds rasend schwerem Quartett war ein Husarenstück des Kolischquartetts, das es in 8 Tagen studiert hatte und ganz klar zur Darstellung brachte. Ich finde die Arbeit Wiesengrunds s e h r g u t und ich glaube, daß sie auch Deine Zu­ friedenheit finden wird, wenn Du sie einmal kennen lernen wolltest. - Jedenfalls ist es in seinem Ernst, seiner Knappheit, und vor allem der unbedingten Rein­ lichkeit seiner ganzen Faktur würdig, als zur Schule Schönbergs (und nirgends anders hin!) gehörig bezeich­ net zu werden". Und als der holländische Komponist Daniel Ruyneman 1929/3o Konzerte mit Werken der Wiener Schule veranstalten wollte und sich außer an Webern auch an Berg wandte, schlug dieser damit sein Votum über den Komponisten Adorno bekräftigend neben Schönberg und Webern nur Eisler und Adorno vor, von letzterem jetzt einen der Klavierlieder-Zyklen (vgl.P.Op de Coul, Unveröffentlichte Briefe von A.Berg und A.Webern an D.Ruyneman, Tijdschrift van de Vereniging voor Nederlandse Muziek Geschiedenis XXII, 1972, S.2ol ff.). Dem Urteil Bergs über den Komponisten Adorno brauche ich nichts hinzuzufügen; es wäre jetzt, da wenigstens eine Auswahl an Kompositionen erscheint, an der Zeit, sich diesem originären Ton zwischen Expressionslyrik und Sach­ lichkeit zuzuwenden, in Aufführung und in Analyse. Von Schönbergs Einschätzung Adornos ist bisher - neben dem von Stuckenschmidt gern ausgestellten Brief an ihn nur das Pamphlet aus der Zeit der D r .Faustus-Kontroverse bekannt geworden, das Jan Maegaard veröffentlichte (Melos 1974) und das Konrad Boehmer vorschnell gegen Adorno aus­ schlachtete ("Der Korrepetitor am Werk", Zeitschrift für Musiktheorie IV,1 1973), um ihn nicht nur politisch, son­ dern auch in bezug auf seine kompositorisch-theoretische Kompetenz zu verdächtigen. Dem sei hier ein abgewogeneres Urteil Schönbergs (ein Akademiegutachten vom Januar 1933) entgegengestellt: 15 "Wiesengrund Adorno zu loben, unterlasse ich ('ihr lobt ihn, Meister V o g e l s a n g G r u n d s ä t z l i c h bin ich der Meinung, daß die Prüfung nicht um ihrer selbst willen, oder um dem Bewerber Schwierigkeiten zu machen, erfolgen soll, sondern lediglich in jenen Fällen, wo man durch kein anderes Mittel erfahren kann, ob ein Bewerber das erforderliche Niveau eines Lehrers be­ sitzt . Hier liegt Material genug vor, um sich ein Ur­ teil zu bilden. Ich halte W. n i c h t für einen Komponisten, unstreitig aber kann er, was man lehren kann; und über sein Niveau kann es wohl keinen Zweifel geben. Was aber die ändern Fächer anbelangt, so würde es mich interessieren zu erfahren, wie viele Kompo­ nisten diese Prüfung bestehen würden. - Schließlich aber sollte man nicht übersehen, daß die beigefügten Analysen bedeutsame Leistungen auf musiktheoretischem Gebiet darstellen" b) Nicht nur ist das Bild der Wiener Schule nach dem Zweiten Weltkrieg entscheidend von Adorno geprägt worden, ihre internationale Geltung als eine der großen ästhe­ tischen Konzeptionen in der Kunst des 2o. Jahrhunderts überhaupt hat wesentlich Adorno vermittelt. Rudolf Stephan hat in der Einleitung zum Wiener Schönberg-Kongreß von 1974 diese Tat Adornos besonders hervorgehoben. Daß In­ tellektuellen nach dem Zweiten Weltkrieg, gerade auch solchen, die nicht Musiker waren, die Musik Schönbergs und Weberns als kritische Instanz einer gesellschaft­ lichen Wahrheitsfindung durch Kunst galt, ist allein den Schriften Adornos zu danken. Es gab zudem, wie man weiß, Musiker, Komponisten, die Deutsch lernten, um die "Philosophie der neuen Musik" lesen und verstehen zu können. Und in der Bewertung der kompositorischen Physiognomien scheint es mir, als habe die Rezeptionsgeschichte der Werke Schönbergs, Bergs und Weberns seit den fünfziger Jahren Adornos so oft bezweifelte musikalische Urteile als außerordentlich treffend bestätigt: bei Schönberg die Zentralstellung der großen Werke der freien Atonalität, später des Dritten Quartetts und des Trios, vor allem dann des fragmentarischen "Hauptwerks"; bei Webern die verstehende Skepsis gegenüber dem Spätwerk, insbe­ sondere aber auch so unvergleichliche Kennzeichnungen wie die der Webernschen "absoluten Lyrik" als "Boten kommender Katastrophen" (Klangfiguren, Frankfurt/Main 1959, S.169, mit der Assoziation der fernen Wahrnehmung des "Kanonendonners von Verdun") - aufschließende Ver­ stehenshilfen , die die Werke j enseits des bloßen Struk­ turdenkens in ihrer künstlerischen Gewalt, der Eindring­ 16 lichkeit ihrer Sprache treffen wollen und sie treffen unübertrefflich. (Ich gestatte mir freimütig dieses be­ wundernde Wort. Über der Darstellung der Grenzen des Adornoschen Ansatzes seine Vorzüge zu vergessen, schien mir stets absurd.) c) Daß zwei der bedeutendsten philosophischen Denker des 2o„ Jahrhunderts, Ernst Bloch und Theodor W.Adorno, Werk und Theorie Schönbergs als paradigmatischen Gegenstand ihrer Reflexionen auf Kunst, Gesellschaft und Geschichte wählten, sagt etwas aus über diese Musik. Daß die Avant­ garde nach 195o - Stockhausen, Boulez, Ligeti - in stetem Rekurs auf die ästhetische Theorie Adornos (positiv oder negativ) komponierte, sagt etwas aus über diese Avantgarde. Daß heute die jüngeren Komponisten auszukommen glauben ohne eine Konfrontation mit einer ästhetischen Theorie als kritischer Instanz, sagt etwas aus über die gegen­ wärtige Lage des Komponierens. Die Wechselwirkung im Verhältnis Adornos zum Darmstädter Komponistenkreis der fünfziger und frühen sechziger Jahre ist offensichtlich. Tibor Kneif hat sie vor einem Jahr­ zehnt anhand unbekannten Materials für die Beziehung Adorno-Stockhausen eindringlich beschrieben (Zeitschrift für Musiktheorie IV,1,1973). Hier interessieren aus dem Gesamtkomplex zwei Aspekte. Einmal wird aus Briefen Stock­ hausens an Adorno deutlich, daß ersterer gleichsam im An­ gesicht der kritischen Theorie komponierte: "Wenn ich Ihre Bücher und Artikel lese, weiß ich, daß ich Ihnen wahrhaftig ein Gegner bin, den Sie und ich nicht vermuten, wenn wir uns begegnen: hier und dort entdecke ich einen Ihrer Sätze, der mir die Haut durch­ brennt . Und ich schlage zurück oder habe schon ge­ schlagen mit Waffen, die unheimlich und scharf sind, In meiner Musik geschehen seit kurzem Dinge, die so quer zu Ihrem Denken einschlagen, daß es Sie wundern muß, wenn Sie es eines Tages entdecken. Sie werden ge­ troffen sein, wie ich mich getroffen weiß; diesmal aber heimlich und gefährlich" (14.5.196o). Zum zweiten handelte es sich bei Adornos Position (und im Gegensatz zu Kneif meine ich, auch im Aufsatz über eine "Musique informelle", deren Urbild ganz deutlich Schönbergs "Erwartung" ist) um eine aus den Werken der Wiener Schule, primär Schönbergs, als Erfahrungs- und Reflexionshintergrund hervorgegangene ästhetische Theorie der Musik, die der Darmstädter Ästhetik, die sich eben­ falls auf die Wiener Schule beruft, aber primär auf Weberns Spätwerk, entgegengehalten wird. Adornos Thesen vom "Altern der neuen Musik" treffen mit Kategorien der Wiener Schul.e eine Komponistengeneration,, die aus dem Weiterdenken et- n 1 dieser Wiener Schule ihre wesentliche historische Auf­ gabe ableitete. Das ist ebenso ein Beleg für den immensen Reichtum, den ästhetischen Radius dieser Ideen, wie es eine offenbar einmalige geschichtliche Situation und Chance umschreibt. Und vielleicht waren gerade dieses Zu­ sammenwirken von künstlerischer Phantasie mit philosophisch-ästhetischer Orientierung, von kompositorisch­ handwerklichem mit geschichtsphilosophischem Denken und die Intensität dieser gewollten und gesuchten Konfronta­ tion Voraussetzung für gelungene, bedeutende Konzeptionen in beiden Bereichen. Die Musik jedenfalls, die so ent­ stand, hat dies bereichert. Auch das gehört zum Thema Wiener Schule heute, zur Dimension ihrer geschichtlichen Wirkung. Das aufgreifend gestatten Sie mir bitte in dieser gele­ gentlich persönliche Urteile nicht verschmähenden Kon­ greß-Einleitung ein ebenfalls durchaus subjektives, schlicht behauptendes und ganz ungeschütztes Schlußwort. Ich vermisse einen solchen Rekurs auf ästhetische Theorie als Instanz, eine (neue und anders begründete wie formu­ lierte) Philosophie der neuen Musik heute; ich vermisse die Konfrontation mit dem philosophisch-kritischen Ge­ danken und ich vermisse ihn oder vermeine ihn hörend zu vermissen in den Kompositionen. Könnte aber nicht eine solche relevante neue Philosophie der neuen Musik, auf andere Weise natürlich, aber doch hoffentlich mit glei­ cher Treffsicherheit und Intensität, heute - da doch alles wieder so ordentlich wird - eine immense Aktualität gewinnen und der Kunst eine ihrer genuinen Funktionen er­ neut und verstörend bewußt machen? Es war Theodor W.Adorno, der das in seinem schönsten Buch, den "Minima Moralia", die vor und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs notiert wurden und im Untertitel "Reflexionen aus dem beschädigten Leben" genannt werden, formulierte: "Aufgabe von Kunst heute ist es, Chaos in die Ordnung zu bringen". Das Kon­ greßthema "Die Wiener Schule heute" könnte auch zu einer solchen Gegenwartsdiagnose führen. Die Werke der Kompo­ nisten und die Theorie des Philosophen erlauben dies. Carl Dahlhaus ZUM SPÄTWERK ARNOLD SCHÖNBERGS 1 Im allgemeinen Bewußtsein, einer durchaus unverächtlichen Instanz, ist Arnold Schönberg einerseits der Komponist der "Gurrelieder" und der "Verklärten Nacht", auch des "Pierrot lunaire" und der George-Lieder, andererseits der Erfinder oder Entdecker der Zwölftontechnik: eines Ver­ fahrens, das als esoterisch und rätselhaft gilt, obwohl die Merkmale, die es als Methode, Regelkodex oder "Vor­ formung des Materials" konstituieren, mit wenigen Sätzen erklärbar sind, zu deren Verständnis man nicht einmal über die Fähigkeit des Notenlesens zu verfügen braucht. Die Probleme, die ins Unwegsame führen, beginnen erst dort, wo die Methode in Komposition übergeht. Der Zusammenhang zwischen den frühen Werken, die im Kon­ text der Restauration des Jugendstils und der Sezession zu Bestandteilen des Konzertrepertoires wurden, und der Dodekaphonie der zwanziger Jahre - dem Untersuchungsge­ genstand eines Zirkels von Eingeweihten, deren Bemühungen um die philologische, kompositions- und ideengeschicht­ liche Problematik der opera 23 bis 25 kreisen - ist in dem Bild, das man sich von Schönberg macht, gestört oder sogar zerbrochen. Und wenn es ein fast hoffnungsloses Unterfangen sein mag, im Bewußtsein des Publikums zwi­ schen der musikalischen Erfahrung der frühen Werke und dem Gerücht über die Zwölftontechnik zu vermitteln, so ist es immerhin möglich, einige Gründe zu skizzieren, die den Blick auf die Kontinuität von Schönbergs oeuvre verstellen. Erstens ist die Assoziation der frühen Werke mit dem Ju­ gendstil, dessen zweites Dasein bereits länger dauert als das erste, eher ein rezeptions- als ein kompositionsge­ schichtlicher Sachverhalt. Der ideengeschichtliche Kontext, in dem die Werke seit anderthalb Jahrzehnten wahrgenommen werden, steht in schiefer Relation zu deren Ursprung: Mit Adolf Loos, dem Gegner und Antagonisten der Wiener Sezes­ sion, fühlte sich Schönberg nicht allein durch persönliche Sympathie, sondern auch durch eine tiefgreifende Überein­ stimmung der ästhetischen Überzeugungen verbunden: Schön­ bergs Begriff der musikalischen Prosa impliziert, neben anderen Momenten, die Feindschaft gegen das Ornament, die Loos proklamierte. Und ohne daß man sich in eine Kontro­ verse darüber, ob den in die spätere, eine Affinität zum Jugendstil suggerierende Rezeption einfließenden Vorstel­ lungen eine eigene, unabhängige ästhetische Legitimität zugestanden werden soll, zu verlieren braucht, kann man jedenfalls konstatieren, daß die Kategorien, von denen eine Analyse und Interpretation der frühen Werke ausgehen muß - die Begriffe "musikalischer Gedanke", "Darstellung des Gedankens", "entwickelnde Variation" und "musikalische Prosa" - eine kompositionsgeschichtliche Vermittlung mit der Dodekaphonie nicht allein zulassen, sondern geradezu fordern, also eine Revision der wirkungsgeschichtlichen Trennung der frühen von den späteren Werken nahelegen. Zweitens darf man, wie die Geschichte der Rezeption des Beethovenschen Spätwerkes zeigt, von der Erwartung aus­ gehen, daß die Kontinuität eines oeuvres, die sich zu­ nächst nur der Reflexion von Eingeweihten erschloß, spä­ ter auch der Intuition des Publikums zugänglich wird, daß also der Bruch, den man zunächst empfand, allmählich immer geringer erscheint. Daß eine kompositionsgeschicht­ liche Logik rekonstruierbar ist, die von der Tonalität zur Atonalität führte, ist inzwischen von den Hörern ge­ wissermaßen ästhetisch eingelöst worden, und zwar dadurch, daß ihnen die Differenz zwischen der "Verklärten Nacht" und dem "Pierrot lunaire" längst nicht mehr so tiefgrei­ fend erscheint, wie es eine Musikgeschichtsschreibung suggeriert, die in der Emanzipation der Dissonanz den Anfang der Neuen Musik zu erkennen glaubt. Und es ist nicht ausgeschlossen, daß in analoger Weise auch aus der analytisch erfaßbaren Stringenz, die der Entstehungsge­ schichte der Dodekaphonie zugrundeliegt, am Ende ein äs­ thetisches Kontinuitätsgefühl des Publikums, eine Intui­ tion der inneren Einheit des Schönbergschen oeuvres, re­ sultiert. Schönbergs Diktum, daß dem Formgefühl des Kom­ ponisten eine einstweilen noch unerkannte Logik entspre­ chen müsse, ist rezeptionsgeschichtlich zu der Voraus­ sage umkehrbar, daß aus der erkannten Logik schließlich ein Formgefühl des Publikums, das der Reflexion nicht mehr bedarf, hervorgehen werde. 2 Erscheint die Dodekaphonie immerhin als Objekt theore­ tischer Anstrengungen sowie der fragwürdigen Art von Ruhm, deren Substanz ein Gerücht bildet, so ist das Spätwerk, das in der Emigrationszeit entstand und partiell zur To­ nalität zurückkehrte, einer Vergessenheit zum Opfer ge­ fallen, an der vereinzelte Aufführungen des Streichtrios opus 45 oder des "Überlebenden aus Warschau" opus 46 2o i wenig ändern. Irritiert durch das Nebeneinander von dodekaphonen und tonalen Werken - durch den Wechsel zwischen einer Esoterik, von der man sich abgewiesen fühlte, und einer Konzilianz, der man mißtraute -, ging man dem Spät­ werk aus dem Wege, zumal der emphatische Bekenntnischa­ rakter - die Hervorkehrung des Jüdischen, die bei Schön­ berg, da er Person und Werk niemals trennte, die Musik unverkennbar beeinflussen und prägen mußte - mit der kos­ mopolitischen Attitüde, die die Zwölftontechnik bei ihrer geradezu epidemischen Ausbreitung nach dem Zweiten Welt­ krieg annahm, schlecht zusammenstimmte. Auch ein fragmentarischer, im Bewußtsein der Unzuläng­ lichkeit unternommener Versuch einer historischen Inter­ pretation - ein Versuch, einige der Probleme zu rekon­ struieren, als deren Lösung das Spätwerk verstanden werden kann -, ist ohne Reflexion über die Gründe, die dazu führten, daß es aus dem allgemeinen Bewußtsein nahezu restlos verdrängt wurde, kaum sinnvoll möglich. Und die Tatsache, daß die Philosophie Theodor W.Adornos gerade einen Tiefpunkt ihrer Rezeption erreichte - wie ihn Adorno selbst nicht ohne Ranküne vor Jahrzehnten bei dem inzwi­ schen wieder in den Vordergrund gerückten Martin Heidegger registrierte -, sollte nicht daran hindern, in Adornos Interpretation (die Schönberg selbst allerdings verwarf) die Motive versammelt zu sehen, die jahrelang - und darin gleicht Adornos Schönberg-Exegese der Wagner-Kritik Nietzsches - dem Verständnis des Spätwerks teils den Weg verstellten und es teils auf die Bahn brachten. Schlichte Irrtümer und Fehldeutungen zu erwähnen, ist zwar pedantisch und ein wenig subaltern, aber unvermeid­ lich, wenn sie mit den Einsichten, deren Diskussion immer noch lohnt, auf eine manchmal vertrackte Weise verquickt sind. Erstens ist Adornos Behauptung (in der "Philosophie der neuen Musik"), daß "Die Jakobsleiter" und "Moses und Aron" Fragmente blieben, weil Schönberg durch ein "unbe­ wußtes Mißtrauen" gegen die Möglichkeit von "Hauptwerken" an der Vollendung gehindert wurde, eine bloße Vermutung, die sich durch das Wort "unbewußt" einer rationalen Er­ örterung entzieht. Bewußt ist jedenfalls keines der Wer­ ke, an denen Schönberg bis zu seinem Tode arbeitete oder zu arbeiten entschlossen war, preisgegeben worden. Zweitens geht Adorno, wenn auch nicht ohne fühlbare Skru­ pel, von einer Unterscheidung zwischen dodekaphonen Hauptund nicht-dodekaphonen Nebenwerken oder "Parerga" aus, die sich im Hinblick auf die Zweite Kammersymphonie opus 38, "Kol Nidre" opus 39, die "Variationen über ein Rezi­ tativ für Orgel" opus 4o, die "Variationen für Blasor­ chester" opus 43 A, das "Prelude" opus 44, den "Überle21 * benden aus Warschau" opus 46 und die "Drei Volkslieder" opus 49 als schlechterdings unhaltbar erweist. Auch die Differenz zwischen Werken mit und ohne Opuszahl läßt, wie es scheint, keine Schlüsse zu: Zwischen der Suite für Streichorchester, die Schönberg ohne Opuszahl ließ, und den Variationen für Blasorchester opus 43 A einen prin­ zipiellen, tiefgreifenden Unterschied zu konstruieren, wäre schiere Willkür. Drittens ist Adornos Versuch, Schönbergs Spätwerk als Ausdruck einer "Lossage vom Material" zu deuten - und un­ ter Material versteht Adorno nichts Geringeres als den musikalisch sich manifestierenden objektiven Geist -, insofern prekär, als die Dialektik, die er praktiziert, schließlich in ein Dickicht gerät, in dem die Gedanken­ motive unentwirrbar erscheinen. Einerseits glaubt Adorno, die "Nebenwerke", die er zu Unrecht als solche klassifi­ ziert, mit dem Argument "retten" zu sollen, daß der geschichtsphilosophischen Wahrheit, die sich in den dodekaphonen Werken manifestiert, eine Art Menschenrecht gegenüberstehe, "welches noch dem schlechten Bedürfnis innewohnt" (Philosophie der neuen Musik, Frankfurt am Main 2^958, 116). Mit anderen Worten: Es wäre inhuman, die Gegenwart, so miserabel sie ist, ausschließlich im Namen der Utopie, deren Verwirklichung in eine nahezu unerreichbare Ferne gerückt ist, zu verurteilen; man muß ihr vielmehr, wenn auch mit schlechtem geschichtsphilo­ sophischem Gewissen, partiell die Musik gönnen, die sie braucht, um ästhetisch zu überleben. Andererseits soll die "Lossage vom Material" jedoch bedeuten, daß "inkom­ mensurabel die Subjektivität endlich über die Konsequenz und Stimmigkeit des Gebildes hinausgreift" (118) : Die Preisgabe der Dodekaphonie erscheint als Ausbruch ins Freie. Undialektisch und trivial gesprochen: Adorno zögert, sich zu entscheiden, ob er den Verzicht auf dodekaphone Strukturierung in einem großen Teil von Schönbergs Spät­ werk als Emanzipation vom Zwang der Methode rühmen oder als herablassendes Zugeständnis an die bestehende Situa­ tion abtun soll. Und die Unschlüssigkeit - aus der er sich nicht durch eine ästhetische Differenzierung der nicht-dodekaphonen Werke in geglückte und mißlungene her­ ausziehen mag - ist nichts weniger als zufällig, denn Adorno sah in der Dodekaphonie immer schon eine geschicht­ liche Notwendigkeit und zugleich ein ästhetisches Verhängnis: Der Zwangscharakter des Verfahrens war ihm suspekt. Das besagt nicht, daß der repressive Zug, den er herausfühlte, dem der bestehenden Gesellschaft simpel und undialektisch - nach dem vulgärmarxistischen Analogieverfahren - gleich­ gesetzt worden wäre: Die Dodekaphonie "entwirft das Bild der totalen Repression und nicht deren Ideologie" (lo9). 22 Und als Bild ist sie Kritik, nicht Affirmation. Zugleich partizipiert sie jedoch an der ins Falsche umgeschlagenen Rationalität der europäischen Neuzeit: an der Dialektik der Aufklärung, in deren geschichtlichem Prozeß die Natur­ beherrschung schließlich in eine Unterdrückung der Men­ schen durch die Instrumente, die im Dienste der Naturbe­ herrschung entstanden waren, überging. Das "selbstge­ machte Regelsystem im unterworfenen Material" tritt in der Dodekaphonie dem Subjekt als "entfremdete, feind­ selige und beherrschende Macht entgegen" (112). Die Hoff­ nung, daß am Ende der Geschichte, das einstweilen nicht absehbar ist, der Zwang der Zwölftonmethode in eine neue Spontaneität freien Komponierens aufgehoben werde (llo), bleibt leere Utopie, obwohl Adorno die Möglichkeit, in dem Postulat könne der Ausgangspunkt einer Rechtfertigung des Schönbergschen Spätwerks liegen, zögernd andeutet (117). Der objektive Geist, unter dessen Diktat Adorno zu philosophieren glaubte, verstellte den Ausweg, den die Pietät gegenüber Schönberg nahelegte. Unausweichlich manövrierte Adorno die Dialektik in die Ausweglosigkeit. Andererseits verfängt er sich, wo er eine Chance zu er­ kennen meint, in Fallstricke. Das Wort Sinnzusammenhang, eine tragende Kategorie in Adornos Ästhetik, ist insofern ein zwiespältiger Begriff, als offen bleibt, ob Zusammen­ hang als solcher bereits Sinn verbürgt oder ob der ex­ pressive oder gestische Sinn, den ein musikalisches Motiv mitbringt, sich in einen Zusammenhang fügt, der ihn dann, analog zu einem Wort innerhalb eines Satzes, präzisiert und modifiziert. Bei der Interpretation von Schönbergs Spätwerk entscheidet sich Adorno für eine schlichte Gleich­ setzung von Sinn und Konsistenz, allerdings mit einem Rest schlechten philosophischen Gewissens,den die Anführungs­ zeichen verraten, die das Wort "Sinn" in Distanz rücken. "Denn was den 'Sinn' von Musik, auch der freien Atonalität, ausmacht, ist nichts anderes als der Zusammenhang" (121). Die grobe Simplifizierung aber führt dazu, daß Adorno, um von der Expressivität des Spätwerks zu spre­ chen, eine "Zerstörung des 'Sinnes'" - also des Zusammen­ hangs - vorausgehen läßt und die Expressivität dann mit einem an Walter Benjamin erinnernden Begriff als "einge­ legten" - die Konsistenz sprengenden - Ausdruck charak­ terisiert (122). Das geschichtliche Modell, das dem Ge­ dankengang zugrundeliegt - unausgesprochen, aber aus Adornos Beiträgen zu Thomas Manns "Doktor Faustus" re­ konstruierbar -, ist die Musik Claudio Monteverdis, die ihre Expressivität zum Teil der von Artusi getadelten Durchbrechung des überlieferten kontrapunktischen Regel­ kodex verdankte. Zu dem Vergleich, den Adorno unter Be­ rufung auf Ernst Krenek an anderer Stelle zwischen der 23 ! Disziplinierung durch die Zwölftontechnik und den Exer­ zitien im Palestrinasatz zieht (111), bildet die Inter­ pretation von Schönbergs Spätwerk als Restitution des Ausdrucks jenseits des Systemzwangs das genaue Korre­ lat. Da aber Adorno die geschichtliche Analogie, die er meint, nicht beim Namen nennt, versäumt er es, sie zu rechtfertigen, und die Argumentation bleibt gewisser­ maßen im Leeren hängen. Das Problem, wie sich die Expres­ sivität der dodekaphonen und die der nicht-dodekaphonen Werke voneinander unterscheiden - und das müßten sie, wenn Adornos These stringent sein soll -, wird nicht ein­ mal gestreift. 3 Einen Versuch, Schönbergs späte Werke, die er "retonal" nannte, sowohl kompositionstechnisch als auch geschichts­ philosophisch zu interpretieren, unternahm 1955/56 Dieter Schnebel (Denkbare Musik, Köln 1972, 195-197). Die Prä­ misse, von der er ausging, war die frappierende Behaup­ tung, daß der Begriff der Stimme "eine Kategorie der to­ nalen Musik" sei. Und dadurch, daß Schönberg nicht auf­ hörte, kontrapunktisch - also in Stimmen - zu denken, sei er gezwungen worden, zur Tonalität zurückzukehren. In der Rückwendung aber, die demnach nichts weniger als zufällig ist, glaubt Schnebel eine Veränderung nicht nur des Be­ wußtseins von der Geschichte, sondern der realen Geschichte selbst als eines Prozesses zu erkennen. "Dann aber zeigt sich, daß die Geschichte aufhört, nur in einer Richtung, nur vorwärts zu verlaufen. Sie kann nun sowohl vorwärts als auch rückwärts entwickelt werden. Diese Tatsache weist jedoch darauf hin, daß die Geschichte selber verfügbar ge­ worden ist". Schnebels Voraussetzungen sind allerdings teils brüchig, teils undurchschaubar. Der Begriff der Stimme - muß die Trivialität überhaupt erwähnt werden? - ist keineswegs tonal fundiert; und da es einen vor-tonalen Kontrapunkt gab, fällt es schwer, sich die Hypothese zu eigen zu ma­ chen, daß ein nach-tonaler Kontrapunkt in sich wider­ spruchsvoll sei. Umgekehrt ist im Begriff der Tonalität, des funktionalen Akkordzusammenhangs, nichts enthalten, was zu einem Denken in Stimmen zwingt: Die Beziehung ei­ ner Dominante zu einer Tonika ist prinzipiell unabhängig von der Oktavlage der Töne; eine Zerklüftung oder Zer­ splitterung des Tonsatzes hebt die Tonalität nicht auf. Außerdem ist die Idee, daß die Richtung der Geschichte umkehrbar sei, ohne eine explizite Philosophie der Zeit, 24 die Schnebel schuldig bleibt, nicht nachvollziehbar. Schnebels Theoriefragment ist ein Aphorismus, der ab-, bricht, ohne einem Fortgang der Reflexion den Weg zu bahnen. 4 Heinz-Klaus Metzger entwarf 1976 eine Erklärung der "retonalen" Musik, deren Bezeichnung er von Schnebel überrnahm, in der Form einer Kritik an der Kritik, die unter seriellen Voraussetzungen an Schönberg geübt worden war (Arnold Schönberg von hinten, in: Arnold Schönberg. MusikKonzepte 198o, 29-34). Daß bei Schönberg ein ungeschlichteter Widerspruch zwischen der atonal-dodekaphonen Ton­ höhenstruktur und einer rhythmisch-syntaktischen Ordnung bestehe, die die Spuren ihrer Herkunft aus tonalen Formen des 18. und 19. Jahrhunderts unauslöschlich an sich trage, war der Topos, der einerseits in den 195oer Jahren die Übertragung der Reihentechnik auf die Tondauer rechtfer^ tigen und andererseits zugleich begründen sollte, warum Schönberg in manchen späten Werken zur Tonalität zurück­ kehrte: Er gehorchte durch diese Regression, wie man meinte, den Implikationen der rhythmisch-syntaktischen statt denen der Tonhöhenstruktur. Demgegenüber beharrt Metzger auf der These, daß in to­ nalen Spätwerken wie dem "Kol Nidre" opus 39 einerseits das entscheidende Moment der Atonalität, die Emanzipation oder Loslösung des einzelnen aus der Hierarchie der Klänge, bewahrt und andererseits ein fataler Zug der Zwölftontechnik, der Zwangscharakter der Methode, vermieden wurde. Allerdings gerät Metzger in die Aporie, jedem Klang "Indi­ vidualität als singuläres Exemplar" zuschreiben und den­ noch behaupten zu müssen, daß das "nivellierte Material" durch die Tonalität "wieder qualifiziert" worden sei. Un­ verständlich bleibt, wie eine Qualifizierung der Akkorde ohne Hierarchie und ein tonaler Konnex trotz strikter Individualisierung der Zusammenklänge technisch möglich sein sollen. Die Idee eines tonalen Funktionszusammenhangs ohne Substituierbarkeit des einen Akkords durch einen an­ deren - und das heißt: ohne Preisgabe eines Stücks Indi­ vidualität der Akkorde - erscheint einstweilen als leere Utopie. Und eine Theorie der Tonalität, die ohne den Be­ griff der Akkordhierarchie auskommt, zeichnet sich in Metzgers Erklärungsversuch, der einer flüchtig aufblit­ zenden Intuition gleicht, ohne daß die Anstrengung der theoretischen Fundierung unternommen worden wäre, nicht einmal in blassen Umrissen ab. 25 Daß Metzger einen Sachverhalt meint, den Rene Leibowitz andeutete, ohne ihn genauer darzustellen, ist möglich und sogar wahrscheinlich, obwohl die Anknüpfung unausge­ sprochen bleibt. Leibowitz geht, um die nach-atonale To­ nalität zu erklären, davon aus, daß das deklarierte Ziel einer neuen Tonalität, das durch die Dodekaphonie er­ reicht werden sollte - Schönberg sprach von "Pantonalität"in den zwanziger Jahren verfehlt worden sei. "The problem of new tonal functions has remained in the balance: it has been avoided but not resolved" (Schoenberg and His School, ^197o, 116). Und im tonalen Spätwerk - Leibowitz bezieht sich, wie später Metzger, auf das "Kol Nidre" opus 39 - glaubt er eine Tonalität zu erkennen, deren Reichtum an Akkorden und Akkordbeziehungen durch kompo­ sitorische Erfahrungen, die der Dodekaphonie zu verdanken waren, geprägt wurde. "Here we find many of the tone-row principles incorporated into a freely handled tonality. All possible aggregations of the total resources of chromaticism are tried" (119). "The most distant, unheardof tonal relationships are established; there is a systematic effort not to let a. single possibility of such tonal relationship go unused" (126). Im Grunde ist es je­ doch nicht das Reihenprinzip, das in tonaler Transfor­ mation wiederkehrt, sondern eine Tendenz, die Schönbergs musikalisches Denken immer schon beherrschte und darum auch die Dodekaphonie in wesentlichen Zügen prägte: die Tendenz, den gesamten chromatischen Ton- oder Akkordbe­ stand auf engstem Raum auszunutzen und - in einem tonalen Tonsatz - die Repetition eines Zusammenklangs so lange zu verzögern, wie es die Notwendigkeit, den musikalischen Faden nicht reißen zu lassen, irgend erlaubte. 5 Man muß, um sowohl der Dodekaphonie und ihrer scheinbaren inneren Widersprüchlichkeit als auch dem zunächst irri­ tierenden Nebeneinander von dodekaphonen und nicht-dodekaphonen Werken in der Emigrationszeit gerecht zu werden, von dem einfachen Sachverhalt ausgehen, daß Schönberg das thematisch-motivische Denken, die Erbschaft des 18. und 19. Jahrhunderts, niemals preisgab. Weder war seine Über­ zeugung, daß durch die Dodekaphonie eine bis zu Bach und Beethoven zurückreichende Tradition fortgesetzt wurde, eine bloße "Legitimationsideologie" - um in einem denunziatorischen Soziologenjargon zu reden -, noch läßt sich Schönbergs Gewohnheit, im Kompositionsunterricht aus­ schließlich Werke des 18. und 19. Jahrhunderts zu ana­ lysieren, statt Voraussetzungen und Probleme der Zwölf­ 26 tontechnik zu erörtern, als bloße Marotte eines pedan­ tischen Lehrers abtun, der von den Prämissen, die er all­ zu ausführlich darstellen zu müssen glaubt, niemals zu den Konsequenzen gelangt, die seine Schüler eigentlich von ihm erwarten. Daß Schönberg seine Zwölftonreihen, als wären sie Themen oder Melodien, der Intuition und nicht der Konstruktion verdankte, ist glaubwürdig genug überliefert. Der Name "Grundgestalt" - in einer abstrakten Zwölftontheorie streng genommen ein inadäquater Terminus, weil sämtliche 48 Reihenformen, wie Adorno behauptete, "gleich nah zum Mittelpunkt" sind - ist also in Schönbergs konkreter musikalischer Poetik Ausdruck einer kompositorischen Re­ alität. Als "musikalischer Gedanke" ist die "Grundgestalt" mehr als bloß die chronologisch erste Form, in der die Reihe - Inbegriff von 48 gleichberechtigten Ausprägungen in einem Satz erscheint. Zwischen dem Original und der Krebsumkehrung besteht - insgeheim, unausgesprochen und der Theorie entgegen - ein hierarchisches Verhältnis. Andererseits ist der Motivbegriff, der aus der Beethovenund Brahms-Tradition stammte, von Schönberg tiefgreifen­ den Veränderungen unterworfen worden. Die Idee des verti­ kalen oder harmonischen Motivs wurde zwar in Wagners späten Musikdramen vereinzelt und vage antizipiert, be­ deutete aber dennoch in der Form, die sie bei Schönberg erhielt, einen qualitativen Sprung des musikalischen Den­ kens. Das Prinzip, Zusammenklänge als Motive zu erklären und zu behandeln, als wären sie Tonfolgen in anderer Rich­ tung, erscheint als Lösung eines Problems, das durch die Emanzipation der Dissonanz entstanden war: Die Entschei­ dung, Dissonanzen nicht mehr aufzulösen, versetzte Ak­ korde, die bisher durch den Fortschreitungszwang von der Dissonanz zur Konsonanz miteinander verkettet worden waren, in eine Isolierung und Beziehungslosigkeit, die den mu­ sikalischen Konnex gefährdete. Und ein Ausweg aus der Schwierigkeit - die Schönberg, ein Rigorist des musika­ lischen Zusammenhangs, als besonders gravierend empfinden mußte - bestand in dem Gedanken, daß Akkorde - analog zu Tonfolgen - Motive sind oder sein können, also die Verti­ kale demselben Motivgeflecht angehört wie die Horizontale. Die Kehrseite des Theorems, das bei Schönberg "Einheit des musikalischen Raumes" heißt, war allerdings eine Emanzipation oder Loslösung der Diastematik vom Rhythmus (der für ein Motiv in der Vertikale nicht konstitutiv sein kann) - oder genauer: eine Spaltung des Motivbegriffs in diastematische und rhythmische Ausprägungen. Spuren des Verfahrens, diastematische Beziehungen unabhängig von rhythmischen und umgekehrt rhythmische Zusammenhänge ge­ 27 trennt von diastematischen herzustellen, lassen sich be­ reits im 19. Jahrhundert entdecken: das eine eher bei Beethoven und später bei Liszt, das andere vor allem bei Schubert. Von Schönberg aber ist die Trennung der Momente ins Extrem getrieben worden (und erst dadurch wurde die Vorgeschichte des Verfahrens im 19. Jahrhundert überhaupt sichtbar). Für atonale Werke ^ dodekaphone wie nicht-dodekaphone - ist es charakteristisch, daß Rhythmen gewis­ sermaßen als Themen fungieren, deren Diastematik aus­ tauschbar ist, und daß umgekehrt diastematische Struk­ turen einen Konnex stiften, der unterhalb der Oberfläche des rhythmisch-syntaktisch auskomponierten Tonsatzes bleibt. (Daß "sub-motivische", rhythmisch indifferente diastematische Konfigurationen den latenten inneren Zu­ sammenhalt eines Satzes verbürgen, läßt sich bereits an Werken von Beethoven demonstrieren; und Rudolph Reti ent­ wickelte aus dem Sachverhalt eine durch einen falschen Universalitätsanspruch leider an die Grenze des Sektie­ rerischen getriebene und dadurch partiell diskreditierte Theorie der "thematischen Zellen”) . 6 Versucht man nun unter der Prämisse, daß Schönberg das motivische Denken zwar niemals preisgab, aber tiefgrei­ fend modifizierte, das Nebeneinander von dodekaphonen und nicht-dodekaphonen Werken in der Emigrationszeit kom­ positionstechnisch zu verstehen, so erweist sich die skiz­ zierte Erweiterung des Motivbegriffs als ausschlaggeben­ der Sachverhalt. Denn sofern ein Motiv sowohl eine diastematisch-rhythmische als auch eine entweder diastema­ tische oder rhythmische Struktur sein kann, ohne seine zusammenhangbildende Funktion zu verlieren, wird die Ent­ scheidung zwischen dodekaphoner und nicht-dodekaphoner Atonalität und sogar zwischen Atonalität und Tonalität sekundär, weil lediglich die Art, in der ein Motivkonnex wirksam ist, sich ändert, aber nicht die fundamentale Tatsache, daß er überhaupt besteht. Daß Akkorde Motive sind, ist in tonalen Werken möglich, aber nicht essentiell. Umgekehrt braucht ein dodekaphoner Tonsatz, in dem die Zusammenklänge nicht unmittelbar aus der Reihe, sondern aus Tönen verschiedener, melodisch be­ gründeter Reihenformen resultieren, besondere Vorkehrungen, um die Akkorde kontrapunktisch - durch Stimmführungen, die den Übergang vom einen zum anderen vermitteln - zu rechtfertigen. Daß die Harmonik nur partiell dodekaphon be­ gründet ist, erzwingt gewissermaßen als Ausgleich eine polyphone Legitimation. 28 Die kontrapunktisehen Implikationen der Harmonik werden in Harmonielehren, die nach dem Vorbild von Moritz Haupt­ mann und Hugo Riemann vom Funktionsbegriff ausgehen, im allgemeinen vernachlässigt: Was die Funktionstheorie an einem Akkord registriert, ist von Stimmführungstendenzen der Töne weitgehend unabhängig. Schönberg wuchs jedoch in der Wiener Tradition der Stufen-, nicht der Leipziger der Funktionstheorie auf; und je weniger Zusammenklänge funktional, durch ihre unmittelbare oder indirekte Be­ ziehung zur Tonika, erklärt werden, um so wesentlicher erscheinen die kontrapunktisehen Verbindungen, die von Akkord zu Akkord führen. Eine Harmonik aber, die immer schon von Kontrapunkt durch­ drungen ist, hält sich für Modifikationen der Akkordstruk­ turen - sofern sie eben kontrapunktisch stringent sind prinzipiell offener als eine funktionale Harmonik, deren Theorie jedem Ton eine Legitimation als Prim, Terz oder Quinte einer Tonika, Dominante oder Subdominante abver­ langt . Ein kontrapunktisches Denken, das noch die entlegenste Harmonik zu rechtfertigen vermag, bildet demnach in Ver­ bindung mit einem Motivbegriff, der außer diastematisch­ rhythmischen auch ausschließlich diastematische oder rhyth­ mische Strukturen umfaßt, die Voraussetzung, die es er­ laubt, tonale, dodekaphone und atonale, aber nicht-dodekaphone Werke in gleichem Maße und ohne Wechsel der grund­ legenden musikalischen Denkform als tönenden Sinnzusammen­ hang zu konstituieren. Mit dem, was Adorno als "Gleichgültigwerden des Materials" bezeichnete (112), hängt in Schönbergs Spätwerk eine Rück­ wendung zum "Ideenkunstwerk" zusammen, die sich in der Ab­ sicht, nach einem Vierteljahrhundert Unterbrechung "Die Jakobsleiter" zu vollenden, ebenso unverkennbar manife­ stiert wie in der Konzeption von "Moses und Aron", der als Hauptwerk im emphatischen Sinne intendierten Bekennt­ nisoper, deren erster und zweiter Akt 193o-32 den Abschluß einer Periode markierten, in der seit opus 23, abgesehen von einigen Chören und der als Konversationsstück in Zwölftontechnik zwiespältigen Oper "Von Heute auf Morgen", die Instrumentalmusik einseitig dominierte. Der Begriff des "Ideenkunstwerks" schließt, wenn auch pe­ ripher, programmatische Instrumentalmusik ein, die in Schönbergs Spätwerk nicht selten ist, angefangen von der "Begleitungsmusik zu einer Lichtspielszene" opus 34, die 29 gleichzeitig mit "Moses und Aron", 193o, entstanden ist. Nichts berechtigt zu Zweifeln an Thomas Manns Bericht, daß Schönberg im Streichtrio opus 45 den Verlauf einer Krankheit, von der er kaum noch zu genesen hoffte, musi­ kalisch ausgedrückt habe. Und daß die Programmskizze, die Schönberg zum Klavierkonzert opus 42 notierte, ge­ radezu bestürzend simpel, direkt und naiv wirkt, ist kein Grund, ihre Authentizität zu leugnen: "Life was so easy / suddenly hatred broke out (Presto) / a grave Situation was created (Adagio) / But life goes on (Rondo)". Die Vermutung, daß Schönberg die Ästhetik der Programm­ musik, die er 1912 in dem Aufsatz "Über das Verhältnis zum Text" entwarf, später änderte oder verwarf, läßt sich durch Dokumente, wie es scheint, nicht stützen. Demnach bildet ein Programm, in verschiedenen Graden literarischer, bildlicher oder biographischer Detailliertheit, zwar den Ausgangspunkt der Komposition und der Rezeption, aber nie­ mals den Inhalt und die Substanz eines musikalischen Wer­ kes. Schönberg war vielmehr 1912, im Sinne von Schopen­ hauers durch Wagner vermittelter Metaphysik, davon über­ zeugt, daß es die Musik ist, die "das innerste Wesen der Welt ausspricht". Sie stellt die Innenseite dar, ein Text, und zwar in der Vokal- ebenso wie in der Programmusik, bloß die Außenseite. Das Verhältnis zwischen Musik und Sprache, das der Drama­ turgie von "Moses und Aron" zugrundeliegt, sowie Schön­ bergs Rückkehr zum jüdischen Glauben, zu dessen Wesens­ zügen es gehört, die Sprache in einem emphatischen Sinne beim Wort zu nehmen, lassen allerdings die Schopenhauersche Ästhetik, die sich um 19oo für deutsche Komponisten in der Nachfolge Wagners von selbst verstand, ins Zwie­ licht geraten. Die programmatischen Momente in Instrumen­ talwerken, vor allem aber die Dominanz der Vokalmusik und der Charakter der Texte, die sämtlich eine philosophische oder biographische Last tragen und deren sprachliche Ge­ stalt manchmal fragwürdig sein mag, deren bekenntnishafter Ernst sie jedoch der Kritik entzieht, erzwingen eine an­ dere Interpretation, als sie Schopenhauers Metaphysik nahelegt: eine Metaphysik, die als Philosophie der abso­ luten Musik entstand und in der Texte, Programme und sze­ nische Vorgänge als austauschbare Oberflächenphänomene der einzig die Tiefe der Welt erreichenden Musik erschei­ nen. Im gleichen Maße, wie die Differenz der musikalischen Mittel gleichgültiger wurde, ist in Schönbergs Spätwerk die Bedeutung des Inhalts gewachsen. Die absolute Musik, die später, im Serialismus der 195oer Jahre, noch einmal zu ausschließlicher Herrschaft gelangte, war Schönberg, wie es scheint, in den letzten Jahrzehnten seines Lebens ferngerückt. 3o 8 Von der Aktualität eines Phänomens zu sprechen, das der Vergangenheit - und zwar einer fast vergessenen Vergangen­ heit - angehört, ist zweifellos prekär. Denn daß Geschich­ te sich nicht wiederholt, ist ein Topos, dessen Geltung nicht einmal durch den Strukturalismus, der allenthalben die lebendigen Akteure der Ereignisgeschichte durch an­ onyme Strukturen zu verdrängen trachtete, ernstlich ge­ fährdet wurde. Dennoch dürfte der Versuch, eine sich un­ willkürlich aufdrängende Analogie zwischen Schönbergs Spätwerk und einigen Tendenzen der 197oer Jahre in groben Umrissen zu skizzieren, zu den gerade noch erlaubten Ri­ siken gehören, die die Geschichtsschreibung von Zeit zu Zeit eingehen muß, um nicht in der bloßen Häufung von Daten und Fakten zu ersticken. Das "Gleichgültigwerden des Materials", das Adorno, wie erwähnt, in Schönbergs Spätwerk konstatierte,besagt er­ stens, daß Atonalität und Tonalität sowie dodekaphone und nicht-dodekaphone Atonalität nebeneinander zu exi­ stieren vermochten, ohne daß die eine das Daseinsrecht der anderen auslöschte, und zweitens, daß die Geschichte, als deren Träger in Adornos ästhetischer Theorie das Ma­ terial erscheint, die Macht verlor, den Komponisten zu diktieren, was erlaubt und was verboten sei. Und mit dem "Gleichgültigwerden des Materials" war, wie Adorno zu er­ kennen glaubte, eine Restitution des musikalischen Aus­ drucks verbunden, der unter der Herrschaft und dem System­ zwang der Dodekaphonie von Schrumpfung bedroht war. Ob oder in welchem Maße es zulässig ist, wie Adorno einen "authentischen" Ausdruck, der einen Teil des Schönbergschen Spätwerks charakterisiert, von einem gleichsam "ent­ liehenen" zu unterscheiden, wie ihn die klassizistischen Werke von der Suite opus 25 bis zum Klavierkonzert opus 42 ausprägen, muß offen gelassen werden - nicht, weil Adornos Differenzierung von Schönberg selbst mit Entrü­ stung bestritten worden wäre, sondern weil sich über das verwickelte Verhältnis zwischen Dodekaphonie und Expres­ sivität mit wenigen Sätzen nichts Triftiges sagen läßt. Wesentlicher ist der Sachverhalt, daß überhaupt ein Zu­ sammenhang zwischen emphatischer Expressivität, einem unbefangenen Wechsel zwischen Atonalität und Tonalität und einer Bewußtseinsverfassung, die später - einige Jahre nach Adornos "Philosophie der neuen Musik" - von Arnold Gehlen "Post-histoire" genannt wurde, zu bestehen scheint: ein Zusammenhang, der in den 197oer Jahren in den musi­ kalischen Phänomenen, die widersinnig und zum Entsetzen der betroffenen Komponisten als "Neue Einfachheit" eti31 kettiert worden sind, unverkennbar zutage trat. Die Wahl zwischen Tonalität und Atonalität prinzipiell offen zu halten, sich dem zu entziehen, was Adorno als Diktat und Konsequenzzwang der Geschichte proklamierte, und statt "objektiver Stimmigkeit", dem Idol der 195oer Jahre, ei­ nen rückhaltlos subjektiven, individuellen Ausdruck zu erstreben - sämtliche Impulse also, die im letzten Jahr­ zehnt wirksam wurden, waren in Schönbergs Spätwerk latent und unter anderen geschichtlichen Bedingungen bereits ent­ halten, ohne daß den jüngeren Komponisten, wie es scheint, der Zusammenhang bewußt gewesen wäre. Der Mangel an Doku­ menten über eine unmittelbare Anknüpfung braucht jedoch einen Historiker nicht zu beirren und ist für ihn nicht ausschlaggebend. Denn daß von geschichtlicher Kontinuität oder Affinität auch dort, wo die Akteure der Ereignisse von ihr nichts wissen, die Rede sein darf, gehört zu den Maximen, ohne die keine Geschichtsschreibung möglich wäre, an denen also ein Historiker festhalten muß, wenn er nicht den Sinn seines Metiers preisgeben will. 32 Christian Martin Schmidt MATERIALIEN FÜR EINE ANALYSE DES STREICHTRIOS OP. 45 VON ARNOLD SCHÖNBERG I. Zur Reihentechnik 1. Grundlage der Reihenbildung im Streichtrio op. 45 ist wie in den meisten Zwölftonkompositionen Schönbergs - die spezifische Auswahl des Tonvorrats in den beiden sechstönigen Reihenhälften (Hexachorden). Numeriert man die Töne der chromatischen Skala ungeachtet ihrer Oktavlage mit O bis 11, so ergeben die Töne des einen Hexachords skalenmäßig geordnet die Folge 0 1 4 5 6 7, die des an­ deren die Folge 2 3 8 9 10 11. Spiegelt man den Tonvorrat des ersten Hexachords 0 1 4 5 6 7 vertikal (Umkehrung) z.B. um den Ton 5, so erhält man 10 9 6 5 4 3; versetzt man sodann diese Folge um sieben Halbtöne, d.h. um eine Quinte, nach unten (Transposition), so erhält man mit 3 2 .11 10 9 8 die gleichen Werte, die den Tonvorrat des zweiten Hexachords bilden. Wird die Achse der Umkehrung verschoben, so ändert sich - außer bei der Tritonusverschiebung - auch das erforderliche Transpositionsintervall. Nur wenn nach Ausführung der beiden Transformationen Um­ kehrung und Transposition sich Gleichheit des Tonvo^rrats zwischen dem transformierten einen und dem untransfarmier­ ten anderen Hexachord ergibt, ist die Möglichkeit zü, dem von Schönberg ausgiebig angewendeten Verfahren der "qombinatoriality" gegeben; nur wenn der Tonvorrat der ersten (bzw. zweiten) Reihenhälfte einer Grundgestalt mit dem, der zweiten (bzw. ersten) Hälfte einer Umkehrungstrans-^position identisch ist, können die ersten (bzw. zweiten) Hexachorde der so aufeinander bezogenen Grundgestalt und Umkehrung miteinander kombiniert werden, ohne daß Ton­ wiederholungen auftreten; denn die Tonvorräte der beiden gleichen Hälften dieser Reihenvarianten ergänzen einander zur Zwölftönigkeit. (Die im vorangehenden gewählte Dar­ stellungsform übernimmt Ansatzpunkte aus Allen Forte, The Structure of Atonal Music, New Haven/London ^1911. Der in op. 45 grundlegende, aus sechs Elementen bestehende Ton­ vorrat = pitch-class set hat bei ihm - S.18o - die Nummer 6-5. Der vector des pitch-class set, der die Anzahl sämt­ licher in dem Tonvorrat enthaltenen Intervalle angibt, ist 4 2 2 2 3 2; möglich sind somit vier kleine und zwei große Sekunden, zwei kleine und zwei große Terzen, drei Quarten und zwei Tritoni bzw. deren Äquivalente Septime, Sext und Quint.) 33 Schönberg hat in seinen Zwölftonkompositionen - je spä­ ter sie entstanden, desto mehr - als komplementäres Paar Grundgestalt und unterquinttransponierte Umkehrung bevor­ zugt. In seinem Kommentar zur Wunder-Reihe^-, die dem "Mo­ dernen Psalm" op.5o C zugrundeliegt, ging er sogar davon aus, daß dieses Paar sich gleichsam gesetzmäßig ergebe. Tatsächlich stellt die Verbindung von Grundgestalt und Unterquinttransposition der Umkehrung nur eine Möglich­ keit aus der großen Menge von Kombinationen dar, die das Prinzip der combinatoriality erfüllen. Bedingung dafür ist nämlich nicht allein der Tonvorrat in den Hexachorden, sondern auch - wie oben angedeutet - die geeignete Wahl der Umkehrungsachse, d.h. bei Schönberg die Wahl des er­ sten Tons der Reihe. Das belegt die Reihenbildung in op. 45: Nur wenn 5 (oder 11) erster Ton der Reihe ist, ver­ hält die unterquinttransponierte Umkehrung sich komple­ mentär zur Grundgestalt - vgl. unten Tabelle A 1; fängt die Reihe aber beispielsweise mit 7 (oder 1) an, so ist die Umkehrung um eine große Septime nach unten zu trans­ ponieren, um Komplement der Grundgestalt sein zu können v g l . unten A 2. 2. Das ausführliche Eingehen auf den noch nicht in der Reihenfolge festgelegten, lediglich skalenmäßig systema­ tisierten Tonvorrat (in der Terminologie von Forte "unordered set") ist bei Schönbergs Streichtrio sachlich ge­ fordert. Er stellt nämlich die verbindende Grundlage von je zwei hinsichtlich der Reihenfolge fixierten Ausprä­ gungen ("ordered sets" - im folgenden Permutationen ge­ nannt) sowohl im ersten als auch im zweiten Hexachord dar. (Wiewohl Schönberg bis zu seinem Lebensende - vgl. in den genannten Veröffentlichungen seine Ausführungen zur WunderReihe und die Skizzen zum "Modernen Psalm" op. 5o C als Bezeichnung für die erste Reihenhälfte "Vordersatz" bzw. "antecedent", für die zweite "Nachsatz" bzw. "consequent" beibehalten hat, sollen im folgenden, um alle Mißverständnisse zu vermeiden, das erste Hexachord mit A, das zweite mit B bezeichnet werden. Die Permutationen von A und B werden durch hinzugesetzte Zahlen gekenn­ zeichnet .) 1 Vgl. Josef Rufer, Das Werk Arnold Schönbergs, Kassel etc. 1959, Faksimile vor S.121, sowie Arnold Schönberg, Sämtliche Werke, Reihe B Band 19, Mainz/Wien 1977, S.VIII 34 Grundgestalt A 1 1 6 0 5 b es a d Komplementäre Umkehrung A 1 7 e 4 cis 5 d 1 b 0 a 4 6 cis es h 9 3 f is c 8 f 10 g 2 h 3 c 11 9 gis fis 5 d 7 e 0 a 4 1 cis b 5 d 0 a 11 gis 8 f B 1 B 1 2 2 h A 2 A 2 7 e 10 g 11 9 10 gis f is g 8 f 3 c 10 g 3 c 4 6 cis es B 2 B 2 8 9 f is f 1 b 11 2 gis h 6 es 7 e In der vorangehenden Tabelle sind die einzelnen Elemente der Permutationen durch die Tonqualitäten derjenigen Transpositionsstufe konkretisiert, die in der Komposition als erste auftritt und von der auch Schönberg bei der Kompositionsarbeit als untransponierter ausging. Im fol­ genden werden die acht Permutationen, die als Ausprä­ gungen zweier komplementärer Hexachorde zusammengehören, unter dem Begriff "Region"2 zusammengefaßt - ein Vorgehen im übrigen, das sich auf die Bezeichnungsart in Schön­ bergs Reihentabellen zu op. 45 stützen kann und das die Darstellung der Beziehungen zwischen den verschiedenen Transpositionsstufen erheblich erleichtert. Die Region, deren Tonqualitäten in der Tabelle genannt sind, heißt R°, ihre Transpositionen in steigender Folge r ! , R 2 ... Rll. 3. Stehen bei einer Komposition, die sich auf eine ein­ zige, die Bedingungen der "combinatoriality" erfüllende Zwölftonreihe stützt, zwei in der Reihenfolge der Ele­ mente festgelegte Permutationen (mit den Krebsformen vier) eines Hexachords zur Verfügung, so sind es beim Streich­ trio vier (mit den Krebsformen acht). Daß diese vier Per­ mutationen auch während der kompositorischen Arbeit in Betracht gezogen wurden, daß sie somit Bestandteil des Kompositionsprozesses sind, bestätigen die von Schönberg zusammengestellten Reihentabellen, in denen ausschließ­ lich sie notiert sind. 2 Vgl. dazu den Begriff der "area" bei David Lewin, Moses und Aron: Some General Remarks, and Analytic Notes for Act I, Scene 1, in: Perspectives on Schoenberg and Stravinsky, hg. von B.Boretz und E.T.Cone, Princeton 1968, S.61-77, besonders S.64 35 Im konkreten musikalischen Text gewinnt jedoch noch eine weitere Aufgliederung der Hexachordelemente an Bedeutung. Der Kern der 2. Episode (T. 184-191, dann T. 194 Vcl., T. 196 2. Zählzeit bis T. 197) ist bestimmt durch die Anordnung der sechs Elemente von A 1 bzw. B 2 als 1.-3.4.-2.-5.- 6 . Unterlegt ist dieses Anordnungsmuster den beiden Reihenhälften in gerader Richtung und im Krebs; das Anordnungsmuster selbst jedoch wird nicht rückläufig gebraucht. Es ergeben sich somit nur je vier neue, stets in gerader Richtung gebrachte Permutationen der beiden Hexachorde; als unmittelbar auf die Reihenfolge der Ele­ mente in A 1 und B 2 bezogen wären sie als Subpermutationen zu bezeichnen. (Um den Vergleich mit der Tabelle oben zu ermöglichen, werden auch hier die Hexachorde von RO angeführt, obwohl in der Komposition an dieser Stelle andere Regionen verwendet sind.) Grundgestalt A la 5 6 d es A lb 4 0 cis a B 2a 9 11 fis gis B 2b 3 2 c h Komplementäre Umkehrung A la IO 9 3 2 8 11 f gis g fis c h A lb 9 8 2 10 11 3 gis c fis f h g B 2a 0 1 7 4 a b e cis 6 7 e 1 5 b d 10 g 3 6 1 7 5 0 c es cis b B 2b e d a es 2 8 h f 4 10 8 9 5 7 11 0 1 4 6 fis gis g f a b cis d e es Exponiert wird das Anordnungsmuster gleichsam unauffällig durch die Verteilung der ersten (1.-3.-4.) und zweiten Dreitongruppe (2.-5.-6 .) auf zwei Stimmen, auf Geige und Bratsche in T. 184. Schon im selben Takt jedoch führt das Violoncello die Aufgliederung als Folge in einer Stimme ein. Und sie verselbständigt sich - zumal im Ka­ non ab T. 188 - in einem Maße, das ungewöhnlich ist in­ nerhalb der Reihentechnik Schönbergs und das es berech­ tigt erscheinen läßt, von Permutationen eigenen Rechts zu sprechen. In jedem Fall unterstützt auch diese kom­ positorische Besonderheit die Beobachtung - auf die noch näher einzugehen sein wird daß im Streichtrio nicht die Reihenfolge der Töne Ausgangspunkt der Konstruktion ist, sondern der Tonvorrat der Hexachorde als primär anzusehen ist. 4. Aus dem Repertoire der genannten Permutationen wählt Schönberg für die von ihm bezeichneten Formteile zwei be­ stimmte Gruppen von Permutationen aus, die als unveränderte eine formbildende Funktion gewinnen. Teil 1 und 2 stützen 36 sich auf A 1, A 2 und B 1, die beiden Episoden auf A 1 und B 2 (die 2. Episode unter Einbeziehung der Subpermutationen A la, A lb, B 2a, B 2b). Allerdings wird der Wechsel zwischen den Permutationsgruppen an den Grenzen der Formteile nicht betont hervorgekehrt, zumeist ist er durch die Dominanz von A 1, die als einzige beiden Grup­ pen zugehört, fließend; an der Nahtstelle zwischen Teil 1 und 1. Episode reicht die erste Permutationsgruppe durch A 2 noch um sechs Takte in den neuen Formteil hin­ ein. In Teil 3, der auf weite Strecken die vorangehenden Formteile rekapituliert, stehen zunächst zwei Sektionen annähernd gleicher Länge nebeneinander, deren Tonsatz von der ersten (T. 2o8~237) bzw. zweiten Gruppe (T. 238266) bestimmt ist; in die Schlußsektion T. 267-293, die im wesentlichen die Permutationen der ersten Gruppe be­ nutzt, sind lediglich eineinhalb auf die zweite Gruppe bezogene Takte (T. 279 zweite Takthälfte und 28o) einge­ lagert . Die Aufteilung der zur Verfügung stehenden Permutationen in zwei feste Gruppen ist auch von allen Reihentabellen abzulesen, die Schönberg bei der Kompositionsarbeit ver­ wendet hat: Zusammengestellt sind entweder A l , B l und A 2 oder aber A 1 und B 2. 5. Die Auffassung, daß in op. 45 nicht die festgelegte Aufeinanderfolge der Töne bzw. Intervalle in der Reihe, sondern weit mehr der Tonvorrat der Hexachorde Ausgangs­ punkt der Konstruktion sei, läßt sich schon mit der Bil­ dung mehrerer Permutationen begründen. Sie findet aber im Text der Komposition weitere Unterstützung. Auffällig ist zunächst, welch untergeordnete Rolle der horizontalen Entfaltung ganzer Permutationen oder gar der von zwölftönigen Linien aus A und B zukommt. Des weiteren tritt an manchen Stellen, z.B. T. 25-33, die Reihenfolge der Elemente als Ordnungsprinzip so weit in den Hintergrund, daß zwar das grundlegende Hexachord klar, nicht aber die Permutation erkennbar ist. Am deutlichsten jedoch wird der Primat des Tonvorrats beim Blick auf die Intervallik der konkreten musikalischen Gestalt. Im oben erläuterten vector des Hexachord-Tonvorrats 4 2 2 2 3 2 ist die kleine Sekunde mit 4 dominant. Das kommt in der Reihenfolge der Elemente bei den drei Permutati­ onen, die als erste Gruppe Teil 1 und 2 bestimmen, nicht zum Ausdruck; A 2 und B 1 enthalten diesen Intervall­ schritt je einmal, A 1 verzichtet gänzlich darauf. Und dennoch gewinnt im konkreten musikalischen Text dieser Teile die kleine Sekunde (bzw. ihre Äquivalente große Septime und kleine None) eine überragende Bedeutung. Sie kann nicht auf die Folge der Elemente in den Permu­ 37 tationen zurückgeführt werden, also nicht auf die Quali­ tät des "ordered set", sondern allein auf den Intervall­ inhalt des Tonvorrats, d.h. eine Qualität des "unordered set" . Die Takte 1 bis 4 exponieren das zentrale Gewicht der kleinen Sekunde in aller Deutlichkeit: Mit Ausnahme der Bratsche in T. 2 werden sämtliche Phrasen der Passage von diesem Intervall gebildet (daß bei einer solchen intervallischen Grundlage sich häufig kontrapunktisehe Varianten von B-A-C-H ergeben, mag ein Zufall sein, frei­ lich ein bemerkenswerter). Innerhalb dieses Kontextes kann in T. 2-4, Geige und Violoncello, ein weiteres we­ sentliches Moment der Komposition vorbereitet werden: die Selektion der Permutationsrandtöne, die bei den Per­ mutationen der ersten Gruppe wiederum stets kleine Se­ kunden bilden. Ganz in den Vordergrund treten sie dann bei der Hauptstimme der Geige in T. 12-17 (ebenso T. 214221 und 267-272, Geige, sowie T. 273-275, Violoncello); sie reiht ausschließlich die kleinen Sekunden aneinander, die als Randtöne der folgenden Permutationen bestimmt sind: G: A 1-B 1-A 2, U: A 2K-B 1K-A 1K. Und in Teil 2, T. 142 sowie T. 145-147 schließlich wird der gesamte Ton­ satz vollständig aus Permutationsrandtönen erstellt. Das führt zurück zu der Anordnung der Elemente in den drei hier in Frage stehenden Permutationen. Zwar hat sich das Übergewicht der kleinen Sekunde im Tonvorrat nicht in ihrer Reihenfolge insgesamt niedergeschlagen, wohl aber erwächst aus ihm die Placierung von je zwei neben­ einanderliegenden Halbtönen am Anfang und Ende der Per­ mutationen. Die bewußte Planung zeigt sich auch darin, daß durch die Randtöne der drei Permutationen, die zur ersten Gruppe gehören und den gleichen Tonvorrat haben, sämtliche Elemente des Vorrats vertreten sind: Bei 0 1 4 5 6 7 sind die Randtöne i n G : A l 5 4 , i n G : A 2 7 6 und in U: B 1 1 O. Auf die Besonderheit der Permutationsrandtöne verweisen auch diejenigen von Schönbergs Reihentabellen, die die Permutationen der ersten Gruppe aufzeichnen: Die Rand­ töne sind durch gesonderte Stiele mit Achtelfähnchen her­ ausgehoben . 6. Vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit ist bei der Be­ trachtung der Schönbergschen Zwölftonkomposition bislang dem Aspekt geschenkt worden, inwieweit die Aufeinander­ folge der verschiedenen Transpositionsstufen der Reihe im Fortgang der Stücke Gegenstand des rationalen kompo­ sitorischen Zugriffs ist, ob sie auf einem konstruktiven Plan beruht und wie dieser begründet ist. Über die Fest38 Stellung, daß die Kompositionen am Ende überwiegend zu der Transpositionsstufe zurückfinden, von der sie ausge­ gangen sind, kam man selten hinaus. Auch das Streichtrio folgt diesem Muster; der ganze Teil 1 (T. 1-51) mit den ersten sechs Takten der 1. Episode stützt sich ebenso auf die Permutationen der Region R° wie die letzten zwölf Takte (T. 282-293). Einige weitergehende Hinweise haben Milton Babbitt3 und David Lewin^ gegeben: Schönberg setzt häufig Reihenva­ rianten in Beziehung zueinander oder verbindet sie in unmittelbarer Folge, die - sei es in der Intervallfolge von Einzelelementen, sei es im Tonvorrat von Teilsegmenten Konstellationen identischer Tongualitäten aufweisen. Diese Beobachtung gibt einen erfolgversprechenden Ansatzpunkt für die Untersuchung der sukzessiven Disposition der Re­ gionen auch im Streichtrio. Teil 1 stützt sich, wie erwähnt, allein auf R°. Die 2. Episode läßt von T. 57 bis 92 r 8 und R 5 alternieren, Re­ gionen also, die drei Halbtöne oder eine kleine Terz von­ einander entfernt sind. Drei jeweils eine kleine Terz von­ einander entfernte Regionen sind von T. 93 bis 121 in fallender Skalenfolge angeordnet: r 9 , r6 ; r 3 ; die letzten beiden sind wiederholt, sie werden überdies in T. lo4 bzw. 117-119 simultan miteinander verbunden. Vier jeweils eine kleine Terz voneinander entfernte Regionen sind von T. 122 bis 132, also am Ende der 1. Episode, in steigender Skalenfolge angeordnet, wobei der Übergang von der zwei­ ten zur dritten fließend ist: r 8 , R Ü , r 2, r 5 . Bemerkens­ wert daran sind drei Punkte: Die Zahl der einen plausiblen intervallischen Zusammenhang bildenden Regionen wächst kontinuierlich von 1 bis 4 (diese Entwicklung setzt sich, wie noch zu zeigen sein wird, am Anfang von Teil 2 fort). - Grundlage des intervallischen Zusammenhangs sind Klein­ terzketten, die mit vier Gliedern im Rahmen der zwölftönigen Skala einen Zyklus bilden (solche Zyklen bilden außerdem Großsekundketten mit sechs, Großterzketten mit drei und Tritonusketten mit zwei Gliedern). - Ausgewählt sind zwei der drei möglichen Kleinterzzyklen, und ihre Glieder sind alternierend angeordnet: R° in Teil 1 und r 9, R^, r 3 in ^er Mitte der 1. Episode ergänzen einander 3 Milton Babbitt, Moses and Aaron, in: Perspectives on Schoenberg and Stravinsky, hg. von B.Boretz und E.T.Cone, Princeton 1968, S.53-6o 4 a.a.O. 39 zum vollständigen einen Zyklus, der am Anfang der 1. Epi­ sode mit r 8 und nur durch zwei Glieder vertretene an­ dere Zyklus ist am Ende des Formteils mit allen Gliedern R 8 , r H , R 2 und R^ vollständig. Was aber, das ist die entscheidende Frage, begründet die Verbindung der um eine kleine Terz voneinander entfernten Regionen? Die Passagen, an denen zwei Regionen simultan vermittelt werden (T. 1 1 7 - 1 1 9 r3 und R^, T. 1 2 9 - 1 3 o R Ü und r2), belegen im konkreten musikalischen Text die be­ wußt auskomponierte Verwandtschaft: Die ersten vier Töne von A 1 der Grundgestalt in einer Region und die ersten vier Töne von A 1 der Umkehrung in der um drei Halbtöne höheren Region sind hinsichtlich des Tonvorrats gleich; so zum Beispiel: R 3 G: A 1 f cis fis e g e R 6 U: A 1 cis f c fis h d In dieser Weise verbunden sind etwa R® und R^ in T. 7475 durch die Akkorde auf den Taktschwerpunkten sowie R^ und R 8 in T. 8o-81 durch die Übernahme der Tonqualitäten von Bratsche und Violoncello in die Hauptstimme der Geige, später im Teil 2 nochmals ganz an der musikalischen Ober­ fläche r 6 und r3 durch die Tonqualitätengleichheit der Akkorde beim Taktwechsel von 178 zu 179. (Eine analoge Verwandtschaft besteht im übrigen auch zwi­ schen den letzten vier Tönen von G: B 1 einer Region und U: B 1 der um eine kleine Terz höheren Region; ihre letzten vier Elemente haben den gleichen Tonvorrat. Stellt man A 1 - B 1 von G der einen und von U der anderen Region einander gegenüber, so wird der hohe Verwandtschaftsgrad deutlich: Die ersten Tetrachorde der ersten sowie die letzten der zweiten Hexachorde haben jeweils den gleichen Tonvorrat, die Resttöne werden zwischen erstem und zweitem Hexachord ausgetauscht. R 1 1 G: A 1 Bl cis a d gis es c b g f fis e h R 2 U: A 1 Bl' a cis gis d g b c es f e fis h Die Episoden benutzen - wie oben ausgeführt - nur die Per­ mutationen der zweiten Gruppe A 1 und B 2 . Die Beziehung zwischen den B 1-Permutationen könnte also nur in den Partien der Komposition Verwendung finden, die sich auf die erste Permutationsgruppe A l , A 2 , B l stützen; aber auch dort scheint sie nicht in die Konstruktion einbe­ zogen worden zu sein.) A 1 gehört beiden für die Formteile ausgewählten Permutationsgruppen an; Beziehungen wie die oben gezeigte, die 4o sich allein auf die Reihenfolge der Elemente in dieser Permutation gründen, können mithin überall in der Kompo­ sition auftreten. Nur in den Episoden dagegen bzw. in den entsprechenden Rekapitulationsabschnitten des Teils 3 kann eine Verwandtschaft Gestalt gewinnen, die zwischen zwei Grundgestaltpermutationen der zweiten Gruppe besteht Die ersten drei Töne von A 1 einer Region und die letzten drei von B 2 der um eine kleine Terz höheren Region sind gleich; so z.B. (vgl. den Übergang bei T. 67): R5 G: A l g es gis d a fis R 8 G: B 2 d cis e g es gis Ob Schönberg diese Beziehung bewußt eingesetzt hat, mag zweifelhaft sein; in jedem Fall ist die Übereinstimmung der beiden Tremoloakkorde des Taktes 65 bzw. 67-68 hin­ sichtlich der Tonqualitäten unüberhörbar. Die zweite wesentliche Verknüpfung der Regionen neben der Kleinterzverkettung ist im Streichtrio die von jeweils einen Ganzton voneinander entfernten Regionen. Sie wird am Anfang des Teils 2 exponiert; T. 133-147 halten sich in r 5, danach folgen in taktweisem Wechsel r 9, r 7, R Ü , Rl und schließlich r 3 , die über drei Takte bis T. 154 ausgebreitet ist. Die sechs Regionen repräsentieren den sechsstufigen Ganztonzyklus innerhalb der zwölftönigen Skala vollständig; anders aber als bei den Terzketten in der 1. Episode unterliegt ihre Anordnung keiner Systema­ tik, sondern ist - wie zu zeigen sein wird - vom konkre­ ten musikalischen Zusammenhang bestimmt. Mit sechs benutz ten Regionen setzt der Anfang des Teils 2 die kontinuier­ liche Entwicklung hinsichtlich der Zahl der einen plau­ siblen intervallischen Zusammenhang bildenden Regionen fort, die sich von 1 in Teil 1 über 2, 3 und 4 in der 1. Episode entfaltet. Die sechs einen Ganztonzyklus bildenden Regionen haben die Eigenschaft, daß die Permutationsrandtöne von A 1, A 2 und B 1 jeweils die gleichen Kleinsekundintervalle bilden; bei den in T. 133-154 benutzten sind es - stets freilich in einer anderen der sechs Permutationen: c-cis, d-es, e-f, fis-g, gis-a, h-b. Es wurde oben dargestellt, welch wichtige Rolle den Permutationsrandtönen bei der Tonsatzbildung in Teil 1 und besonders am Anfang von Teil 2 zukommt. Hier nun wirkt sich ein wesentliches Moment der Detailkonstruktion auf die übergreifende Disposition der Regionen aus. Die Verbindung dieser beiden Ebenen wird in T. 148-152 unmittelbar deutlich, und damit ist zugleich die Verbindung der Regionen im Ganztonabstand und ihre Anordnung konkret im Tonsatz begründet. Inner­ 41 halb der sich in latenter Zweistimmigkeit bewegenden Begleitfiguration wird die Hauptstimme der Geige aus T. 12-17 quarttransponiert und mit nur leichten Modifika­ tionen abgebildet (T. 149 f-e steht für e-f, T. 152 d-es und cis-c sind "simultan" verbunden); in T. 148-151 steht die "Oberstimme" der Figuration für die Beziehung ein: g'-fis1, f-e, a'-as', h"-b", in T. 152 sind die beiden letzten Glieder auf "Ober-" bzw. "Unterstimme" verteilt: d"-es" bzw. cis'-c1. Stammen in T. 12-17 die Halbtonschritte als Randtöne aus den verschiedenen Permutationen einer Region, so sind sie hier mit nur einer Ausnahme als Randtöne einer bestimmten Permutation verschiedener Re­ gionen entnommen: Nur das vorletzte Glied übernimmt die Randtöne aus G: B l , alle anderen sind Randtöne von U: B 1. II. Zur musikalischen Gestalt 1. Der Teil 1 entfaltet sich in einem Tonsatz, der keine melodischen Linien kennt. Zwar werden Momente von Themen­ bildung angedeutet wie die Gegenüberstellung von Vorderund Nachsatz in T. 1-4 oder die Formulierung einer eini­ germaßen kontinuierlich verlaufenden und homogen beglei­ teten Hauptstimme in T. 12-17; zwar werden auch in sich einheitlich gebildete Flächen größerer Ausdehnung expo­ niert wie die in T. 25-33. Bei all dem aber wird die Kon­ stituierung eines geschlossenen melodischen Zusammenhangs vermieden. Vorherrschend vielmehr ist der Eindruck des Kleingliedrigen, Zerstückelten, der aggressiven Geste. Zu dieser Wirkung trägt nicht zuletzt die Dominanz der kleinen Sekunde und besonders ihrer intervallischen Äqui­ valente große Septime und kleine None in Aufeinanderfolge und Zusammenklang bei, aber auch die starke Einbeziehung von Spielarten wie Flageolett, col legno, pizzicato, am Steg etc. Dagegen stellt die 1. Episode in T. 53-56 - der Kontrast ist kaum plastischer zu realisieren - eine viertönige, höchst expressive Geigenmelodie, und das Moment der Rück­ besinnung wird noch unterstrichen durch die liegende Terz als Begleitung. Die Möglichkeit von Melodiebildung, an die hier so nachdrücklich erinnert ist, wird auch sogleich (T. 57-62) aufgegriffen, tritt danach jedoch wieder in den Hintergrund. Voll eingelöst ist das Versprechen, Melodie zu bilden, erst in T. 8 6 , wo die melodische Gestalt inner­ halb eines geprägten Bewegungstypus, eines Tanzes, ihren festen Rahmen findet. Und Tanz- bzw. Walzertypen, denen in Schönbergs Oeuvre spätestens seit dem "Pierrot lunaire" op. 21 eine besondere Rolle zukommt, gewinnen in der 1. Episode, in Teil 2 und der 2. Episode ein immer größeres 42 Gewicht; sie werden zum zentralen Gegensatz der Satzart in Teil 1. 2. Teil 3 stellt eine Rekapitulation von Abschnitten der vorangehenden Formteile dar; allein auf die 2. Episode wird nicht zurückgegriffen. Die Art der Wiederaufnahme reicht von der fast identischen Wiederholung über die Entsprechung als Umkehrung des gesamten Tonsatzes bis hin zur Umformung aufgrund gleicher Substanz. T. 2o8-232 neh­ men Taktgruppen aus Teil 1 wieder auf (vgl. 2o8-2o9 und 1-2, 21o-211 und 4-5, 212-213 und 8-9, 214-221 und 12-17, 222-227 und 25-33, 228 und 44, 229-231 und 45-47, 232 und 51), T. 233-256 solche aus der 1. Episode (vgl. 233-24o und 52-59, 241-243 und 62-64, 244-25o und 79, 2. Viertel bis 85, 251-256 und lo5-llo). Bis zu dieser Stelle hält sich die Rekapitulation in Selektion stets an die Reihen­ folge des Exponierten und verzichtet auf jegliche Ergän­ zung neuer Takte; bemerkenswert ist, daß sich unter den ausgelassenen Partien auch der erste Tanzabschnitt (T. 8 6 ff.) befindet. Dieser wird nun in T. 263-266 (vgl. 86-89) gleichsam nach­ geholt, und seine geänderte Placierung hat zur Folge, daß die zu ihm hinführenden Takte ebenfalls umgestaltet wer­ den. Schließen T. 259-26o (vgl. 116-117) noch an die Re­ kapitulationsreihung des Vorangehenden an, so sind die umgebenden Zweitakter T. 257-258 bzw. T. 261-262 neu for­ muliert . Nach der Wiederkehr des ersten Tanztypus wird das bis T. 256 strikt beibehaltene Rekapitulationsprinzip der unver­ änderten Reihenfolge endgültig aufgegeben; und ließ bis zu diesem Takt die Wiederaufnahme auch den Satzzusammen­ hang und Umfang der Taktgruppen unangetastet, so treten nun Momente der freien Verarbeitung in den Vordergrund. In T. 267-275 werden nochmals T. 12-17 aus Teil 1 aufge­ griffen und in extremer Reduktion des Tonsatzes, doch auch in sukzessiver Doppelung entfaltet. T. 276-279 be­ ziehen sich auf T. 142-145 aus Teil 2, lassen die zweite Takthälfte von T. 144 aus und vertauschen die beiden Takt­ hälften von T. 145; in T. 279-28o wird der zweite Tanz­ typus der 1. Episode (vgl. T. 122) angedeutet, T. 281 übernimmt mit T. 155 wiederum einen Takt aus Teil 2. Die ausgedehnteste Verarbeitung jedoch erfährt die Wiederauf­ nahme eines Tanzabschnitts in T. 282-293; durch Tempo und den Tonsatz seines Anfangs deutlich auf T. 159ff. in Teil 2 bezogen, greift er jedoch auch Elemente aus anderen Tanz­ abschnitten auf. Die Rekapitulation in Teil 3 unterstreicht die besondere Rolle der Tanztypen im Streichtrio. Die Änderung des Re­ 43 kapitulationsprinzips nach T. 256 geschieht im Hinblick auf die Wiederkehr des ersten Tanzabschnitts, der zuvor gezielt ausgespart blieb. Und die verarbeitende Wieder­ aufnahme kulminiert in einem von Tanzelementen bestimmten Abschnitt, mit dem die Komposition ausklingt. 3. Ein Jahr nach dem Streichtrio schrieb Schönberg "A Survivor from Warsaw" op. 46. Als zentraler Gedanke die­ ser - ebenfalls dodekaphonen - Kantate ist die Gegenüber­ stellung des expressiven atonalen Idioms, das keine The­ men und Motive kennt, und der gebundenen Zwölftontechnik anzusehen, in der es wieder möglich war, Themen, Melodien zu schreiben. Dieser Konfrontation kommt in op. 46 eine über den internen musikalischen Zusammenhang hinausge­ hende Bedeutung zu, nicht nur eine politische im Zusam­ menwirken mit dem Text, sondern auch als Abbild der Ent­ wicklung des Schönbergschen Komponierens^. Die weitge­ hende Übereinstimmung mit der Konzeption des Streichtrios ist unverkennbar. Aber während in op. 46 die musikalische Idee auch im musikalisch-technischen Bereich, im Übergang vom athematischen zum thematischen Komponieren, stringent auskomponiert wird, steht im Streichtrio die Ausdrucks­ sphäre, der Gegensatz zwischen aggressiver Geste und dem melodiös Schönen, im Vordergrund. In beiden Kompositionen jedoch ist der formale Verlauf auf der Grundlage der ge­ genübergestellten Bereiche der gleiche; beide Komposi­ tionen gehen aus vom Amelodischen, Zerstückelten und füh­ ren hin zum Thematisch-Melodischen, Gebundenen. 5 Vgl. Christian Martin Schmidt, Arnold Schönbergs Kantate "Ein Überlebender aus Warschau" op. 46, in: Archiv für Musikwissen­ schaft XXXIII, 1976, S.174-188 und 261-277 44 Rudolf Stephan ALBAN BERG Alban Bergs Name, der eines der edelsten Komponisten un­ seres Jahrhunderts, ist verknüpft sowohl mit einem der größten Erfolge als auch mit einem der häßlichsten Skan­ dale. Am 31. März 1913 fand in Wien, einen knappen Monat nach der triumphalen Uraufführung der Gurre-Lieder Arnold Schönbergs, ein Konzert des Akademischen Verbandes für Literatur und Musik statt, das Werke von Schönberg, Zem­ linsky, Webern und Berg brachte und noch die Kindertotenlieder Mahlers bringen sollte. Bei den Orchesterstücken Weberns gab es schon Unruhe, bei der Aufführung zweier kurzer Lieder nach Ansichtskartentexten von Peter Alten­ berg von Alban Berg brach ein beispielloser Lärm aus. Der Skandal ist oft geschildert worden, es bleibt jedoch denk­ würdig, daß ein Werk Bergs - ein freilich als provokato­ risch empfundenes Werk - ihn ausgelöst hat. Es läßt sich schon sagen, was den Skandal provozierte, der Text A'ltenbergs - "siehe Fraue, auch du brauchst Gewitterregen" -, die Diskrepanz zwischen dem riesenhaften Orchesteraufge­ bot und dem Miniaturcharakter der beiden aufgeführten Lieder usf. Die notorische Atonalität wird noch als das geringste Übel empfunden worden sein... Und dann, noch nicht ganz zwölf Jahre später, in Berlin der ganz auRerordentliche Erfolg der Uraufführung der Oper "Wozzeck" an der Preußischen Staatsoper unter Erich Kleiber. Die Hetze gegen das Werk, die von gewissen Krei­ sen betrieben wurde, hat den Erfolg stimuliert und ihm erst die richtige Würze und Würde gegeben. Daß Berg über den Erfolg, wie Adorno gelegentlich berichtete, hätte ge­ tröstet werden müssen, gehört wohl ins Reich der Legende. Der Skandal kam dann in Prag, er war politisch motiviert. Er richtete sich gegen die Aufführung des Werkes eines deutschen Komponisten am tschechischen Nationaltheater. Aber auch das ist alles Vergangenheit. Heute stehen die Werke Bergs nicht nur in hohem Ansehen, sie werden sogar ständig aufgeführt; und sie haben Erfolge, sowohl bei den Kennern als auch den Liebhabern (um in Kategorien des 18. Jahrhunderts zu reden), sogar beim breiten Publikum. Es ist erstaunlich, ein wie hoher Prozentsatz der Werke Bergs dauerhaften Erfolg hat: die beiden Opern, "Wozzeck" und "Lulu", die beiden Konzerte, das Kammerkonzert und das Violinkonzert, die beiden Quartette, das Opus 3 und die "Lyrische Suite"; die Klaviersonate op.l galt Eduard Erdmann um 192o als das beste moderne Klavierstück, und 45 auch die Orchesterstücke o p . 6 sowie die - veröffentlich­ ten - Lieder werden so oft aufgeführt, daß ihr Erschei­ nen auf Konzertprogrammen kaum als Besonderheit gebucht zu werden braucht. Allenfalls tritt die Konzertarie "Der Wein" etwas zurück, aber das besagt schließlich auch nichts. Berg hat insgesamt wenig komponiert, aber das Wenige hat sich durchgesetzt, fast ausnahmslos durchgesetzt. Dennoch empfand es Berg als bedrückend oder beschämend, so wenig komponiert zu haben (vor allem, da er ja kein ausübender Musiker wie Mahler oder Zemlinsky war), und aus diesem Grund hat er darauf verzichtet, nach seinem opus 7, dem "Wozzeck", die Werke mit Opuszahlen zu versehen. Hätte er weitergezählt, er wäre gerade bis op.12 gekommen. (Krenek hatte aus dem umgekehrten Grunde mit dem Zählen aufgehört, aber später, um sich und anderen einen Überblick zu ermög­ lichen, die Zählung wieder aufgenommen: mit 5o Jahren älter wurde Berg nicht - stand Krenek bei op.125.) Indessen täuscht bei Berg die geringe Zahl etwas. Es gibt bei ihm eine ganze Reihe von Zweitfassungen, die selbstän­ dige Bedeutung beanspruchen dürfen: die drei Sätze aus der Lyrischen Suite für Streichorchester, die Lulu-Suite, allein wegen der unvergleichlichen zukomponierten Einlei­ tungstakte, das Adagio aus dem Kammerkonzert für Klavier, Klarinette und Geige u.a.m. Es gibt da noch Neues zu ver­ melden: nicht nur jene Fuge über zwei Themen für Streich­ quintett und Klavierbegleitung, die als erstes Werk des jungen Berg in der Öffentlichkeit erklungen ist (im Rah­ men eines Konzerts von Schülern Schönbergs im Jahre 19o7) , sondern auch Bearbeitungen für Klavier zu vier Händen, und zwar eine des Streichquartetts op.3 und eine des er­ sten der Orchesterstücke op. 6 . Im Nachlaß Bergs finden sich natürlich zahllose Jugendwerke, auch die Übungsstücke, die Berg für Schönberg komponiert hat. Der Übergang vom Übungsstück zur Komposition ist bei Berg übrigens nicht eindeutig fixierbar. Jedenfalls gingen dem ersten aner­ kannten Werk Bergs, der Klaviersonate op.l, noch weitere Sonaten voran, ja es scheint, daß die veröffentlichte So­ nate nur die reifste der komponierten ist, eigentlich die sechste. Man wird nicht sagen können, daß die anderen fünf gänzlich aus Bergs Gesichtskreis verschwunden sind, wenn man erkennt, daß die vierte Sonate (in d-Moll) in dem be­ rühmten großen Zwischenspiel vor dem letzten Bild der Oper "Wozzeck" wieder aufscheint: nicht eine bloß skizzierte Symphonie aus der Zeit vor den Orchesterstücken o p . 6 ist, wie gelegentlich zu lesen ist, in dieses große Zwischen­ spiel eingegangen, sondern eine der frühen Klaviersonaten aus der Zeit des Unterrichts. Berg hat eben seine Frühwerk§ nicht verleugnet - das zeigt schließlich auch die damals von Avantgardisten als anstößig empfundene Bear­ 46 beitung, Instrumentation und Herausgabe von Jugendliedern als "Sieben frühe Lieder" (1928) . Die Symphoniefragmente Bergs, die teilweise schon in Faksimile-Reproduktionen allgemein zugänglich sind, bisher jedoch kein Interesse erregt haben, sind äußerst lehr­ reich: sie zeigen, wie Berg komponierte, wie er musika­ lische Gedanken entwickelte und formulierte. Sie werden, wie alles Relevante aus Bergs Hinterlassenschaft, im Rah­ men der Gesamtausgabe der Werke Bergs der Öffentlichkeit bekannt gemacht werden. Schönberg, der Lehrer, und Webern, der Freund, haben zu wiederholten Malen hervorgehoben, daß es ihnen, nach der Preisgabe der Kunstmittel der Tonalität, nicht möglich war, umfangreichere Instrumentalkompositionen zu schrei­ ben. Sie komponierten einerseits "Kurze Stücke", anderer­ seits Vokalwerke, deren Form durch Länge, Struktur und Gliederung des poetischen Textes bestimmt wird. Der Wunsch, wieder große Formen im Bereich der Instrumentalkomposition realisieren zu können, war einer der Antriebe, die zur Entwicklung der Kompositionsmethode mit zwölf nur aufein­ ander bezogenen Tönen geführt hat. Schönberg fühlte sich, als die Methode sich als erfolgreich erwies, erleichtert und sprach von der Wiedergewinnung der Spontaneität. Berg kannte diese Probleme, trotz der in den Klarinettenstücken op.5 und den Altenbergliedern op.4 realisierten kleinen Formen, offenbar nicht. Dies erweisen nicht nur das Quar­ tett op.3 - unter diesem Aspekt ein Werk von einzigartiger Bedeutung - und die Orchesterstücke op.6 , sondern vor allem das Kammerkonzert, das schließlich bereits konzipiert und weitgehend ausgearbeitet war, als Berg die ersten verläß­ lichen Nachrichten über die neuen Formprinzipien erhielt. Auch die Symphoniefragmente aus der Vorkriegszeit erwei­ sen, daß Berg diese Probleme eigentlich fremd waren. Um diese Tatsache richtig würdigen zu können, erscheint es angezeigt, sich an einiges zu erinnern. Schönberg hat in dem Kapitel "Ästhetische Bewertung sechsund mehrtöniger Klänge" seiner Harmonielehre (1911) , von der er gesagt hat, er habe sie von seinen Schülern ge­ lernt, auch einen (damals) ungewöhnlichen Klang von Alban Berg zitiert. "Warum das so ist und warum es richtig ist, kann ich im einzelnen vorläufig noch nicht sagen. (...) Aber daß es richtig ist, glaube ich fest, und eine Anzahl anderer glaubt es auch" (1.Aufl.,S.469). Edwin von der Nüll, der diese beiden Sätze ebenfalls zitierte, wagte ei­ ne Analyse: "Wir erklären", so schrieb er in seinem Buch "Moderne Harmonik" (1932) , "die beiden Akkorde (der er­ ste bleibt orgelpunktartig liegen) folgendermaßen: simul­ tane Dur-Moll-Vermischung über dem Grundton h ergibt den 47 Vierklang h-d-dis-fis (dis ist hier falsch als es notiert) dem die Septe a beigefügt ist; Dur-Moll-Vermischung über dem Grundton e verursacht den Vierklang e-g-gis-h (gis fälschlich als as geschrieben); 'es ' ist Unternebenton des Grundtons e, c Obernebenton der Quinte h. Die Akkord­ folge ist im Sinne einer Dominant-Tonika-Kadenz zu ver­ stehen. Dabei wollen wir die Geschlechtervermischung durch Vereinigung der Tonartzeichen (...) Formel: Ee: V I" (S. 84) . Diese Analyse ist scharfsinnig, aber, wie bereits Lukas Richter bemerkte, leider nicht richtig. Den musikalischen Sachverhalt treffend zu beschreiben, hätte es der Einsicht in den musikalischen Zusammenhang, in dem sich diese Klänge finden, bedurft. Dieser wird aber in der Harmonie­ lehre nicht gegeben. Schönberg kommentiert das Beispiel selbst sehr merkwürdig: "Für die Folgen solcher Akkorde scheint die chromatische Skala verantwortlich gemacht wer­ den zu können. Die Akkorde stehen meist in dem Verhältnis, daß der zweite möglichst viel solcher Töne enthält, die chromatische Erhöhungen der im vorhergehenden Akkord vor­ kommenden sind. Aber sie kommen selten in derselben Stim­ me vor. Dann habe ich bemerkt, daß Tonverdopplungen, Ok­ taven, selten Vorkommen" (1.Auf1.,S.469). Ist das jedoch eine zutreffende Beschreibung des Berg-Zitats? Oder ein hinreichender Kommentar zu den musikalischen Vorgängen? Schönberg hat in den späteren Auflagen der Harmonielehre gerade diese Partie stilistisch verbessert, verdeutlicht, nicht aber den Inhalt modifiziert. Das wäre jedoch nötig gewesen. Hat nicht der zweite Akkord zwei Töne mit dem ersten gemeinsam, Es und H? Bilden die gemeinsamen Töne keine Oktaven? Schließlich kann die Bemerkung, daß sich die Stimmen des Tonsatzes selten in kleinen Sekundschritten darstellen - so die Bemerkung der dritten Auflage (S. 5o5) - nur dahingehend interpretiert werden, daß es sich in Schönbergs Werken so verhält. Bei Berg ist dies jeden­ falls anders. Gerade der Zusammenhang, in dem sich das Zitat findet, im Schlußabschnitt des letzten der Lieder op.2 (also im dritten Mombert-Lied, op.2, Nr.4, Takt 22), der ersten nicht mehr tonalen Komposition Bergs, ist hier überaus aufschlußreich. Der erste der zitierten Klänge ist Endpunkt einer Ent­ wicklung, der zweite hat mehr koloristische Bedeutung. Die dem Hauptklang vorangehende Tonbewegung läßt sich leicht beschreiben: im Baß die aufsteigende Folge reiner Quarten b-es-as-des-ges-ces (umgedeutet als h), in den Oberstimmen der chromatisch abwärts geführte Quartenakkord-, bestehend aus einer übermäßigen und einer reinen Quart as-d-g (über b). Die jeweiligen Akkorde können also 48 NB 1: Alban Berg, Vier Lieder für eine Singstimme m i t Klavier, op.2, nach Gedichten von Hebbel und Mombert hier: op„2 Nr.4 (T.16-25) @ 1928 by Schlesinger'sehe Buch- u. Musikhandlung, Berlin­ Lichterfelde; @ -Renewal 1956 by Frau Helene Berg, Wien nicht umstandslos aus der Baßfolge abgeleitet werden. Die Behauptung von Redlich, "das harmonische Geschehen dieser Takte ist in der völlig vertikalen Auswirkung des hori­ zontalen Geschehens der Baßlinie enthalten", ist sicher unzutreffend. Redlich, dessen Ausführungen leider gele­ gentlich unklar sind, kommt das unbestreitbare Verdienst zu, die Wichtigkeit dieser Stelle erkannt und die Bezie­ hung zu dem harmonischen Schema, das sich am Anfang des ersten (noch tonalen) Mombert-Liedes (op.2,Nr.2) findet, bemerkt zu haben. Aber seine Argumentation zielt in die falsche Richtung. Er sucht Antizipationen der Zwölftonmethode, während es doch in der Tat darum geht, die un­ mittelbare Folge der Klänge zu erklären. Alle erschei­ nenden Klänge sind Abkömmlinge von Septakkorden, aber ihre konkrete Gestalt - d.h. hier, die Entscheidung, wel­ cher Akkordton jeweils durch einen unmittelbar benach­ barten Ton ersetzt wird - verdanken sie dem Schema: Quart­ folge gegen chromatisch fallende Quartenakkordkette. Dieses Schema ist vorgegeben - es kann nicht zufällig entstanden sein - und leitet sich gewiß aus Parallelbe­ wegungen, die Berg etwa bei Debussy hat studieren können, 45 ab. (Die Herkunft der Quartfolge aus Schönbergs Kammer­ symphonie bedarf keines Nachweises.) Die Verbindung von chromatischen Gängen und Quartfolgen (und Quartklängen) ist für die Mombert-Lieder charakte­ ristisch. Am Anfang des ersten (op.2,Nr.2) findet sich eine etwas andere Kombination. Die Harmoniefolge kombi­ niert ab dem vierten Klang die Quartfolge im Baß mit der chromatisch fallenden Bewegung der drei Oberstimmen (zu denen noch die Singstimme tritt). Langsam (Tempo I) Alban Berg,Op.2. H° 2 NB 2: Alban Berg, Lied op.2 N r . 2 (T.l-5) Auch hier nötigt der Wunsch, die Oberstimmen so (und nicht anders) zu führen, zu Alterationen der Septakkorde über des und ces. Es ist kaum zweifelhaft, daß als Grundmuster eine Klangfolge anzusehen ist, die die chromatische Be­ wegung auch für die Anfangsklänge annimmt. Indessen spielt hier noch das Motivische eine Rolle: verminderte Quart und kleine Terz (fes-es-c) als Melodie und die abwärts gleitende Chromatik: "Schlafend trägt man mich in mein Heimatland". Das Schlafmotiv aus der "Walküre" ist die Quelle der Chromatik (nicht jedoch des Tonsatzes). In welchem Umfang chromatisches Gleiten für den nicht tonalen Tonsatz Bergs bezeichnend ist, zeigt vornehmlich eine andere Taktgruppe im letzten Mombert-Lied. (Auf die Füllung der Takte 3f. mit Ausschnitten aus der chroma­ tischen Skala, desgleichen die chromatischen Gänge nach dem Höhepunkt Takte 15ff., c-Gis, des-f, a-d1, ist hier als auf die einfachsten Gestalten resp. Formbildungen nur hinzuweisen.) In den Takten 12 bis 15 bietet ein wichtiges Motiv den auftaktigen |J Tritonus c-fis, der vielfach wiederholt wird. In den Unterstimmen setzt von der Quint Fis-cis aus­ gehend eine sich spreizende chromatische Gegenbewegung 5o poco rit. - . schmilzt und glit-zert kal - ter V Nock langsameres Tempo — r— .... Schnee, ein r*— M;id - chen r— "T"* in ,— ------- r— ^^ grau-em Klei - de sehr ausdrucksvoll # - - spitz — te— ^ t —i lehnt an feuch-tem , f*- ... f i i r - ---- u - t , - - # : ---------- ^ mfspi .................. y Zeit lass m P ....................... jt " qi Der Vorschlag ruhig und langsam zu nehmen! NB 3: Alban Berg, Lied op.2 N r . 4 (T.11-15) bis Dis-e ein, dann in Takt 14 dieselbe von E-dis begin­ nend bis D-f, schließlich mit Dis-e beginnend bis D-es. Gibt man jedem Klang eine Kennziffer, so entsteht die Zahlenfolge 1-2-3-4/3-4-5/4-5. Im Oberstimmenkomplex der Takte 15 und 16 spielt sich folgendes ab: Oberstimme: c fis g c fis c fis c fis 51 Mittelstimme: Unterstimme: c c c c c c c c h cis cis h h c d d b b es a a Es ließe sich dazu sicher noch manches sagen, etwa näher erklären, wie das Glissando in Gegenbewegung, das die Kommentatoren schon immer gereizt hat, aus dieser Klang­ bewegung herauswächst, d.h. - sie aufbricht. Auch über die Verwandlung des Rhythmus wäre zu sprechen. Das sei hier vernachlässigt zugunsten der wichtiger erscheinenden Feststellung: Die chromatische Skala beherrscht die Me­ lodiebildung nicht nur direkt, sondern auch indirekt. Die Tonbewegung wird primär durch abstrakte Zeichen - seien dies nun Zahlen oder graphische Bilder - gesteuert. Der Steuerungsplan wirkt sich nicht bis in alle Einzel­ heiten hinein aus - so kann der Eintritt eines neuen Tones verzögert werden, Einzelstimmen können sich vereinigen usf. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel bietet der Schluß des dritten der Klarinettenstücke op.5. Hier entwickeln sich aus der Terz c 1 -e ' vierstimmige Akkordkomplexe. Jeder der beiden Töne wird zum Ausgangspunkt einer chro­ matischen Auf- und Abwärtsbewegung: e '- f '-fis'- g 1 -as' und e'-es'-d', sowie c '-cis'- d '-es 1 und c'-h-b-a. Der Schluß­ ton g tritt an die Stelle des as, das mit Rücksicht auf die oberste der genannten Stimmen, und im Hinblick auf die noch hinzutretende tiefste Stimme, entfällt. Diese tiefste Stimme, die ihren Ausgangspunkt von dem in die Terz c-e hineingespielten d' nimmt, ist eine durch Oktav­ versetzung gebrochene chromatische Skala: d ’-es-e-F-FisG-As-A. Der Sinn eines derartigen kompositorischen Verfahrens be­ steht darin: Der Autor hat es bei der Komposition nicht mit Einzeltönen zu tun, sondern bereits mit recht diffe­ renzierten größeren Einheiten: Klangkomplexen und Klang­ folgen. Dieses Verfahren ist mit ähnlichen in Zusammenhang zu sehen, so etwa mit der Technik des Klangzentrums, die bei Berg ebenfalls eine ganz erhebliche Rolle spielt; das soeben beschriebene Verfahren hat jedoch den Vorzug, daß es eine Klangfolge bildet, bei der die Aufeinanderfolge der Einzelklänge als begründet erscheint. Ob sie als lo­ gisch bezeichnet zu werden verdient, ist eine andere (mehr terminologische) Frage. Wenn die Voraussetzungen als solche 52 Im m er noch rascher. sempre NB 4: Alban Berg, Klarinettenstück op.5,3 (T.14-18) © 1924 by Universal Edition; © -Henewal 1952 by Frau Helene B e r g , Wien anerkannt sind, kann das Ergebnis als logisch aus diesen Voraussetzungen folgend betrachtet und angesprochen wer­ den . Es gibt natürlich noch etliche andere Techniken, die ei­ ne sinnvolle Tonkonstellation ermöglichen, z.B. die der Füllung eines durch ein Motiv bezeichneten Intervalls, also die Realisierung eines chromatischen Totais inner­ halb eines fixierten Ambitus. Hierfür kann der Anfang des genannten dritten Klarinettenstücks einstehen: Der über­ mäßigen Quint c'-gis' folgt als Zentrum das e'; von die­ sem Ton ausgehend entwickeln sich aufsteigend f'fis'-g 1 53 und absteigend es '- d '-des'. NB 5: Alban Berg, Klarinettenstück op.5,3 (T.l-3) Die Technik der Gegenbewegung ist keineswegs ein bloß ausgedachtes Verfahren, sie hat vielmehr eindrucksvolle Vorbilder. Das chromatische Gegenbewegungsmodell im er­ sten Satz der Zweiten Symphonie von Mahler gehört in die­ sen Zusammenhang. Das Wichtigste dürften aber die aushar­ monisierten unendlichen (freilich überwiegend diatonischen) Skalen sein, die sich insbesondere in der Kirchenmusik­ tradition finden, vor allem eindrucksvoll bei Bruckner (z.B. in der d-Moll-Messe), aber auch bereits früher, z.B. in den letzten von Mozart komponierten Lacrimosa-Takten seines Requiems. Das Kompendium der Satztechniken, die einen tonartfreien musikalischen Zusammenhang wenn nicht erzwingen, so doch ermöglichen, sind die vieldiskutierten Orchesterlieder nach Ansichtskartentexten von Peter Altenberg op.4. Hier müssen Hinweise genügen. Der Mittelteil des dritten Liedes - "Leben, und Traum vom Leben" - ist ein Musterbeispiel für die chromatische Gegenbewegung. tt«1 ¥ W" «ca. Vf NB 6 : Alban Berg, 5 Orchesterlieder nach Ansichtskartentexten von Peter Altenberg op.4 hier: op.4 Nr.3 (T.12-14 Klavierauszug) © 54 1953 by Universal Edition A.G., Wien Die Rahmenteile bieten den durch die Mittel der Instru­ mentation ständig in sich kreisenden Zwölfklang, eine mu­ sikalische Allegorie des Alls, von dem der Text spricht. Das letzte Lied, eine Passacaglia, verarbeitet mehrere musikalische Gedanken unterschiedlicher Herkunft und un­ terschiedlicher Bedeutung. Der Passacagliabaß g-as-b-cis-e wird nicht nur wiederholt, sondern auch noch als Akkord und als klangdarstellende Figur verwendet. Als solche wird er auch transponiert. Wichtig ist also hier die Transponierbarkeit des Motivs, seine Umwandlung in Klang und seine gleichzeitige Verwendung auf mehreren Bedeutungs­ ebenen ("Schichten"). Eines der Motive basiert auf Quarten, ein anderes ist - wie bekannt - eine Zwölftonfolge. Diese ist nichts anderes als eine Melodisierung der chromatischen Gegenbewegungsfigur: c-des-h-b-d-a-es-as-g-fis-f-e. NB 7: Alban Berg, Orchesterlied op.4 N r . 5 (T.5-10 Klavierauszug) Die Konsequenzen aus den Errungenschaften, die diese Werke boten - vor allem die Klarinettenstücke und die Altenberglieder - sollte die Symphonie ziehen. Berg plante minde­ stens zwei Sätze, einen freien und einen passacagliamä­ ßigen. Die Entwicklung der musikalischen Einzelheiten aus Strukturverhältnissen wie den beschriebenen, aus als ele­ mentar zu denkenden Satztypen, Bewegungsformen und Ton­ konstellationen ist ganz deutlich erkennbar. Berg hat die­ sen Plan nicht realisiert, die begonnene Arbeit abgebro­ chen. Die Symphoniefragmente, wie sie überliefert sind, stellen die einzigen nennenswerten Bruchstücke aus Bergs Nachlaß dar. Warum Berg die Komposition abgebrochen hat, läßt sich genau nicht mehr ermitteln, vermutlich war ein Einspruch Schönbergs der Grund. Schönberg empfahl Berg nämlich, Charakterstücke zu schreiben, d.h. nichts ande­ res, als vom Ausdruck und nicht von der Konstruktion aus­ zugehen, also das Thematische oder Motivische wieder als das Primäre anzusehen und nicht die konkreten musikali­ schen Gestalten aus einem abstrakten Modell abzuleiten. Charakterstücke bedürfen (vor allem rhythmisch) geprägter 55 musikalischer Gestalten, nicht nur bestimmter Tonkonstel­ lationen, die sich verarbeiten lassen. Berg hat also den Symphonieplan aufgegeben und dafür eine Art Suite, eben die Orchesterstücke op.6 , komponiert. Die einzelnen Stücke rücken Mahlersche Charaktere in den Vordergrund: im zwei­ ten sind es Walzer- resp. Ländlercharaktere, im dritten Märsche. Manche der charakteristischen Motive - keines­ wegs sämtliche: es gibt auch noch andere Quellen - sind freilich gleichwohl nach den uns jetzt schon geläufigen Prinzipien entwickelt, z.B. das Violinmotiv (II,16f.) oder die Holzbläserfigur (11,24). Geblieben ist jedoch den Abschnitten, die nicht von thematischem Geschehen be­ herrscht werden, die Fundierung auf einer vorgegebenen Tonfolge. Im zweiten der Orchesterstücke basieren die er­ sten 14 Takte auf einer (sich übrigens beschleunigenden) aufsteigenden chromatischen Skala im Baß vom Umfang einer kleinen Non, von cis bis d - über die formale Gestaltung im einzelnen ist jetzt hier nichts auszuführen -, die Takte 14/15 sind ein als Nebenstimme bezeichneter rascher chromatischer Abstieg von ges" bis c", die Takte 16 bis 2o im Baß ein Aufstieg von fis bis b, in der Oberstimme ein rascher Abstieg durch 2 Oktaven von b" bis b. In Takt 2o beginnt dann der Walzer, und mit seinem Einsetzen ge­ winnen bestimmte Figuren, Rhythmen und Wendungen die Ober­ hand: sie dienen als Außenhalt. Es ist selbstverständlich, daß nicht nur chromatische Gänge vorprogrammiert sein können, sondern jede beliebige Konstellation, z.B. die Folge: Halbton - Ganzton - kleine Terz, d.h. Abstände von aufeinanderfolgend 1, 2 resp. 3 Halbtönen (wie etwa im Passacagliathema des letzten der Altenberglieder), oder Ganztonreihen, Quartenfolgen usf. Dies alles sind abstrakte Dispositionen, die erst nach­ träglich mit musikalischem Inhalt gefüllt werden. Das­ selbe gilt für Rhythmen oder, wenn man will, Dauerwerte. Berg hatte also bereits vor dem ersten Weltkrieg Verfah­ ren entwickelt, die die Realisation sinnvoll erscheinen­ der großer Formen ermöglichte. Er hat sein für die Kom­ position verbindliches Ausgangsmaterial niemals bis auf den Einzelton reduziert, sondern ist stets von Tonkonstel­ lationen, seien dies Klänge oder Tonfolgen, ausgegangen. Vor allem jedoch von Klängen. Hier wäre ein genauer Ver­ gleich von Bergs Klarinettenstücken und Schönbergs klei­ nen Klavierstücken, auf die sich Berg, nach Adornos Be­ obachtung, direkt bezieht, wohl auch mit den gleichzeitig entstandenen Quartettbagatellen op.9 und den kleinen Or­ chesterstücken op.lo von Webern nützlich. Aber es genügt ein Blick auf die Klangflächen und Akkordsäulen Bergs, um den grundsätzlichen Unterschied sofort gewahr zu werden. 56 Theodor W.Adorno, der einige von Bergs kompositionstech­ nischen Funden erkannt hat, schrieb 1961, also vor mehr als zwanzig Jahren: "Der Unterschied kleiner Formen - bei Webern - und großer - bei Berg - ist nicht bloß quantitativ. Aus­ dehnung bestimmt die Qualität jeder Einzelheit von Musik obersten Anspruchs. Bei Webern hieß Detailar­ beit: Profilierung des Details, so sehr, daß das kur­ ze Gebilde an Kontrast und Übergang weniger Gestalten sein Genügen hat. Bei Berg meint Durchbildung der De­ tails fast etwas wie deren Vernichtung, Aufhebung. Worin er der Tonalität sich anschloß, die Leittönigkeit, die Allgegenwart des kleinsten Schritts, war ein traditionelles Mittel, jenes Untraditionelle, die Ver­ nichtung des musikalisch Einzelnen durchs Ganze, zu bewirken. Bergs Musik ist, wie die der Schönbergschule insgesamt, panthematisch, will sagen, es gibt keine Note, die nicht abgeleitet wäre, die nicht aus dem Mo­ tivzusammenhang des Ganzen folgerte; jedenfalls nicht, seitdem Berg das Schwergewicht der tonalen Harmonik abschüttelte, die dem panthematischen Verfahren ent­ gegen ist" (Quasi una fantasia,1963,S .249f.). Es sei versucht zu verstehen, was Adorno hier meint. Die "Allgegenwart des kleinsten Schritts", der kleinen Sekund ist schon festgestellt worden, wenngleich der Begriff "Allgegenwart" vielleicht doch etwas übertrieben erscheint. Daß diese Schritte jedoch dazu da seien, das musikalisch Einzelne zu vernichten oder diese Vernichtung zu bewirken, erscheint fragwürdig, mindestens des Beweises bedürftig. Ich halte diese Ansicht für unbeweisbar und wohl auch un­ zutreffend. Auch die Behauptung, die Musik Bergs sei pan­ thematisch im gleichen Sinne wie die Schönbergs, die an Verfahren von Brahms anknüpft, erscheint eher problema­ tisch. Adorno erkennt als Vorbilder für Berg Symphonie­ sätze Mahlers, das Finale der Sechsten und den ersten Satz der Dritten, die nun wahrlich alles andere als pan­ thematisch sind. Wenn etwa der Anfang des ersten der Orchesterstücke op . 6 beschrieben werden sollte, so müßte die allmähliche Kon­ stitution eines Klanguntergrundes (oder -hintergrunds) aus einzelnen, sich verdichtenden Geräuschen beschrieben werden, dann das allmähliche Entstehen von Melodieschrit­ ten (Fagott T. 6 f.) und Rhythmen in extremer Farbe (Alt­ posaune in hoher Lage, T.9ff.), die jedoch alle noch nicht als Thema, kaum als Motiv angesprochen werden kön­ nen. Alle diese Ereignisse bereiten vielmehr auf zunächst nur zu erahnende musikalische Ereignisse vor, die dann T.15ff. tatsächlich auch eintreten. Es wäre schon möglich, 57 den Vorgang als Herauswachsen des Thematischen zu be­ schreiben? aber das, woraus es herauswächst, ist selbst noch nicht thematisch, also vorthematisch; eben noch nicht, wie man früher sagte, "gestalthaft", wenn auch vielleicht die Quelle von Gestalten. Es ist der Hinter­ grund, aus dem das Thematische hervortritt, oder der Un­ tergrund, aus dem es aufsteigt, also das gerade Gegenteil eines die Einzelheiten Vernichtenden. Das heißt jedoch nicht, daß nicht vielfach der Eindruck erweckt werden sollte, als wäre dieser Untergrund (Klanghintergrund) das Vernichtende, insofern das erkennbare motivisch-thema­ tische Geschehen in ihm untergeht. Tatsächlich ist er jedoch nichts anderes als die Folie, vor der sich alles abspielt und die verschiedenartigste Beziehungen zwischen Hintergrund und (motivisch-thematischem) Vordergrund zu­ läßt. Die von Adorno verabsolutierte Funktion des Vernich­ tenden ist nur eine einzelne unter mehreren gleichberech­ tigten Funktionen, und sicher nicht die wichtigste. Damit fällt auch die These von der Bergschen Panthematik. Die Marschmotive im dritten der Orchesterstücke dienen ja auch weniger der Ermöglichung thematischer Arbeit als der Artikulation des durch die rhythmischen Impulse vor­ angetriebenen Klangstroms. Sie gewähren, wie die Muster Barcarole, Walzer usf. im "Pierrot lunaire", musikalischen Außenhalt. Die Stücke selbst sind eben, wie Berg sagte, Charakterstücke. Das Thematische hat für Berg überhaupt eine Funktion, die den Begriff der Panthematik kaum als sinnvoll auf seine Werke anwendbar erscheinen läßt. Oder er gewinnt, wenn er angewandt werden soll, eine ganz neue Bedeutung. Daß in einer Komposition jede Note thematisch ist, kann nur dann festgestellt oder sinnvoll behauptet werden, wenn sämt­ liche Gestalten sich auf ein einziges Thema oder einige wenige Themen zurückführen lassen: Jedenfalls kann nicht eine beliebige, vielleicht sogar unendliche Zahl von The­ men als Ausgangspunkt angenommen werden. Panthematik heißt ja nicht nur, daß alle vorkommenden Gestalten oder Figuren irgendwie thematisch bestimmt sind, sondern daß dadurch musikalischer Zusammenhang gestiftet wird. Werden zahlreiche Themen angenommen, so entfällt die zusammen­ hangbildende Funktion. Das ist schon früh bei Berg auf­ fällig. Das dicht gewobene letzte der Altenberglieder, das eine Passacaglia ist, kennt (mindestens) vier thema­ tische Substrate: das Passacagliathema, die Zwölftonfolge, die Quartenfolge und ein aus kleinen Sekunden und großen Terzen zusammengesetztes Thema. Aus all diesen Tonfolgen werden allerdings kaum Themen im traditionellen Sinn ge­ bildet, geschlossene Sätze oder Perioden, kaum Derivate 58 davon. Das sind eigentlich alles nur strukturbildende Faktoren. Das Thematische selbst, die Arbeit mit gepräg­ ten Gestalten, tritt hier, wie auch sonst bei Berg, ganz zurück. In dem besagten Altenberglied läßt sich wohl al­ les auf eine dieser vier Tonkonstellationen zurückführen, aber zusammenhangbildend ist doch nur die eine, das Passa­ cagliathema, das wiederum nicht nur als solches, sondern auch noch in anderer Funktion wirksam wird. Es gibt also zusammenhangstiftende und zusätzliche thematische Bezie­ hungen. Der Begriff des Thematischen bedarf hier eben zu­ sätzlicher, differenzierender Bestimmungen. Sollten auch die anderen in dem Stück nachweisbaren Beziehungen Zusam­ menhang stiften - was übrigens gar nicht bestritten zu werden braucht -, so bilden sie eben Zusammenhang auf ganz andere, wesentlich andere Weise, nicht formal, son­ dern eher assoziativ, wie Leitmotive. Dem entspricht durchaus die Verwendung der den späteren Werken zugrundeliegenden Zwölftonreihen. Aus ihnen wird entweder, wie im Violinkonzert, zuerst der Klanghinter­ grund abgeleitet und später erst die Themen - aber die Steuerung des Gesamtklangs ist die viel wichtigere Funk­ tion der Reihe als die Prägung von Themensätzen -, oder es werden aus einer Reihe, wie in der "Lulu", neue Reihen abgeleitet, die allenfalls ideell, jedenfalls nicht mu­ sikalisch, zur Ausgangsreihe gehören. Das Thematische in einem strengen Sinne spielt eben bei Berg gar keine so zentrale Rolle. In der gegenwärtigen Vortragsreihe wird sicher ein Wort zur Wirkungsgeschichte von Alban Bergs Oeuvre erwartet. Über gewisse Aspekte dieser Rezeptionsgeschichte gibt es bereits mehrere Schriften, vor allem natürlich zu "Wozzeck" auch über "Lulu" (namentlich wenn man die Vorgeschichte der Komplettierung der Instrumentation des dritten Auf­ zugs mit einbezieht). Wenn von einer künstlerischen BergNachfolge gesprochen wird, so erinnert sich jeder Opern­ freund sofort der "Soldaten" von Bernd Alois Zimmermann, fraglos einem Hauptwerk des neueren Musiktheaters. Form­ prinzipien, Texteinrichtung, Sprachbehandlung knüpfen an die Verfahrensweisen Bergs an und entwickeln sie weiter. Insbesondere das Zitatwesen hat bei Zimmermann eine erheb­ lich gesteigerte Bedeutung gewonnen. Selbstverständlich gibt es auch unterscheidende Momente, z.B. die Aktuali­ sierung des Geschehens. Da die "Soldaten" ein bedeutendes und großes Werk sind und so gar nichts Wohlfeiles an sich haben, möchte ich hier nicht durch einige Worte eine ge­ bührende Würdigung zu ersetzen suchen. Eines ist ganz sicher: ohne Bergs Vorgang hätte dieses gewaltige Opern­ werk nicht entstehen können, wäre seine Konzeption nicht möglich gewesen. 59 Nicht nur die Opern, auch die anderen Werke Bergs haben deutliche Spuren im zeitgenössischen Schaffen hinterlas­ sen. Adorno bemerkt einmal beiläufig, daß sich Spuren der "Lyrischen Suite" schon in Bartoks Viertem Quartett fänden (Berg,1968,S .36) und Berg darauf stolz gewesen sei. Tatsächlich hat die "Lyrische Suite", vor allem durch ihre spieltechnischen Neuerungen, erheblich gewirkt. Das erste Quartett op.7 des Berg-Schülers Hans Erich Apostel, das vom LaSalle Quartett so meisterhaft vorgetragen wird, entstammt ganz dieser Sphäre. Es ist Berg zum 5o. Geburts­ tag gewidmet und, aus Trauer über den vorzeitigen Tod des Meisters, unbeendet geblieben. Apostel hat einen Satz we­ niger, als ursprünglich konzipiert worden war, niederge­ schrieben. Das zweite Quartett Apostels op.26 (1956) hat sich von dem großen Vorbild etwas entfernt: Es ist im Thematischen konziser, weniger verschlungen, insgesamt etwas spröder und nüchterner. Vor allem im Stimmungs­ mäßigen ist es weniger Bergisch. Aber auch dieses Quar­ tett verdiente, wie so vieles von Apostel, eine allge­ meinere Beachtung. Die Frage der Wertschätzung solcher Werke wäre einmal grundsätzlich zu diskutieren. Sie werden geschätzt von all den Musikfreunden, die es begrüßen, daß es nicht nur ein Werk oder zwei Werke dieser Art gibt, sondern mehrere: Musikfreunden oder Beobachtern, die in den Nachfolgewer­ ken einen Beweis für die Qualität der Vorbilder und für die Tragfähigkeit der Kompositionsprinzipien, denen sie sich verdanken, sehen. Die Kommentatoren dagegen, die, meist aus geschichtsphilosophischen Erwägungen, auf der Einmaligkeit der Werke bestehen, sehen in den Nachfolge­ werken entweder einen Abklacsch, der überflüssig ist, oder eine Widerlegung bzw. eine Zurücknahme. Die Musiker des LaSalle-Quartetts jedenfalls, die beide Quartette seit Jahrzehnten gern spielen, also wissen, wovon sie sprechen, lieben diese Werke. Der ungarische Komponist Matyäs Seiber, der seit 1928 in Frankfurt am Main an Dr. Hochs Konservatorium eine JazzKlasse leitete, hat, vielleicht vermittelt durch Theodor Wiesengrund-Adorno, nähere Bekanntschaft mit Zwölfton­ musik gemacht. (Daß Adorno und Seiber miteinander bekannt waren und gemeinsam musikalische Probleme besprachen, geht aus einer Notiz in der Zeitschrift für Sozialforschung, 5,1936,S.235, hervor.) Das noch in Frankfurt begonnene Zweite Streichquartett Seibers, das erst 1941 uraufge­ führt und erst 1954 gedruckt wurde, ist bereits ein Zwölf­ tonwerk. Die Reihe freilich erinnert eher an Webern. John S. Weissmann beschreibt sie in seinem Aufsatz über "Die Quartette von Matyäs Seiber": "Die Reihe kann in drei 6o Gruppen von je vier Tönen geteilt werden, die eine ge­ wisse Symmetrie in der Bauart zeigen: die dritte Gruppe ist die Umkehrung der ersten, und die beiden letzten Töne der Mittelgruppe entsprechen den ersten zwei (Tritonus!). Die erste Gruppe und deren Abkömmlinge werden im Laufe des Werkes viel häufiger verwendet als die beiden ande­ ren" (Melos 22, 1955, S.346) . Ganz und gar Bergisch ist das in den Jahren 1949 bis 1951 entstandene Dritte Quar­ tett, das der Komponist nicht zufällig "Quartetto lirico" nennt. Schon eine Satzüberschrift wie Andante amabile er­ innert an das Vorbild, das Weissmann seltsamerweise nicht sogleich erkennt. Das Werk ist dreisätzig, der letzte Satz ein Lento espressivo. Nicht nur Berg, auch Bartoks Zweites Quartett mag hier nachwirken. Seiber, auf der Höhe seines Lebens, schreibt mit diesem Quartett ein durchaus selbständiges Werk, in welchem sowohl Berg als auch Bartok nachklingen. Der Anfang des ersten Satzes je­ denfalls erinnert sehr eindringlich an den Anfang von Bergs Quartett op.3. Die Reihe hat Seiber frei behandelt. Einige Bemerkungen zur Reihe und zur Analyse finden sich in dem genannten Aufsatz von Weissmann (Melos 23,1956, S.38-41) . Nicht nur die Quartette haben in bemerkenswerter Weise nachgewirkt, sondern auch - und vor allem - das Violin­ konzert. So mancher Komponist hat sich unter dem Eindruck gerade dieses Werkes, das schon bei seiner Uraufführung auf dem Musikfest in Barcelona tiefe Eindrücke hinterlas­ sen hat, überhaupt erst mit der Kompositionsmethode mit zwölf Tönen befaßt und so begonnen, sich von einer mehr klassizistisch orientierten Schreibweise abzuwenden. Ein Zeugnis dafür ist Bernd Alois Zimmermanns Violinkonzert von 195o, das aus einer Violinsonate hervorgegangen ist. "Der langsame Satz" steht, nach des Komponisten eigenen Worten, "ganz im Zeichen von sowohl höchster Expressivi­ tät als auch lyrischer Meditation" ("Intervall und Zeit", S.8 6 ). Von keinem früheren Werk Zimmermanns hätte dies gesagt werden können. Fand bei Zimmermann der Übergang zur Dodekaphonie rela­ tiv spät statt, so bei dem jüngeren Hans Werner Henze früh. Er hat zunächst ebenfalls ganz im Zeichen des da­ mals herrschenden Klassizismus komponiert - mit bemer­ kenswert leichter Hand und mit allerdings beachtlichen lyrischen Qualitäten. Henze war damals ganz auf die Äs­ thetik des Spielerischen, ja auf einen (zur Not der Zeit bewußt im Widerspruch stehenden) Ästhetizismus einge­ schworen. Der unerhörte Eindruck einer Aufführung des Bergschen Violinkonzerts ließ ihn dann aber sofort den Entschluß fassen, ebenfalls ein Werk derselben Art zu 61 komponieren: sein Erstes Violinkonzert 1947.(Es wurde allerdings erst 1956 gedruckt.) Henze wußte damals über die Verfahrensweise der Dodekaphonie so gut wie nichts, und aus dem Auszug des Berg-Konzerts, der einzig verfüg­ bar war, war auch nicht viel zu entnehmen. Henze hat an den Anfang seines Konzerts eine Zwölftonfolge gestellt nicht als Thema, sondern als Solo-Einleitung - und dann aus dieser Folge einen harmonischen Satz abgeleitet, der dem Bergschen durchaus entspricht. Henze hat also aus der Reihe nicht das Thema, sondern die Harmoniefolgen entwickelt. Natürlich gibt es bei Henze Freiheiten, die sich bei Berg in dieser Weise nicht finden, aber der Ton und die Satzidee sind stellenweise ganz von dem großen Vorbild, das ihn dann auch veranlaßt hat, im folgenden Jahr die Unterweisung von Rene Leibowitz zu suchen, in­ spiriert. Henzes Erstes Violinkonzert ist, obgleich sich in ihm noch zahllose Klassizismen (Ostinati, laufende Be­ wegungen etc.) finden, ein Werk, dem nicht nur für die persönliche Entwicklung seines Autors Bedeutung zukommt, sondern für die Geschichte der Musik in Deutschland nach 1945 insgesamt: Es ist das erste Werk, in dem der Versuch unternommen wird, den Gegensatz Neoklassizismus - Dode­ kaphonie zu überwinden. Die Musik sollte, bei aller spie­ lerischen Brillanz, nicht mehr betont unpersönlich, aus­ druckslos sein, sondern das Ausdrucks- und Bekenntnis­ hafte, wenn auch mit Maßen, mit einbeziehen. Henze ist, wie man weiß, kein strenger Zwölftonkomponist geworden, wenngleich er die Zwölftonkomposition regelrecht studiert hat, außer bei Leibowitz auch bei Rufer, und so manchen strengen Tonsatz (etwa im zweiten Quartett) geschrieben hat. Henze hat also die Verfahrensweisen der Dodekaphonie bald seiner Schreibart integriert und somit eine Entwick­ lung eingeleitet, die später in anologer Weise, wenn auch mit ganz anderem Resultat, von seinem Lehrer Wolfgang Fortner und noch später von Igor Strawinsky vollzogen wur­ de. Henze hatte bei diesem entscheidenden Schritt keiner­ lei Vorbild. Das Bergsche Konzert gab lediglich die Anre­ gung . Bergs Musik galt damals in Deutschland, wo die HindemithSchule das Feld beherrschte, als spätromantisch, also leicht veraltet: wegen ihrer Ausdruckshaftigkeit, ihrer Chromatik, ihrer Weichheit. Aber sie vermochte es, dem herrschenden klassizistisch geprägten Zeitgeschmack eben­ so entgegenzuwirken wie später, im Zeitalter des Serialis­ mus, als die Avantgardisten sie derselben Eigenschaften wegen belächelten oder schmähten. Stets vermochte Bergs Musik mächtige Impulse zu geben, Impulse, die niemals verloren gehen sollten. 62 Giselher Schubert ZUR REZEPTION DER MUSIK ANTON VON WEBERNS Die Geschichte der Webern-Rezeption in Mitteleuropa ließe sich als eine Verfallsgeschichte der musikalischen Avant­ garde skizzieren: sei es resignativ-bedauernd, polemisch­ aggressiv oder höhnisch-schadenfroh. Webern ist Anfang der fünfziger Jahre durch die Ausbildung der seriellen Musik, die sich radikal avantgardistisch verstand, als der wichtigste historische Anknüpfungspunkt rezipiert worden nach einer Periode von geradezu "widerwärtiger Mittelmäßigkeit", wie Boulezl 1949 meint. Die folgende Auseinandersetzung mit Webern bestand - pointiert ausge­ drückt - fast nur noch in der Revision des sich weithin durchsetzenden Bildes, das serielle Komponisten von Webern entworfen haben. Nach dem Scheitern serieller Techniken, die Sinopoli - wie auch alles was dann folgte - 197 5 "Theorie im Dienste des Unvermögens" 2 nennt, ist ihm die Aktualität, die er gehabt hatte, nachgerade zum Verhäng­ nis geworden. Schon die flüchtigste Vergegenwärtigung der Rezeption Webernscher Musik - so kann gefolgert werden sollte die Neigung mindern, mit allzu besessener Bekenner­ wut Partei zu ergreifen und vorwurfsvolle Postulate als Darstellung der Rezeption seiner Musik zu maskieren. Es kann deshalb hier nur darum gehen, die Rezeption seiner Musik möglichst außerhalb des Kreises der "Eingeweihten" und vor allem die gegenwärtige Rezeptions-Situation als Teil eines offenen, manchmal kontinuierlich verlaufenden, manchmal schroff wechselnden Prozesses zu begreifen; des­ halb wird auch eine chronologische Form der Darstellung gewählt. In der aus den frühen fünfziger Jahren stammenden "Helden­ legende" Weberns als eines im Schatten Schönbergs kümmer­ lich existierenden Komponisten, der unerkannt seine "Dia­ manten" schlifft, können leicht die Momente einer zumin­ dest latenten Selbstkritik jener Autoren erschlossen wer­ den, die diese Legende maßgeblich geprägt oder verbreitet haben. Wolfgang Fortner beruft sich noch 196o auf Hans Mersmann als die maßgebliche Instanz, die ihm den unvorein genommenen Blick auf Webern Ende der zwanziger Jahre ver­ stellt hätte^; Heinrich Strobel gesteht Mitte der sechzi­ ger Jahre, die Werke Weberns nur als "Zeugnisse einer seit samen Abseitigkeit" in den zwanziger Jahren wahrgenommen zu habend. strawinsky hatte 1912 in Berlin auf einem Emp­ fang den anwesenden Webern einfach nicht bemerkt^; und im Verlauf der zwanziger Jahre hörte er - der dann eine taube 63 Welt der Unwissenheit und Gleichgültigkeit anklagen wird sich offensichtlich kein Werk von Webern bewußt an (Bergs "Wozzeck" charakterisierte er damals als "une musique boche", Mahler taufte er "Malheur"7). Vor allem aber ha­ ben unter Strawinskys unmittelbarem, bestimmendem Ein­ fluß jene französischen Komponisten ihre Kontakte zur Schönberg-Schule gelockert, die wie Milhaud und Poulenc die Nähe Schönbergs und seines Wiener Kreises gesucht hatten. Beide b e r i c h t e n 8 unabhängig voneinander vom fas­ zinierenden Eindruck, den Schönbergs Klavierstücke op.19 noch vor 1914 auf sie gemacht haben, und beide glauben, in welch vermitteltem Sinn auch immer, von diesem Werk beein­ flußt worden zu sein. Ihre erste gemeinsame Auslandsreise führte sie 1921 nach Wien; und sie lernten neben Schön­ berg auch Berg und Webern kennen, mit denen sie - wie Milhaud berichtet - "lange Gespräche" über deren neue Mu­ sik f ü h r t e n ^ . Webern schreibt 1922 nach der wiederholten Salzburger Aufführung seiner "Fünf Sätze für Streichquar­ tett" op.5 an Berg: "Mein Quartett wurde am nächsten Tag in geschlossenem Kreis wiederholt. Die anwesenden Fran­ zosen (Honegger, Poulenc, Wiener) und Engländer (Bliss) waren sehr lieb u. sagten mir viel Herzliches"1°. Die erste Darbietung dieses Webernschen Werkes hatte je­ doch in Salzburg eine Schlägerei im Publikum ausgelöstH und mußte abgebrochen werden; die Interpreten, die sich spontan bereit erklärten, das Werk am folgenden Tag noch einmal zu spielen, waren das Amar-Quartett mit Hindemith als Bratscher. Und so wie Milhaud und Poulenc von Schön­ bergs op.19 enthusiasmiert wurden, so war Hindemith so­ gleich von den wenigen vor 192o publizierten Werken We­ berns geradezu gefangen genommen worden. Er hatte bereits 1915 das als Beilage zur Zeitschrift "Der Ruf" 1912 er­ schienene Stück für Violine und Klavier op.7 Nr.l von Webern abgeschrieben und dann zunächst auch Ähnliches zu komponieren versucht: "Wenn ich in diesem Genre weiter­ arbeite, komme ich einmal in eine Gegend jenseits von Gut und Böse", schreibt er in einem Brief 1917 über seine neuen Klavierstückel 2( "mir machen die Sachen aber eine Riesenfreude. Eines der Stücke ist 9 Takte lang. Ich setze meinen ganzen Ehrgeiz darein, demnächst eines zu schreiben, das nur aus 3 Takten besteht, Thema, Durchführung, Coda"!3 . Das Amar-Quartett hat sich die ganzen zwanziger Jahre hindurch intensiv um die Werke Weberns gekümmert, die es überall in Europa und stets auch zu zentralen Anlässen aufführte. 1924 spielte das Quartett in Donaueschingen die Uraufführung von Weberns Bagatellen op.9; im selben Jahr führte der Cellist des Quartetts, Maurits Frank, erstmals Weberns Cellostücke op.11 auf. 1928 betreuten die 64 Anton von Webern, op. 7 Nr. 1 in einer Abschrift Hindemiths aus dem Jahre 1915 (Im Besitz der Hindemith Stiftung/Archiv des Paul-HindemithInstituts, Frankfurt a.M.) 65 Mitglieder des Quartetts die skandalträchtige deutsche Erstaufführung von Weberns Trio op.2o auf dem Schweriner Fest des "Allgemeinen Deutschen Musikvereins"14. Während der überaus schwierigen Einstudierung^ dieses Trios, de­ rentwegen er die Komposition seiner Oper "Neues vom Tage" unterbrechen mußte, schrieb Hindemith auch das Vorwort zu seiner Kantate "Frau Musica" nieder^®. Ein größerer Gegensatz als zwischen dem Trio op.2o von Webern und je­ ner Kantate und vor allem auch zwischen der musikalischen Gesinnung, die hinter diesen Arbeiten steht, ist schlech­ terdings nicht vorstellbar. Diese schockierende Gleich­ zeitigkeit des Inkommensurablen bedarf dringend der Deu­ tung, freilich weniger von der Position Weberns her, der dergleichen Kantaten auch nicht im geringsten tolerierte!"?, sondern vielmehr von der Position der "mittleren" Kom­ ponisten wie Milhaud, Honegger, Poulenc oder Hindemith her, die mit der Musik Weberns relativ gut vertraut waren, sie durch Aufführungen förderten - sich also mit ihr aus­ einandersetzten -, kompositorisch aber dann doch unbeein­ flußt von ihr blieben. Denn die Erkenntnis, daß ihre Wer­ ke hinter dem vergleichslosen Maß an musikalischer Konzentriertheit und Differenzierung zurückstehen, das Webern fast 2o Jahre zuvor schon erreicht hatte, darf jenen mitt­ leren Komponisten zugetraut werden. Dieser Sachverhalt ist nicht nur zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich gedeu­ tet worden. Josef David Bach argumentierte Anfang der dreißiger Jahre geschichtsphilosophisch: Weberns Musik repräsentiere den fortgeschrittensten Stand, hinter den alle andere Musik, die diesen nicht erreiche, tendenziell als anachronistisch und irrelevant zurückfallein. Diese Argumentation, die völlig dem Webernschen Selbstverständnis!9 in jener Zeit entspricht, hat sich erst seit den fünfziger Jahren durchgesetzt. Die in den zwanziger Jahren vorherrschende Deutung stammt von Mersmann. Auch er er­ kennt den Fortschritt in Webernscher Musik, den er jedoch als einen Schritt zum Ende von Musik hin deutet20. Für Mersmann, der Weberns Musik nicht für analysierbar hielt2!, ist Fortschritt über die Webernsche Position hinaus nicht möglich; er kann nur hinter ihr liegen: in derjenigen der mittleren Komponisten. Eine Skizze ihrer musikalischen Poetik22, die sie in den zwanziger Jahren noch nicht zu le­ gitimieren brauchten, hätten ihr offensichtlich zwiespäl­ tiges Verhältnis zum absoluten musikalischen Fortschritt Weberns ebenso zu berücksichtigen wie ihre ambivalente Einstellung zu einer "Gebrauchsmusik", denn einen anderen als einen rein musikalischen Gebrauch haben sie nie erwo­ gen. Fehlt ihrer zu extrapolierenden Poetik die verpflich­ tende Idee einer emphatischen immanent-musikalischen Fort­ schrittlichkeit ebenso wie die einer radikal funktioneilen 66 Musik, so haben sie gegen die funktionelle Musik mit pri­ mär ästhetischen Kategorien argumentiert - sei es, daß sie funktionelle Musik als Vehikel eines trüben "Gemein­ schaftsgefühls" mißbraucht sahen23; Sei es, daß ihnen politisch angewandte Musik als Kunst schlechterdings irrelevant24 erschien - und gegen eine radikal fortschritt­ liche autonome Musik mit eher funktionellen Kategorien: solche Musik lasse sich tendenziell nicht gebrauchen^, Demgegenüber scheint ihre Poetik sich ganz an der Kate­ gorie der Aktualität zu orientieren, an ihrem Bestreben, möglichst unmittelbar eingängige musikalische Äguivalente für ihre Gegenwart zu schaffen. Mit solch einer nun tat­ sächlich mittleren Poetik wurde dem Webernschen Werk die virulente Spitze gebrochen: Die radikale Fortschrittlich­ keit seiner Musik konnte einerseits durch den Hinweis auf ihre manifeste mangelnde Brauchbarkeit unterlaufen werden, und andererseits fand man in dieser Musik weniger die zwanziger Jahre ausgedrückt als vielmehr die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg^, ja sogar etwas spezifisch Österrei­ chisches. Eine dergestalt rezipierte Musik konnte man be­ wundern und sich für sie einsetzen, ohne sie jedoch als kompositorisch verpflichtend zu empfinden. Die konstant wachsende Anerkennung Webernscher Musik im Ver­ lauf der zwanziger Jahre läßt sich auch von den zeitgenös­ sischen Rezensionen ablesen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß Weberns Werke gleichzeitig mit denen der jüngeren Kom­ ponistengeneration ins Bewußtsein drangen, obwohl sie teilweise bis zu 2o Jahren früher entstanden waren; und das Verstörende, das von seinen Werken ausgeht, wird oft durch den Hinweis auf die ganz andersartigen Arbeiten der jüngeren Komponisten neutralisiert. Durch diese Gleich­ zeitigkeit der Rezeption erschien der von Schönberg initi­ ierte Weg im Werk Weberns an seinem über Webern hinaus nicht mehr fortgesetzten und wohl auch nicht mehr fortsetzbaren Ende angelangt. Den ersten "unbestrittenen, nachhaltigen" Erfolg27 er­ zielte Webern 1922 mit seiner Passacaglia op.l auf dem Tonkünstlerfest in Düsseldorf. Die bereits genannte Auf­ führung der "5 Sätze für Streichquartett" op.5 im selben Jahr in Salzburg kommentierte Paul Bekker: "Unter den Wienern ist er die eigentümlichste, charaktervollste Be­ gabung, Schüler Schönbergs und ihm unmittelbar anhängend. Aber es scheint, als ob im Schüler die persönliche Wider­ standskraft fehlte, die rezeptive Nachwirkungen ins Ei­ gene umzuwandeln vermag. Es ist, wie wenn ein scharf ät­ zender Tropfen in eine zarte weiche Substanz gefallen wäre"28. über die Uraufführung der Bagatellen op.9 von 1924 kann man immerhin lesen: "Die 'Kleinen Stücke für 67 Streichquartett' offenbaren eine Konzentriertheit des musikalischen Denkens, eine Knappheit im Ausdruck, die selbst den unvorbereiteten Zuhörer von der Geistigkeit dieses inneren Musikers überzeugen"29. Den offenbar größ­ ten Erfolg überhaupt erzielte Webern 1926 auf dem Fest der IGNM in Zürich mit seinen Orchesterstücken op.lo, der als ein "Sensationserfolg"3o verbucht wurde: "Die Poesie dieser vorwiegend traumhaften Stücke ist sondergleichen", hieß es^l, "der kaum enden wollende Beifall der musika­ lischen Feinschmecker drängte nach einer Wiederholung." Beschrieben wurde das Werk mit Worten, die Weberns Inten­ tionen entsprechen dürften: "Alpenglühen, Herdenglocken, tiefe Stille! Eine wundervoll bang zitternde Tonsprache des Pianissimo, ein Glanz von Gottes freier Hochgebirgswelt her leuchtet hier auf"32. Ein Resümee lautet: "...Mahlersche Einsamkeit auf hohen Bergen nachgeträumt"33 # £>er weithin ver­ nommene Erfolg dieses Werkes wiegt umso schwerer, al-s auf demselben Fest Werke wie Schönbergs Bläserguintett, Weills Violinkonzert oder Hindemiths Konzert für Orchester auf­ geführt worden waren. Erst Ende der zwanziger Jahre läßt sich eine zunehmende Kritik an Weberns jeweils jüngsten Werken in dem Moment konstatieren, in dem er sich als Dirigent allmählich durchzusetzen beginnt. Rezensionen des Trios op.2o oder der Sinfonie op.21 etwa entsprechen argumentativ ganz jener mittleren Poetik; über das Trio heißt es: "...so kunstreich und logisch, und ... so unnütz wie alles bloß Kunstreiche und Kunststückhafte"34. jn (3er Sinfonie op. 21 erscheine Webern 193o "wie die ewig tragische Figur eines Postens357 ... dessen Ablösung vergessen wurde, und der nun als letzter Getreuer das bedenklich schwankende Ge­ bäude einer Ästhetik bewacht, die längst das Weite ge­ sucht und den Jonny gefunden hat"36. wenn solche Kritik kompositionstechnisch je spezifiziert wird, so verweist man auf die 12-Ton-Technik als ein System, das angeblich einst als "Erlösung" gefeiert, seit 193o jedoch - so be­ hauptet man - "leise weinend ad acta gelegt worden"37 sei. (Um so mehr sind der Mut und die Selbständigkeit von Kom­ ponisten wie Krenek oder Vogel zu bewundern, die erst nach 1933 die 12-Ton-Technik anwendeten). Von einer Rezeption Webernscher Musik zwischen 1933 und etwa 1947 kann schlechterdings nicht die Rede sein; und die wenigen erfolgreichen Aufführungen seiner Werke in Prag, London, Basel oder Winterthur können nicht darüber hinwegtäuschen, daß er in völlige Vergessenheit38 gerät. Webern wird nicht einmal (bzw. glücklicherweise auch nicht) negativ in die kulturpolitischen Auseinanderset­ zungen jener Jahre gezerrt39. An dieser Inexistenz seiner 68 Musik setzt die Rezeption in der Nachkriegszeit an, nicht aber an jener Existenz, die sie in den zwanziger Jahren gehabt hat. Weberns Musik hat für diejenigen, die sie erst nach 1945 entdecken, keine Geschichte; und daß sie angeblich keine Geschichte machen konnte, wird nun gegen diese Zeit ausgespielt. Boulez brandmarkt etwa das Pariser Musikleben durch den Hinweis, selbst Weberns Passacaglia hätte erst 1958 hier aufgeführt werden4o können; selbst­ verständlich wurde dieses Werk jedoch schon in den zwan­ ziger Jahren relativ erfolgreich in Paris aufgeführt. Jene mittleren Komponisten konnten die nun einsetzende Musikentwicklung nur noch mit gereizten Protesten komment i e r e n ^ l , oder sie wunderten sich über die plötzliche Aktualität einer Musik, für die sie sich in ihrer Jugend­ zeit auch einmal begeistert hatten, waren vor allem aber von der Entwicklung Strawinskys b e t r o f f e n ^ 2 . p ü r die jun­ gen Komponisten war Weberns Musik weder ausdrucksmäßig noch historisch fixiert. Die Rezeption neuer Musik nach dem Zweiten Weltkrieg ist zunächst durch das Pariser Musikleben geprägt worden, schon weil hier bereits vor Ende des Krieges Konzerte mit neuer Musik organisiert werden konnten. Das spekta­ kulärste und überraschendste Ergebnis dieser ersten Kon­ zerte ist die heftige Ablehnung der jüngsten Werke Stra­ winskys, ja des ganzen Neoklassizismus. Über diese Ereig­ nisse informiert authentisch der Briefwechsel zwischen Milhaud und P o u l e n c 4 3 . im Januar 1 9 4 5 berichtet Poulenc, daß in der Kriegszeit nur ein einziger Komponist Reputa­ tion gewonnen hätte, nämlich Messiaen, der einen beträcht­ lichen Einfluß auf die junge Komponistengeneration ausübe, die sich für seinen Geschmack allzu doktrinär und ein­ seitig gebe44; die Musik Strawinskys ende für sie mit dem " S a c r e " 4 5 . jm jun 1 9 4 5 schreibt P o u l e n c 4 6 von einer gegen Strawinsky gerichteten offenen Kampagne, hinter der die Schüler Messiaens ständen; Poulenc selbst erhebt öf­ fentlich Einspruch gegen eine offenbar schon weithin ge­ teilte Meinung, Strawinsky habe keinen Einfluß auf die moderne französische Musik ausgeübt. (Poulenc übersieht offensichtlich, daß als "moderne" Musik jetzt diejenige von Messiaen oder Jolivet gilt.) Zwei Jahre später orien­ tiert sich - nach Poulenc47 _ die junge Komponistenge­ neration ausschließlich an Messiaen oder an der Dodeka­ phonie, die vor allem Rene Leibowitz, ein Schüler Schön­ bergs und Weberns, propagiert. Strawinskys Neoklassizis­ mus verliert demnach spätestens 1 9 4 7 den beherrschenden Einfluß in Frankreich. Wohl werden die Dodekaphonisten noch als eine einheitliche Richtung dargestellt, doch läßt sich aus den nun erscheinenden Schriften von Leibowitz^® erschließen, daß der Primat Schönberg zufällt. 69 Er behauptet etwa, Webern hätte keine Note49 geschrieben, die nicht auch von Schönberg stammen könnte^o. Leibowitz hob wahrscheinlich aus zwei Gründen auf die Einheit der Dodekaphonisten ab: Einerseits sollte die offensichtliche Verschiedenartigkeit der Werke als etwas Selbstverständ­ liches erscheinen und den Verdacht zerstreuen, aus der Einheit der Technik resultiere Sterilität; andererseits aber wird nun mit zunehmender polemischer Heftigkeit so­ wohl ästhetisch als auch kompositionstechnisch zwischen den Werken von Schönberg, Berg und Webern unterschieden. Bereits 1948 fällt Boulez über Berg das ästhetische Ver­ dikt des "schlechten Geschmacks der maßlos übersteigerten romantischen Herzensergießungen"51, und im folgenden Jahr hat Boulez schon die Grundzüge seiner kompositionstech­ nischen Kritik an Schönberg voll entwickelt, die dann 1951 berühmt wird. Boulez schreibt 1949; "...diese vor­ klassischen und klassischen Formen sind der größte Wider­ sinn, der sich in der zeitgenössischen Musik finden läßt und der uns die Tragweite von Schönbergs Oeuvre generell aufzuheben scheint: dieses Werk wird von zwei gegensätz­ lichen Konzeptionen hin und her gerissen - das Resultat ist bisweilen katastrophal"52. Allein die Zwölftonwerke Weberns können - nach Boulez - als fortschrittlich gelten und als Anknüpfungspunkt dienen; weder trügen sie - wie die Werke Bergs - den Ausdruck des nach Boulez "radikal fragwürdig gewordenen Erbes" des 19. Jahrhunderts^3, noch restituierten sie - wie Schönbergs Arbeiten - die bekann­ ten Formen. Daneben läßt Boulez nur noch gewisse rhyth­ mische Verfahrensweisen in Strawinskys "Sacre" gelten . Diese Entwicklung in Paris, die das dodekaphone Werk Weberns favorisiert, wurde in den ersten Darmstädter Jahren nicht nur unter Einbeziehung von Kompositionen Hindemiths und Bartoks intensiver und extensiver nachge­ holt; sie wurde dort im wesentlichen bestätigt, gefestigt und internationalisiert, obwohl nun Arbeiten wie Adornos "Philosophie der neuen Musik" vorliegen oder Dozenten wie Messiaen, Leibowitz, Krenek, Adorno oder Varese in Darmstadt wirken. Diese Entwicklung hat in der Boulezschen Provokation von 1951 - "Schoenberg est mort"55 _ ihren ersten Markstein, führt zur Darmstädter WebernEhrung von 1 9 5 3 ^ 6 bis hin zum weithin als Ausdruck singu­ lärer Verehrung verstandenen zweiten Heft der Publikation "die reihe" von 1955. Auf die Ausbildung der seriellen Technik, durch die diese Wertschätzung getragen wird, braucht nicht eingegangen zu werden; es genügt, die über­ ragende Position, die Webern nun eingeräumt wird, mit Hilfe von Ausführungen Nonos^^ Zu vergegenwärtigen. Da­ nach repräsentiert Schönbergs Reihenbegriff nur ein er­ stes Stadium: er bezieht sich - nach Nono - nur "auf die 70 Folge der zwölf verschiedenen Töne, die in ihrer Gesamt­ heit das zu verarbeitende thematische Material bilden"; das zweite, zentrale Stadium repräsentiere Weberns Spät­ werk: "Die konstruktive Funktion der Reihe entfaltet sich nicht mehr in bezug auf die charakteristische thematische Gestalt der Reihe"; vielmehr - so Nono - folgte der Auf­ bau der Komposition "dem Rhythmus, dem Timbre, der Melo­ dik und der Harmonik nach" eng der Zwölftonreihe. Im dritten, voll entfalteten Stadium der Reihenkomposition, das in "völliger logischer Kontinuität der Entwicklung" wie Nono schreibt - aus dem Webernschen Spätwerk hervor­ gehe, regle das Reihenprinzip "jedes Element der Kompo­ sition derart, daß zwischen den Elementen genaue Vertauschbarkeit möglich ist." Diese Entwicklung ist im Verständnis jener Komponisten keine partielle, neben der andere sinn­ voll möglich sind; vielmehr bestimmt Boulez bereits 1951, daß jeder "Komponist unnütz ist, der sich außerhalb der seriellen Bestrebung stellt" 5 8 . Nach Stockhausen ist 1952/53 das mit Webern einsetzende Reihendenken die ein­ zige universell ausbaufähige Methode, die die Übergangs­ stile der letzten 5o Jahre hinterlassen h a b e n 5 9 . Die unvergleichliche Wertschätzung, die Webern Anfang der fünfziger Jahre genießt, wird vor allem von den jungen Komponisten getragen gegen die unverhohlene Skepsis je­ ner Älteren und "Eingeweihten", die Weberns Werk bereits vor dem Krieg kennengelernt hatten, vor allem aber gegen Adorno. Die "Philosophie der neuen Musik", die eine ge­ wichtige Webern-Kritik enthält, scheint unmittelbar nach ihrem Erscheinen 1949 keinen Einfluß ausgeübt zu haben. Offensichtlich im Hinblick auf dieses Buch konstatiert etwa Bernd Alois Zimmermann 1951, wie "wenig Glut eine Musikphilosophie" entfache, die mit dem, "was an Musik der jungen Generation unter den Nägeln" brenne, höchstens "die Bemühung gemeinsam" habe^o. Er glaubt vielmehr eine "kritische InstinktSicherheit" bei den jungen Darmstädter Komponisten zu entdecken, mit der sie gegen "Systeme" im­ munisiert seien, die mit ästhetischer Unfehlbarkeit vor­ getragen werden6!. Adorno unterzieht 1949 gerade jenes dodekaphone Spätwerk Weberns einer grundsätzlichen Kritik, an das die seri­ ellen Komponisten unmittelbar angeschlossen haben. "We­ bern realisiert die Zwölftontechnik und komponiert nicht mehr", heißt es in der "Philosophie der neuen Musik"62, und: "In sonderbar infantilem musikalischem Naturglauben wird das Material mit der Kraft begabt, von sich aus den musikalischen Sinn zu setzen... Das selbstgemachte Ge­ setz der Reihe wird wahrhaft fetischisiert in dem Augen­ blick, in dem der Komponist sich darauf verläßt, daß es 71 einen Sinn von sich aus hat"63. jn <jem Aufsatz "Über das Altern der Neuen Musik" von 1 9 5 5 6 4 verknüpft Adorno die Kritik am späten Webern unmittelbar mit jener an der se­ riellen Musik: Webern reduziere "die Musik auf die nackten Vorgänge im Material, das Schicksal der Reihen als sol­ cher"; diese Perspektive verfolgten, so Adorno, neuer­ dings eine Reihe von Komponisten weiteres, und über die gerade entstandene elektronische Musik urteilt er: "Es hört sich an, als trüge man Webern auf einer Wurlitzerorgel vor"66. In der Auseinandersetzung mit Adornos Kritik an der seriellen Musik wird erstmals der Einfluß Weberns abgewertet, Adornos Kritik also indirekt anerkannt. "Vom späten Webern geht die Linie in der Tat nur zu dem, was man einmal den 'punktuellen Styl ' 6 7 genannt hat, was viel­ leicht sogar einmal eine historische Phase in der Ent­ wicklung dieser Komponisten gewesen ist, aber eine sehr vorübergehende, und was doch nur einen Extremfall in der gesamten Skala der Technik dieser Komponisten darstellt", wendet Metzger6^ 1957 gegen Adorno ein; "es ist ganz eigen­ tümlich, daß man deshalb ... diese Komponisten mit Webern in Verbindung bringt, von der nachwebernschen Musik spricht und so tut, als ob sie nun nichts weiter getan hätten, als den Webern noch ein wenig ins Extrem zu steigern. Dagegen hilft es diesen Komponisten offenbar nichts, ... wenn sie selber eine Musik schreiben, die mit Webern nun wirklich nicht mehr sehr viel zu tun hat". Adorno äußert sich 1959 noch einmal zu Webern6^; obwohl er sein Urteil über das Spätwerk nicht revidiert, läßt sich auf dem Hintergrund der angedeuteten Distanzierung von Webern seine Arbeit als ein Plädoyer für diesen Komponisten verstehen; denn nun heißt es: "Webern kann trotz allem Recht gehabt haben, das Verständnis kann hinter ihm herhinken"7o. Adorno for­ dert zur Geduld gegenüber Webern auf71 und konstatiert das Interesse an der Tendenz, die sich von seinem Werk ablesen lasse, ein Interesse, das jenes an den Werken selbst verdrängt habe; doch was zähle, so Adorno, seien die Werke, nicht die Mittel72. Adornos Plädoyer blieb in einer Zeit ungehört, in der der Werkbegriff ausgehöhlt und aufgelöst worden ist und sich die musikalische Ent­ wicklung primär in den Verfahrensweisen manifestiert, die nicht einmal zu Werken führen müssen. In der Problemge­ schichte der seriellen Musik ist Weberns Werk nur als ein aufgehobenes Vergangenes gegenwärtig; und mit ihrem Scheitern hat es keine unmittelbare Bedeutung mehr, wäh­ rend von einer emphatischen Erkenntnis seiner Werke folgt man Adorno - noch nicht gesprochen werden kann. Weberns Einfluß schwindet nach Stockhausen^3 schon 1956, spätestens jedoch seit 1 9 5 8 7 4 ; sein Werk verliert die un­ mittelbare Zeitgenossenschaft, wird historisch, und die 72 Wirkung, die es Anfang der fünfziger Jahre ausübte, spielt man ebenso herunter, wie man das Abrücken von der seri­ ellen Rigorosität - wenn auch zu verschiedenen Zeiten offen eingesteht. Bereits 1955 hatte sich Stockhausen von seiner epochemachenden, sachlich fragwürdigen Ana­ lyse des Webernschen Konzerts op.24 insofern distanziert, als er erklärte: "Der Vorwurf wurde geäußert, man sehe in Weberns Musik etwas hinein, was gar nicht darin sei, und man täte ihr Gewalt an... Aber wenn andere Musiker Webern nun aus ihrer Sicht betrachten, so kündigt sich darin eine Veränderung des Denkens an, die man auch ein­ mal zu verstehen suchen möge"75. "Wenn Weberns Werke ana­ lysiert werden", so Stockhausen weiter76f "...sagen die aufgezeigten Dinge nichts darüber aus, 'wie man's heute macht' ... und es soll nicht verwundern, wenn man in jetzt entstandenen Kompositionen der erklärten Webernnachfolge vergeblich nach dem sucht, was in den Webern-Analysen so detailliert aufgezeigt wird...". Freilich ist der Sinn von Webern-Analysen fraglich, die seinem Werk eingestande­ nermaßen "Gewalt" antun und zugleich auch nichts über die aktuellen Kompositionen aussagen. Schon die aus der "punk­ tuellen Form" und der "Gruppenform" hervorgegangene "sta­ tistische Form" ist nach Stockhausen nicht mehr von We­ bern her verstehbar; er schreibt: "Was die Form angeht, so hat er (Webern) sich nur ganz selten von den auf mo­ tivisch- thematische und damit melodisch-harmonische Funk­ tionen der Töne beschränkten Formvorstellungen gelöst. Er hat immer vom Einzelnen zum Ganzen gedacht, man hört im­ mer einzelne Töne..."77. Nono wird schließlich, ohne Grün­ de anzugeben, erklären, die "Interpretation von Webern in Darmstadt" immer als falsch empfunden zu haben78. und die entschiedenste Distanzierung von Weberns Spätwerk trägt Boulez vor. Danach sei die Form bei Webern immer einfacher geworden; es fehle diesen Werken das Geheimnis­ volle, Labyrinthische. Vielmehr ließen sie sich sogleich überschauen und langweilten bei wiederholtem Hören. "Das Werk von Webern", führt Boulez nun aus79x "erfordert keine mehrmalige Lektüre, wenn man sein Wesen und sein Vokabular einmal erfaßt hat." Auch Strawinsky^o entdeckt nun einen "unangenehmen Anflug von Charme" in Weberns Vokalmusik, banale Harmonien und eine geringe Spielbreite der Formen in der Zweiten Kantate; zudem habe er "diese molto ritenuto, molto espressivo, die verlöschenden Phrasenschlüsse über". Das immanente und durch äußere Anstöße bewirkte Scheit e r n S l serieller Techniken und die bemerkbare Distanzie­ rung von Webern stehen in einem zeitlichen Zusammenhang mit der Auflösung und Zerstörung der von Stadien**2 so ge­ nannten "Webern-Legende", d.h. der seriellen Webern-Deutung. Einerseits wollte man mit einer immanenten Über73 prüfung und Falsifizierung der seriellen Webern-Analysen eine Kritik an der seriellen Musik überhaupt verbinden, andererseits kontrastierte man das nun aus publizierten Schriften erschließbare Selbstverständnis Weberns mit dem Webern-Verständnis der seriellen Komponisten. Diese Ausein andersetzung mit Webern seit Beginn der sechziger Jahre, die nicht mehr von den Komponisten, jedenfalls nicht mehr von den entscheidenden Komponisten geführt wird, voll­ zieht sich also auf der Folie serieller Webern-Deutungen. Da die Gewaltsamkeiten und Einseitigkeiten der seriellen Webern-Analyse von den Komponisten mittlerweile selbst eingestanden wurden, können gegenwärtig fast nur noch die erkenntnisleitenden Interessen Aufmerksamkeit beanspru­ chen, die hinter den unterschiedlichen Deutungen jener Einseitigkeiten und Haltlosigkeiten stehen. 1954, auf dem Höhepunkt serieller Komposition, konnte noch mit der Kritik einer Stockhausenschen Webern-Analyse83 zumindest tendenziell argumentativ in die aktuelle Musikentwicklung eingegriffen werden. 1973 wird im Gefolge der Studenten­ bewegung konstatiert84t die fehlerhaften Webern-Analysen könnten "im Rahmen" einer "gemeinsamen Ideologie", die zwischen Webern und den seriellen Komponisten herrsche, aufgehoben werden und seien daher irrelevant^. 1974 schließlich kann eine als Sachlichkeit nur schlecht ver­ kleidete bornierte Besserwisserei die längst schon histo­ rische Musikentwicklung der fünfziger Jahre so kritisieren als gelte es, sie rückgängig zu machen und gleichsam auszuradieren^ö. Dagegen ist seit den Publikationen der Webernschen Vor­ träge über Neue Musik, seines Briefwechsels mit Hildegard Jone und Josef Humplik oder einiger seiner Analysen ei­ gener Werke geradezu schmerzhaft bewußt geworden, daß Weberns ästhetisches, historisches und schließlich auch politisches Verständnis fast nichts mit dem zu tun hat, was man in seinem Werk erkennen zu können glaubte. Die ursprünglich auf Walter B e n j a m i n ^ zurückgehende Vorstel­ lung oder Hoffnung, daß fortschrittliche Materialbehand­ lung und richtige (linke) Tendenz in der Gesinnung zusam­ menfallen, hätte nicht gründlicher enttäuscht werden kön­ nen. Webern habe komponiert - so H e n z e 8 8 _ / ais ob nichts passiert sei, als ob keine Klassenkämpfe stattgefunden hätten, als ob es keinen Imperialismus gäbe, keine Kriege, als ob die Gesellschaft in Ordnung wäre; als ob alles so sei wie die Grashalme auf der Alm. Die auffälligste Diver­ genz entstand zwischen dem traditionellen, fast konserva­ tiven Selbstverständnis W e b e r n s 8 9 und der Interpreta­ tion seines Spätwerks als etwas gegenüber Schönberg völ­ lig Neuem und F o r t s c h r i t t l i c h e m ^ 0 . Zwei Interpretations­ 74 tendenzen dieser Divergenz (die nur deshalb eine solche bedeutende Rolle spielen konnte, weil die Literatur über Musik, das Moment der Musiktheorie, eine unvergleichliche Wertschätzung genoß) lassen sich unterscheiden: Einerseits trennt man zwischen dem im Werk objektivierten Sachver­ halt und dem Komponisten als empirischem Subjekt und atte­ stiert Webern kein volles Verständnis seiner eigenen Mu­ sik, nennt seine Ausführungen mißverständlich^ oder me­ taphorisch^ oder erkennt apologetische Motive in seinen Ausführungen, die über die befremdende Erscheinungsform seiner Werke hinweghelfen sollten^3 . Andererseits konsta­ tiert man den grundsätzlichen Abstand zur mittlerweile gescheiterten seriellen Technik und bedauert, daß der Augenblick der rechtzeitigen Publikation dieser Schriften, durch deren Kenntnis die Entwicklung vielleicht anders verlaufen wäre, versäumt wurdet4. Weberns konservatives Selbstverständnis konnte erst eine andere Bedeutung annehmen, als sich die zunächst noch la­ tent restaurative Tendenz jenes Typs postserieller Kompo­ sition vollständig offenbarte, der wohl den intensivsten Einfluß in den sechziger Jahren ausübte: der Klangkompo­ sition vor allem von Ligeti. Ebenso wie der Fortschritt der seriellen Technik läßt sich paradoxerweise auch die restaurative Entwicklung^5 der Klangkomposition im Sinne einer kontinuierlich verlaufenden Problemgeschichte des Komponierens darstellen. Seinen Ausgangspunkt, von dem er allerdings zunächst ausdrücklich abrückte96# entwickelt Ligeti doch wohl in seinen 1949/5o publizierten Aufsätzen9 '. Er schreibt 195o über den späten Bartok: "Denken wir...an den Anfang vom Adagio des III. Klavierkonzertes, wo der C-dur-Akkord plötzlich erklingt wie eine neue, noch nie beobachtete Naturerscheinung. Reine Harmonien und tonale Verbindungen treten auch in diesem Stil auf, aber die Lo­ gik dieser Bindungen ist ganz anders als die festumrissene Ordnung der alten Funktionen; sie weicht ebenso weit von dieser ab wie die Zwölftonmusik, nur in anderer Richtung... Es ist heutzutage" - 195o - "Mode, daß die Anhänger der einen Richtung sich als die einzigen Heilsbringer ausrufen. Wieviel bereichernder ist es aber einzusehen, daß beides nebeneinander besteht, daß beides seine Vorzüge hat, und daß das Entscheidende nur darin besteht, wer bes­ sere Werke schreibt"98. und weiter schreibt Ligeti 195o: "Heute ist es nicht mehr interessant, eine komplizierte Dissonanz zu konstruieren, es ist eine größere Heldentat, einen einfachen Dreiklang so zu schreiben, ihn in eine solche tonale Umgebung hineinzusetzen, daß er neu und ori­ ginell wirkt"99. Ende der fünfziger Jahre führt das seri­ elle "Umkippen der Harmonik in intervallisch neutrale, aharmonische Geräuschstrukturen" und das der rhythmischen 75 Artikulation in nicht gegliederte, kontinuierliche Vorgängel°° Ligeti zur neutralen Rhythmik und Harmonik der Werke "Apparitions" und "Atmospheres". Als Reaktion auf diese Reaktion hebt Ligeti seit 1964 durch "intervallische K r i s t a ll is at io ns ke rn e "d ie neutrale Harmonik, seit 1968 die neutrale Rhythmik aufl°2. In "Lontano" erweckt er be­ wußt mit einer "pseudotonalen Harmonik" gewisse Assozia­ tionen an die von ihm so genannte "späte Romantik"1°3• und die Komposition "Melodien" und "San Francisco Polyphony" restituieren schon in ihren Werktiteln traditionelle satztechnische Sachverhalte. Daß diese Entwicklung zur Komposition einer "Sinfonie" führen könnte, braucht kaum erwähnt zu werden. Bedenkt man Ligetis Ausgangspunkt von 195o und die keinesfalls vorhersehbare Bedeutung, die je­ ne "Assoziationen an die späte Romantik" in "Lontano" mittlerweile gewonnen haben, so erscheint für einen Mo­ ment das serielle Denken als ein manieristisches Inter­ mezzo. Ligeti hat nur in der ersten Hälfte der sechziger Jahre über Webern p u b l i z i e r t l ° 4 • zwar sind die ersten dieser Arbeiten noch seriellem Denkenl°5 verpflichtet, doch gilt das nicht mehr vollständig für jene über Weberns Melodik, eine Kategorie, die der seriellen Musik tendenziell un­ bekannt ist. Von seiner mit "Lontano" erreichten Position aus, die die Konsonanzen restauriert, auf die "späte Ro­ mantik" anspielt und einem nachdrücklichen Avantgardismus nicht mehr nachfolgt, hat sich Ligeti nicht mehr über Webern geäußert. Das haben - mit offenbar einer Ausnahme auch die "jungen Komponisten"1°6 in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre nicht getan. Und Sinopoli, die er­ wähnte Ausnahme, schreibt vor allem als ein historisch bewußter Dirigent über Webern. Daß er an Webern all jene Momente der "späten Romantik" rühmen wird, ist zu erwar­ ten; doch haben die Promptheit, mit der sich bei ihm all diese Kategorien einstellen, und die allzu hohle Polemik, mit der sie vorgetragen werden, etwas - um mit Berg zu sprechen - Fades. Ihn interessierte an Webern weniger der Serialismus als vielmehr das "entschiedene Bewahren eines musikalischen Traditionsbewußtseins..." schreibt Sinop o l i l ° 7 1 9 7 5 ; vier Jahre später verdeutlicht Sinopoli seine Polemik: Webern sei nach Darmstadt ohne sein Ge­ wand gekommen, nämlich ohne die "Phrasierung Fin de siecle". Er wurde vielmehr zum Ausgangspunkt für "jene Myriade von Komponisten vom Strich", denen es genügte, "zwölf Töne in der Art eines Kreuzworträtsels zu verschachteln", um sich "von Rechts wegen der Avantgarde zugehörig" zu f ü h l e n l ° 8 . "Bei keinem anderen Komponisten" - so Sinopoli - "ist die musikalische Wiener Tradition mit solcher Notwendigkeit 76 und Dogmatik zugegen wie bei Anton Webern, einschließ­ lich aller dadurch bedingten Kleinbürgerlichkeit". Heute könnten wir jedoch getrost und vielleicht sogar "mit ei­ nem befriedigten Grinsen" sagen, daß die Wiener Tradition uns sehr viel mehr interessiere als all die diversen Erd­ beben, die seit den fünfziger Jahren die europäische Musik"kruste" erschüttert hätten. Man lasse also, fordert S i n o p o l i l o 9 ; Webern schnellstens nach Wien zurückkehren. Webern scheint hier doch nur als Pointe einer immer noch gegen das serielle Denken gerichteten Polemik zu fungie­ ren; denn Sinopolis Erkenntnisse waren mittlerweile durch musikwissenschaftliche Arbeiten (z.B. Budde, Gerlach) längst bekannt. Man steht, wenn man die gegenwärtige Position Weberns be­ stimmen will, vor der Schwierigkeit, eine Auseinander­ setzung zu rekonstruieren, die nicht mehr stattfindet und zu der sich Komponisten nicht mehr herausgefordert und genötigt sehen. Es kann deshalb abschließend nur an einigen Aspekten eine grundsätzliche Divergenz erläutert werden, ohne daß eine Verständigung angestrebt würde, die nur imaginär bleiben könnte. Unter der gegenwärtigen Si­ tuation sollen in einer sehr groben ersten Orientierung verstanden werden das von Hermann Sabbe 1971 beschrie­ bene Verfügen über "eine Materialtotalität", durch die kein bestimmter Stand des Materials mehr ausgeprägt wird^°, die desillusionierenden Widersprüche zwischen Theorie und Praxis innerhalb der emphatischen musikalischen Avant­ garde, die z.B. Manfred Trojahn benannt hat und die ihm etwa den Anschluß an diese unmöglich erscheinen l a s s e n ^ , die Dezentralisierung der M u s i k e n t w i c k l u n g ü - 2 # durch die weder eine bestimmte Entwicklung akzentuiert wird noch die Spitze einer solchen erkennbar wird und durch die die Position fast aller sogenannten Außenseiter - in Deutsch­ land z.B. Hartmann, Zimmermann, Killmayer oder Henze eingeholt wird, schließlich die Abwendung von geschichts­ philosophischen Kategorien hin zu ästhetischen, die sich unmittelbar in den schon kaum mehr zu überblickenden Re­ naissancen der verschiedenartigsten Komponisten nieder­ schlägt . 1. Webern hat nicht mit denjenigen Werken in den fünfziger Jahren Einfluß gewonnen, die nach einem allgemeinen UrteilH3 ais seine gelungensten Werke gelten (an einige dieser Werke hat nur der junge Eisler^-^ angeschlossen), sondern mit Werken, deren technische Faktur sich am über­ sichtlichsten darstellen läßt. Zudem hat das, was als das Unvergleichliche an diesen Werken beschrieben worden ist, schon seiner Idee nach nie unmittelbar prägend wirken kön­ nen. Boulez etwa spricht von der "Stille" der Webernschen 77 Werke und gesteht, "daß die Stille bei Webern etwas war, was ihm allein gehört und was man nur sehr schwer fort­ führen könne, ohne epigonal zu werden"H5. und nach Stock­ hausen ist der Webernschen Besonderheit nur durch ein kom­ mensurables eigenes Streben gerecht zu werden: "In dem Augenblick", schreibt e r ^ 6 , "in dem man dem Grund der Webernschen Musik nahe kommt, erreicht man auch den Grad der Einsicht in ihre Einmaligkeit und Abgeschlossenheit und in ihre Empfindlichkeit gegen jede Reproduktion. Man muß etwas ganz anderes, Eigenes machen und Courage besit­ zen, wenn man nach seiner Musik noch eine Note schreiben will". Die Einsicht in das Inkommensurable des Webern­ schen Werkes - so könnte die Überlegung verallgemeinert werden - führt erst recht dann von Webern weg, wenn das eigene Komponieren primär ästhetisch begründet, vor allem die Unverwechselbarkeit des eigenen musikalischen Aus­ drucks angestrebt wird, ohne daß deshalb nun durch die bloße Kategorie der Einmaligkeit ein Zusammenhang gestif­ tet wird. 2. Webern hat seine kompositionstechnische Entwicklung stets exklusiv verstanden und andere Entwicklungen als überflüssig kritisiert. Dieses Verständnis, gestützt von einer geschichtsphilosophischen Begründung des Komponierens, prägte auch die serielle Musik. Eine Ästhetik der seriellen Musik, wie sie Boulez als zweiten Band seines "Musikdenkens heute" ankündigtel17; bislang nicht er­ schienen. Das Fehlen einer solchen Ästhetik mag ein wenig die Hilflosigkeit erklären helfen, die Werke auslösen, von deren Bedeutung man überzeugt ist, deren Kompositions­ technik hingegen als widersprüchlich oder unstimmig emp­ funden wirdll°. Die Umrisse einer seriellen Ästhetik, wie sie jetzt aus frühen Briefen Stockhausens^^ zu extrapo­ lieren wäre als eine des "Ausgleichs" und der "Mitte", sind historisch in einem anderen Kontext erst seit Ende der sechziger Jahre hervorgetreten und immer nur politisch als irrational-autoritäre oder imperialistische Attitüde interpretiert worden. Gegenwärtig wird eine kompositions­ technische Vielfalt geradezu programmatisch gefordert. "Wir dürfen keinesfalls so ignorant sein, den Reichtum heutigen Komponierens zu leugnen, oder gar so dumm sein, uns der Vielfalt der zur Verfügung stehenden Mittel nicht zu bedienen", schreibt von Bosel2°, un(j Wolfgang Rihm for­ muliert: "Ironischerweise war es immer die Idee von Rein­ heit der Tonkunst, die der Einheit von Tonkunst im Wege stand"121. gr vergleicht die gegenwärtige Situation mit jener der Wiener Klassik und fordert Komponisten zur "Synthesebereitschaft"122 auf. Diese Bereitschaft setzt die Anerkennung der Gleichwertigkeit und Gleichgewichtigkeit 78 dessen voraus, was zur Synthese gebracht werden soll. Um­ gekehrt können bestimmte kompositionstechnische Sachver­ halte immer nur eine partielle Bedeutung erhalten. 3. Weberns Musik prägt eine besondere Dialektik von Buch­ stäblichkeit und Bedeutung: Der Prozeß der formalen Re­ duktion und Sublimierung, der jedes musikalische Ereig­ nis außerordentlich gewichtet, geht einher mit einer un­ geheuren Bedeutungserweiterung, nach der, wie Schönberg beschrieb, ein Roman durch eine Geste ausgedrückt wird*23. Wird bei Webern vom Vorgang des Verschweigens und Weg­ lassens gesprochenl24t s o ist das, was verschwiegen wird, immer hinzuzudenken oder zu imaginieren. Entsprechend formuliert Adorno, daß in einer Bagatelle Weberns mehr Geschichte stecke als in der Stilimitation etwa der "Klas­ sischen Sinfonie" von jew^25 Deshalb sei bei Webern - auch interpretatorisch - nichts "wörtlich" zu nehmenl26. Dieser Dialektik scheint gegenwärtig nicht mehr getraut zu werden. Wolfgang Rihm diskutiert dieses Problem in einem Beitrag, der charakteristischerweise um das Problem der musikalischen Verständlichkeit kreist: "Nicht was hinter der Musik ist, ist ihr Sinn, sondern was in ihr ist", be­ stimmt er nüchternl27( uncj: "je mehr in einem musikalischen Kunstwerk versucht ist, spezielle Bedeutungen dem Einzel­ ereignis aufzubürden, desto unverständlicher wird das Gan­ ze sein."128 Damit fällt der Akzent auf das musikalisch Buchstäbliche, auf die unmittelbare sinnliche Erscheinungs­ weise von Musik, in der ihre Bedeutung beschlossen liegt. Entsprechend verhalten sich gegenwärtig komponierte Sin­ fonien zur "späten Romantik", auf die sie sich beziehen, oft so wie neoklassizistische zu klassischen. P r o k o f . 4. Adorno erkennt 1959 "das Authentische der Wirkung We­ berns" paradoxerweise im "Mangel einer subjektiven Souve­ ränität des Komponierens": "Weberns Musik ... möchte von Anfang an erscheinen, als wäre sie absolut, an sich, zu akzeptieren als etwas Daseiendes, nichts weiter."129 Adorno spielt damit auf das an, was Webern selbst als den letzten Grund von Kunst erkennt: "Je weiter man vor­ dringt, um so identischer wird alles, und man hat zuletzt den Eindruck, keinem Menschenwerk gegenüberzustehen, son­ dern der Natur", schreibt Webernl3o. jn diesen Zusammen­ hang eines Verständnisses von Musik als etwas unabhängig von Menschen Existierendem gehört auch etwa das folgende Exzerpt des späten Webern: "... wenn Musik spricht, so spricht sie doch zu Gott, nicht zu uns. Das vollendete Kunstgebilde hat keinen Bezug zum Menschen, außer dem, daß es ihn übersteht"131. Dem gegenwärtigen Komponieren sind solche ästhetischen Vorstellungen weitgehend fremd. Die autonome, souveräne kompositorische Subjektivität wird hervorgekehrt und nimmt etwas "blind Befehlendes" an. Vordergründig greifbar ist dieser Aspekt, der nach Adorno die Möglichkeit imaginieren läßt, in einem Werk könne al­ les ebensogut auch anders sein!3 2; in der Rihmschen Er­ klärung, er werde einen bestimmten Text, den er schon wiederholt vertont hatte, wohl noch viele Male vertonen-*-33; oder: Musik sei manisch auf Kommunikation angewiesen. 5. Weberns Musik des "reinen Ausdrucks", des "erfüllten Augenblicks" ist ausdrucksmäßig nicht zu fixieren. Nach Mersmannl3^ spricht sich in ihr das ideelle Ende von Mu­ sik aus; Adornol3^ bestimmt ihren Ausdruck als Gebärde des Verstummens; Schönbergl36 als den der bedeutungsvollen Stille. Lachenmann hingegen versteht eben diesen Ausdrucks­ gehalt weniger ästhetisch als vielmehr soziologisch, als Kommunikationsverweigerungl3^ . Dagegen ist für Eimertl38 Weberns Musik hart, dünn, klar und genau, für Christian Wolff139 drahtig, gefährlich gespannt, zugleich dünn, kon­ zentriert und zart. Stockhausen spricht zwar nur von sei­ ner Liebe zu dieser Musikl^o, doch wird er sie 1953 als wunderschön, hell, fröhlich und absichtslos empfundenl41 haben. Henze wiederum nennt sie kritiklos aff i r m a t i v l 4 2 , Sinopoli hebt - wie erwähnt - auf das Wiener "Fin de siecle' abl43. Solche verschiedenartigen Deutungen korrelieren of­ fenbar weniger einer ungeheuren Komplexität als vielmehr einer Abstraktheit des Ausdrucksgehalts, die dann als Man­ gel erscheinen kann, wenn man von der Musik fordert, sie müsse voller Emotion sein!44. 6. Weberns Position scheint gegenwärtig jener durchaus vergleichbar zu sein, die er in den zwanziger Jahren inne­ gehabt hatl45. eines esoterischen Avantgardisten; doch trägt solcher Avantgardismus im Verständnis einiger junger Komponisten jetzt akademische Züge-^6 . wie in den zwan­ ziger Jahren wird kein Anschluß an fortschrittliche avant­ gardistische Verfahrensweisen mehr gesucht, sondern man bezieht sich, ohne direkte Allusionen zu scheuen, auf ei­ ne vorvergangene Epoche, die freilich auch den jungen We­ bern geprägt hat. Führte Weberns Entwicklung konsequent aus dieser Epoche hinaus, so wird durch die Werke einiger junger Komponisten Weberns Weg, der damit keine Verbind­ lichkeit mehr für sie haben kann, geradezu revoziert. Ent­ weder - so scheint es - muß Weberns Werk gegenwärtig kom­ positorisch ignoriert werden, oder aber all die Eigen­ schaften, durch die es zum Paradigma emphatisch Neuer Mu­ sik Anfang der fünfziger Jahre aufrückte, müssen von ihm abfallen oder zumindest andere Bedeutungen annehmen. 8o ANMERKUNGEN 1 P.Boulez, Flugbahnen (1949), in: Anhaltspunkte, Stuttgart 1975, S. 264 2 Selbstportrait, in: Programmheft Donaueschinger Musiktage 1975, S. 29 3 I.Strawinsky, Geleitwort, in: Anton Webern (=die reihe 2), Wien 1955 (II. Fassung), S . 7 4 W.Fortner, Anton Webern und unsere Zeit, in: Melos XXVII, 196o, S.325f. 5 H.Strobel, So sehe ich Webern, in: Melos XXXII, 1965, S . 285 6 Vgl. M.Druskin, Igor Strawinsky, Leipzig 1976, S.198 7 Vgl. Igor Strawinsky mit Robert Craft. Erinnerungen und Gespräche, Frankfurt 1972, S.24o 8 Cl.Rostand, Gespräche mit Darius Milhaud, Hamburg o.J., S.128; Fr.Poulenc, Entretiens avec Claude Rostand, Paris 1954, S.199 9 Gespräche mit Darius Milhaud, S.129; Entretiens avec Claude Rostand, S . 199 10 Zit. nach H.und R.Moldenhauer, Anton von Webern, Zürich 198o, S . 225 11 H.und R.Moldenhauer, Anton von Webern, S . 224 12 Jugendbriefe von Paul Hindemith aus den Jahren 1916-1919, in: Hindemith-Jb.1972/11, S.195 13 Ebd., S.195f. Hindemith ironisiert sogleich dies Konzept, wenn er fortfährt: "Eines kommt hinzu, da muß man ins Klavier greifen u. die Saiten mit der Hand anreißen, bei einem anderen wird der Klavierdeckel zugeschlagen u. zwar stets bei der Stelle, wo mir per Zufall ein ungetrübter Dur-Akkord unterlaufen ist, damit man durch ihn nicht in seinem musikalischen Zartgefühl beleidigt wird." (S.196) 14 Vgl. R.Stephan, Weberns Werke auf deutschen Tonkünstlerfesten, in: ÖMZ XXVII, 1972, S.122ff. 15 Folgende Angaben nach dem Briefwechsel zwischen Hindemith und dem Schott-Verlag (Hindemith-Institut, Frankfurt) vom Mai 1928. 16 Vorwort zu "Frau Musica", Edition Schott 146o; dort heißt es: "Diese Musik ist weder für den Konzertsaal noch für Künstler g e ­ schrieben. Sie will Leuten, die zu ihrem eigenen Vergnügen singen und musizieren oder die einem kleinen Kreise Gleichgesinnter vor­ musizieren wollen, interessanter und neuzeitlicher Übungsstoff sein. Diesem Zwecke entsprechend werden an alle Ausführenden keine sehr großen technischen Anforderungen gestellt..." 17 Vgl. H.und R.Moldenhauer, Anton von Webern, S.313 18 J.D.Bach, in: Wiener Arbeiterzeitung, 1932, vgl. G.Schubert, Vorgeschichte und Entstehung der "Unterweisung im Tonsatz. Theo­ retischer Teil", in: Hindemith-Jb.198o/IX, S . 33, Anm. 5o. Bach ist Widmungsträger von Weberns op.19. 19 Der Weg zur Neuen Musik, Wien 196o, SS.34,49,51 20 Musik der Gegenwart, Berlin 1923, S . 79 81 21 Vgl. R.Stephan, Über Schwierigkeiten der Bewertung und der Ana­ lyse neuester Musik, in: Musica XXVI, 1972, S.228f. 22 Das Anschauungsmodell dieser fragmentarischen Hinweise bildet primär das Werk Hindemiths. 23 P.Hindemith, Forderungen an den Laien, in: Musik und Gesellschaft I, 193o, S.9 24 P.Hindemith, Wie soll der ideale Chorsatz der Gegenwart oder bes­ ser der nächsten Zukunft beschaffen sein?, in: Hamburger Jb. für Musikwissenschaft IV, Hamburg 198o, S.114 25 Vgl. etwa E.Krenek, Selbstdarstellung, Zürich 1949, S.18 26 Vgl. Poulenc, Entretiens, S.199 27 Vgl. Stephan, Weberns Werke, S.122ff. 28 Zit. nach H.Schmidt-Garre, Webern als Angry Young Man, in: NZ CXXV, 1964, S.132 29 Nach Schmidt-Garre, S.133 30 E.Doflein, Die neue Musik des Jahres, in: Melos V, 1925/26, S.38o 31 Nach Schmidt-Garre, S . 134 32 Nach Schmidt-Garre, S . 133 33 Nach Schmidt-Garre, S. 133 34 Nach Schmidt-Garre, S . 136 35 Vgl. dazu Th.W.Adorno, Anton von Webern, in: Klangfiguren, Frankfurt 1959, S.169 36 Nach Schmidt-Garre, S.13 7 37 Nach Schmidt-Garre, S . 137 38 Vgl. dazu die Briefe K.A.Hartmanns an seine Frau, in: A.McCredie, Karl Amadeus Hartmann, Wilhelmshaven 198o, S.14off. 39 Nur im Katalog zur Ausstellung "Entartete Musik", hg. v. H.G.Zieg­ ler, Düsseldorf 1938, S.17 wird Webern angeprangert. Vgl. auch die Ausstellung "Entartete Kunst" in Wien (Moldenhauer, Webern, S . 454) 40 Zehn Jahre danach (1962/63), in: Anhaltspunkte, S . 259 41 Vgl.dazu die späten Schriften von Honegger oder Hindemith. 42 Igor Strawinsky mit Robert Craft, S.24o; Fr.Poulenc, Correspondence i915-1963, Paris 1967, S.236 4'3 Poulenc, Correspondence, a.a.O. 44 Poulenc, Correspondence, S . 156 (3.Januar 1945) 45 Poulenc, Correspondence, S.163 (27.März 1945)' 46 Poulenc, Correspondence, S . 166 47 Poulenc, Correspondence, S . 178 (11.Juni 1947) 48 Schoenberg et son ecole, Paris 1947; Introduction ä la musigue de douze sons, Paris 1949; Q u ’est-ce que la musique de douze s o n s , Liege 1948 49 Schoenberg et son ecole, S . 212 50 Vgl. H.Deppert, Studien zur Kompositionstechnik im instrumentalen Spätwerk Anton Weberns, Darmstadt 1972, S . 6 51 Mißverständnisse um Berg (1948), in: Anhaltspunkte, S.321 52 Flugbahnen (1949), in: Anhaltspunkte, S.257 53 Flugbahnen, S . 245 82 54 Strawinsky bleibt (1951), in: Anhaltspunkte, S.163ff.; vgl. K.H. Stockhausen, Beitrag zum lo. Geburtstag Strawinskys (1952), in: Texte zur Musik 197o-1977, Köln 1978, S.663 55 Vortrag bei den Darmstädter Ferienkursen 1951, in: Anhaltspunkte, S .288ff. 56 Vgl. Darmstädter Beiträge zur neuen Musik X, Mainz o.J., S.98 57 L.Nono, Die Entwicklung der Reihentechnik (1958), in: Texte, hg. v. J.Stenzl, Zürich 1975, S.21ff. 58 Schönberg ist tot (1951), in: Anhaltspunkte, S . 295 59 Zur Situation des Metiers (1953), in: Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik I, Köln 1963, S.46 6 0 Material und Geist, in: Melos XVIII, 1951, S . 6 61 Material und Geist, S . 5 62 Frankfurt 2ig58, S .lo 6 63 a.a.O.,S-lo7 64 In: Dissonanzen, Göttingen 2 1 9 5 3 , S.136ff. 65 Das Altern, S.144 66 Das Altern, S.153 67 Die altertümliche Schreibweise "Styl", die offenbar einen uner­ meßlichen inneren Abstand evozieren soll, stammt von Metzger; Eimert, der den Begriff prägte, schreibt stets: "Stil". 68 Disput zwischen Theodor W.Adorno und Heinz-Klaus Metzger (1957), in: H.-Kl.Metzger, Musik wozu, Frankfurt 198o, S.lol 69 Anton von Webern, in: Klangfiguren, S. 157ff. lo Anton von Webern (1959), S.176 71 Anton von Webern (1959), S . 176 72 Anton von Webern (1959), S.159 73 Die aktuelle Bedeutung Weberns (197o), in: Texte zur Musik 1963197o, Köln 1971, S . 352: "Natürlich war für uns junge Musiker ... in den Jahren 1951 bis ca. 1956 Webern besonders aktuell..." 74 1958 wirkte Cage in Darmstadt. 75 Zum 15.September 1955, in: die reihe 2, S . 43 76 Zum 15.September 1955, S . 43 77 Von Webern zu Debussy, in: Texte zur elektronischen und instru­ mentalen Musik I, S . 78 78 L.Nono, Gespräch mit Guy Wagner (1971), in: Texte, S . 261 79 Wille und Zufall, Stuttgart 1977, S.25 80 Vgl. M.Druskin, Igor Strawinsky, S . 199 81 Vgl. dazu etwa Boulez' Selbstkritik in: Musikdenken heute 1 (=Darmstädter Beiträge zur neuen Musik), Mainz 1963, S.2of.: "Als wir begannen, die Reihe auf alle Komponenten des Phänomens Klang auszudehnen, haben wir uns Hals über Kopf, oder vielmehr: kopflos an die Zahl verloren..." 82 P.Stadien, Die Webern-Legende, in: Musica XV, 1961, S. 6 6 ff. 83 C.Dahlhaus und R.Stephan, Eine 'dritte Epoche' der Musik?, in: Deutsche Universitätszeitung 1954, Heft X 84 W.M.Stroh, Anton Webern, Historische Legitimation als komposi­ torisches Problem, Göppingen 1973 83 85 Vgl. C.Dahlhaus, "Historische Legitimation", in: NZ CXXXIV, 1973, S .572f. 86 W.Kolneder, Anton Webern, Wien 1974 87 Der Autor als Produzent, in: Gesammelte Schriften 11(2), S.683ff.; vgl. dazu R.Bubner, Kann Theorie ästhetisch werden?, in: Materia­ lien zur ästhetischen Theorie. Th.W.Adornos Konstruktion der M o ­ derne, hg. v. W.Lüdke, Frankfurt 198o, S.12o 88 Musik und Politik. Schriften und Gespräche 1955-1975, München 1976, S.243 89 Vgl. A.Webern, Der Weg zur Neuen Musik, S.37: "Also das wollen wir festhalten: über die Formen der Klassiker sind wir nicht hinaus"; S. 6 o: "Ganz neu sagen wollen wir dasselbe, was früher gesagt wurde." Vgl. auch dazu H.P.Krellmann, Webern, Reinbek bei Hamburg 1975, S.95f. 90 So vor allem Boulez; vgl. etwa: Bach als Kraftmoment (1951), in: Anhaltspunkte, S.7o 91 Vgl. Fr.Döhl, Zum Formbegriff Weberns, in: ÖMZ XXVII, 1972, S . 137 92 H.-Kl.Metzger, Plattentext zur Schallplatte DGG 253o284: "...mag auch Webern in seiner eigenen Analyse metaphorisch von 'Themen' sprechen..." 93 Vgl. zu diesem Komplex auch: Chr.M.Schmidt, Brennpunkte der Neuen Musik, Köln 1977, S.38ff. 94 P.Stadien, Die Webern-Legende, S. 68 95 Bereits 1965 distanziert sich Ligeti vom musikalischen Avantgardismus; vgl. G.Ligeti, Viele Pläne, aber wenig Zeit, in: Melos XXXII, 1965, S . 251; vgl. auch: Blick in die Zeit, in: Melos XXVIII, 1971, S .21 3 f . 96 Vgl. Kl.Kropfinger, Ligeti und die Tradition, in: Zwischen Tra­ dition und Fortschritt (Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt 13), Mainz 1973, S.136 97 Neue Musik in Ungarn, in: Melos XVI, 1949, S. 6 ; von Bartok bis Veress, in: Melos XVI, 1949, S. 6 o; Zwölftonmusik oder "Neue To­ nalität"?, in: Melos XVII, 195o, S.45 98 Zwölftonmusik oder "Neue Tonalität"?, S.45 •99 Zwölftonmusik oder "Neue Tonalität"?, S . 45 100 G.Ligeti, Fragen und Antworten von mir selbst, in: Melos XXXVIII, 1971, S .5o 9 f . 101 Fragen und Antworten, S.51o 102 Fragen und Antworten, S.51o 103 Blick in die Zeit, S . 213 104 Über die Harmonik in Weberns erster Kantate, in: Darmstädter Bei­ träge zur neuen Musik III, Mainz 196oj Weberns Stil, in: gehört­ gelesen 196o, Nr.3; Die Komposition mit Reihen und ihre Konse­ quenzen bei Anton Webern, in: ÖMZ XVI, 1961; Weberns Melodik, in: Melos XXXIII, 1966 105 Über reihenmäßige Bildung der Klangfarben vgl. etwa: Die Kompo­ sition mit Reihen, S.299ff. 10 6 Diese Komponisten empfinden sich selbst emphatisch als "junge Komponisten"; vgl. H.-J.von Bose, Suche nach einem neuen Schön­ 84 107 10 8 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129 130 131 132 heitsideal, in: Darmstädter Beiträge zur neuen Musik XVII, Mainz 1978, S.35 Selbstportrait, in: Programmheft Donaueschinger Musiktage 1975, S . 27 Von Darmstadt nach Wien, in: Zwischen den Kulturen, hg. v.H.W. Henze, Frankfurt 1979, S . 236 Von Darmstadt nach Wien, S.238 Philosophie der neuesten Musik - ein Versuch zur Extrapolation von Adornos 'Philosophie der neuen Musik', in: Studia Philosophica Gaudensia, Heft 9, 1971, S.lo9 M.Trojahn, o.T., in: Programmheft Donaueschinger Musiktage 1978, S . 29: "Am Ende der sechziger Jahre steht der Werkbegriff in Auf­ lösung - kaum ein Komponist befolgt jedoch die theoretischen E r ­ fordernisse und enthält sich der Produktion..." Vgl. C.Dahlhaus, Vom Einfachen, vom Schönen, vom einfach Schönen, in: Darmstädter Beiträge zur neuen Musik XVII, S.33 z.B. Th.W.Adorno, Anton von Webern (1959), S.165 Vgl. R.Stephan, Zu einigen Liedern Anton Weberns, in: Beiträge '72/73, Webern-Kongreß, Kassel 1973, S.143f. Wille und Zufall, S.14 Zum 15.September 1955, S.43 Vgl. J.Butzga, Interview mit Pierre Boulez in Prag, in: Melos XXXIV, 1967, S.162 Diese Bemerkung gilt schon für Schönbergs Verwendung der Dode­ kaphonie; vgl. dazu Chr.Möllers, Reihentechnik und musikalische Gestalt bei Arnold Schönberg, Wiesbaden 1977; damit bestätigt sich indirekt auch die Kritik, die Boulez an der Schönbergschen Reihentechnik übt (z.B. in: Bach als Kraftmoment, in: Anhalts­ punkte, S .6 9 f .). H.Sabbe, Die Einheit der Stockhausen-Zeit, Musik-Konzepte Heft 19, München 1981 Suche nach einem neuen Schönheitsideal, S.38f. Der geschockte Komponist, in: Darmstädter Beiträge zur neuen Musik XVII, S . 43 Der geschockte Komponist, S . 43 Vorwort zu Weberns Bagatellen op.9, UE 7575 Th.W.Adorno, Anton von Webern (1959), S.166ff. Th.W.Adorno, Tradition, in: Dissonanzen, S . 125; vgl. dazu auch die Diskussion: Wo ist echte Tradition?, in: Melos XXVII, 196o, S .294ff. Th.W.Adorno, Anton von Webern (1959), S.167 Verständlichkeit und Popularität - künstlerische Ziele?, in: Darmstädter Beiträge zu neuen Musik XVIII, Mainz 198o, S.62f. Verständlichkeit und Popularität, S.63 Anton von Webern (1959), S.174 Der Weg zur Neuen Musik, S. 6 o H.Moldenhauer, Weberns letzte Gedanken, in: Melos XXXVIII, 1971, S . 273 Anton von Webern (1959), S . 174 85 133 Programmnotiz zu: umhergetrieben, aufgewirbelt, in: Programm­ buch Vorwärts schauen, schauen zurück, Frankfurt 1981, S . 112 134 Musik der Gegenwart, S . 79 135 Zuerst in: Anton von Webern (1932), in: Impromptus, Frankfurt 1968, S.49; identisch mit: Philosophie der neuen Musik, S.I 08 136 Vorwort zu Weberns Bagatellen op.9 137 Die gefährdete Kommunikation, in: Musica XXVIII, 1974, S . 229: "Kommunikation verweigern und zugleich erzwingen: nur der äußersten ästhetischen Intensität kann dies gelingen. Umgekehrt ist gerade solche Intensität möglich einzig in der Auseinander­ setzung mit den geltenden Ausdruckskategorien..." 138 Die notwendige Korrektur, in: die reihe 2, S.37 139 Kontrollierte Bewegung, in: die reihe 2, S . 66 140 Zum 15.September 1955, S . 42 141 Vgl. H.Sabbe, Die Einheit der Stockhausen-Zeit, S . 54 142 Musik und Politik, S.243 143 Von Darmstadt nach Wien, S.238 144 W.Rihm, In den Spiegel gelauscht, in: Programmheft Donaueschinger Musiktage 1974, S . 21 145 Vgl. W.Rihm, Ins eigene Fleisch... in: NZ CXL, 1979, S. 8 ; vgl. dazu die von H.Deppert, Studien zur Kompositionstechnik im in­ strumentalen Spätwerk Anton Weberns, S . 221 anvisierte "Kodifizierung des späten Instrumentalstils Weberns" im Sinne eines Ersatzes des als Lehrgegenstand "bewährten" Palestrinastils (solch eine Vorstellung in bezug auf die 12-Ton-Technik über­ haupt entwickelte bereits K renek). 146 Vgl. dazu R.Busch, Vorbemerkung zu: August Halm über die Kon­ zertform, in: Notizbuch 5/6, Berlin 1982, S.lo7ff. 86 Hermann Danuser HANNS EISLER - ZUR WECHSELHAFTEN WIRKUNGSGESCHICHTE ENGAGIERTER MUSIK Für Christoph Keller Als vor nunmehr 14 Jahren Reinhold Brinkmann an diesem Ort über "Kompositorische Maßnahmen Eislers" sprach im Rahmen des damals zur rechten Zeit veranstalteten Kon­ gresses über "Musik und Politik"1 -, war Hanns Eisler im Westen nur einem kleinen Kreis bekannt, seine Schriften, soweit überhaupt greifbar, wurden wenig gelesen, seine Musik noch weniger gespielt. Fast über Nacht aber änderte sich diese Situation von Grund auf: Chöre und Ensembles wurden gegründet, die Eislers Namen tragen, seinem Schaf­ fen gewidmete Konzerte, Retrospektiven und Symposien fan­ den statt, Editionen von Schriften und Gesprächen, Musik­ noten und Schallplatten gelangten neu auf den Markt, eine feuilletonistische, kritische und wissenschaftliche Lite­ ratur schwoll bald zu einem schwer überschaubaren Ausmaß an. Jäh rückte Eisler in Westeuropa um 197o aus dem Dun­ kel von Vergessenheit und Verdrängung in den Brennpunkt der Aktualität. Heute indessen ist dieses Interesse merk­ lich abgeklungen, der Zenith der westlichen Eisler-Rezep­ tion erscheint überschritten und gehört bereits der jün­ geren Vergangenheit an, nicht anders als die Studenten­ bewegung, von der sie vorab getragen wurde. In dem Maße aber, in dem Eislers unmittelbare Aktualität sich ver­ ringerte, dürften sich die Chancen erhöht haben, seine Musik historisch und ästhetisch gelassener zu bewerten und sie nicht länger zu bloßer Exemplifizierung einer Po­ sition politisch-musikalischen Engagements zu benutzen in einer vorwiegend theoretisch geführten Diskussion, in der das ausgiebige Zitieren von Eislers Schriften das Hö­ ren und Verstehen seiner Musik weitgehend verdrängt hat. 1 Reinhold Brinkmann, Kompositorische Maßnahmen Eislers, in: Über Musik und Politik, hg. v. R.Stephan (Veröffentlichungen des In­ stituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt, Band l o ) , Mainz 1971, S.9-22 87 I. E i s ler u n d die S c h ö n b e r g - S c h u l e Während die persönlichen Beziehungen Eislers zu Schönberg in wesentlichen Zügen erforscht sind - bei allen Diffe­ renzen hat der Schüler dem Lehrer auch öffentlich, frei­ lich nicht ohne Nuancen, stets die Treue g e h a l t e n 2 -, stellt Eislers Verhältnis zur Schönberg-Schule noch ein offenes Problem dar, sofern der Begriff der SchönbergSchule über das Pädagogische hinaus kompositionsgeschicht­ lich gefaßt wird. Perioden der Nähe wechselten mit Phasen der Ferne zu ihr so drastisch, daß die Frage nach der Ein­ heit des Eislerschen Oeuvre, danach also, ob und inwie­ fern es jenes - neuerdings vielbeschworene - Ganze tat­ sächlich im Sinne eines inneren Zusammenhangs bilde, nicht bloß rhetorisch aufgeworfen werden darf. Vor einem Vierteljahrhundert jedenfalls, zur Zeit des Kalten Krie­ ges, wurden die verschiedenen Schaffensphasen Eislers in Ost und West gänzlich konträr bewertet, und hier wie dort wäre wohl die Frage, ob Eisler überhaupt der SchönbergSchule angehöre, verneint worden - aufgrund entgegenge­ setzter Urteilskriterien. Im Westen, wo sich nach 195o eine Avantgarde unter weitgehender Ausklammerung gesell­ schaftlicher und sozialer Aspekte der Musikproduktion entfaltete, wurde Eislers Funktionsorientierung zugunsten einer dem Sozialismus nützlichen Musik - etwa gar die Kom­ position der DDR-Hymne - als bedauerlicher Irrweg eines von den Prinzipien der autonomen Neuen Musik abgefallenen Schönberg-Schülers betrachtet, wie bekanntlich schon Schönberg selbst, dessen Leben der Kunst galt, die poli­ tische Entscheidung eines Komponisten von Eislers Bega­ bung, die Kunst in den Dienst eines sozialistischen Lebens­ ideals zu stellen, nie begreifen, geschweige denn billigen 2 Albrecht Dümling, Eisler und Schönberg, in: Hanns Eisler, Sonder­ band Nr.5 der Zeitschrift Das Argument, Berlin 1975, S.57-85 (im folgenden zitiert als AS 5) Ders., Schönberg und sein Schüler Hanns Eisler. Ein dokumentarischer Abriß, in: Die Musikforschung 29. Jg. (1976), S.431-461. Der V e r ­ fasser möchte Herrn Dr. Dümling an dieser Stelle vielmals danken für einige Informationen zur jüngsten Eisler-Rezeption. Günter Mayer, Arnold Schönberg im Urteil Hanns Eislers (1975), in: Weltbild-Notenbild. Zur Dialektik des musikalischen Materials, Leipzig 1978, S.349-383 Walter. Szmolyan, Schönberg und Eisler, in: Österreichische Musik­ zeitung 33. Jg. (1978), S.439-444 88 konnte. Im Osten andererseits, zumal in der neugegrün­ deten DDR, wo eine dem Sozialistischen Realismus ver­ pflichtete Kulturpolitik den modernitätsfeindlichen Po­ pulismus der dreißiger und vierziger Jahre bruchlos fort­ setzte und auf der Stagnation eines tonalen musiksprach­ lichen Materials beharrte, wurde Eisler als Sänger der Arbeiterklasse und Begründer des Sozialistischen Realis­ mus in der deutschen Musik gefeiert, wobei das Lob seiner Kampfmusikperiode um 193o und der in der DDR bis zu sei­ nem Tod im Jahre 1962 entstandenen "angewandten Musik" jedoch seine Kehrseite hatte in der unverhüllten, gar grobschlächtigen Kritik an Perioden der "Esoterik", der er, Schüler des diffamierten Schönberg, in seinen Lehr­ jahren und später im amerikanischen Exil um 194o verfal­ len sei3 . Indem Eislers vier Schaffensphasen dergestalt brüsk zweigeteilt und die Perioden einer "formalistischen" Neuen Musik und einer "realistischen" angewandten Musik in der marxistischen und nichtmarxistischen Kritik völlig entgegengesetzt bewertet wurden, war die Eisler-Rezeption während des Kalten Krieges ein genaues Spiegelbild der kulturpolitischen Auseinandersetzung zwischen Ost und West. Solch holzschnittartige Kontrastierung bedeutet indessen eine Verzerrung der historischen Wirklichkeit, wenn sie sich auf den Gegensatz von rückhaltlos autonomer und be­ dingungslos funktionaler Musik stützt. Gewiß - die Wider­ sprüche in Eislers Weg reichen tiefer, als daß die mit­ unter drastischen Stil- und Qualitätsdifferenzen ledig­ lich als gattungsbedingte Unterschiede innerhalb eines einheitlichen Oeuvre gelten könnten. Sie lassen sich je­ doch kaum im Sinne einer tendenziellen Spaltung des Eislerschen Bewußtseins dergestalt interpretieren, daß des­ sen politisch-ethische Seite der revolutionären Arbeiter­ bewegung, seine ästhetische aber der Schönberg-Schule ver­ pflichtet gewesen sei und deshalb, je nach externer Vor­ aussetzung, diese oder jene Richtung vorgeherrscht habe. Widersprüchlichkeiten in Eislers Schaffen, insbesondere 3 So u.a. Heinz Alfred Brockhaus, Hanns Eisler (Musikbücherei für Jedermann Nr.19), Leipzig 1961, und Ernst Hermann Meyer, Vorwort zu Hanns Eisler, Lieder und Kantaten, Band 1, Leipzig 1955. Dazu Brinkmann, a.a.O., S.9f. und Rudolf Stephan, Kleine Beiträge zur Eisler-Kritik, in: Musik zwischen Engagement und Kunst (=Studien zur Wertungsforschung, Band 3, hg. v.O.Kolleritsch), Graz 1972, S.53-68, v.a. S.64f. 89 der Bruch mit der Kunstmusik der Moderne nach 1925, wer­ den vielmehr verständlicher, wenn wir, statt es mit den Oeuvres von Webern oder Berg zu vergleichen, der Tatsache Gewicht beimessen, daß Eisler der zweiten Schülergenera­ tion Schönbergs angehörte und - wie Milhaud, Honegger, Poulenc in Frankreich, Hindemith, Krenek, Weill in Deutsch­ land - erst nach dem Ersten Weltkrieg auf den Plan trat. Im Unterschied zur Vorkriegsgeneration der Neuen Musik bezog die Nachkriegsgeneration insgesamt das Moment der Funktion in den Umbruchprozeß mit ein, so daß Eislers Schritt zu einer politisch engagierten Musik - im Zei­ chen einer allgemeinen Funktionalisierung der artifizi­ ellen Musik - musikhistorisch eine sinnvoll mögliche Ent­ scheidung darstellte. Die bewußte Abkehr dieser jungen Komponistengeneration von der Tradition der absoluten Musik gestattete ein Neben- bzw. Nacheinander vielfäl­ tigster Ansätze und zeitigte ein rastloses, schnell und spontan entscheidendes Experimentieren innerhalb eines stilistisch und gattungsmäßig weitgespannten Bereichs von Musik, der insgesamt als "mittlerer" charakterisiert werden k a n n 4 _ auf doppelte Weise: zum einen im Hinblick auf den Kunstanspruch durch einen mittleren Stilhöhenbereich zwischen dem "Oben" der absoluten Kunstmusik und dem "Unten" schierer Trivialmusik, zum ändern - um die Raummetapher nun geschichtsphilosophisch zu wenden - im Hinblick auf den Stand des musikalischen Materials durch eine mittlere Position zwischen dem "Vorn" einer strikten (freien oder dodekaphonen) Atonalität und dem "Hinten" einer traditionellen funktionsharmonischen Tonalität. Keineswegs stellte die junge Generation dabei die neuen Arten von "Funktionsmusik" der ehemaligen "Kunstmusik" kontradiktorisch gegenüber. Vielmehr zielte sie auf eine Einheit von Kunstgehalt und Funktionserfüllung, d.h. sie hielt den Grad kompositorischer Artifizialität variabel und paßte ihn dem jeweiligen Funktionsanspruch an. Weil dies in vollem Umfang auch für Hanns Eisler zutrifft, ist seine Zugehörigkeit zur Schönberg-Schule,. für die der Kunstanspruch einer Neuen Musik verpflichtend war, nur eine, wenn auch wichtige Wurzel seines Schaffens. Von ihrer Relevanz zeugen bekannte Werke wie die Klaviersonate 4 Dazu im näheren vom Verfasser: Die "mittlere Musik" der Zwanziger Jahre, Vortrag, gehalten auf dem Kongreß der Internationalen Ge­ sellschaft für Musikwissenschaft in Straßburg 1982, Kongreßbericht in Vorbereitung opus 1 (1924) oder das Quintett "14 Arten, den Regen zu beschreiben" opus 7o (194o), Werke einer originären Neuen Musik, die - auf der Grundlage von Kompositionsprinzipien der Wiener Schule wie der entwickelnden Variation - einen spezifisch Eislerschen Tonfall ausprägen, dem stets auch bei größter Ausdrucksintensität - eine gewisse Di­ stanziertheit eignet. Diese Wurzel fand jedoch ein star­ kes, streckenweise überwiegendes Gegengewicht in Eislers Teilhabe an der Komponistengeneration der "mittleren Mu­ sik", deren Arbeit den Erfordernissen des Tages, jeden­ falls der Gegenwart galt. Eislers musikhistorische Bedeutung erwächst aus diesem Spannungsverhältnis zwischen Schönberg-Schule und "mitt­ lerer Musik", sein Rang daraus, daß er es zu großen Tei­ len fruchtbar zu entwickeln vermochte, so daß daraus mehr als ein fauler Kompromiß zwischen Kunst- und Funktions­ anspruch resultierte. Begreiflicherweise konnte unter die sen Voraussetzungen seine Musik selten das von der Trias Schönberg, Webern, Berg gesetzte oberste Kunstniveau der Schule erreichen, andererseits - und diese Betrachtungs­ weise erscheint angemessener - wird daraus Eislers be­ sondere Position in der Komponistengeneration der "mitt­ leren Musik" verständlich, die ihn auszeichnet im Hin­ blick auf die Logik der Musiksprache. So wird man seine Agitationschöre, Massenlieder und Balladen aus den Jahren um 193o zwar nicht zur Musik der Schönberg-Schule rechnen dürfen, doch - wie etwa Reinhold Brinkmanns Analyse des "Solidaritätsliedes" aus "Kuhle Wampe" (1931) zeigt5 _ an ihrer Faktur ein bei Schönberg geschultes und trotz der Zurücknahme des musikalischen Materials noch wirk­ sames Denken erkennen können: Grund ihrer Neuheit und ihres - in diesen Gattungen unleugbaren - ästhetischen Rangs. Indessen kann selbst die hartnäckigste Apologetik die Augen vor der Tatsache nicht verschließen, daß Eisler ge­ legentlich nicht nur den Materialstand, sondern auch die Materialbehandlung auf blanke Konventionalität zurück­ schraubte. In dem Kitsch der "Neuen deutschen Volkslieder 5 Brinkmann, a.a.O., S.llf. Außerdem vom selben Verfasser: Kritische Musik - Bericht über den Versuch Hanns Eislers, in: Über Musik und Kritik, hg. v. R.Stephan (Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt, Band 11), Mainz 1971, S.19-41 91 (195o) oder in der Neuromantik der Orchestersuite zu Bechers "Winternacht" (1955) hat sich Eislers Wort aus dem Jahre 1948, die Schönberg-Schule werde geschlossen^, in einem ganz anderen als dem gemeinten Sinn erfüllt. In solchen Werken lassen sich keinerlei Spuren eines von Schönberg repräsentierten Musikdenkens mehr entdecken, auch der dünnste Faden eines kompositionsgeschichtlichen Zusammenhangs zur Wiener Schule erscheint hier zerrissen. In solchen Kompositionen hat Eisler in dem Bemühen, dem Sozialismus nützliche Musik zu schreiben, sein eigenes Programm preisgegeben, demzufolge der Kampf gegen die politische und der gegen die musikalische Dummheit als ein und derselbe zu führen seien. Bei allem Bedauern über die Existenz dieses Teils von Eislers Oeuvre sollte man indessen nicht übersehen, daß ein solchermaßen schwanken­ des Niveau, so unverträglich es mit dem Anspruch der Schön­ berg-Schule ist, ein ganz und gar typisches Charakteristi­ kum jener "mittleren Musik" darstellt, der Eisler in sei­ nem Musikverständnis primär verpflichtet war. II. Zum späten Eisler Im "Brief nach Westdeutschland" von 1951, der als Gegen­ entwurf zum Kunstideal der Wiener Schule gelesen werden kann, heißt es: "Wir brauchen dringend für unerfahrene Hörer leichtverständliche Musik. Es ist schwer genug, sie zu schreiben, ohne in abgenutzte Klischees zu verfallen... Verbindet sich Musik mit anderen Künsten: Poesie, Theater, Tanz, wird sie zur angewandten Musik, dann bekommt selbst Abgenütztes einen neuen Sinn und damit eine neue Nützlichkeit"7. Unter Verzicht auf jenen Freiraum der Phantasie, der ihm im amerikanischen Exil eine Rückkehr zur künst­ lerischen Modernität gestattet hatte, orientierte Eisler sein Schaffen in der DDR strikt an diesem Konzept einer "angewandten Musik". Den Gegenbegriff "Kon_zertmusik" scheint er dabei auf reine Instrumentalmusik einzuschrän­ ken, so daß die Vokalmusik, bei der die Musik sich mit Poesie verbindet, zur "angewandten Musik" zu rechnen wäre 6 Hanns Eisler, Gesellschaftliche Grundlagen der modernen Musik, in: Materialien zu einer Dialektik der Musik, hg. v. M.Grabs, Leipzig 1976, S.177 7 Hanns Eisler, Brief nach Westdeutschland, a.a.O., S.2o5f. 92 und dieser Begriff demnach querstünde zum Gegensatz autonom funktional, wenngleich das Funktionsmoment daran primär er­ scheint. Man mißverstünde das Eislersche Konzept, sähe man in ihm vorab eine List der musikalischen Vernunft, um unter den Bedingungen einer extrem modernitätsfeindlichen Musik­ politik sich dem Zwang zur bombastischen Symphonik des Sozialistischen Realismus zu entziehen und durch äußerste Selbstbeschränkung wenigstens einige Elemente einer auf­ klärerischen neuen Kunst zu bewahren. "Ich wollte nicht das machen, was mir Spaß macht, sondern das, was notwendig war", äußerte Eisler 19588. und not­ wendig erschien ihm im Anfangsstadium des sozialistischen Aufbaus, die aus feudalen und bürgerlichen Zeiten stam­ mende Spaltung der Musikkultur in eine hohe und eine nie­ dere zu überwinden und durch die Komposition einfacher, doch qualitativ gehaltvoller Musik in den angewandten Genres der Vokal-, Bühnen- und Filmmusik den Zustand zu beseitigen, den er als musikalischen Analphabetismus an­ prangerte. Insofern Eisler die Funktionsbestimmung nicht mehr nur für eine einzelne Gesellschaftsschicht vornahm, sondern eine ästhetisch-politische Erziehungsarbeit für das ganze Volk leisten wollte, handelt es sich beim Kon­ zept der - zumal auch in den Medien - "angewandten Musik" um eine populistische Variante der "mittleren Musik". Über die dabei erforderliche Selbstbescheidung als Künst­ ler scheint er sich im ganzen keiner Täuschung hingegeben zu haben; umso mehr wuchs gegen Ende seines Lebens die Verbitterung, als er erkennen mußte, daß sein Kampf gegen die musikalische Dummheit auch in der DDR ohne breiten Erfolg blieb. Dem letzten, kurz vor seinem Tode (1962) abgeschlossenen Werk, einem Gesangszyklus für Bariton und Streichorchester nach Texten verschiedener Dichter, gab Eisler - in eigen­ tümlicher Parallele zu Brahms - die Überschrift "Ernste Gesänge". Ein Hölderlin-Epigramm, in einem Vorspiel prä­ sentiert, wird dem Werk zum Motto: "Viele versuchten um­ sonst, das Freudigste freudig zu sagen,/Hier spricht end­ lich es mir, hier in der Trauer sich aus". Man wird darin, nicht anders als in einigen Spätwerken Schostakowitschs, die melancholische Antwort eines Sozialisten auf die im 8 Ders., Zehn Jahre DDR, in: Neues Deutschland, Günter Mayer: Weltbild-Notenbild, S.294 7.1o.l959, Zit. nach 93 Zeichen des Sozialistischen Realismus verordnete Pflicht zu uneingeschränkter Affirmation der Kunst erblicken dür­ fen. Seiner pragmatischen, keinem Autonomiedenken ver­ pflichteten Arbeitsweise entsprechend griff Eisler größten­ teils auf frühere, zum Teil gar aus der Exilzeit stammende Lieder zurück. Der entstehungsgeschichtlichen Hetero­ genität des Zyklus steht aber die stilistische nicht nach: Die "Ernsten Gesänge" stellen in der Vielfalt der herangezogenen Vokaltypen eine Art Summe Eislers dar. Anfangs­ und Schlußgesang ("Asyl" nach Hölderlin bzw. "Epilog" nach Stefan Hermlin) belegen eine enge Verbundenheit mit der Tradition der Kunstmusik - dieser bezeugt eine Brahms-, j ener eine Bach-Rezeption -, und in beiden Fäl­ len ist sie unmittelbarer als bei den anderen Meistern der Wiener Schule greifbar, so daß die Gefahr der Epigonalität aufscheint. Der fünfte Gesang ("XX. Parteitag" nach einem Gedicht von Helmut Richter) - der Text gibt den mit der Entstalinisierung verknüpften Hoffnungen Aus­ druck ("Leben, ohne Angst zu haben") - ist in seiner Schlichtheit die lyrische Transformation eines Massen­ liedes , wobei der Marschtypus in einem 3/4-Takt aufge­ hoben erscheint. Gegen die hier verwendete Diatonik kon­ trastiert scharf die dichte Chromatik der übrigen Ge­ sänge , die, wenn sie auch nicht strikt der einfachen Eislerschen Zwölftontechnik folgen, dennoch von der Erfah­ rung der Dodekaphonie zehren - auch in ästhetischer Hin­ sicht . Wie Eisler bei anderen Gesängen des Zyklus und insgesamt in seinem Vokalschaffen, statt integrale Dich­ tungen zu vertonen, die Texte eigenständig montierte, komponierte er auch beim dritten Gesang ("Verzweiflung") nur einen Ausschnitt aus Giacomo Leopardis Gedicht "A se stesso". Höhepunkt der Negativität, lautet der Text; "Nichts g ibt's , was würdig wäre deiner Bemühungen, und keinen Seufzer verdient die Erde. Schmerz und Langeweile sind unser Los und Schmutz die Welt, nichts anderes, be­ ruhige dich." Zwischen Streichersatz und Singstimme besteht ein Span­ nungsverhältnis, wie es für Eislers Vokalkomposition charakteristisch ist. Ein chromatisch aufgewühltes Vor­ spiel und Clusterbewegungen der Streicher sind hier aller­ dings kein Beispiel des vielberufenen "dramaturgischen Kontrapunkts" der Musik zum Text bzw. Bild^, sondern fas­ sen den Textinhalt - Verzweiflung - nach Maßgabe tradi­ tioneller Prinzipien musikalischen Ausdrucks. Die Sing­ stimme beteiligt sich jedoch nicht an dieser Ausdrucks­ dimension . In reinem c-Moll gehalten, trägt sie den Text vielmehr referierend - aus Distanz - vor und macht dadurch die Situation der Verzweiflung als eine veränderbare, nicht als unaufhaltsames, höheres Geschick erfahrbar. 94 In der Komposition ist somit der für die konzertmäßige Vokalmusik charakteristische Vortragsstil vorgezeichnet, den Eisler im Vorwort zu den "Ernsten Gesängen" wie folgt umreißt: "Der Sänger möge sich bemühen, durchweg freundlich, höflich und leicht zu singen. Es kommt nicht auf sein Innenleben an, sondern er möge sich bemühen, den Hö­ rern die Inhalte eher zu referieren als auszudrücken. Dabei muß künstliche Kälte, falsche Obj ektivität, Ausdruckslosigkeit vermieden werden, denn auf den Sänger kommt es schließlich a n „" In den Gesprächen mit dem Literaturwissenschaftler Hans Bunge hat Eisler gegen Ende seines Lebens die Möglichkeit angedeutet, daß die Einschränkung des Kunstanspruchs durch eine bloß "angewandte", also nicht mehr selbständig-freie Musik in einer entwickelteren Phase des Sozialismus wieder aufgehoben werden könnel°. Der Gedanke einer "Zurücknahme der Zurücknahme" (Günter Mayer) nach einer "Übergangs­ periode " wurde allerdings zu spät gefaßt, als daß er bei ihm selbst noch hätte kompositorisch wirksam werden kön­ nen „ Wenige Jahre nach seinem Tode j edoch wurde er von 9 Theodor W.Adorno - Hanns Eisler, Komposition für den Film. Text­ kritische Ausgabe von Eberhardt Klemm (=Harms Eisler: Gesammelte Werke, Serie III, Band 4) Leipzig 1977, S.62f. Zu den "Ernsten Gesängen" vgl. u.a. Karoly Csipäk, Probleme der Volkstümlichkeit bei Hanns Eisler (--Berliner Musikwissenschatliehe Arbeiten, hg. v. C.Dahlhaus und R.Stephan, Band 11), München-Salzburg 1975, S .224f.;Albrecht Betz, Hanns Eisler. Musik einer Zeit, die sich eben bildet, München 1976, S .2o6f.; Manfred Grabs, "Wir, so gut es gelang, haben das Unsre getan" - Zur Aussage der HölderlinVertonungen Hanns Eislers, in: Beiträge zur Musikwissenschaft 15.Jg. (1973), S.49-6o, und ders., Hanns Eisler - Werk und Edition. Eine Dokumentation (=Arbeitshe£te der Akademie der Künste der Deut­ schen Demokratischen Republik. Forum: Musik in der DDR, Heft 28), Berlin 1978, S .48f., sowie Facsimilia 4o und 41. Die Dokumentation von Manfred Grabs bietet Grundlegendes zu der Ausgabe der "Gesam­ melten Werke" Hanns Eislers, die, von der Akademie der Künste der DDR betreut, im VEB Deutscher Verlag für Musik Leipzig erscheint. Io Hanns Eisler, Gespräche mit Hans Bunge. Fragen Sie mehr über Brecht. Übertragen und erläutert von H.Bunge (H.Eisler, Gesammelte Werke, Serie III, Band 7), Leipzig 1975, S. 238. Dazu G.Mayer, a.a.O., S.316f. einer jungen Komponistengeneration auf eine Weise voll­ zogen, die den historischen Irrtum von Eislers popu­ listischem Erziehungsprogramm offenbart. Indem man sich nämlich mit der weiterbestehenden Spaltung der Musik­ kultur in divergierende Teilbereiche abfand, wurde eine der Voraussetzungen dafür geschaffen, daß auch in der DDR eine Neue Musik sich entfalten und internationalen An­ schluß finden konnte. Die Eisler-Rezeption spielte hier­ bei freilich nur eine begrenzte Rolle. Eisler war und blieb teilweise modellhaft für die Genres der angewandten Musik, seine Schriften und Gespräche erlangten - zumal in Günter Mayers Rekonstruktion und Ausdifferenzierringt grundlegende Bedeutung für eine marxistische Theorie der Musik; kompositionsgeschichtlich hingegen blieb sein Oeuvre für die Entwicklung der Neuen Musik in der DDR ohne Belang. Als der offizielle Bann gegen die Schönberg-Schule aufge­ hoben wurde, konnten Komponisten wie Friedrich Goldmann und Siegfried Matthus sich direkt mit Schönberg, Berg und der westlichen Avantgarde auseinandersetzen und brauchten - etwa zur Aneignung der Reihentechnik - nicht den Weg über Eisler zu nehmen, der ein Umweg gewesen wäre. Darin eine Tragik erblicken zu wollen, vertrüge sich schlecht mit Eislers aufklärerischer Physiognomie. Einesteils rächte sich hier seine pauschale Diffamierung der west­ lichen Avantgarde nach dem Zweiten Weltkrieg, womit er, denkt man an Hindemith und Honegger, unter den Vertretern seiner Altersgeneration im übrigen nicht allein stand. Andernteils erfolgte der entscheidende Wandel der EislerRezeption in der DDR - die Rehabilitierung des atonalen und dodekaphonen Oeuvre -, trotz eines ausgezeichneten Aufsatzes von Eberhardt Klemm aus dem Jahre 1 9 6 4 J-2 zu 11 Günter Mayers Arbeiten zur Kategorie des musikalischen Materials bei Hanns Eisler, die ~ im Zusammenhang mit Mayers Dissertation entstanden - seit 1966 veröffentlicht wurden, sind bibliographiert und zu wichtigen Teilen publiziert im zitierten Band Mayers: Weltbild-Notenbild, S.93-348. V gl. jüngst außerdem Käroly Csipäk, Was heißt "Dummheit in der Musik"? Überlegungen zu Hanns Eislers Musikdenken, in: Notizbuch 5/6, hg. v. R.Kapp, BerlinWien 1982, S.175-2oo 12 Eberhardt Klemm, Bemerkungen zur Zwölftontechnik bei Eisler und Schönberg, in: Sinn und Form 16.Jg. (1964), S .771-784 96 spät - offiziell nämlich nach 1970^3 ais daß die Eislersche Zwölftontechnik wenigstens im Sinne einer Zwischen­ stufe der Aneignung für die jüngeren Komponisten noch hätte von Interesse sein können. III. Die Eisler-Rezeption in Westeuropa In einer auffällig koinzidierenden Gegenläufigkeit, die möglicherweise mit dem Beginn der Entspannungspolitik in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre zusammenhängt, ent­ brannte zu der Zeit, als in der DDR eine Neue Musik unter Abkehr vom Eislerschen Konzept der "angewandten Musik" ihren Aufschwung nahm, in Westeuropa - zumal in den deutsch­ sprachigen Ländern und in Italien - das Interesse an Eisler unter Abkehr vom Avantgardekonzept der Neuen Musik. Wurde Eisler dort - sei es als Komponist der Arbeiterklasse, sei es gesamthaft als kulturelles Erbe - tendenziell zum Klassiker neutralisiert, so wurde er hier plötzlich zu einer Symbolfigur, an der sich heftige Diskussionen um Autonomiecharakter und Funktionsgebundenheit von Musik entzündeten. Die Dynamik der westlichen Eisler-Rezeption aber resultierte aus dem Zusammentreffen musikalisch-in­ terner und externer Voraussetzungen. Die wichtigste interne Voraussetzung lag in einer Krise der Avantgardemusik, die spätestens gegen 197o offenbar wurde. Das aus der "Philosophie der neuen Musik" herge­ leitete Theorem einer geschichtlichen Tendenz des musi­ kalischen Materials, die ein Komponist unter Beachtung eines wachsenden Kanons des Verbotenen zu vollstrecken habe, hatte damals seine musikhistorische Tragweite er­ schöpft und zu einer aporetisehen Situation geführt. Ge. genüber regressionsverdächtigen Lösungen wie Stockhausens Wende zu einer Intuitiven Musik ("Aus den sieben Tagen" 1968) oder dem Collagieren von Musikzitaten (z.B. E3e.ri.os "Sinfonia" 1968/69) bot der Ansatz, für den Eisler ein­ stand, einen entscheidenden Vorzug: Das Avantgardekonzept., das - im Gegensatz zu heute - um 197o noch attraktiv er­ schien, brauchte nicht preisgegeben, sondern lediglich 13 Dazu insbesondere die Beiträge in: Hanns Eisler heute. Berichte Probleme - Beobachtungen (=Schriftenreihe des Präsidiums der Aka­ demie der Künste der DDR, Forums Musik in der DDR. Arbeitsheft 19), Berlin 1974 97 modifiziert zu werden, ja man zielte, indem man eine mu­ sikalische Avantgardeposition mit einer politischen ver­ schränkte, geradezu auf eine Potenzierung der Idee von Avantgarde. Die Modifikation des musikalischen Avantgarde­ konzeptes bestand darin, daß eine - von der skizzierten Krise im allgemeinen und von der politischen Zwecksetzung im besonderen geforderte - Vereinfachung des musikalischen Materials postuliert, gleichzeitig aber der Anspruch auf ästhetische Fortschrittlichkeit bekräftigt wurde durch die Unterstellung avancierter Kompositions v e r f a h ­ r e n . Für die Kritik am Theorem einer geschichtlichen Tendenz des musikalischen Materials gewann folgende Pas­ sage aus "Komposition für den Film" (1944 abgeschlossen) ausschlaggebende Bedeutung: "Trügt jedoch nicht alles, dann hat die Musik heute eine Phase erreicht, in der Ma­ terial und Verfahrensweise auseinandertreten, und zwar in dem Sinn, daß das Material gegenüber der Verfahrens­ weise relativ gleichgültig w ird... Die Kompositionsweise ist so konsequent geworden, daß sie nicht länger mehr die Konsequenz aus ihrem Material sein mu ß , sondern daß sie gleichsam jedes Material sich unterwerfen kann"14. Als im Sommer 1969 Adornos Mitautorschaft an dem zuvor nur unter Eislers Namen veröffentlichten Buch bekannt wurdet, war die Bahn der Wirkungsgeschichte zumal dieser Passage be­ reits vorgezeichnet: gegen Adorno und nicht im Sinne ei­ ner Ausdifferenzierung seiner Theorie. Dies, obgleich in der "Philosophie der neuen Musik" mit Blick auf Schönbergs Spätwerk von einer "Vergleichgültigung des Materials" die Rede ist 16 und die Theorie des Neoklassizismus, freilich pejorativ gefärbt, im formalistischen Sinn einer Verfrem­ dung historischen Musikmaterials zu einem modernen Sprach- 14 Komposition für den Film, a.a.O., S.125. Die spätere Passage "Im Prinzip gebührt dem wirklich neuen musikalischen Material der Vorrang..." (a.a.O., S.126) wurde demgegenüber weniger beachtet. 15 Durch die von Adorno kurz vor seinem Tode veranlaßte Ausgabe des ursprünglichen Textes beim Münchner Verlag Rogner & Bernhard. Zur Quellenlage vgl. das mustergültige Vorwort Eberhardt Klemms zu der Schrift in der Eisler-Gesamtausgabe, a.a.O., S.5f. Zum Verhältnis der beiden Autoren zueinander vgl. vor allem Günter Mayer, Adorno und Eisler, in: Adorno und die Musik, h g . v. 0.Kolleritsch (=Studien zur Wertungsforschung, Band 12), Graz 1979, S.133-155 16 Theodor W.Adorno, Philosophie der neuen Musik, Frankfurt 1958, S .115f. 98 gefüge gleichfalls in eine verwandte Richtung zielt. Ins­ besondere Günter Mayers Arbeiten zur Dialektik des musi­ kalischen Materials, die zum Teil noch von einer irrtüm­ lichen Quellensituation ausgingen, haben die Diskussion zu einer Auseinandersetzung um Eisler gestempelt und dazu verholfen, das für die Filmmusik entworfene Theorem der­ gestalt zu verallgemeinern, daß sich das (zur Erreichung breiter Hörerkreise unerläßliche) bekannte oder "ver­ brauchte" Material insgesamt durch avancierte Kompositionsverfahren zu einer neuen, ästhetisch anspruchsvollen Musik gestalten lasse, die politische Zweckbestimmung al­ so nicht durch eine regressive Ästhetik, die die Musik zum bloßen Transportmittel politischer Inhalte verkommen läßt, erkauft werden müsse. Ihre externe Voraussetzung hatte die westeuropäische Eisler-Rezeption in der Politisierung der Studentenschaft zur Zeit des Vietnam-Kriegs, als Probleme des Marxismus die Theoriediskussion beherrschten und der Wunsch nach einer reformerisehen bzw. revolutionären Veränderung der kapitalistischen Industriegesellschaft virulent war. Nach dem sich die Neue Musik nach 195o im Rahmen einer festge­ fügten , spezialisierten Teilkultur entwickelt hatte, in der Künstler mit sozialen Intentionen wie Luigi Nono be­ argwöhnt oder mißachtet wurden, sahen sich die Kompo­ nisten plötzlich und dringlich mit der Frage konfrontiert "Für wen komponieren Sie eigentlich?" (Hans Jörg Paulil7) Fragen nach der gesellschaftlichen Funktion von Musik, ihrer sozialen' Nützlichkeit, der Praxisrelevanz von Theo­ rie waren aufgeworfen und zeitigten fruchtbare Auseinan­ dersetzungen, in deren Verlauf auch der Konservatismus zur Reflexion seiner Position gezwungen war. Was lag da näher - jedenfalls in den deutschsprachigen Ländern - als ein Rekurs auf den Marxisten Eisler, der sein komposi­ torisches, theoretisches, organisatorisches und pädago­ gisches Schaffen in den Dienst des Sozialismus gestellt: hatte und der, Schönberg-Schüler und freundschaftlicher Antipode Adornos, bei der Wende von der Kritischen Theo­ rie zum Marxismus eine Kontinuität des musikalischen und soziologischen Denkens gestattete? Für die musikalische Praxis entscheidend erwies sich Eislers Schaffen als Chorkomponist. Da auf dem Gebiet der 17 So der Titel einer Sammlung von Gesprächen, die Pauli mit 6 Kom­ ponisten der Neuen Musik führte (Frankfurt am Main 1971) . 99 Musik die Kritik am Bestehenden zentral auf die Institu­ tionen des Konzert- und Opernbetriebs zielte, deren bür­ gerlicher Sozialcharakter bekämpft wurde, erblickte man, um den Anspruch auf Gegenkultur institutioneil einzu­ lösen , im Chorgesang eine Organisationsform, die es ge­ statten sollte, gleichzeitig - durchaus Eislers ursprüng­ licher Intention gemäß - musikalische und politische Ar­ beit zu leisten. Die studentische Aneignung Eislers er­ folgte also nicht - jedenfalls nicht primär - innerhalb der etablierten Chorkultur, etwa der sozialdemokratischen, sondern mittels programmatischer Neugründungen, die über manche Wandlungen hinweg - zumeist bis heute Bestand haben. Besonders intensiv widmeten - und widmen - sich der Eisler-Pflege, zum Teil auch in theoretischer Hinsicht, der "Hanns-Eisler-Chor" Westberlin, der "Ernst-Busch-Chor" Kiel, der "Bert-Brecht-Chor" Essen und der Chor "Kultur und Volk" Zürich, während andere Chorvereinigungen wie der "Theodorakis-Chor" Tübingen oder "Die Zeitgenossen" Bremen dem politischen Folkloregesang breiten Platz ein^ räumen. Welchen Umfang diese neue Chorkultur in der B u n ­ desrepublik inzwischen erreicht hat - auch durch Chöre gewerkschaftlicher Provenienz wie die DGB-Chöre Kassel und Hannover -, zeigte sich im September vergangenen Jah-. res bei einem Chorfest in Recklinghausen, wo sich über fünfzig politisch engagierte Chöre einfanden^ 8 . Der erste Überschwang, in dem eine neue musikalische Welt entdeckt wurde, trug zunächst über Unstimmigkeiten hinweg. Indem Geschichte rekonstruiert, Vergangenheit aufgearbeitet wurde, erwies sich der Rückgriff auf vergessenes Altes einmal mehr als Stimulus des Neuen. Welche Probleme sich indessen dabei stellten, läßt, sich am Beispiel des ersten der "Vier Stücke für gemischten Chor" opus .13 aus dem Jahre .1927 einsichtig machen. Im "Vorspruch" - so seine Überschrift - hat. Eisler den Bruch auskomponiert, der seine revolutionären Arbeiterchöre von dem bürgerlichen und sozialdemokratischen Chorwesen ab­ heben sollte. Das "Chor-Referat", wie der- Untertitel des Stücks lautet, soll laut seinen Angaben die Folge "Intro­ duktion, Tema con 3 variazioni, Coda" ausprägen, doch bleibt dieser musikalische Formplan fiktiv und ist, wie 18 Von den zahlreichen weiteren Veranstaltungen im In- und Ausland, in denen Eislers Werk, im Zentrum stand, sei hier wenigstens das vom Tübinger Club Voltaire 1977 organisierte Festival erwähnt. 1 OO Luca Lombardi erkannte, Teil der parodistischen Inten­ t i o n ^ _ Auf die Ankündigung in der Introduktion, es werde heute von etwas anderem als dem üblichen gesungen, folgen knappe musikalische Parodien beliebter Chortypen wie Re­ ligiöse Stimmung ("Die Kirchenglocken"), Naturlieder ("Der grüne, grüne Wald") und Liebeslieder ("Das schönste Mäd­ chen der Welt. Ich weiß nicht, was soll es bedeuten") sie werden von einem Sprecher ausgerufen und damit im vor­ aus als Klischees denunziert -; die Erklärung: "Das h e i ß t : sich abwenden von der Wirklichkeit.. ." leitet dann über zur Quintessenz der Eislerschen Kampfmusik: "Auch unser Singen muß ein Kämpfen sein!", worauf die - musikalisch auf die Introduktion zurückgreifende - Coda m i t einem Textund Musikzitat der "Internationale" das Stück beschließt. Die HauptSchwierigkeit der Eisler-Rezeption nach 197o be­ stand in der Frage, ob und inwiefern sich historisches und aktuelles Interesse zur Deckung würden bringen lassen und aus den Bemühungen um eine Wiederentdeckung der Kampf­ musik aus der Zeit der Weimarer Republik eine ästhetisch und politisch tragfähige Gegenkultur heute erwachsen könnte. Bezog die Aufforderung zum revolutionären Traditionsbruch im "Vorspruch" aus opus 13 ihre Sprengkraft seinerzeit aus einer Situation der Arbeitersängerbewegung, die poli­ tisch und musikalisch zu realisieren erlaubte, was im Chor­ stück programmatisch entworfen ist, so blieb dieser Aufruf nach 197o, da in Westeuropa keine revolutionären Arbeiter­ bewegungen bestehen und auch das Arbeitergesangwesen ein anderes geworden ist, abstrakt. Solange sich die vorwie­ gend studentisch besetzten Chöre des Umstands bewußt blie­ ben, daß Eislers proletarische Chormusik sich heute nur im Sinne einer Dokumentation historischer Vergangenhe5.it aufführen läßt, konnten sie auf ästhetisches Gelingen hof. fen - freilich unter Preisgabe des Anspruchs auf Gegenkul. tur, denn nun bestand kein prinzipieller Unterschied mehr zu dem als "museal" charakterisierten bürgerlichen Musik­ betrieb. Wo immer man jedoch dem Irrtum verfiel, Eislers Musik ließe sich umstandslos aktualisieren, da entpuppte sich der politische Anspruch rasch als illusionär. 19 In der bedeutenden Abhandlung "II contributo di Hanns Eisler all'elaborazione di una estetica e poetica musicale marxista", die Luca Lombardi seiner italienischen Edition ausgewählter Schriften Eislers voranstellte. Hanns Eisler, Musica della rivoluzione» hg. v. L.Lombardi, Milano 1978, S .59 1o1 Der Zwiespalt zwischen historischen und aktuellen Inter­ essen stand übrigens auch im Hintergrund der Auseinander­ setzungen, in denen sich linke Gruppen in den siebziger Jahren um die Legitimität der Eisler-Rezeption stritten„ Vertreter der maoistischen KPD polemisierten gegen die "revisionistische" Kurskorrektur der DDR, nunmehr statt des Massenliederkomponisten den g a n z e n Eisler zu würdigen, und drängten zugunsten einer politisch-revo­ lutionären Zweckbestimmung musikalisch-ästhetische Aspek­ te völlig zurück, indem sie politisch opportune Neu­ textierungen Eislerscher Lieder forderten und anderer­ seits das Oeuvre der Exilperiode für gegenwärtig bedeu­ tungslos e r k l ä r e n ^ 0 . Umgekehrt hielten Exponenten der DDR und ihr nahestehende Gruppen in der Bundesrepublik und Westberlin mit ihrer Kritik an den sogenannten "Links­ sektierern" und "Chaoten” nicht zurück und plädierten da­ für, bei der Beurteilung des Aktualitätsbezugs der EislerRezeption das historische Interesse nicht zu unterschla­ gen^ „ Um den Reiz des Neuent.deckten vor musealem Staub zu be­ wahren , mußte - und dies stand von vorneherein fest - die Aufarbeitung des Eislerschen Oeuvre durch neukomponierte Musik ergänzt werden. Konzentrierte man sich wie etwa Luca Lombardi, der die Eisler-Rezeption in Italien maßgeblich gefördert hat22, darauf, den theoretischen Ansatz Eislers - unabhängig von seinem Stil - auf die Gegenwart zu über­ tragen , so sah man sich mit den allgemeinen Chancen und Schwierigkeiten politisch engagierter Musik heute konfron­ tiert, die an dieser Stelle nicht erneut erörtert zu wer- 20 Vgl. insbesondere die Beiträge im Heft 2o/21 "Hanns Eisler, Musik im Klassenkampf" der Sozialistischen Zeitschrift für Kunst und Gesellschaft vom November 1973. Eine mildere Kritik jüngst von Frieder Reininghaus, Die Kunst zu erben. Anmerkungen zu Hanns Eisler, außer der Reihe, in: Neue Zeitschrift für Musik, 143. Jg. (1982) Nr.11, S.4-8 21 Hierzu einschlägige Beiträge in dem Arbeitsheft "Hanns Eisler heute", zitiert in Anmerkung 13, sowie in dem Eisler-Sonderband der Zeitschrift Das Argument, zitiert in Anmerkung 2. 22 Zur Eisler-Rezeption in Italien vgl. Franco Fabbri, Eisler und die italienische Linke, in: Musik und Gesellschaft 32, Jg. (1982), S.539-542 den brauchen^. Lombardi arbeitete 1974 in jenem Autoren­ kollektiv mit, das mit der Szenischen Kantate "Streik bei Mannesmann!" den Versuch unternahm, den Brecht-Eislersehen Typ des Lehrstücks anläßlich des im Titel genannten Ereig­ nisses zu aktualisieren und die Musik als Waffe im poli­ tischen Kampf zu verwenden. Wirkt die in dieser Kantate für erforderlich erachtete Zurücknahme der Musiksprache zu größter Einfachheit in ihrem lehrhaften Gestus bereits antiquiert, so eröffnen andere Kompositionen Lombardis, zum Beispiel die "Tui-Gesänge" für Sopran und fünf Instrumentalisten nach Texten von Albrecht Betz aus dem Jahre 1977, künstlerisch anspruchsvollere Perspektiven für eine engagierte Musik heute. Der Schweizer Max E .Keller, um noch ein weiteres Beispiel kompositorischer Eisler-Rezeption zu erwähnen, knüpfte 1976/77 in einem "Gegenlied zu 1Von der Freundlichkeit der W e l t '" nach Bertolt Brecht für Singstimme und Gitarre unmittelbar an den Eislerschen Kampfliedtypus an, betrach­ tet j edoch selber diesen Versuch als eine kaum gelungene " F i n g e r ü b u n g " 24 beim Bemühen um eine zeitgenössische Volks­ tümlichkeit . Offenbart das schlichte Lied die Epigonalitätsgefahr, die j edem stilistischen Anschluß an Eisler droht, so machen andererseits die "Gesänge II", die Keller nach Gedichten von Erich Fried 1977 für Sopran und Instru­ mentalensemble schrieb (es handelt sich um eine Vertonung des Abschnitts "Verhaltensmuster" aus Frieds Sammlung "Die Beine der g r o ß e m Lügen"), deutlich, wie eine Eisler-Re­ zeption heute fruchtbar werden kann: Die Musik wird gleich­ sam gespalten in eine leicht faßliche Gesangsschicht, wel­ che die Textverständlichkeit garantiert und damit die Mög­ lichkeit einer politischen Wirkung begründet, und in eine musiksprachlich avancierte Instrumentalschicht, die einen ästhetischen Avantgardeanspruch einlöst. So endigt. "Gegen­ beweis", das erste Lied des Fried-Zyklus, mit Achtelrepe- 23 V g l . vor allem die Aufsätze von Carl Dahlhaus, Thesen über en­ gagierte Musik, sowie: Politische und ästhetische Kriterien der Kompositionskritik, beide wieder abgedruckt im Samrnelband Schön­ berg und andere, Mainz 1978, S„3o4-313 bzw. S.314-326, und die teilweise polemische Diskussion, die sich in mehreren der oben genannten Publikationen daran anschloß. 24 In einem Brief an den Verfasser vom 3o.Januar 1983. Zur Urauf­ führung von Kellers "Gesänge II" vgl. den Bericht von Toni Haefeli in der Schweizerischen Musikzeitung 118. Jg. (1978), S .168f. 103 titionen im Klavier, welche die Tradition der Eislerschen Marschmusik lediglich subtil andeuten, ohne diese kollek­ tive Handlungsform appellhaft zu propagieren. Und Eisler heute? Der sich 1926 von der damaligen Moderne lossagte, spielt keine Rolle für die Kunstmusik der gegen­ wärtigen Postmoderne. Ihre Vertreter pflegen die tradier­ ten Gattungen von Oper und Konzertmusik und lehnen jeg­ liche Verquickung von Musik mit Politik strikt ab. Selbst bei ihren Bestrebungen zu einer einfacher strukturierten Musiksprache und neuen Möglichkeiten der Konsonanzbehand­ lung bleibt Eislers Zwölftontechnik, deren Einfachheit aus dem Willen zur Kontrolle einer konsonanzfähigen Har­ monik resultiert, ausgeklammert - wohl auch deshalb, weil Eislers nüchtern-aufklärerische Ästhetik dem Ideal einer neuen Ausdrucksmusik im Lichte Mahlers und Bergs diametral entgegensteht. Für die politische Musik andererseits, die sich in der Friedensbewegung artikuliert, scheint Eisler gleichfalls recht bedeutungslos zu sein. Der Seriosität dieses Komponisten, der die Erbschaft der Schönberg-Schule selten preisgab und der in der revolutionären Arbeiterbe­ wegung seine politische Heimat fand, begegnet man dort, wo die Gunst Liedermachern und nicht Komponisten gilt, aus ästhetischen und politischen Gründen mit unverhohlener Skepsis, wenn nicht mit offener Feindseligkeit^ Gerade die Tatsache aber, daß die Eisler-Rezeption, dem Spannungs­ feld unmittelbarer Aktualität enthoben, dennoch vielfach lebendig bleibt, eröffnet - wie eingangs angedeutet - die Chance für ein tieferes Verständnis seiner Musik als poli. tisch engagierter Kunst, so daß großartige Werke wie die im Exil komponierte Dritte Klaviersonate endlich den ver. dienten Eingang ins Repertoire finden könnten. 25 V g l . die Rezension einer Schallplatte des Berliner Hanns EislerChors ("Ohne Angst leben" von Hartmut Fladt) durch Joachim Deicke in: Zitty Nr.25, 1982, S.63 Friedrich Hommel AUS DER FRÜHZEIT DER KRANICHSTEINER FERIENKURSE FRAGESTELLUNGEN, ÜBERLEGUNGEN, FOLGERUNGEN ZUR SITUATION DER NEUEN MUSIK. EIN EXKURS Auf die Gefahr hin, daß das für einen Werbetrick gehal­ ten wgrden könnte, möchte ich im Zusammenhang meines und Ihres - Themas auf die in einem Mainzer Verlag erschei­ nende Schriftenreihe*hinweisen, die das Internationale Musikinstitut Darmstadt seit dem Jahr 1958 herausgibt, und zwar speziell auf das erste Heft. Es enthält in kurz­ gefaßter Form eine offizielle Chronik der ersten 12 Inter­ nationalen Ferienkurse für Neue Musik - auch heute noch verschiedentlich unter dem Namen "Kranichsteiner Kurse" zitiert, obwohl nur die ersten drei dieser Kurse tatsäch­ lich im Schloß Kranichstein stattgefunden haben -, und der Anlaß des Jubiläums scheint zunächst einmal die runde Zahl 12 gewesen zu sein. Ein Vorwort des Herausgebers Wolfgang Steinecke, der 1946 die Kurse und 1948 das Kranichsteiner Musikinstitut, das heutige "Internationale Musikinstitut Darmstadt", initiiert hatte, findet sich nicht, aber er kommentiert ein voraus­ gestelltes unveröffentlichtes Fragment Schönbergs, spricht von den Gefahren der Fixierung, "wo alles im Fluß ist", und von der Hoffnung, "daß zwischen den Zeilen dieses Bu­ ches ... das Geheimnis der schöpferischen Entwicklung" spürbar bleibe, "welche die Vergangenheit vergessen muß und die Zukunft nicht erraten darf, um sich der Gegenwart in treuster Pflichterfüllung zu widmen". Den Beiträgen ferner vorangestellt ist die Einleitung eines Kranich­ steiner Vortragszyklus von Theodor W.Adorno (Eduard Steuer. mann gewidmet) ,* dem Text sind Porträtaufnahmen Schönbergs und Adornos beigegeben. Alles das, auch das für Steinecke ganz ungewohnte hohe Pathos der Rede, läßt auf einen be­ sonderen historischen Anlaß schließen. Mancher wird sich daran erinnern, daß Gertrud Schönberg und Helene Berg bei diesen 12 Kursen zugegen waren, und daß zu den Mitwirkenden Hermann Scherchen zählte, daß Nono über Schönbergs Kompositionstechnik sprach, Pousseur wie Scherchen - über Webern, daß Maderna und Travis mit einem Dresdener Ensemble Programme zum Thema "Webern und die junge Generation" leiteten (Boulez hielt seinen be­ rühmten Vortrag "Alea"). Und trotz Stockhausens Urauffüh­ rung von Klavierstück XI, trotz einer größeren Zahl erst­ mals neu in Erscheinung tretender Namen - darunter Brown, 1o 5 Cardew und Clementi - wird klar, daß die ganze Veranstal­ tung auf ein geheimes Konzept hin angelegt war, das nirgends explizit benannt wurde: auf ein Schönberg-Fest, auf eine Festveranstaltung zum Thema Schönberg und seine Schule, Schönberg und die Folgen, Schönberg und die jün­ gere Generation. Man sieht heute leicht darüber hinweg, daß der grüne Einband des Hefts zudem in schwungvoller Handschrift als Signet das Quartenthema aus Schönbergs KammerSymphonie trägt, nach Steineckes Worten "das früheste Signal der Neuen Musik des 2o. Jahrhunderts", Fanfare für den "Ausbruch aus dem Reich der Tonalität". Wie reimt sich das alles zusammen? War Steineckes Darm­ stadt , im Rückblick auf die ersten zwölf Jahre, das Darm­ stadt Schönbergs mit der großen Zahl deutscher und selbst europäischer Schönberg-Erstaufführungen? Das Darmstadt Adornos, Steuermanns, Kolischs, Scherchens? Die Hochburg der öffentlich ja immer noch schwer verdaulichen "Dodekaphonie"? Steinecke sprach wenig später bereits vom Eintritt in die "postserielle" Phase, nachdem er - in einem Zagreber Vortrag - nicht gezögert hatte, den Begriff der "Darmstädter Schule" mit dem der "Seriellen Musik" gleich­ zusetzen. Nochmals also die Frage: war dieses SchönbergFest anno 1957, am Eintritt in die spät- und postserielle Phase, ein Rückzug in die Hochburg? Ein Sammeln auf soli­ dem Grund? Oder ein Abschied? Ich nehme hier einmal vorweg, was die offizielle Chronik - diese so wenig wie die späteren - nicht erkennen läßt: es war ein Abschied wider Willen, malgre lui; und ich er­ laube mir, skizzenhaft und in kurzen Zügen, anhand von weniger bekannten Details, die Ansicht zu vertreten, daß es sich hier nicht um eine müßige historische Frage handelt. Auch möchte ich Sie um Verständnis dafür bitten, daß mir dabei vor allem die Frage der Tragfähigkeit der Institu­ tion wichtig ist: worauf ist diese Einrichtung Darmstädter Ferienkurse, worauf ist diese Arbeit gegründet, zu der auch Sie seit Jahren Ihren eigenen wichtigen Beitrag lei­ sten und der die Stadt Darmstadt ihren Traditionen ent­ sprechend unbeirrt seit vielen Jahren ihre Hilfe leiht. Einrichtungen solcher Art - um es einmal so zu sagen die das Unwahrscheinliche versuchen, müssen ständig "neu begründet" werden, und das geht nicht ohne eine gewisse diagnostische Wachsamkeit. Nun verkenne ich zwar keineswegs die hilfreiche Funktion freundlicher Legenden, derart etwa, als habe der nach Kriegsende zweifellos zu konstatierende Nachholbedarf aus unserem Land plötzlich das Dorado gemacht, in dem die neu­ en Künste nun besonders zu florieren sich anschickten. Aber ein verläßlicherer Weg ist wohl in der Tat die stän­ 106 dige Revision des Vorhandenen, solange es noch vorhanden oder zur Hand ist. Hier möchte ich zwei Fußnoten zur Me­ thodik anbringen. Erstens: man muß natürlich nicht immer gleich von "Revision", gar in irgendeinem arroganten Sinn, sprechen, wenn mit zunehmender historischer Distanz Gegen­ stände aus dem Nebel der unmittelbaren Zeitgenossenschaft mit leicht veränderten Profilen auftauchen. Und zweitens, die Situation des Nachholbedarfs betreffend: gerade unsere Kurse mit ihrer über alle Jahre gleich zahlreich geblie­ benen internationalen Teilnehmerschaft führen uns vor Au­ gen, wie breit gestreut, wenn auch nicht ungeheuer dicht gesät, der Nachholbedarf, oder schlicht Bedarf, in allen Ländern ist. Es darf hier vielleicht einmal behauptet werden, daß die eigentliche Geburtsstunde der Darmstädter Ferienkurse nicht das Jahr 1946, sondern das Jahr 1948 war, als die Stadt Darmstadt in alle Welt die Ankündigung ergehen ließ, sie beabsichtige die Gründung einer Art Akademie, Ecole Superieure (das Modell Bauhaus war nicht weit davon ent­ fernt) . Und daß j eder so Angesprochene, sei es In- oder Ausländer, sich als eingeladen sehen konnte, ausersehen für die Rolle als Lehrkraft, wenn nicht gar des Präsidenten. (Wolfgang Steinecke übrigens hätte als Präsidenten gern den in Frankreich geborenen Fred Hamei gesehen, einen Mann mit britischem Paß, dem er selbst, schon vor dem Krieg, als Journalist viel Förderung verdankte. Hamei war damals für den Nordwestdeutschen Rundfunk in Hamburg sowie als Produktionsleiter der Deutschen Grammophongesellschaft tä­ tig und leitete die "Musica"-Redaktion. Er war es auch, der Steinecke veranlaßt hatte, schon vor dem Krieg als Korrespondent der Berliner Deutschen Allgemeinen Zeitung den Wohnsitz im Südwesten - nämlich in Darmstadt - zu nehmen). In vieler Hinsicht trügt übrigens das Bild vom tragenden Elan des Nachholbedarfs j ener ersten Nachkriegsjahre: Kaum daß das Kranichsteiner Institut als Dauereinrichtung ge­ gründet war, im dritten Jahr der Ferienkurse, verlor es durch Aufkündigung des Vertrags vonseiten der Vermieter auch schon wieder seine Bleibe. Schon zuvor, am Tag nach den Kursen von 1948, die wegen der Folgen der Währungs­ reform ums Haar hätten annulliert werden müssen, hatte Steinecke wegen verwaltungsinterner Differenzen sein Amt als städtischer Kulturreferent hingeworfen. Er ging zum Journalismus zurück, behielt die Leitung des Instituts ehrenamtlich, verlor aber im Schloß die eigene Wohnung und stand binnen kurzem vor dem finanziellen Ruin; gesund­ heitlich war er ohnehin immer wieder zum Pausieren ge­ zwungen . 1o 7 Der Verlust des Schlosses Kranichstein traf Steinecke be­ sonders hart, da er es Schönberg als ständigen Wohnsitz hatte anbieten lassen. Ich möchte nun keineswegs den dra­ matischen Verlauf j ener frühen Jahre im einzelnen nach­ zeichnen , mich vielmehr auf die Skizzierung der Rolle kon­ zentrieren , die Steinecke für Darmstadt speziell der Per­ son Schönbergs und seinem Werk zugedacht hatte« Eine Prä­ ferenz vom ersten Anbeginn an ist so wenig zu konstatieren, wie es zutrifft, daß die Musikkurse Steineckes Hauptan1iegen bei Beginn seines Amtes als Kulturreferent der Stadt gewesen seien: er hat sich mit Vehemenz der Gründung einer Akademie neuen Typs für die Bildenden Künste, dem Musikschulaufbau und dem Volksbildungswesen gewidmet. Im April 1948 schrieb Rene Leibowitz an Steinecke: "... ich weiß, wie sehr es ihn (Schönberg) kränkt, daß man seit Kriegs­ ende bis jetzt so wenig in Deutschland für seine Musik ge­ tan hat. Ich sehe aus Ihren Programmen, daß Komponisten wie Hindemith und Strawins'ky eine viel größere Rolle spie­ len als Schönberg, der doch schließlich und endlich der größte (deutsche) Komponist der Gegenwart ist...". (Einem Hinweis von Leibowitz folgend, hat sich Steinecke im Jahr darauf auch mit Adorno in Verbindung gesetzt, und es scheint nicht ganz abwegig anzunehmen, daß auch die Darmstädter Suche nach einem Gründungspräsidenten für die Kranichstei­ ner Akademie Adornos Rückkehr nach Frankfurt beflügelt haben m a g .) Eine der vielen Folgen der durch die Währungsreform ent­ standenen finanziellen Situation, die verstärkte und not­ wendige Kooperation mit den Rundfunkanstalten, zeigte in­ dessen auch ihre Kehrseite: in der Programmfrage der öf­ fentlichen Konzerte war Steinecke zu Kompromissen der ver­ schiedensten Art gezwungen. Persönlichkeiten vom Schlag eines Heinrich Strobel vom Südwestfunk waren nicht zimper­ lich in der Frage des musikalischen Kanons; bald war es Debussy, bald Strawinsky und Bartok, denen er den Vorrang eingeräumt sehen wollte. Für den Fall einer Bevorzugung der Zwölftonschule hatte Steinecke sogar- vonseiten des "Melos" Ungnade zu gewärtigen. Noch 195o mußte ein "Zwölfton'kongreß" außerhalb des eigentlichen Kursprogramms stattfinden. Andererseits konnte gerade in dieser Zeit die Ver­ bindung mit der IGNM wiederaufgenommen werden; Steinecke war der Schriftführer der neugegründeten Deutschen Sektion, deren erster Präsident StuckenSchmidt wurde. Während er ursprünglich an eine Neugründung des Allgemeinen Deutschen Musikvereins gedacht und dabei Kontakte mit Joseph Haas und Werner Egk gewonnen hatte, entzog er sich nun der Be­ einflussung , indem er die Zeit des Nachholbedarfs bald­ möglichst für beendet anzusehen geneigt war und mit Macht seine neue Einrichtung der "Konzerte der jungen Generation" 1o8 ausbaute. Und auf die internen Querelen vor Ort reagierte er, gestützt und gefördert durch den Oberbürgermeister Ludwig Metzger, mit dem Entwurf größer dimensionierter, ja utopisch erscheinender internationaler Projekte, wie der Absicht, Schönberg für immer nach Darmstadt zu bringen. Steinecke berief sich auf eine durch Josef Rufer vermit­ telte Nachricht, daß Schönberg in der Tat die bleibende Rückkehr nach Europa erwog, nach Baden-Baden der Bäder wegen oder nach Darmstadt der Musik wegen, wie zu erfahren wa r . Leibowitz schloß von Anfang an zwar den Gedanken an eine Kursteilnahme Schönbergs, wie sie für 1949, 195o und schließlich für 1951 geplant wa r , aus und behielt damit de facto recht. Aber der Briefwechsel Steineckes bezeugt - und schildert eindringlich - den dreimal neu gefaßten Vorsatz Schönbergs, nach Darmstadt zu kommen. "Ohne Zutun", sagt Steinecke, sei Schönbergs Werk schon 1948 bei den Kursen in den Mittelpunkt des Interesses geraten - trotz Bartok und Strawinsky. Schönberg versprach zu kommen, "wenn ich irgendwie kann", und "wenn der Plan gelingt": "Hoffent­ lich glückt alles" (1949). Inzwischen war der Plan einer Wohnung Schönbergs in Schloß Kranichstein zunichte gemacht, Steinecke selbst sah sich schon den illustren Gast in einer Ausweich-Mansardenwohnung empfangen. Aber er gibt nicht auf, lädt erneut ein, "falls ich gesundheitlich noch einmal davonkomme". Seinen eigenen Zustand beschreibt er Schönberg als "hochgradige nervöse Erschöpfung". Schönberg selbst ist hin und her gerissen. Er stimmt der .öffentlichein Ankündigung seiner Teilnahme an den Kursen zu, sagt dann aber aus gesundheitlichen Gründen ab. Das wiederholt sich 195o, Er schreibt: "Mein Doktor und ein konsultierender Arzt 'können in meiner Kon­ stitution nichts Krankes finden, sodaß, wenn es wahr sein sollte, ich eine gewisse Hoffnung habe, noch einiges Zeit zu leben". Im Jahr darauf, 1951, dem Todesjahr Schönbergs, häufen sich die Hindernisse. Es sind die Reisekosten für die ganze Familie, Gerüchte von "Nazidemonstrationen" ge­ gen seine Werke, die Gesundheit, nicht zuletzt die ganze "kriegerische Situation" - die auch einen Ernst Krenek eine Zusage haben zurückziehen lassen? auch der junge Nono wettert gegen die "Verbrecher" mit ihren Atombomben. Stei­ necke zeigt Galgenhumor. Selbstverständlich waren die dreimal wiederholten Vorbe­ reitungen für Schönbergs Anwesenheit nicht ohne Einfluß auf die Programme der Darmstädter Konzerte geblieben. Zu den deutschen Erstaufführungen des Klavier- und Violin­ konzerts, des Streichtrios, des 4.Streichquartetts war 195o die des "Überlebenden aus Warschau" gekommen. Für 19 51 wurde, im Rahmen des Frankfurter IGNM-Festes, wieder 1o 9 unter Scherchens Leitung, die Uraufführung des "Tanzes um das Goldene Kalb" aus "Moses und Aron" vorbereitet. Aber kurz nach Erhalt der Nachricht von der triumphal auf­ genommenen Aufführung starb Schönberg, der wieder nicht hatte kommen können. "Schönstes Gelingen wünschend" hatte er sich auf dem letzten Briefgrüß von Steinecke verab­ schiedet . Steinecke, nach dem Verlust einer Stellung bei der Essener West-Ausgabe der "Welt" wieder einmal in Existenznöten, gesundheitlich ruiniert, war wenige Monate vor den Kursen im Streit um innerstädtische Kompetenzenregelungen, die seinen engsten Mitarbeiter und auch das Darmstädter In­ stitut für Neue Musik und Musikerziehung betrafen, ent­ schlossen, nun auch sein Ehrenamt als Kursleiter zur Ver­ fügung zu stellen. Wieder einmal konnte erst in letzter Minute die Fortarbeit gesichert werden. Aber dann, Anfang 1952, kehrte Steinecke nach über vierjähriger Abwesenheit ganz und hauptamtlich nach Darmstadt zurück. Die Anwesen­ heit Gustaf Rudolf Sellners als neuer Intendant des Lan­ destheaters , dem Steinecke in einer musikdramaturgischen Teilfunktion zugeordnet wurde, versprach neue Antriebe. Die beiden kannten einander schon aus den Kriegsjahren. Zum erstenmal konnte sich Steinecke (fast) ganz den Auf­ gaben des Kranichsteiner Instituts widmen. Das Todesj ahr Schönbergs bildete die Zäsur. Zäsur: Es ist hier einmal darauf hinzuweisen, daß im Jahr .1951 ein Titel wie "Schönberg est mort" wohl zunächst ein­ mal das bedeutete, was er sagt: Schönberg ist tot. Ich neige noch immer dazu, diesen Titel weniger metaphorisch zu nehmen, mehr als lapidar.isches Kürzel für den Augen­ blick einer Zäsur. Der von Boulez erhobene Vorwurf des Akademismus und des Mangels an Kühnheit, "gemessen ein Schönbergs eigener Entdeckung", hätte damals schon das Stichwort für die Diskussion um Schönbergs Spätwerk sein können: vor nunmehr 3 2 Jahren. Und ich komme auf die hi­ storische Distanz zurück, den Abstand von einer Generation, in dem sich der eine oder andere Zug verdeutlicht, sobald die Nebel der Polemiken aus dem Fenster -gezogen sind oder auszuziehen beginnen. Man könnte einwenden, daß dieses ein neuer Nebel ist, der über Steineckes Biographie gezogen wird, indem man eine, seine, Schönberg-Chronologie über den Raster seiner Kurs­ arbeit breitet und dabei ihre Konturen entschärft. Wir lassen es einmal dahingestellt sein, ob Steinecke spezi­ ell zu den Adressaten von Boulez 1 Aufsatz gehörte; ob Boulez ihm mit seinem "Schönberg est mort" einen Spiegel vorzuhalten beabsichtigte, der zugleich Trost bedeuten sollte. Zwar schien es, als ob im folgenden Jahr 1952 mit 1 1o Thematiken wie Strawinsky, Bartok, Dallapiccola dem Be­ dürfnis einer Nachholbedarfsbefriedigung wieder einmal besonderer Raum gegeben werden sollte. Aber daneben gab es natürlich Anlaß für ein Schönberg-Gedenken anhand ei­ ner Aufführung des "Pierrot lunaire". Und Schönberg be­ hauptete seinen Platz in den Programmen auch weiterhin. So etwas war "noch nie der Fall", konnte Steinecke 1953 Gertrud Schönberg berichten, als der Andrang zu einem Schönberg-Konzert den Saal der Marienhöhe überquellen ließ . In Steinecke reifte mehr und mehr der Plan, mit Hilfe des Bundes, Landes und der Stadt Darmstadt ein Schönberg-Nachlaßarchiv einzurichten, d a s Schönberg-Archiv, für das sich allerdings auch die Berliner Akademie interessierte. Inzwischen war Darmstadt Sitz des Schönberg-Kuratoriums geworden, das die Schönberg-Medaille vergab. Mit Bitter­ keit stellte Frau Schönberg fest, daß "die Berliner noch immer nicht ihre Schuldigkeit getan haben und für den Ver­ lust , den Arnold erlitten hat, nicht bereit sind, etwas Großzügiges zu unternehmen". Für Steinecke begann wieder eine Zeit des ungeduldigen Wartens, auch der öffentlich zu erbringenden Vorleistungen, und die Konzertprogramme der folgenden Jahre spiegeln das alles genau wieder. Im Theater glaubte m a n , sich an eine "Moses und Aron"-Aufführung wagen zu können. Auch Leibo­ witz machte sich Hoffnung auf den Durchbruch einer seiner unaufgeführten Opern. Für 19 57 erwartete man die Beschluß­ fassung aller Beteiligten. Aber Bonn mochte sich nicht entscheiden. Auch Gertrud Schönberg wurde allmählich zu­ rückhaltender, obgleich die Stadt Darmstadt, wie Steinecke versichern konnte, den Plan längst "zu einem ihrer wich­ tigsten Anliegen" gemacht hatte. Steinecke sprach von der "Krönung" seines Lebenswerks. Nochmals, nach dem Besuch der Witwen Schönbergs und Bergs, Verschiebung um ein Jahr. Neues Warten. Steinecke war sogar bereit, im Ablauf der Kurse eine Zäsur eintreten zu lassen zugunsten eines gro­ ßen Schönberg-Festes als Arbeitstagung junger Komponisten mit drei festlichen Konzerten, darunter die erhoffte Ur­ aufführung der "Jakobsleiter". Die Aufgabe desr Traditions­ bewahrung nahm nunmehr in seinem Denken - neben der stän­ digen Verpflichtung zur Förderung des Neuen - einen immer größeren Raum ein. Auch Boulez war inzwischen in Los Angeles zu Besuch und mahnte zu baldiger Einrichtung. Gertrud fragte sich, "ob die Herren da oben wirklich In­ teresse haben und mich nicht nur weiter hinziehen". Die Pläne scheiterten und mußten begraben werden. Steinecke, niedergeschlagen wie noch nie, grämte sich über die "Nie­ derlage" und wurde von Gertrud Schönberg rührend aufge» 111 richtet: "Ich weiß, daß viele froh wären, wenn Sie aufgeben würden. Eine idealistische Sache ist den 'Kauf­ leuten' ein Dorn im Auge". Die Kurse im Jahr der "Nieder­ lage", 1958, waren Steineckes dreizehnte. Die SchönbergFestschrift, ihrer ursprünglichen Bestimmung beraubt, wurde zum Band 1 der "Darmstädter Beiträge" und künftig fortgesetzt. In den Beiträgen - sie stammten von Schön­ berg und Adorno, von Krenek, Fortner, Nono, Pousseur, Boulez, Stockhausen, Henze, Kolisch und Stuckenschmidt dominierte die Schönberg-Thematik durchaus. Noch drei Jahre später, in seinem Todesjahr, versicherte Steinecke in seiner letzten Mitteilung an Frau Schönberg, "daß die Werke von Schönberg wieder wie immer den stärksten Anteil an unseren Programmen haben". Das war nicht übertrieben. Schönberg hielt die Spitze, in beträchtlichem Abstand gefolgt von Webern, Bartok, Hindemith und Hermann Heiß in etwa gleicher Stärke, gefolgt von Krenek vor Strawinsky, Fortner, Henze, Berg, Debussy und Engelmann; die dann folgenden Maderna, Nono, Zimmer­ mann und Stockhausen erreichten - zu Lebzeiten Steineckes gemeinsam etwa die Zahl der Aufführungen von Schönberg. Rückblickend im Jahr seiner letzten Ferienkurse nannte deren Gründer zwei Daten besonders: das Jahr 1948 mit der beginnenden und zugleich vollzogenen Internationalisierung, also das Jahr der Institutsgründung mit der beginnenden zentralen Auseinandersetzung mit Schönberg; und daneben das Gedenkjahr 1952, das den vorausgegangenen Depressionen und Rückschlägen um das Todesjahr Schönbergs gefolgt war. Denn just in jenem Jahr der "Zäsur" war es - durchaus noch im Schatten der Bestürzung - zu einem der "Wunder" von Darmstadt gekommen, zu jenem Konzert, das im selben Pro. grarran das "Kreuzspiel" des debütierenden Stockhausen, Madernas "Musica su due dimensioni", Boulez' "Trois Structures pour 2 pianos" und Nonos erstes Lorca-Epitaph ent­ hielt. Es mag hier am Rande interessieren, daß Steinecke im Rückblick, ein knappes Jahrzehnt später, in Stockhausen den radikalsten Experimentator, Form-Experimentator, der Gruppe sah und daß er dessen "suchende, experimentierende Art" als besondere nationale, sprich deutsche, Färbung einschätzte; und daß er, ebenfalls in dem für Zagreb vor­ bereiteten Vortrag, unter den "wichtigsten" Komponisten j ener Jahre Bruno Maderna an erster Stelle nannte (ich füge diese Feststellung heute, im zehnten Todesjahr Madernas, hier an, weil mitunter Zweifel geäußert worden sind, ob Madernas kompositorischer Rang in Darmstadt je voll erkannt worden sei). An dieser Stelle möchte ich jedoch auf ein, wie ich meine, wirkliches, und zwar ganz allgemein bestehendes Erkenntnis- 11 2 Defizit hinweisen, wenngleich auch dieses am wenigsten den Darmstädter Kursen angelastet werden kann: die ge­ rechte Einschätzung der Verdienste von Rene Leibowitz. Steinecke hat mehrere Anläufe unternommen, Leibowitz in den Kursen eine dauernde und zentrale Rolle zuzuweisen. Schließlich war es Leibowitz, der Steinecke zuerst auf Adorno, dann auf die zentrale Bedeutung Weberns aufmerk­ sam gemacht hatte, ganz abgesehen davon, daß er ja einer ganzen Generation als Anreger und Lehrmeister gedient hat. Er am meisten war davon betroffen, daß Steinecke es über Jahre hinweg nicht riskieren konnte, der Schule Schönbergs ganz offen die zentrale Stellung einzuräumen. Ich greife hier die Frage Reinhold Brinkmanns auf, wer denn im Rück­ blick zum "harten Kern" der eigentlichen Wiener Schule zu zählen sei, und meine, daß neben Adorno auch Leibowitz sich diesen Rang verdient hätte, nimmt man nur alle seine enormen Verdienste zusammen. Große Teile von Leibowitz' musikalischem Werk, Belegstücke eines hellsichtigen und scharfen musikalischen Denkens, harren noch der allerer­ sten Erschließung„ Die Schriften sind zum Teil weit zer­ streut . Ich biete hier die Hilfe unseres Instituts an, das selbst viele Materialien besitzt. Zu ihnen zählt der bisher unveröffentlichte Beitrag für die Festschrift aus Anlaß der erhofften Eröffnung des Schönberg-Archivs. Er trägt den Titel "Webern und Mahler" und ist - möglicher­ weise - wegen seiner sprachlich etwas mißverständlichen Schlußthese nicht gedruckt worden. Leibowitz spricht da unter anderem von dem "unglaublichen Mißbrauch, dem die Musik Weberns heute ausgesetzt ist", und beklagt - wenn ich es recht verstehe - die Unsitte späterer Adepten, "eine primitive Arithmetik" für den programmatischen In. halt Webernseher Musik zu halten. Leibowitz' brieflich ausgesprochenes, auf ein nicht zustandegekommenes Treffen bezogenes Bedauern, "einander verpaßt zu haben", gewinnt so, nach mehr als zehn Jahres währenden engsten Kontakten, einen bitteren Nachgeschmack. Ich bin Ihnen, nach diesen Exkursen in die Frühzeit der Ferienkurse, bisher den Ausblick schuldig geblieben. Ich habe zu zeigen versucht, daß das Werk Schönbergs die gan­ ze Kursarbeit Steineckes - sogar zunehmend ~ wie eine große Hüllkurve begleitet, umgeben hat: was er selbst von der Öffentlichkeit oft ganz unbemerkt - mit sich als die "Niederlagen" abzumachen hatte, das Scheitern der großen Pläne der Zurückholung Schönbergs, des Archivs als "Krönung". Ich habe versucht zu zeigen, daß - bedingt durch die gro­ ßen Hindernisse auf dem Weg - die Schönberg-Programme in den immer neuen Anläufen an Ausdehnung zugenommen haben (von mir das Moment "malgre lui" genannt). 113 Mit dem 4. Heft der "Darmstädter Beiträge", dem BoulezHeft, verschwand von der Titelseite (wie auf den Kurs­ programmheften) Schönbergs Quartenthema. Hinfort gab es für die Kurse die "Hüllkurve", den Schutz und Anspruch der großen Tradition, der "Klassiker" der Moderne, nicht mehr. "Klassik", Maß und Größe neu stiften, repräsen­ tieren zu müssen, ist ein Problem für j eden öffentlichen Veranstalter neuer Musik. Und es ist allerorten zu be­ obachten, wie die Öffentlichkeit nach den Halteseilen ver­ langt , nach der Absegnung durch Veteranen und Honoratioren, nach dem Schutzmantel der Tradition und Traditionen. Der TraditionsZusammenhang des Serialismus mit der Dodekaphonie der Wiener Schule liegt auf der Hand. Mir scheint es bei weitem wahrscheinlicher, daß sich das Jahrzehnt der Seriellen demnächst zur Heroenzeit verklären wird, als daß es völlig aus der Erinnerung entschwindet. Zu den optimistischen Aspekten von heute zähle ich, daß die Aus­ gangsbedingungen , das will sagen: der Informationsstand der jungen Komponisten und Musikstudierenden den der Nach­ kriegszeit weit hinter sich läßt. Nicht auszudenken, was eintritt, wenn die heutige Generation sich eines Tages entschließen sollte, von den angehäuften Materialien der Information erst einmal den vollen Gebrauch zu machen. Ob die materielle, wirtschaftliche Lage junger Komponisten heute wirklich viel besser ist als damals, wage ich zu be­ zweifeln. Es gibt genügend Beispiele für Verhungersyndrome inmitten einer Welt, die für technische Neuerungen - nicht nur für militärische - ungeheure Summen auszuwerfen bereit ist, womit ich die Rückkehr zum technikfeindlichen Barfüßertum, zum grün und billig Selbstgestrickten, keines­ wegs befürworten will. Was ich befürworte, sind die kur­ zen, unbürokratischen Wege der Vermittlung, die Ermunte­ rungen , die sich auf dem Weg an ihre Adressaten und Empfän­ ger nicht zum größten Teil in "Institution" umsetzen und verschleißen. Was ich bewundere, und auch andernorts zur Nachahmung nur empfehlen möchte, sind dies fortgesetz­ ten (und wie ich hoffe fortdauernden) Einrichtungen der­ art, wie sie von Wolfgang Steineeke für diese Stadt er­ kämpft worden und von seinem Nachfolger Ernst Thomas unter kaum leichteren Bedingungen weiter gefestigt worden sind. Ich möchte Ihnen zum Schluß noch einen ganz kurzen Text vorlesen, einen Brief aus dem Dezember 1929 (?) , der dank der Vermittlung von Wilhelm Schlüter - erst vor kur­ zem in den Besitz unseres Instituts gelangt ist. Er lau­ tet: 11Sehr geehrter Herr, nach Wien zurückgekehrt, finde ich Ihren Artikel über meinen 'Wozzeck' in der 1Volkswacht' vom 7.J.er vo r . Es tut mir aufrichtig leid, das nicht schon 1 14 in Essen, worin ich 8 Tage lang mich aufhielt, gelesen, und Sie nicht kennengelernt zu haben. Denn ich finde Ihren Artikel schon ganz famos u . so ganz in meinem Sinne, wie weniges, was ich über den 'Wozzeck' gelesen habe. Lassen Sie sich, geehrter Herr Doktor, wenigstens aufrichtig und von Herzen danken und seien Sie unbekannter- und dennoch bekannterweise schönstens gegrüßt von Ihrem ergebenen Alban Berg". Den gedruckten Bericht in der "Volkswacht" haben wir zwar noch nicht auffinden können. Aber es ist aus den Fundumständen anzunehmen, daß der 19jährige Wolf­ gang Steinecke - damals bei weitem noch nicht "Doktor" der Adressat ist. Die Schönbergsehe "Hüllkurve", von der oben die Rede w a r , würde damit tatsächlich ein ganzes Be­ rufsleben von Anbeginn umfassen. - Wolfgang Steinecke ist nur wenig älter als Alban Berg geworden; er war 1961, bei seinem Tod, 51 Jahre alt. (Der Beitrag ist dem Andenken Hella Steineckes, geb. Dahms, gewidmet, die am 14. September 19 82 61jährig in Darmstadt gestorben ist.) * Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik, I-V, VIII-XVIII, Mainz 1958' 198o (Anm. des Hg.) 1 15 Hans-Christian Schmidt DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG: VOM ZWEITEN DASEIN DER WIENER SCHULE IN DER SCHULE Einer, der den Einspruch von Theodor Warner und Theodor W. Adorno gegen die geschichtsblinde musische Erziehungs­ werkelei beherzt beim musikpädagogischen Wort nahm; einer dem es in den sechziger Jahren einleuchtete, daß Neue Musik ihr Daseinsrecht im schulischen Musikunterricht haben müsse, dieser eine ~ gemeint ist Michael Alt - hat­ te damals schon (ich sollte genauer sagen: hatte damals noch) die freimütige Ehrlichkeit, seine didaktische und methodische Ratlosigkeit einzugestehen im Falle der Zwölf tonmusik: "Denn die moderne Musik ist nicht repräsentativ, son­ dern in einem bisher ungeahnten Maße subversiv. Sie fühlt sich dazu aufgerufen, die Spannung zwischen der Freiheit des künstlerischen Schaffens und dem sozialen Druck der Gesellschaft durchzuhalten mit immer verän­ derten Mitteln. Sie versteht sich also als Restdomäne der Freiheit, in der freie,■unendliche Betätigung mög­ lich bleiben m u ß . Sie will nicht steckenbleiben in erstarrten Formen, sonst geht sie ihrer Funktion als 'Entlastung' (A.Gehlen) vom alles und alle überwäl­ tigenden Sozialdruck verlustig. Dieser wesentliche und unaufhebbare Widerspruch kann auch musikpädago. gisch nicht aufgelöst werden; er macht die jeweils neueste Musik unerreichbar. Aber diese neue Rolle der Musik muß ins Bewußtsein gehoben werden" (Alt, 1968, 29) . Ich widerstehe der Versuchung, Michael Alt zu fragen, ob es nicht gerade die Neue Musik war, die sich der Funktion vom überwältigenden Sozialdruck zu entlasten, sukzessive verweigert hat; ich frage ihn statt dess'en, wie weit er dem sogenannten musikalisch Neuen erlaube, dem didak­ tischen Zugriff sich gefügig zu machen. Er antwortet: "Solange dieser Meinungsstreit währt, kommt es für den Musiklehrer darauf a n , aus dem Bereich der Neuen Musik nur das in die Lehre einzubeziehen, was inzwi­ schen gesicherter Besitz ist; so etwa der Zwölfton" (a.a.O., 57). Die Sprache verrät den pädagogischen Besitzerstolz: "der Zwölfton" als ein Kürzel für Schönbergs "Methode der Kom­ position mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen" sig­ nalisiert griffige Handhabbarkeit auf dem Niveau etablier ter Gebrauchsgüter wie etwa dem des "Kammertons", des "Sinustons 11 oder des "Leittons". Indessen ist es mit der vorschnellen Gleichsetzung "'kompositorischer Zwölf ton = musikdidaktischer Umgangston" doch nicht so weit her, w i e 1s den Anschein hat, weil - so die Befürchtung Michael Alts - das eigentlich Neue an der Neuen Musik in der Wir­ kung weit dahinter zurückbleibe: "So kommt es, daß die Zwölftonmusik noch außerhalb des Horizontes der Schule steht. Noch ist es nicht ge­ lungen, diesen neuen musikalischen Komplex didaktisch in den Griff zu bekommen und zu methodisieren, ob­ gleich Jelineks Zwölfton-Elementarwerke, W.Fortners 1Madrigale 1 u.a. mit dieser Absicht geschrieben wur­ den . Man wird nach dem 1Altern' der Neuen Musik nicht daran vorbeikommen, gangbare Wege zur Zwölftonmusik und darüber hinaus zur seriellen Musik überhaupt, al­ so zum Werkschaffen Schönbergs, A.Weberns und ihrer Nachfolger, zu entwickeln. Das Machbare an dieser Tech­ nik lädt geradezu dazu ein, im Experimentieren mit seriellen Elementen bei der GehörerZiehung und der Improvisation das Hören der repräsentativen Werke die­ ser Kunstrichtungen vorzubereiten" (a.a.O., 23o). "... nach dem Altern der Neuen Musik ..." - sollte hier einer nach dem Muster gedacht haben: "Es gibt vieles zu tun, warten w i r 1s ab"? Sicher ist bei aller Michael Altsehen Unsicherheit seine Idee von der "Machbarkeit", die sich seiner Vorstellung nach zu Elementarübungen "ver. dichten" könnte: "Damit würde man endlich zu einer Elementarisierung der neuen und neuesten Musik Vordringen, wenn auch die Formelemente nur als propäde;utische Übungen zum Verständnis der neuen Materialordnungen zu entfalten wären. Jedenfalls könnten so die elementaren Grund­ begriffe Zwölfton, serielle Musik, 'Struktur' und 'Klangraum', aber auch das Neuartige am Kompositions. Vorgang ... in Übungen übersetzt werden, mit denen diese neuen Klang- und Formelemente in die musika. Irische Vo.rstellungswe.lt gelangten. Der Weg von hier zum Verstehen der neuesten Musik ist dann nicht näher und nicht weiter als der von den überlieferten Ele­ mentarübungen zum überlieferten Kunstwerk. Das wäre eine Aufgabe für die junge Generation der Musiker­ zieher, die aus ihrer Zeitgenossenschaft heraus dazu berufen ist" (a.a.O., 28). Michael Alts Widersprüche sind unüberhörbar: einerseits sei das, was er "Zwölfton" nennt, inzwischen gesicherter Besitz, andererseits stehe die Zwölftonmusik noch außer­ halb des Horizonts von Schule; einerseits ist seine grund­ sätzliche didaktische Vorstellung an der Geschichtlich­ keit und am Kunstcharakter von Musik orientiert, anderer­ 117 seits empfiehlt er eine Elementarisierung von neuer Musik nach dem alten Muster "Vom Volkslied zur Symphonie". Und fügt, dieser erfahrene Fuchs, sogleich lächelnd hinzu, daß der Weg vom Element zum Verstehen der neuesten Musik nicht näher und nicht weiter sei als der von den über­ lieferten Elementarübungen zum überlieferten Kunstwerk. Und überhaupt sei das die Aufgabe der jüngeren Musiker­ zieher-Generation . Womit diese den schwarzen ZwölftonPeter zugeschoben bekam. Wir werden sehen, was sie mit ihm anzufangen wußte. Michael Alt jedenfalls löste das 12-Ton-Problem im Unterricht auf nonchalante Weise: von 414 Seiten seiner "Musikkunde in Beispielen für Gymnasien", genannt "Das musikalische Kunstwerk", widmet er diesem Kapitel ganze drei Seiten, eingeleitet mit der lapidaren Feststellung: "Schönberg entwickelte aus seinen bisherigen Kompo­ sitionen die Gesetze der Zwölftontechnik" (31967, 373). Folgen die üblichen Erklärungen, was eine Reihe sei und wie man ihre Grundgestalt zur Umkehrung, zum Krebs und zur Krebsumkehrung verwandeln könne• Folgen drei ThemenIncipits: a) Schönbergs Orchestervariationen op.31 (5 Takte), b) Schönbergs Violinkonzert (3 Takte), c) Schön­ bergs Kleine Suite o p .25 (3 Takte). Folgt die erleich­ terte Feststellung: "Auf vielfache Weise wurde versucht, das starre Regel­ werk des Schönbergsehen Zwölftons aufzulockern" (a.a . 0., 375). Das belegen 7 Takte aus Liebermanns Oper "Penelope", 2 Takte aus Benzes "Variationen für Klavier" und 2 Takte aus Fortners "Fantasie über b-a-c-h". Den Schluß dieses Zwölfton-Geschwindmarsches macht Ernst Kreneks Klavier­ stück op. 83,4 "The Moon Rises", ein unkommentiertes Notenbeispiel. Fazit: Michael Alt läßt die Zwölfton-Kartoffei sehr schnell fallen. Immerhin war ihm klar, daß sie heiß ist. Und mit den versprochenen Elementarisierungen hat er den lesenden Lehrer gottlob verschont. Ähnlich nüchtern, immerhin aber reichhaltiger das Infor­ mationsangebot im 3.Band des Musikwerks für Schulen "Die "Garbe" -(31961) . Es wartet mit einem kurzgefaßten SchönbergLebenslauf, mit Auszügen aus dessen Harmonielehre, Ganzton- und Quartenakkorde betreffend, und einer dreiviertel­ seitigen Erklärung auf, was die Zwölftontechni'k sei. Ihre Weisheit gipfelt in der lakonischen Feststellung: "Diese Reihe kann kontrapunktisch durch Umkehrung, Krebs oder Umkehrung des Krebses abgeändert werden (Modi, Variationstechnik). Die Reihe ist das Gesetz für' die gesamte Komposition" (a.a.O., 644) . 118 Der Testfall fürs Reihenabzählverfahren ist der Walzer aus den "Fünf Klavierstücken" op.23, wo j ede Note sorg­ sam durchnumeriert ist und wo es im Kommentar abschlie­ ßend viel- und nichtssagend heißt: "Die vorliegende Komposition ist dem Charakter eines Walzers entsprechend leicht verständlich,.gliedert sich deutlich in Abschnitte, die, z.T. wenig variiert, wiederholt werden, vermeidet aber bis auf die 4taktige melodische Eingangsperiode meist symmetrischen Aufbau; auch fällt der Beginn der musikalischen Phrasen oft nicht mit dem Beginn der Reihe zusammen, ein Beispiel für den Kontrapunkt von Expression und Kon st rukt iv ität" (a.a.O., 648). Wehe dem Lehrer, dessen Schüler nach diesem "Kontrapunkt von Expression und Konstruktivität" übers bloße Abschmekken solcher Sprachhülsen hinaus mit einem "Wo?" und "War­ um? " fragen. Vielleicht verwiese er sie auf jenen Text an gleicher Stelle, wo Fragen nach dem Sinn und nach der Hörbarkeit von Reihenkompositionen gestellt werden. Doch stammen sie - Ironie des Schicksals eines langen Meinungs­ streits - aus dem 22. Kapitel des "Doktor Faustus" von Thomas Mann. Schönberg würde vermutlich getobt haben, hätte er lesen müssen, daß der syphilitische Leverkühn nun auch noch, wo er ihm doch schon den Erfinder-Primat streitig gemacht ha t , den musikpädagogischen Nachlaßver­ walter spielen darf. Michael Alt und seine Hoffnung auf die jüngere Generation von Musikerziehern. Bleiben wir bei solchen Unterrichts­ werken für den schulischen Musikunterricht, die sich aufs Informieren beschränken. Blättern wir in solchen, die sich aufs Beschränken beschränken, z.B. in "Musik aktuell" (^1978). Im 6 . Kapitel, "Im Konzert" genannt, schlingern die Themen wähl- und ziellos durchs Gelände mit Unter­ titeln wie "Mozart als Konzertunternehmer", "Musiklieb­ haber", "Das Mannheimer Orchester", "Über das Dirigieren", "Das Concerto grosso", "Das Solokonzert", "Was ist eine Sinfonie?" (man erfährt 1 s auf knapp einer Textseite), "Fuge - sinfonisch" usw. Das tanzende Schifflein schrammt denn auch ganz kurz am 12-Ton-Ufer vorbei, wo Weberns op.21 mit Thema und anderthalb Variationen verlegen grüßen. Eine Seite Partiturbild und etliche Fragen dazu: "1. Wir untersuchen die Intervallfolge der Reihe vorund rückwärts. Nach welchem Gesetz ist die Reihe an­ gelegt? Inwiefern weicht die Klarinettenstimme von der Reihe ab? 2. In der I.Variation, Violinstimme, beginnt die Reihe mit dem Ton c. Man sagt, sie ist um eine Quinte abwärts transponiert. Erscheint die Reihe auch in anderen Stim­ men?" (a.a.O., 181f). Die Reihe als Gesetz und ein Klarinetten-Dissident. Er­ scheint die Reihe denn nun nochmal oder nicht? Der Leser wird's nicht erfahren, denn statt der Antworten kommen schon die "Sinfonien mit Vokalmusik" als neues Thema: Bartok husch-husch und Dvorak mit einer Notenzeile. Musik pädagogisches Daumenkino, neuere Musik in vierzehn Tagen, Webern als Einseiten-Anekdote. Hat er ja auch gar nicht besser verdient: wer in derart aphoristischer Kürze kom­ ponierend sich ausdrückt, den ereilt das Schicksal der Angemessenheit. Indessen geht es Schönberg im Lehrbuch "Sequenzen" nicht anders, eher noch verächtlicher. Breit ausgewalzt der Lernkomplex 4b: "Tonhöhe". Vorbei die Zei­ ten der Dur-Tonleiter, denn "diese Reduzierung und Verengung der Tonhöhenwahrnehmung ... ist in einem modernen, allgemeinbildenden Musikunterricht nicht mehr zu verantworten" (1972, 4.2.2.) . Verantwortet wird hingegen der Anfang beim Sinuston, der Fortgang über Grund- und Obertöne, Geräusche, Cluster, Klangbänder. Wir lernen, daß Wasserfälle hoch und tief, Springbrunnen mittelhoch und GartenSchläuche mit schar­ fem Strahl sehr hoch klingen. Später die Klangfülle bei Haydn und Mendelssohn, dann eine Drittelseite Schönberg: "Das Hauptthema der Kämmersinfonie op.9 (komponiert 19o6) von Arnold Schönberg besteht aus sechs aufstei­ genden Tönen, wobei sich zwischen allen Tönen der Ton­ höhenabstand (das Intervall) einer Quart befindet. Da­ durch entsteht ein 'atonales' Gebilde; Die Töne lassen sich nicht mehr auf einen gemeinsamen Grundton bezie­ hen . In der Originalgestalt steigt das Thema raketenartig nach oben ..." (Sequenzen, 1972, 4.2.28). Weiter g eht 1 s zu Jimi Hendrix, zu Beethoven, zu Globokar. Alle haben sie Tonhöhen komponiert, mal rauf, mal runter, diqhter und dünner, mal springend, mal gleitend. Wir lan­ den, wen wundert's , bei der Maultrommel und ihrem Ton­ höhenreichtum. So kommt denn Schönberg (Webern kommt gar nicht vor) auch in den Zeitquantitäten reichlich kümmer­ lich w e g : beigelegt sind den "Sequenzen" insgesamt 29 Stunden 25 Minuten Klangbeispiele auf Tonband. Für Schön­ berg blieben ganze 87 Sekunden, das entspricht einem Pro­ zentanteil von 0 . 0 8 . Moped-, Staubsauger- und Preßluft­ hammergeräusche kosten eben ihren Preis. Mit 8 '46 ' ' steht dagegen Alban Berg prächtig da (=o.5%) : der 5.Satz seiner "Lyrischen Suite" für Streichquartett erscheint vollstän­ dig im Noten- und Klangbild. Warum? Weil sich hier die Unterscheidungen zwischen "laut - leise", "schnell - lang sam", "geringe Veränderungen - große Kontraste" und "wech selnd konstant" treffen lassen. Kommentar zum 5.Satz: "Das Trio hebt sich beim ersten Mal schroffer von den umliegenden Scherzo-Teilen ab als beim zweiten M a l . Die Gliederung des Satzes ist sehr sinnfällig. Des­ halb kann man im Unterricht mit dem Abhören des voll­ ständigen Satzes beginnen. Die Höraufgabe zielt dann auf die Gliederung im großen. Dabei können verbale und graphische Beschreibung sinnvolle Unterstützung leisten ..." (a.a.O., 5.57). Ein Schüler, dem die "Sequenzen" die einzige musiktheoretische und musikhistorische Erfahrungsquelle wären, müßte demnach Schönberg für einen Quarten-Bastler, Berg für einen Gliederungs-Spezialisten und Webern für nicht existent halten. So es um die leicht zu unterscheidenden Tempo- oder Lautstärkenmerkmale geht, frage ich mich, warum man um Himmelswillen einen 15-jährigen Hauptschüler durch das Gestrüpp von alterierten Dreiklängen, Mischto­ nalitäten und durch die motivisch-rhythmischen Vertrackt­ heiten eines Bergschen Streichquartettsatzes scheucht; wären da die Musik-Collagen von Eiskunstläufern nicht bessere Trainingsfelder? Denn um das begründungslose Formhören geht es bei diesem Streichquartettsatz, um nichts sonst. Michael Alt und seine Hoffnung auf die jüngere Generation von Musikerziehern. Unter der Kapitelüberschrift "Musik im Konzertsaal" befaßt sich das "Lehrbuch der Musik" Band 3 (1972, 44ff.) mit dem Violinkonzert von Alban Berg, kom. mentarlos eingerahmt von Bachs 2.Brandenburgischem Konzert und dem Klarinettenkonzert A-Dur von Mozart (KV 622). Der Erklärungsansatz folgt dem Muster der gängigen Schulana. lyses vorg€5stellt werden die hauptsächlichen Themen (die Reihe, die Volksweise, der Choral), die Formschemata der einzelnen Sätze, die thematischen Verwandtschaften nebst einigen Notentextzitaten. Und weiter g e h t 's zu Mozart. Im unmittelbaren Anschluß an Bach fällt das Stichwort "Reihe" und daß sie aus 8 Terzen und 3 Ganztonschritten aufgebaut sei (a.a.O., 44). Soll heißen: dieses Konzert ist seines historischen Kontextes gänzlich beraubt,* die Individualität des Bergschen Reihendenkens bleibt ohne den Bezug zum Reihenverständnis Schönbergscher Prägung außen vor; ausgeklammert bleiben obendrein die vielfachen Beziehungen zwischen Soloinstrument und orchestralem Satz in ihren Verflechtungen, wie sie ohne Kenntnis des 2. Klavierkonzerts von Brahms ohnehin unverständlich blieben. Statt dessen bieten die Herausgeber einen anderen Kontext a n : den des Aufführungsortes. Und der ist derart unspezi­ fisch, daß man Bergs Violinkonzert ohne weiteres austauschen könnte gegen das 3 .Klavierkonzert von Rachmaninow oder das Gitarrenkonzert von Villa-Lobos. Warum es gerade 121 dieses Konzert nach Bach und witzigerweise vor Mozart sein mußte, in welcher Weise es - wenn man denn schon nach ahistorischen Prinzipien Ausschau halten will - das "Prinzip des Konzertierens" (wie es S.42 programmatisch tönt) in besonderer, des Erwähnens würdiger Form einlöst, bleibt dunkel. War Berg ein Prinzipieller, oder war er es nicht? Sprach Michael Alt noch mutig-ängstlich vom "Zwölfton", so findet das Reihendenken hier, wo es be­ reits seine historischen Voraussetzungen synthetisiert, indem es die Schönbergsehe Rigidität umgeht, bereits kei­ ne Erwähnung mehr. Die Erleichterung darüber, daß sie sich der Tonalität verschwistert und obendrein mit dem "Andenken eines Engels" gleichsam vermenschlicht, hat musikdidaktischen Tritt gefaßt. Indessen sollte, vor allem mit Blick auf erlebnisbetonte, in der Pubertät befangene Jugendliche der Weg zu diesem Konzert, das in gleich zweifacher Hinsicht die Bedeutung eines Requiems hat, nicht vorschnell abqualifiziert wer­ den . Im 2.Band des UnterrichtsWerks "Resonanzen" für die Sekundarstufe I fangen die Autoren das jugendliche In­ teresse eben nicht über eine ins Tonale gewendete 12Ton-Reihe ein, sondern über den Choral "Es ist genug", über die doppelte biographische Bedeutung, über die sub­ jektive Betroffenheit auf Seiten des Komponisten und da­ mit auch auf Seiten des jugendlichen Hörers. Nicht unge­ schickt , den Choral zunächst singen und seine ungewöhn­ liche Diatonik sozusagen körperlich erfahren zu lassen in Verbindung mit einem Text, wo es u.a. heißt "Mein Jesus kommt: nun gute Nacht; o Welt, ich fahr ins Himmelshausi Ich fahre sicher hin mit Frieden . Bergs Violin­ konzert als ein Dokument einer sehr persönlichen existen­ tiellen Not? Warum nicht, wenn sich diesem Grundgedanken die Analyse strikt anverwandelt und wenn der mehrfach an sich selbst erfahrene Choral sowie die biographisch ge­ tönten Verweise, etwa in Form eines Ländler-Zitats, gleich­ sam zum roten Faden, zur Hör- und Verstehenshilfe werden, Doch leider bleiben die Autoren bereits im Ansatz dieses erlebensbetonten Zugangs stecken, verheddern sich dann doch alsbald in einer Diskussion der 12-Ton-Reihe und ihrer Permutationsmöglichkeiten und landen schließlich dort, wo sie alle landen: beim Aufstellen einer gra­ phischen Hörpartitur, will sagen: bei einer formalen Be­ wältigung dieses Werkes. Vorbei und vergessen das sehr persönliche "Es ist genug"; vertan die Möglichkeit, neuere Musik durch die Trauer des schreibenden Subjekts hindurch zu begreifen. Wie wenig den Autoren übrigens an diesem erlebensbetonten Zugang gelegen war, zeigt auch hier wie­ der der inhaltliche Kontext: das Berg-Violinkonzert folgt nach einem Hornkonzert von Haydn (es ging also wieder 122 mal ums konzertante "Prinzip") und leitet über zur Dis­ kussion der Beliebtheitsränge von Komponistennamen auf Programmen des öffentlichen Musiklebens mit der stolzen Feststellung: "Zu den am meisten aufgeführten Werken gehören die Symphonien Beethovens" (Resonanzen Bd,2, 19 75, 67). Michael Alt und seine Hoffnung auf die jüngere Generation von Musikerziehern. Sie tritt im Lehrwerk "Musik um uns" für die Klassenstufe 11-13 als Generation von schulmeister liehen Pedanten in Erscheinung. Nach dem dort üblichen Muster "Regel und Anwendung" hat der lesende Schüler zu­ nächst einmal das Regelsystem zu verkraften: der Kompo­ nist bringt die zwölf Töne in eine bestimmte Reihe, kehrt sie um, bastelt einen Krebs, transponiert die Reihe usw. Folgen Beispiele aus der Klaviersuite op.25 als Anwen­ dungsfälle, wobei sich die - um ein Wort von Ehrenforth aufzugreifen - "dodekaphonischen Suchtrupps" mit Fleiß auf die Pirsch begeben und tüchtig durchnumeriert haben. Bleibt als nicht numeriertes Trainingsfeld das MenuettTrio : hier soll selbst geknobelt werden nach alter Suchrätselmanier "Wo steckt der Jäger?". Bevor es dann hurtig zu Hindemiths "Ludus tonalis" weitergeht, noch schnell einige Aufträge; "Vergleichen Sie das Schema mit dem Notenbeispiel und den Modi, und kennzeichnen Sie die Bögen des Schemas mit R, RT , U„ Urp, usw. Charakterisieren Sie die Art der Mehrstimmigkeit in Menuett und Trio" (Musik um uns, 1978, lo9). Webern ergeht es wenig später ganz ähnlich. "Struktur und Strukturgruppen" heißen die Zauberworte in der Analyse des Streichquartetts op.5, und die Analyse des Konzerts op.24 besteht aus einer verwirrenden Fülle von Notenbei. spielfetzen, Kreisen, Pfeilen, ausgezählten Reihen und reduzierten Dauern, Artikulationen sowie Farben, alles in Schaubilder übertragen und sehr schön anzusehen. Ich wage, weil der Wald vor lauter Bäumen nicht mehr zu sehen ist, zu bezweifeln, ob die Zahlen- und Tabellenakrabat.i'k das bezeugt, was eingangs der Konzert-Analyse behauptet wird s "Es liegt eine 3-Ton-Reihe vor, die durch 12-Tönigkeit in größeren Zusammenhang gebracht wird. Die 12-TonReihe stiftet Proportionierung höheren Grades" (a.a. 0. , 154) . Sie stiftet vor allem kein Verständnis dafür, warum ein Komponist im Jahr 1934 so und nicht anders komponiert; gestiftet wird dagegen - jenseits aller individuellen und historischen Notwendigkeit - ein anderes Verständnis: daß nämlich eines auf das andere folgte. Im Klartext: lückenlos reiht sich in diesem Schulbuch Messiaens "Mode 1 23 de valeurs et d 1 intensites" an das Webern-Konzert op.24, elegant verkleistert mit der folgenden Textmodulation; "Es ist erstaunlich treffsicher und höchst sinnvoll, diese Kompositionstechnik in eine Zeit zu transplan­ tieren, für die gleichgestellte Durchorganisation al­ ler Gebiete der Musik wesentlich wird" (a.a.O., 155). Wie mag sich der Komplex 12-Ton-Musik bei einem Schüler wohl abbilden? Vermutlich als Gleichsetzung "12-Ton-Musi'k= Zahlenkolonnen = Gesetz und Regel = Liniendiagramme = eine Ordnung, die stets als eine 1höhere 1 angepriesen wird". Schönberg und Webern müsse man zu Leibe rücken mit Bleistift, Zählwerk und Kurvenlineal; ihre Musik kön­ ne man besser in Tabellen übersetzen denn hörend erschlie­ ßen . Oder aber - und das halte ich für noch verwegener schlicht selber und möglicherweise besser machen. Denn was Michael Alt einst im Hinblick auf "Elementarisierung" des Denkens von Neuer Musik überlegte, ist in derzeitiger Schulbuchlandschaft auf fruchtbaren Boden gefallen und treibt bunte Blüten. Recht schüchtern noch nimmt sich der scheue Versuch im Opus "Ton und Taste" (1975, 148) au s , wo im Kapitel "Musikalische Formen" (Unterkapitel "Motiv") zwischen dem Lied "Spißi spaßi Kasperladi" und einem Mozart-Menuett acht Takte aus einem 12-tönigen Andante von Hans Jelinek sich verstecken, ohne daß erkennbar wäre, wie und warum sie dorthin geraten sind. Ist eine Klasse schon so gutmütig, den Kasperladi-Nonsens fraglos zu er­ tragen, so sollten die paar Takte 12~Ton~Wunderlichkeiten wohl ebenso klaglos toleriert werden, zumal man auf den übrigen 3 28 Seiten damit dann nicht mehr behelligt wird. Aber es gibt bessere Möglichkeiten, der 12-Ton-Musik den Giftzahn zu ziehen, eben durch die Methode der Elementari­ sierung. Der 2.Band des "Lehrbuchs der Musik" (1972, 2of„) druckt einen 12-Ton-Walzer von Finn Mortensen ab und läßt nach gehabter Manier zunächst einmal die Reihe suchen und finden. Feststellung;; "Eine solche Reihe, in der alle 12 Töne; unseres Systems verkommen, nennen die Musiker eine Zwölftonreihe" (a. a.O., 2 1 ) , Und ist erst einmal auf leichtem Wege der Finder-Stolz befriedigt, so läßt Erfinder-Ehrgeiz leicht sich wecken: "Hier eine weitere Zwölftonreihe. Numeriere ihre Töne und überprüfe, ob keine Note (Taste) vergessen worden ist: (folgt eine neutral notierte Reihe) Erarbeitet mit dieser Reihe folgendes kleines Solo­ stück ; 1. Schreibe die Reihe dreimal hintereinander in Dein Notenheft. Spiele sie vorher mehrmals auf einem In­ strument . .. 1 24 2. Setze die so entstandene Tonfolge in einen 4/4Takt und verwende dabei folgende Notenwerte (Halbe, Viertel, Achtel). Dabei darfst Du keine Note auslassen und nach Möglichkeit auch keine Note wiederholen. Sieh Dir noch einmal den Walzer von Finn Mortensen an. Du findest kleine Zahlen in den Noten. Was werden Sie bedeuten?" (a.a.O., 2 1 ). Ähnliche Gestaltungsübungen peilt auch das Lehrbuch "Mu­ sik um uns" (Klassenstufe 7~lo) a n . Wieder ist der Walzer aus o p .23 dran, wieder wird fleißig gezählt und genummert und geprüft und nach ReihenVerarbeitungen geforscht. Der Aufgabenkatalog gipfelt schließlich in der Anweisung: "Wir versuchen eine Zwölfton-Gruppenimprovisation" (a.a.O., 241). Wie diese vonstatten gehen soll, verrät nicht der Schüler­ band, sondern das Lehrerbegleitheft: man erfinde eine Reihe, verteile j eden Ton auf einen Mitspieler, der dann dran ist, wenn sein Reihenton drankommt ("Jeder Schüler kennt seinen Vorder- und Hinter - 1T o n '") , das rhythmische Nacheinander erfolge bei der Improvisation frei, gewandtere Schüler dürften oktavversetzen, mehrere Reihentöne könnten zu Akkorden zusammengefaßt werden etc., alles nach dem Motto: Das bißchen Zwölftonmusik machen wir uns selber. Dodekaphonie in Heimbauweise. Nicht auszuschließen, daß diese "Improvisation" dann ebenso bizarr klingt wie der Schönberg-Walzer. Das liegt dann eben an diesem komischen 12-Ton-System. Die gleiche 12-Ton~Heimwerker-Methode in "Resonanzen" Bd.2 (1975, 33) s "Komponiert selbst ein Zwölftonstück, z.B. mit Hilfe von Klingenden Stäben. Stellt zwölf verschiedene Klingende Stäbe in einer Grundreihe nebeneinander. Spielt die Zwölftonreihe in gleichmäßigen Tonlängen. Rhythmisiert die Grundreihe, so daß ein Thema ent­ steht . Verändert diese Tonfolge durch Tonwiederholungen und Oktavversetzungen, wie sie in der Zwölftontechnik er­ laubt sind usw." (a.a.O., 33). Dieses "Zwölftonmusik ist, wenn man ..."-Verfahren hat sich in schulischer Praxis zur üblen Gewohnheit etabliert. In der Referendarausbildung, bei Abiturprüfungen und schriftlichen Musiktests sind Aufgabenstellungen wie folgt üblich: "Erfinden Sie eine 12-Ton-Reihe. Verarbeiten Sie diese Reihe zu einem Thema. Stellen Sie die Modi auf. Schrei­ ben Sie eine dreistimmige, 12-tönige Invention und be­ nutzen Sie dabei die Reihe nebst ihren Modi sowohl hori­ zontal wie vertikal!" 125 Niemandem fiele bei, ein Gleiches auch vom Palestrinaoder Bach-Stil abzuleiten; niemand würde auf die Idee kommen, ein Rondo in Haydn-Manier komponieren zu lassen. Nur diese unselige Erfindung dieses Arnold Schönberg und seiner Schüler taugt in besonderer Weise dazu, auf einer elementaren Ebene unzählige Male kopiert und zur Anwen­ dung gebracht zu werden. Die Verhältnisse sind hier ja auch besonders günstig: bis 12 zählen kann j eder, und keinen brauchen die Ängste vor Quintparallelen zu plagen. Es hat den Anschein, als seien das pedantische Nachzäh­ len oder die ebenso pedantischen Reihen-Erfindungsübungen der einzige Weg, sich einem rätselhaften Komponisten zu nähern, indem man sich paradoxerweise seiner elementaren Methode bedient, wo man dessen kompositorische Resultate in anderer Weise zu verstehen nicht fähig ist (oder nicht gewillt ist, sie zu verstehen). Wir müssen folglich festhalten, daß auf jenem eingeschliffenen Wege der hausge­ machten 12-Ton-Basteleien Schönberg und seine Schüler ei­ ner Laisierung zum Opfer gebracht werden, die den Schrekken, den ihre Werke immer noch zu verbreiten scheinen, mit der Erkenntnis: "Das ist ja ganz leichtI" neutralisiert. Am Rande gesprochen: dem Blues und dem traditionellen Jazz geht es ganz ähnlich; unsere Schulbücher sind voll von eingefrorenen "Modellen" für die Hand von jedermann. Ein 12-taktiges Schema und ein paar Blue-note-Gewürze lassen leicht die Illusion aufkeimen, daß es genau so klinge wie. Handele es sich um eine fernstehende kultu­ relle Artikulation oder um eine immer noch fernstehende musikalische Ausdrucksweise - das inferiore Gefühl des nicht verstehenden Unbehagens läßt sich rasch durch ein trotziges "Das können wir auch" in genügsame Überlegen­ heit ummünzen. Zu welchen jammervollen Auswüchsen das führt, möchte ich an einem Schulbuchbeispiel demonstrieren, das mir zunächst (ähnlich dem Zugriff auf Bergs Violin­ konzert) auf guten Wegen zu gehen schien. Das Buch "Re­ sonanzen", Band 2, befaßt sich eingehend mit Schönbergs "Überlebendem aus Warschau". Es befaßt sich sorgsam mit dem historischen Vorfeld, dem Krieg, dem Warschauer Ghetto, den Augenzeugenberichten, dem Befreiungskampf, dem Plan von Schönberg zu dieser Komposition. Sehr richtig setzt die einführende Analyse beim Shema Yisroel an, bei Sprechund Singübungen, kurz: bei einem Teil der Komposition, bei dem Schüler so etwas wie ein kollektives Einverständnis erfahren könnten. Menschliche Katastrophe und menschliches Hoffen - soweit stimmt der We g , auf dem Jugendliche mitge­ nommen werden können. Aber dann kommt, was unvermeidlich scheint: anzutreten haben der Reihenprüfdienst, die Regel­ abweichungs-Kontrolleure, die Klangmerkmals-Tabellographen, die Strukturdiagrammatiker und Motiv-Ordner, die Klang­ 126 farbenpartiturZeichner und Großgliederungs-Ingenieure. Und als besonderen methodischen Bonbon hat abschließend, nach Judenfrage und Warschauer Aufstand, nach Shema Yisroel und Gaskammer-Abzählverfahren, der Lehrerband ein Silbenrätsel parat für den Lehrer, der sich um die nachträgliche Sicherung des am "Überlebenden aus Warschau" erworbenen Wissens und Verstehens sorgt: isolierter Wohnbezirk GHETTO alle Instrumente spielen dasselbe UNISONO eine Art Rezitativ SPRECHGESANG machtsymbolisierendes Instrument TROMMEL Hebräisch: Herr, Gott ADONOY ausgeschriebenes Wort für V c l . oder V c . VIOLONCELLO Vokalgruppe in "Ein Überlebender" MÄNNERCHOR Vorname Schönbergs ARNOLD kleinstes Intervall der chromatischen Skala HALBTONSCHRITT Sterbeort Schönbergs (2 Wörter) LOS ANGELES Ausdruck für Vernichtung des Judentums ENDLÖSUNG Materialaufstellung für Zwölftonkomposition REIHE Die Anfangsbuchstaben der gefundenen Begriffe ergeben der Reihenfolge nach gelesen den Namen eines Freundes Arnold Schönbergs, der gleichzeitig ein bekannter Kom­ ponist ist (GUSTAV MAHLER) (Resonanzen, Lehrerin­ formation, 1975, 57). Michael Alt und seine Hoffnung auf die jüngere Generation von Musikerziehern, Hier endlich hat sie ihn wohl schnöde betrogen, denn wenn sich der künstlerisch gebändigte N o t ­ schrei im "Überlebenden aus Warschau" in einen Tummelplatz für Bleistift-Inspizienten verwandelt, wenn sich der Name Gustav Mahler als Akrostichon aus Ghetto und Endlösung nebst Violoncello herleitet und wenn der Begriff Schön­ berg zum Silbenrätsel-Arnold zusammenschrumpft und auf ein Niveau herunterkommt, das ich beim besten Willen nicht einmal mehr niedlich nennen kfinn, so wäre es wohl das beste, man deckte die sogenannte Zweite Wiener Schule mitsamt ihren Gesetzen, Regeln und Methoden mit dem Man­ tel eines verlegenen Schweigens zu und erklärte sie da­ mit zu musikdidaktischen Personae non gratae. Armer Schön­ berg . Für ihn trifft, soweit seine Existenz in Schul­ büchern in Rede steht, nicht einmal seine im Dankschrei­ ben an die Gratulanten zum 75. Geburtstag wiederholte Be­ fürchtung zu: "Die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts wird durch Über­ schätzung schlecht machen, was die erste Hälfte durch UnterSchätzung gut gelassen hat an mir" (zitiert nach Stein, 1958, 3ol). 1 27 Statt Überschätzung müssen wir sagen: Fehleinschätzung; und von Schlechtmachen im Sinne von Desavouieren kann wohl auch keine Rede sein, eher von schlecht Machen im Sinne einer vom mißverstandenen System verführten Analyse-Methodik. A propos Mantel des Schweigens: In den jüngst erschienenen Unterrichtswerken "Banjo" (Klassen­ stufe 7-lo) und "Musikunterricht Sekundarstufe I" (Klas­ se 7-lo) kommen Namen wie Schönberg, Webern und Berg oder Krenek sowie deren Werke überhaupt nicht mehr v o r . Weise Einsicht ins Unabänderliche oder neue inhaltliche Präfe­ renzen oder Zeichen nicht nur fürs Altern, sondern das Hingeschiedensein von Neuer Musik? Im Falle von "Banjo" zweifellos Ausdruck einer neuen inhaltlichen Orientierung: dort tritt "Musik im Hintergrund" radikal in den Vorder­ grund, und weil Schönberg, Webern oder Berg niemanden manipuliert haben, finden sie auch keine Erwähnung im musikalischen Manipulations-Repertoire. Im Falle von "Mu­ sikunterricht Sekundarstufe I" hätte man die Zweite Wiener Schule schon unterbringen können, z.B. im Kapitel "Neue Musik im Konzert", doch beginnt dort die Neue Musik mit Stockhausen, Bartok, Ligeti und Kagel. Und im Kapitel "Musik und ihre MaterialStruktur" sind die 12-Ton-Turnübungen gottlob aus nun bekannten Gründen ausgelassen. Zwischenbilanz: das zweite Dasein der Wiener Schule in der Schule entlarvt sich als eine verbogene Projektion, oder anders: als eine Werke und Absichten verfälschende Reduktion, weil 1. Schönberg, Berg oder Webern als Namen nur flüchtig gestreift werden unter Auslassung von deren Werken und Wirkungen; oder weil 2. der Schritt vom befreiten Umgang mit der Tonalität zur strikten Bindung an die 12-Ton-0rganisation zum Gesetz, zur Regel, zum Gebot erklärt 'wird, was zur Folge hat, daß 3. zwischen der kurzgefaßten Methodenlehre (nach dem Muster: 12-Tontechnik geht folgendermaßen ...) und den immer wieder gleichen Kompositionen ein "Regel und Anwendungsfa.il "-Verhältnis gestiftet wird mit der Folge, daß sich 4. die analytische Diskussion im Nachzählen und. Aus­ zählen von Reihen bzw. Reihenmodifikationen erschöpft oder daß 5. zwischen der 12-Ton-Kompositionsmethode und selber fabrizierten 12-Ton-Werkchen eine "learning by doing"Beziehung sich knüpft; 6 . scheint e s , als verführen einige Schulbuchheraus­ geber nach dem Motto: hin und wieder ein paar Takte Schönberg, denn Gewöhnung macht süchtig. Und 128 7. scheint es, als gebe es bei solchen Werken, von denen man weiß, sie seien Reihenkompositionen, keinen anderen Weg als den, sie gleichsam wörtlich, d.h. beim dodekaphonen Versprechen zu nehmen. 8 . Schließlich: auch eine Möglichkeit, mit Schönberg und anderen fertig zu werden, ist, sie einfach hinaus­ zuwerfen aus den Schulbüchern; Gartenschläuche, Maul­ trommeln und Penderecki-Clusters handhaben sich nun mal einfacher im improvisatorischen Umgang im Vergleich zu hakeligen 12-Ton-Reihen. Wo liegt der kardinale Fehler im pädagogisch-didaktischen Kalkül? Ich meine: im mangelhaften Studium beider Seiten der von Schönberg einerseits (um bei ihm exemplarisch zu bleiben) und der des Schülers andererseits. Beide, so will ich behaupten, wurden und werden nicht beim Wort, werden nicht zur Kenntnis genommen„ Schönberg 1923 in ei­ nem Brief an Josef Matthias Hauer: "Wahrscheinlich wird das ... immer wieder neu abge­ grenzte und immer wieder erweiterte Buch schließlich diesen bescheidenen Titel erhalten: 1Die Komposition mit 12 Tönen 1 . Soweit stehe ich seit c a . 2 Jahren und muß gestehen, daß ich bisher - zum ersten Mal - noch keinen Fehler gefunden habe, und daß mir ein System unter der Hand, ohne mein Hinzutun wächst. Was ich für ein gutes Zeichen halte. Ich bin dadurch in der Lage so bedenkenlos und phantastisch zu komponieren, wie man es nur in der Jugend tut, und stehe trotzdem unter einer präzis benennbaren ästhetischen Kontrolle" (zi­ tiert nach Stein, lo9). Schönberg in einem Schreibern vom 16. Juli 1931 an Josef Rufer: "Es ist nämlich wirklich eigentümlich, daß noch nie­ mand sich mit der offenkundigen Schönheit meiner F o r m befaßt ha t . Die müßte auch mancher zu erken­ nen imstande; sein, der einer Melodie oder einem Thema mit dem Ohr oder seiner Vorstellung niemals wird fol­ gen können. Aber, und das ist der Grund dafür: es gibt nur sehr wenige Leute, die von musikalischer Formschön. heit einen Begriff haben" (a.a.O., 167). Den Schulbuch-Analytikern ins Stammbuch geschrieben ein Brief vom 27.7.1932 an Rudolf Kolisch: "Die Reihe meines Streichquartetts hast Du richtig ... herausgefunden. Das muß eine sehr große Mühe gewesen sein, und ich glaube nicht, daß ich die Geduld dazu aufbrächte. Glaubst Du denn, daß man einen Nutzen da­ von hat, wenn man das weiß? ... Nach meiner Überzeu­ gung kann es ja für einen Komponisten, der sich in der Benützung der Reihen noch nicht gut auskennt, eine An­ regung sein, wie man verfahren kann, ein rein handwerk­ 1 29 licher Hinweis auf die Möglichkeit, aus den Reihen zu schöpfen. Aber die ästhetischen Qualitäten erschlie­ ßen sich von da aus nicht, oder höchstens nebenbei. Ich kann nicht oft genug davor warnen, diese Analysen zu überschätzen, da sie ja doch nur zu dem führen, was ich immer bekämpft habe: zur Erkenntnis, wie es g e ­ m a c h t ist; während ich immer erkennen geholfen habe: was es i s tl ... Ich kann es nicht oft genug sagen: meine Werke sind Zwölfton= K o m p o s i t i ­ o n e n , nicht Z w ö l f t o n =Kompositionen ... Für mich kommt als Analyse nur eine solche in Betracht, die den Gedanken heraushebt und seine Darstellung und Durchführung zeigt. Selbstverständlich wird man hiebei auch artistische Feinheiten nicht zu übersehen haben" (a.a.O., 179). "Und schließlich", schreibt Schönberg an den Komponisten Roger Sessions 1944, "möchte ich erwähnen, was ich, um eine Würdigung mei­ ner Musik zu ermöglichen, für das Wertvollste halte: daß Sie sagen, man muß sie auf die gleiche Weise an­ hören wie jede andere Art Musik, die Theorien verges­ sen, die Zwölfton=Methode, die Dissonanzen etc. - und ich möchte hinzufügen, womöglich den Autor ... Daß ich diesen oder j enen Stil schreibe, diese oder jene Me­ thode anwende, ist meine Privatsache und geht den Hö­ rer gar nichts an" (a.a.O., 234f.). "... denn das Verständnis für meine Musik leidet noch i m m e r darunter, daß mich die Musiker nicht als einen normalen, urgewöhnlichen Komponisten ansehen, der seine mehr oder weniger guten und neuen Themen und Melodien in einer nicht allzu unzureichenden mu­ sikalischen Sprache darstellt - sondern als einen dis­ sonanten Zwölftonexperimentierer" (Brief vom 12.5,1947 an Hans Rosbaud; zitiert nach Reich, 255). Und wenn Schönberg sich im Brief vom 4. Juli 1944 an Rene •Leibowitz gleichsam selbst vergewissert ... "Was Andeutungen von Tonalität und Vermischung mit konsonanten Dreiklängen betrifft, muß man sich daran erinnern, daß der Hauptzweck der 12=Ton=Komposition ist: Zusammenhang durch die Verwendung einer einheit­ lichen Tonfolge zu erzielen, welche zum mindesten wie ein Motiv funktionieren sollte. Auf diese Weise soll die organisatorische Kraft der Harmonie ersetzt werden" (a.a.O., 26o). . . . wenn also Schönberg Reihe und Motiv funktional ineins setzt, dann offenbart sich das Dilemma schulbuchhafter Analysen dergestalt, daß sie keine sind: analytische An­ sätze allenfalls, die bei der Motivsuche und -nennung stehen bleiben. 1 3o Aus einer "Notwendigkeit" erwachsen, habe die Methode, mit zwölf Tönen zu komponieren, kein anderes Ziel als "Faßlichkeit". Sie, die Reihe, "muß der erste schöpferische Gedanke sein. Dabei macht es keinen großen Unterschied, ob die Reihe in der Kom­ position sofort wie ein Thema oder eine Melodie er­ scheint oder nicht, ob sie als solche durch Merkmale des Rhythmus, der Phrasierung, der Konstruktion, des Charakters usw. gekennzeichnet ist oder nicht ... Dem­ nach ist der musikalische Gedanke, obwohl er aus Me­ lodie, Rhythmus und Harmonie besteht, weder das eine noch das andere allein, sondern alles zusammen" (Stil und Gedanke = GS 1, 1976, 76f.). Wieder ins Stammbuch geschrieben, nun aber den 12-TonReihen-Amateuren, seine Feststellung: "Die Einführung meiner Methode, mit zwölf Tönen zu komponieren, erleichtert das Komponieren nicht; im Gegenteil, sie erschwert es ... Die Einschränkungen, die der Zwang, nur eine Reihe in einer Komposition zu verwenden, dem Komponisten auferlegt, sind so streng, daß sie nur von einer Phantasie, die eine Vielzahl von Abenteuern bestanden hat, überwunden werden können. Diese Methode schenkt nichts; aber sie nimmt viel" (a. a.O., 79) . Und noch einmal die gleiche Warnung im "Rückblick" 1949: "Es scheint mir dringend, meine Freunde vor Orthodoxie zu warnen. Komponieren mit zwölf Tönen ist in Wirklich­ keit nur in einem geringen Grade eine 'verbietende', eine ausschließende Methode. Es ist in erster Linie eine Methode, welche logische Ordnung und Organisation sichern soll; und deren Resultat müßte leichtere Ver­ ständlichkeit sein" (= GS 1, 1976, 4o8). Stets die gleichen abwehrenden Gesten gegen das stets drohende Gemeinverständnis, als Methodiker und Konstruk­ tivist verkannt und unterschätzt zu werden; als einer, dem es um eine praktikable und kopierfähige Methodenlehre hätte gehen können. In den Bemerkungen zum dritten und vierten Streichquartett findet sich, wie so oft in seinem Schrifttum, der immer gleiche Stoßseufzer: "Ein Komponist muß ein volles, unerschütterliches Ver­ trauen in die Folgerichtigkeit seines musikalischen Denkens besitzen ... Tiefe erfordert keine methodischen Verfahrensweisen. Den auszudrückenden Gegenstand unab­ lässig im Sinn, könnte der Komponist seine Vision wie von einem Modell abschreiben - eine Einzelheit nach der anderen. Schließlich wird das vollendete Wei'k so reich an Inhalt sein, wie es an Einzelheiten ist, und vielleicht sogar reicher - es könnte einen schöpfe­ rischen Zug tragen" (= GS 1, 1976, 423). 131 Beinahe wahllos herausgegriffene Selbstbekundungen Schön­ bergs, die um immer die gleichen Begriffe, ich sollte ge­ nauer sagen: Ziele kreisen; sie sind mit Vokabeln wie "phantasievolles Komponieren", "Schönheit der Form", "mu­ sikalischer Gedanke", "gute Themen und Melodien", "orga­ nisatorische Kraft", "schöpferischer Gedanke", "Phantasie und Strenge", "Faßlichkeit und leichtere Verständlichkeit" und "Folgerichtigkeit des musikalischen Denkens" kurz Um­ rissen : Leitbilder eines Komponisten und seiner Schüler­ generation, wie sie in keinem der gesichteten Schulbücher Vorkommen, geschweige denn analytisch nachgeprüft und er­ läutert werden; nicht der phantasievolle Reichtum an mu­ sikalischen Charakteren in den Variationen op.31, nicht das Neue des Weins im alten Suitenschlauch. Auch nicht die nach dem "Prinzip der entwickelnden Variation" struk­ turell gebändigte Angst im "Überlebenden aus Warschau" oder in der "Begleitungsmusik zu einer Lichtspielscene", wo es den Anschein hat, als lege sich im ersten Fall die Trauer, im zweiten Fall die begriffslose politische Furcht gleichsam strenge Zügel an, um nicht im vollen Sinn des Wortes "maßlos" zu werden. Ebenfalls nicht die aus aus­ konstruierter Vagheit heraus entwickelte, klagende Schön­ heit des Themas von o p .31, nicht ihre Kompromißlosigkeit, die Schönberg in seinem Vortrag über op.31 mit dem Ver­ gleich zu einer denkbaren tonalen Fassung dieses Themas verblüffend deutlich macht: es sei ihm eben nicht in ei­ ner Fixierung auf F eingefallen. Schließlich nicht das, was Schönberg zu betonen nicht müde wird: daß die Methode, mit zwölf Tönen zu komponieren, über Jahre hinweg gewach­ sen sei; daß ihre "Notwendigkeit" ein großes Stück seiner persönlichen Geschichte darstelle. Das meint: keines der Schulbücher zeichnet diesen Weg von der "Verklärten Nacht" über "Pelleas", übers 1.Streichquartett, über die "Kammer. Symphonie", über das "Buch der hängenden Gärten", über die "Glückliche Hand" und den "Pierrot lunaire" zur Klavier­ suite op.25 und von dort aus weiter zu den späten geist­ lichen Vokalkompositionen nach; nicht dies "Gurrelieder" hier, nicht das Klavierkonzert dort. Bis auf die wenigen Favourites, von denen hier des öfteren bereits die Rede w a r , bleibt der ganze Schönberg (und bleiben der ganze Webern und Berg) unerkannt und somit verzeichnet durch einzelne Segmente des Schaffens. Die Gründe leuchten uns nun ein: es sind jene Segmente, die sich als besonders griffig, als besonders analysierbar, als besonders leicht zu verharmlosen erwiesen haben. Angesichts dessen halte ich es für ein Zeichen von Fairness, wenn das für die Sekundarstufe II 19 8 o erschienene Schulbuch "Materialien zur Musikgeschichte" sich mit dem Abdruck aus Auszügen von Schönbergs 12-Ton-Kapitel in "Stil und Gedanke" be132 scheidet: es läßt wenigstens ungestört den Komponisten selbst zu Worte kommen, obgleich von einer Vermittlung zwischen dem kompositorischen Anspruch dort und der Er­ wartung eines Jugendlichen von heute hier freilich keine Rede ist. Und damit bin ich beim zweiten Manko im didaktischen Kal­ kül: bei der Tatsache, daß Jugendliche in den referierten didaktischen Entwürfen nicht ins Spiel gebracht werden. Ich bin damit auch bei der Frage an mich selbst, wie das Verhältnis, von dem wir erkannt haben, daß es gestört sei, zwischen der Wiener Schule und der Schule heute aufzu­ bessern sei. Man verzeihe mir die Binsenweisheit: was sollte einen an der Musik normal interessierten Jugend­ lichen wohl beflügeln, sich mit Schönbergs oder Weberns komplizierten, zunächst einmal kühl und befremdlich klin­ genden Schreibweisen neugierig zu befassen? Die spröde Klanglichkeit weist ihn zunächst ab, und mit der Einsicht, daß dort Reihen nebst ihrer Permutation ein verworrenes Spiel treiben, ist wohl auch nichts zu gewinnen, vom denk­ baren sportiven Respekt vor so viel Kunstfertigkeit ein­ mal abgesehen. Binsenweisheit Nr.2: ein sechzehnjähriges Mädchen oder ein siebzehnjähriger Junge filtern j ede neue musikalische Erfahrung durch das natürliche Sieb ihres Erlebens- und Miterlebensbedürfnisses. In diesem Alter fällt j ede Neubegegnung mit der akuten Frage "Wer und was bin ich?" zusammen. Die Entdeckung der Welt, der äu­ ßeren wie der inneren, vollzieht sich axich durch die Sache hindurch: das Ich fängt sie ein und entdeckt ein Stück Selbst in ihr. Wo das nicht möglich ist, dort -geschehen die uns wohlbekannten Verweigerungen. Vergröbert gesagt: wo in der Sache solche Ich-Begegnungen nicht ermöglicht werden, dort fruchtet kein Vermittlungsversuch. Anders ausgedrückt: zu suchen wäre jenseits eines rationalen Ver. stehenszugriffs ein Zugang, der über das erlebensbetonte Einverständnis ginge. Im Falle der genannten Komponisten ist dieser Zugang insofern besonders schwer, als auch der Instrumente spielende oder in einem Chor singende Schüler so gut wie keine praktischen Vorerfahrungen ma­ chen kann,- dem Instrumentisten oder dem Sänger bahnen sich da und dort erste Kontakte zu Strawinsky, Bartok, Hindemith oder Fortner an; welcher Klavierlehrer oder Chorleiter aber hat schon Webern oder Schönberg im Re­ pertoire? Deren Musik wird hauptsächlich rezeptiv und kaum praktizierend erfahren, was einen handelnden Um­ gang mit ihr weitgehend ausschließt. Dennoch scheinen mir Zugänge, d.h. erlebens- und nacherlebensbetonte Annähe­ rungen an die Musik der Wiener Schule denkbar, sofern man bereit wäre, vom Begriff der Wiener "Schule" Abstand zu nehmen, mithin dem Versuch widerstände, sie von der Seite ihrer Methode her verstehen zu wollen. Vorschlag 1: Ein Thema über ein halbes Jahr hinweg sei genannt: "Komponieren als Trauerarbeit". Ausgangspunkt seien sehr persönliche Befindlichkeiten wie Furcht oder Trauer, dokumentiert und für Jugendliche nachvollziehbar in entsprechenden schriftlichen Dokumenten. Ob man den Bogen bereits ab barocken Tombeaus spannen will, mag eine Frage der verfügbaren Zeit sein, immerhin streift ein solcher Themengang Stationen wie Beethovens 3.Sinfonie (Mozarts Requiem vielleicht auch), das Deutsche Requiem von Brahms, Mahlers 9.Sinfonie, Bruckners Siebte, Schön­ bergs "Überlebenden", die Metamorphosen für 23 Solostrei­ cher von Richard Strauss, Hindemiths bestellte Trauermusik, Bergs Violinkonzert, Smetanas Quartett e-Moll, Pendereckis "Threnos", Schuberts "Winterreise" oder Dvoraks Streich­ quartett F-Dur op.96. Man störe sich nicht an der Willkürlichkeit solcher Beispiele, auch nicht daran, daß un­ ter dem Stichwort einer subj ektiven Trauer nur Teile der genannten Werke zur Diskussion stehen können. Indessen ist es gerade jene "existentielle Bedeutsamkeit", die w i e 's Wellek einmal sagte - "dem ästhetischen Wert nicht nur entgegensteht, sondern ihn in eigentümlicher Weise steigert" (1963, 223). Und sollten die Reihenkonstruk­ tionen in Schönbergs "Überlebendem" oder in Bergs Violin­ konzert dabei unerwähnt bleiben und statt dessen nur jene Momente zur Sprache kommen, wo sich persönliche Betroffen­ heit musikalisch kundtut, so wäre wenigstens durch diese Betroffenheit hindurch eine Tür geöffnet, die sich dem, der das Ganze haben will, überhaupt nicht aufschließt, Vorschlag 2; Wenn schon Schönberg zentral, dann aber seine ganze Persönlichkeit - seine frühen Jahre, seine; Tätig­ keit an Wolzogens "Überbrettl", seine Wiener Hungerjahre, die Berliner Erniedrigungen, das amerikanische Exil -, seine kompositorischen Stationen, seine Lehrertätigkeit, seine Schriften, die Reaktionen der Öffentlichkeit, die Skandale und Anfeindungen. Da müßte dann auch Melichars "Musik in der Zwangsjacke" gelesen und gespiegelt werden an des Komponisten Anspruch. Jawohl, mehr eine Biographie denn ein Katalog seiner Werke, mehr das sehr persönliche Schicksal denn die Kompositionsverfahren. Hinzunehmen wären dabei die sehr fragmentarischen Einsichten ins Oeuvre zugunsten lückenlosen Wissens um eine Komponistenpersön­ lichkeit , die Zeit ihres Lebens einen Begriff von Wahr­ haftigkeit hatte und mutig für sie eingetreten ist. Vorschlag 3: "Komponisten schreiben für den Film". Viele taten es, z.B. Satie, Schostakowitsch, Eisler, Hindemith, Saint-Saens, Prokofjew, auch Schönberg. Nicht nur mit 134 seiner den Mustern der Stummfilmmusiken abgehörten "Begleitungsmusik zu einer Lichtspielscene", sondern filmisch waren auch die Absichten, die er zusammen mit Kokoschka und Kandinsky bei seinem Opern-Einakter "Die glückliche Hand" zu realisieren hoffte. Die Tatsache, daß alle Er­ eignisse auf der Bühne Projektionen von Hoffnungen, Wün­ schen und Ängsten sind, zeigt, wie sehr Schönberg daran gelegen war, seelische Vorgänge mit den Mitteln der Farbe und des Lichtes ins Optische zu übersetzen. Das Jahr 1913, das Jahr der "Glücklichen Hand", und das Jahr 1929/3o, die Zeit der "Begleitungsmusik", sind markante Daten in der Geschichte der Stummfilmmusik: dort schwingt sie sich zur orchestralen Üppigkeit auf, hier ist sie bereits vom Ton­ film überrollt. Wie bei meinem ersten Vorschlag ein für Jugendliche erlebnishaft nachvollziehbares Thema nach dem Gedanken: und dann und wann Schönberg in behutsamer Do­ sierung? vor allem aber: Schönberg nicht als der Zwölftöner, sondern als einer, der sich mit den neuen Ausdrucks­ möglichkeiten seiner Zeit, auch denen des jungen Films, neugierig befaßte. Vorschlag 4: Beim Nachdenken darüber, wie man aus einem toten Methodiker einen lebendigen, in seiner Zeit tätigen, leidenden, kämpfenden, kritisierenden Menschen machen kann, damit ihn junge Menschen von heute gleichsam anfassen kön­ nen, schwebte mir eine Art sozialgeschichtlicher Kurs vor. Und während er noch schwebt, flattert er mir als Manu­ skript fertig auf den Tisch (für einen der Folgebände der "Studienreihe Musik"). "Arnold Schönberg und das Prinzip 'Kunstmusik'" nennt Wolfgang Martin Stroh sein im Unter­ richt getestetes Konzept, das an Umfang, Farbe, Wider­ sprüchlichkeit und vor allem an Möglichkeiten des handeln. den Umgangs für Schüler nichts zu wünschen übrig läßt. Ich denke, es wird bereits an den Kapitelüberschriften deutlich: "Oh, du lieber Augustin!" / "Arnold Schönbergs 2.Streich­ quartett op.lo" / "Spielkonzepte zum Lied 'Oh, du lieber Augustin1" (in der Tat: hier werden verschiedene Formen der harmonischen Verfremdung mit den Schülern wirklich gespielt) / "Anwendung der Spielkonzepte für die Kompo­ sitionsanalyse" (die durch die Spielpraxis erworbenen Er­ kenntnisse gehen als Vorstufen in den analytischen Erkennt­ nis-Akt ein) / "Hinweise auf Form und Struktur des 2. Satzes und auf weitere Kompositionstechniken" (der Kreis zieht sich sukzessive weiter) / "Erfolg und Mißerfolg der Musik Arnold Schönbergs" (das beruhigt jene Schüler, die Verstehensschwierigkeiten weiterhin haben) / "Mögliche Beurteilungen des Uraufführungsskandals" / "Mißerfolg als Gütezeichen von Musik?" / "Kunstmusik, Volksmusik und Unterhaltungsmusik" (hier kommt ein anderer Name ins Spiel: 1 35 Oscar Straus) / "Ein Walzertraum - ein Erfolg wird ge­ macht" / "Kunstmusik, Volksmusik und Unterhaltungsmusik als drei Arten, Wirklichkeit zu verarbeiten". Um ein Bild zu bemühen: Stroh hat einen Stein in ein gewähltes Zentrum geworfen, in diesem Fall in den zweiten Satz des 2.Streich­ quartetts; von dort aus ziehen sich die Kreise immer wei­ ter: sie erfassen den Schriftsteller Schönberg, seine Wir­ kung, sein gesellschaftliches Umfeld und mit Oscar Straus seine Gegenfigur. Stets bleibt der Schüler im Spiel: als Lesender von Texten, die nach dem Gedanken der Widersprüch­ lichkeit montiert sind; als Singender und Spielender dort, w o 1s möglich und nötig ist; als einer, der stufenweise in der Erkenntnis fortschreitet; als einer, der im Span­ nungsfeld zwischen Schönberg und Straus zur wertenden Stel­ lungnahme provoziert wird. Ich nehme mir die Freiheit, dieses Konzept für mustergültig zu halten. Es stellt ein Stück Schönberg auf den Prüfstand, macht ihn befrag- und erkennbar, macht ihn auch mit Hilfe der Spielkonzepte be-greifbar, macht ihn zu einem Fall, den es abzuwägen und zu bewerten gilt. Wissenschaftlichkeit, so sie sich wie hier als eine zum Anfassen darstellt, muß in der Schule doch nicht am fremden Ort sein, wenngleich der Begriff "Wiener Schule" in diesem Konzept nicht vorkommt. Es sei ihm gedankt. Bestürzend freilich ist dieses: '75 Jahre nach der Urauf­ führung des 2.Streichquartetts von Schönberg führt es end­ lich und zum ersten Male in einem Schulbuch eine didak­ tisch-methodische Existenz, die es und seinen Komponisten unverfälscht betrifft. Michael Alt und seine Hoffnung auf die jüngere Generation von Musikerziehern - sie hat sich lange gedulden müssen. Das ist für die Branche der Musik­ pädagogen, mich eingeschlossen, Grund genug zur Scham, denn wie immer auch die Geschichte weiterhin ihr Urteil über die sogenannte Zweite Wiener Schule fällen mag und ob dieser eine längerfristige Wirkungsgeschichte erlaubt sei oder nicht - so ich ihr Bild, das bisher von Schul­ büchern gezeichnet wurde, beim Wort nehme, muß ich schluß­ folgern : es wurde sowohl in der Absicht als auch in der Sache verstümmelt. Und was das Dasein der Wiener Schule in der Schule anlangt, kann - so lange sich die Schriften Schönbergs lesen wie ein posthumer Protest gegen die weit später geschriebenen Schulbücher - von einem wirklichen Dasein kaum gesprochen werden ... wurden sie doch nicht nach der Parole "Der Widerspenstigen Zähmung" gefertigt, sondern nach dem Motto "Wie es Euch gefällt". 136 LITERATUR Alt, M.: Das musikalische Kunstwerk. Musik­ kunde in Beispielen für Gymnasien Teil II, Düsseldorf -^1965 Ders.: Didaktik der Musik. Orientierung am Kunstwerk, Düsseldorf 1968 Binkowski, B. / Brändle, W. / Musik um uns. 7.-Io. Schuljahr, Stuttgart 13i98o Prinz, U. (Hg.): Binkowski, B. / Hug, M. / Koch, P . (H g .): Musik um uns. 11.-13. Schuljahr, Stuttgart 1°1978 Breckoff, W. et al.: Musik aktuell, Kassel ®1978 Frisius, R. et al.: Sequenzen. Musik Sekundarstufe I, Stuttgart 1972 Hopf, H. et al.: Lehrbuch der Musik Bd.2 / Band 3, Wolfenbüttel 1972 Meierott, L. / Schmitz, H.-B.:Materialien zur Musikgeschichte für die Sekundarstufe II, München 198o Neuhäuser, M. / Reusch, A. / Weber, H . : Resonanzen Bd.2 / Bd.3, Arbeitsbuch für den Musikunterricht, Frankfurt/M. 1973 bzw. 19 75 Noll, G. / Rauhe, H. Musikunterricht Sekundarstufe I, Mainz 198o (Hg.): Schließ, R. / Lischka, R.: Ton und Taste. Unterrichtswerk für Musik auf der Sekundarstufe 1, Paderborn 1975 Schmidt, H.W. / Weber, A. (Hg.) : Die Garbe. Ein Musikwerk für Schulen, Bd.3, Köln 31961 Schönberg, A . : Ausgewählte Briefe. Ausgewählt und hg. von E.Stein, Mainz 1958 Ders.: Stil und Gedanken - Aufsätze zur Musik =Vojtech, I. (Hg.): Gesammelte Schriften 1, Frankfurt 1976 Schutte, S. / Hodek, J. (Hg.): Studienreihe Musik, Stuttgart 1981 ff. Wellek, A . : Musikpsychologie und Musikästhetik, Frankfurt/M. 1963 137 Werner Klüppelholz KONTRAPUNKT UND KONFUSION Über das Schreiben und Hören von Musik im 2o. Jahrhundert "Es ist wesentlich, zu bemerken", konstatiert Hegel in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, "daß der Gang des Geistes ein Fortschreiten ist". Und we­ nig später: "Die Weltgeschichte stellt nun den Stufengang der Entwicklung des Prinzips dar, dessen Gehalt das Be­ wußtsein der Freiheit ist" (7,13o). Zur gleichen Zeit be­ freit Simon Bolivar Ecuador von spanischer Herrschaft, schreibt Beethoven das Streichquartett op.127, hebt die Katholische Kirche das Verbot der kopernikanisehen Schrif­ ten auf, erfindet Sebastien Erard die Repetitionsmechanik des Klaviers, wird Louis Pasteur geboren, tritt Johann Strauß Vater als Bratschist dem Tanzorchester Lanners bei, entdeckt Ferdinand Petrowitsch von Wrangel Inseln vor Nordsibirien, läßt Schubert die h-Moll-Sinfonie unvoll­ endet und findet in Köln der erste Roseninontagszug statt. Parallel zur technisch-industriallen, kapitalistischen, ideologischen, innovativen Dynamisierung der Gesellschaft kommt zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch die Musikge­ schichte in eine Bewegung, deren Tempo bis dahin unbe­ kannt gewesen, und an deren Ende der Untergang der Tona­ lität steht. Ohne allzu grobe Gewaltsamkeit läßt sich dieser Prozeß auch empirisch als ein einigermaßen line­ arer Fortschritt der Emanzipation des sich selbst entfes­ selnden kompositorischen Geistes beschreiben, als Befrei. ung von den zwanghaften Selbstverständlichkeiten der Tra­ dition. Folgt man dem Bild des frühen Adorno vom späten Beethoven, so markieren dessen Quartette und Bagatellen ei­ ne erste Station auf diesem Weg, indem sie sich den Anforde­ rungen der Form, der syntaktischen Entfaltung des Einfalls, dem musikalisch-logischen Diskurs verweigern. Glättende Ver­ mittlung weicht abrupten Brüchen, fremdartige Prägungen wechseln mit trivialen Floskeln, Musik, befreit vom Schein der Ganzheit und Objektivität, handelt zum ersten Mal über sich selbst. Folgte die Ablösung der Töne von Wort und Stoff, eine Entwicklung, deren Herold Hanslick wa r , po­ stulierend , nichts als "musikalische Ideen" seien der ei­ gentliche Inhalt von Musik. Folgte das Entschwinden der ursprünglichen Funktionen von Musik, Singen und Tanzen, die noch Schönbergs erste Zwölftonkomposition, eine Suite, wie beschwörend zu bewahren suchte; die Emanzipation der schon länger von Klerus und Aristokratie unabhängigen 138 Musik auch vom bürgerlichen Markt, zugunsten ihrer sektenhaften Autonomie; die Entfesselung aus instrumentalen Begrenztheiten, 19o6 von Busoni gefordert und ein halbes Jahrhundert später eingelöst von der Elektronischen Musik (die auf dem Gipfel der Autonomie, als serielle, sich freilich stärksten Zwängen unterwarf); die strikte Abwen­ dung von symmetrischer Architektonik, auf der Busoni glei­ chermaßen bestand wie heutigentags Wolfgang Rihm, der überdies sich nicht weiter vom guten Geschmack will gän­ geln lassen; der Verzicht auf Klang überhaupt, in Konzep­ ten wie Schnebels "MO - NO - Musik zum Lesen”; schließ­ lich, Klimax der Emanzipation, die Befreiung der Musik von der Person des Komponisten in den Zufallsoperationen des John Gage, so gesehen der Erbe Beethovens. Den Prozeß der kompositorischen Emanzipation für jugendliche Laien wahrhaft nachvollziehbar, den Weltgeist sozu­ sagen experimentell in der Schulstube sichtbar zu machen, ist indes der Musikdidaktik bislang nicht geglückt. Der Hinweis, musikalischer Fortschritt sei doch so notwendig wie jeder andere, verschlägt wenig, zumal in einer Welt, in der gerade Musik - tonaler - immer häufiger die Aufgabe zufallen dürfte, die unbewußt empfundenen Bedrohungen des Fortschritts zu überspielen. "Will der Komponist uns auf den Arm nehmen?" - "Ist das noch Musik?" - "Warum nur Dis­ harmonien? " - "Wo bleiben Gefühl (Melodie, Rhythmus...)?" - "Ich habe da keinen Durchblick m e h r !" - "Das soll sich anhören, wer will!" - oder, in durchaus vorwurfsvollem Ton; "Wie ist es überhaupt zu einer solchen Art von Musik gekommen?" Äußerungen siebzehnjähriger Frankfurter Gym­ nasiasten des Jahres 1982 über die "Tanzscene" aus Schön­ bergs Serenade aus dem Jahre 1923, die im Klassenzimmer hervorragend dcirge'boten. wurde durch das "Ensemble Modern der Jungen Deutschen Philharmonie". Auf Schönbergs Kontra­ punkt reagieren diese Hörer mit Konfusion, und zwar im strikt juristischen Sinn des Begriffes; mit der Forderung nach "Verständlichkeit" und - wenn man es kantianisch ausdrücken will - mit der Schuld der Unfähigkeit zum Ver­ stehen, beides vereint in derselben Person. Warum ist Schönbergs Musik immer noch so schwer verständlich? Von einem recht pragmatischen Verstehensbegriff ausgehend, der auf Gewohnheiten, Erwartungsmuster und unbewußtes Funktionsverständnis setzt (vgl.z.B. 6,61ff. und lo,225f.), ist schlicht festzustellen, daß die nach wie vor tonal und periodisch geprägten Erwartungsmuster einer übergroßen Mehrzahl von Hörern zur Musik der Wiener Schule, nament­ lich Schönbergs und Weberns, schroff divergieren. Die strukturelle Funktion von Klangelementen wird schon allein deshalb nicht verständlich, weil das vermutlich heute ent­ scheidende Kriterium aller musikalischen Rezeption, die 139 physisch-psychische Gebrauchsfunktion von Musik, dort subjektiv nicht erfüllt ist. Da ein naives und spontanes "Verstehen" Schönbergs mithin nicht statthat, jedenfalls bei den meisten seiner Werke, bedarf es pädagogischer Um­ wege, von denen einer über die sprachlich geäußerten Er­ klärungen der Avantgarde des 2o. Jahrhunderts führen könnte. In didaktischer Absicht, mit dem Ziel einer Ver­ mittlung des Bewußtseins der Komponisten mit dem Bewußt­ sein jugendlicher Laien, gehe ich also der Schülerfrage nach, welche Ursachen - jenseits des Weltgeistes - die Neue Musik haben entstehen lassen, welche Motive der Kom­ ponisten - außer Geld, Ruhm und der Liebe von Frauen, wie Freud den Künstlern unterstellt - bei der Revolution des Tonsatzes wirksam waren. Es waltet eine merkwürdige Dialektik von Freiheit und Not­ wendigkeit, Pflicht und Willkür. Ineinander verschränkt sind die Selbstherrlichkeit des verfügenden Autors und seine Unterwerfung unter die Gesetze des kompositorischen Handwerks: "Nur Meister dürfen niemals alles schreiben, müssen das Notwendige tun: ihre Aufgabe erfüllen" (14, 487).- "Ist es nicht die Pflicht eines jeden Künstlers, einem zu erzählen, was man nicht weiß, wovon man nie zu­ vor gehört hat, was man niemals selber finden, entdecken oder ausdrücken könnte?" (15,325) - "Wir haben eine Pflicht gegenüber der Musik: sie zu erfinden" (19,38) . "Die musi­ kalische Vorstellung verlangt heute nach Klängen, die noch niemand gehört hat" (17,218). Oft ist das Gefühl der Ver­ pflichtung zum Neuen verbunden mit einer Mentalität des Forschers und Wissenschaftlers, der einsam und auf eigenes Risiko seine Recherchen unternimmt: "Wenn z.B. Höhlenfor­ scher an einen engen Gang kommen, wo nur einer durchkann, dann haben zwar gewiß alle das R e c h t , dieses Frage zu prüfen, und doch wird man nur einen beauftragen und sich auf sein Urteil verlassen müssen. Solche engen Gänge führen aber zu allen unbekannten Stätten, und wir wüßten immer noch nicht, wie die Gegend am Nordpol beschaffen ist, wenn wir warteten, bis die Mehrheit sich entschließt, selbst nachzusehen" (15,255). Doch scheint der Komposi­ tionsforscher des 2o. Jahrhunderts weniger ein autonomes Individuum als vielmehr getrieben zu sein von höheren Mächten: "Ein Komponist präludiert, wie ein Tier wühlt. Beide tun es aus dem Drang des Suchens" (19,39). - "Das Schaffen des Künstlers ist triebhaft. Er hat das Gefühl, als wäre ihm diktiert, was er tut. Als täte er es nur nach dem Willen irgendeiner Macht in ihm, deren Gesetze er nicht kennt. Er ist nur der Ausführende eines ihm.verborgenen Willens, des Instinkts, des Unbewußten in ihm. Ob es neu oder alt, gut oder schlecht, schön oder häßlich ist, er weiß es nicht. Er fühlt nur den Trieb, dem er gehorchen 14o muß" (14,497). - "Der Mensch ist nur das Gefäß, in das gegossen ist, was die 'allgemeine Natur 1 ausdrücken will" (2o,ll). - "Ich habe es seit vielen Jahren unzählige Male gesagt und manchmal geschrieben: Daß ich nicht MEINE Mu­ sik mache, sondern die Schwingungen übertrage, die ich auffange; daß ich wie ein Übersetzer funktioniere, ein Radioapparat bin. Wenn ich richtig, in der richtigen Ver­ fassung komponierte, existierte ich SELBST nicht mehr" (18,365). Von den noblen Vorbildern - goetheanisches Den­ ken bei Webern, asiatisches Nicht-Denken bei Stockhausen einmal abgesehen, führen solche, ein wenig an die Tatbe­ gründungen paranoider Straftäter gemahnende Äußerungen tief in mythische Gefilde. Die Berufung auf höhere Mächte, dem Ich des Komponisten übergeordnete Befehlsinstanzen macht aber die Notwendigkeit des Neuen wie die Pflicht zur Forschung zu einer Sache des Glaubens, zu einer irre­ duziblen Größe und läßt den nach Begreifbarkeit durch Nachvollziehbarkeit suchenden Laien auf ein erstes, kaum überwindliches Hindernis im Labyrinth der Motive stoßen. Eine Gemeinsamkeit so unterschied1ieher Komponisten wie Schönberg, Strawinsky, Webern und Stockhausen liegt also im Empfinden einer ethischen Pflicht zur Fortentwicklung der Musik. Hat sich solch ein Glaube an den musikalischen Fortschritt mitsamt dem Optimismus, der ihn getragen, seit Beginn der sechziger Jahre auch verflüchtigt, geblieben ist - zumindest in der heute mittleren Komponistengenera­ tion - das Gefühl sittlicher Verantwortung. Ob Gage ver­ sucht, "die Menschen freizusetzen, ohne daß sie dumm wer­ den" (3,lo2), Nono Musik als "Moment der Bewußtwerdung, des Kampfes, der Provokation, der Diskussion, der Teil­ nahme" versteht und Komponieren als gleichwertig der Teil. nähme an einem Streik sinsieht (16, 23o) , Henze Werke sehr ei­ ben möchte, die dem Sozialismus nützen, Schnebel mit Musik Aufklärung "in Richtung auf besseres Verhältnisse" leisten will (12,32) - stets handeln die Genanntem nach Maßgabe künstlerischer wie zugleich sozialer Motive?. Einzig Kagel bekennt, da Neue Musik ja ohnehin nicht gebraucht würde, schreibe er, was e;r wolle, mit der Einschränkung aller­ dings: "Komponieren ist für mich viel eher eine Frage von Ethik als eine von Begabung" (12,91), womit gemeint ist, die Lebenszeit von Hörern nicht durch überflüssige Wieder­ holungen der Musik zu verkürzen, was Heinz-Klaus Metzger in den unvergleichlichen Satz faßt, alle schlechte Musik "gravitiert zum Mord". Dem Reich der Fron ist aber auch in Neuer Musik ein Reich des Spiels hinzugesellt. Strawinsky spricht vom "Wohlbe­ hagen der Schöpfung", ebenfalls von Liebe, Appetit und Reizung - Komponieren mithin als sublimiert libidinöser 141 Akt. "Ich glaube, daß ein wirklicher Komponist aus keinem anderen Grund schreibt, als weil es ihm Freude macht", bemerkt Schönberg, um dann die Bewunderung der Militär­ genossen gegenüber seinem Schreibtempo zu zitieren (15, lo5). Ähnliches bekennt Hindemith: "Die materialbedingten Einschränkungen aber nicht nur als Last zu empfinden, sie im Gegenteil als schöpfungsfördernd vorteilhaft auszu­ nutzen, ist von jeher die Aufgabe des Komponisten gewesen und ist, wenn ich aus meiner eigenen Erfahrung reden darf, sogar einer der reizvollsten Teile der kompositorischen Arbeit und vielleicht der, wenn der Ausdruck erlaubt ist, sportlich interessanteste" (8,184) . Komponieren heißt dem­ nach auch, ein Metier zu beherrschen, Widerständen trotzen zu können, Kompetenz zu demonstrieren, Sieger über die Noten zu bleiben, allgemeine, etwa des Kontrapunkts, oder individuelle Regeln zu meistern. Schönbergs ironische Inversion, in der Dodekaphonie seien Konsonanzen nur vor­ bereitet und auf schlechtem Taktteil gestattet, bietet eine Formel solchen Handwerkerstolzes. Im Gegensatz zur überprüfbaren Erfüllung obj ektiv gegebener Regeln und doch im Einklang damit steht ein spezifisches Maß an Subjektivität, das gerade die als emotionslos gescholtenen Schönberg und Webern "Gefühl" nennen: "Ich habe dabei das Gefühl gehabt: Wenn die zwölf Töne abgelaufen sind, ist das Stück zu Ende", nämlich eine der Bagatellen Weberns op.9. Oder er spricht von Schönbergs zweitem George-Lied: "Es wird nicht mehr zum Grundton zurückgekehrt; den Schluß fühlt ohnehin jeder". Und vom fünften; "Das Lied kehrt zu seinem Anfang zurück. Für das feinere Formgefühl war es aus, und eine Wiederholung wäre eine Trivialität für das feinere Empfinden" (2o,53ff.). Der Verzicht auf Gemein­ plätze bedürfe allerdings des Mutes» Durch Sperrdruck ak­ zentuiert, enthält Schönbergs Harmonielehre eiinen Satz, der allem Regelgehorsam und Weltgeistzwang zu widerspre­ chen scheint: "Der Künstler, der Mut hat, überläßt sich ganz seinen Neigungen. Und nur der sich seinen Neigungen überläßt, hat Mut, und nur wer den Mut hat, ist Künstler" (14,479) . Diese triadische Tautologie hä'lt den gordischen Knoten der Neuen Musik zusammen. Die Neigungen und - weit gewichtiger - Abneigungen des Komponisten sind eben so, wie sie sind. Mit einem Schlag befreit sich Schönberg von der Bürde aus Ethos und Tradition, wird zum autonomen Subjekt, das sich vor allem durch Idiosynkrasie gegen Wiederholungen leiten läßt, gegen die forma1e , werkin­ terne Wiederholung, etwa als Sequenz und - möge eine solch umstandslose Analogie erlaubt sein - gegen die materiale, werkexterne, zum Beispiel die der als abgegriffen angese­ henen Konsonanzen der vorausgegangenen Epochen. Mokant ver­ merkt- Eisler, Schönberg habe nie erklären können, was ihn an 142 Konsonanzen störe, außer, seine Musik sei eben Resultat des persönlichen Geschmacks und seines Formgefühls (vgl. 5,393). Was hat Schönbergs geschmackliche Abneigungen ge^ prägt? Ein Überdruß an der Tonalität in der Unterhaltungs-. musik oder im musikalischen Historismus? Entsprang die Atonalität am Ende einer Allianz beider? Jedenfalls müssen die Kategorien Gefühl und Geschmack einer logischen Ab^. leitung ebenso entraten wie die ethische Pflicht zur Innovation. Um so mehr war gerade den Komponisten der Wiener Schule an einer geschichtlichen Legitimation ihrer Musik gelegen, die dem Vorwurf der Willkür begegnen sollte. Vor allem der Musikhistoriker Webern, dessen Geschichtsbewußtsein durchaus teleologische Züge trägt, durchmustert die Ver­ gangenheit nach Analogien und Vorläufern, um damit die eigene Position sich und anderen zu erläutern: "Die erste Bresche (sc.zur Atonalität) finden wir in den Sonatensätzen, wo in die Haupttonart manchmal irgendeine andere Tonart wie ein Keil eingesprengt ist. Dadurch wurde die Haupte tonart zeitweise beiseite gedrängt. - Und dann in der Ka­ denz. - Was ist eine Kadenz? - Das Bestreben, eine Tonart abzugrenzen gegen alles, was sie beeinträchtigen könnte. - Man wollte aber die Kadenzen immer eigenartiger gestal­ ten und das führte schließlich zur Sprengung der Haupte tonart"; es folgt ein Hinweis auf den Schluß von Brahms' Parzengesang (2o ,47f f .) . "Zusammenfassend ist zu sagen: Wie die Kirchentöne verschwanden und nur zwei Tonarten Platz machten, so sind dann jene zwei auch verschwunden und haben einer einzigen Reihe Platz gemacht: der chro­ matischen Skala" (2o,38). Den Kontrapunkt der Wiener Schu­ le, die Integration von Melodik und Harmonik, leitet We­ bern derart ab: "Aus der Begleitung wurde aber auch etwas anderes: Man bestrebte sich, dem Komplex, der neben dem Hauptgedanken einherging, noch eine besondere Bedeutung zu geben, mehr Selbständigkeit als sie einer bloßen Be­ gleitung zukommt. - Und da hat den Hauptvorstoß Gustav Mahler geleistet - das wird meist zu wenig beachtet! - So wurde aus den Begleitformen eine Reihe von Gegengestalten zum Hauptthema - und das ist eben polyphones Denken! Der Stil also, den Schönberg und seine Schule sucht, ist eine neue Durchdringung des musikalischen Materials in der Horizontalen und in der Vertikalen, eine Polyphonie. die ihre Höhepunkte bisher gefunden hat bei den Nieder­ ländern und bei Bach, und dann weiter bei den Klassikern" (2o,37). Solche und eine Fülle weiterer Verweise - auch bei Schönberg, der etwa den Gebrauch der Ganztonskala als historisch zwingend ansieht (vgl. 14,467), oder bei Berg, der Parallelen zu seiner eigenen Singstimrnenbehandlung in Schubert-Liedern erblickt (vgl. 2,3ol) - gehen indes von 143 einer kontinuierlichen Evolution aus, die künstlerisch ebenso wenig existiert wie - denkt man an das Geschichts­ bild von Karl Marx - politisch. Weder war der Zusammen­ bruch der Tonalität unabweisbar konsequent (oder die Füh­ rungsrolle Schönbergs statt Hauers zum Beispiel), noch wird es der - vielleicht niemals eintretende - Exitus des Kapitalismus sein. Die historischen Deduktionen der Wiener Schule appellieren an die Logik, ohne sie demon­ strieren zu können. Gleiches gilt von den außermusika­ lischen Analogien, derer sich Schönberg zuweilen bedient: "Beispiele für diesen Begriff (veraltet) lassen sich eher in unserem Alltag als im intellektuellen Bereich finden. Langes Haar, zum Beispiel, galt vor dreißig Jahren als bedeutender Beitrag zur weiblichen Schönheit. Wer weiß, wie bald die kurzhaarige Mode veraltet sein wird? Pathos war vor etwa hundert Jahren einer der am meisten bewun­ derten Vorzüge der Dichtkunst; heute mutet es lächerlich an und wird nur zu satirischen Zwecken verwendet. Das elektrische Licht hat das Kerzenlicht veralten lassen; aber Snobs benutzen das letztere immer noch, weil sie es in den Schlössern des Adels gesehen haben, wo kunstvoll geschmückte Wände durch elektrische Leitungen zerstört worden wären. Zeigt dies an, weshalb etwas veraltet? Langes Haar wurde altmodisch, weil arbeitende Frauen es als hinderlich ansahen. Das Pathos wurde altmodisch, als der Naturalismus das wirkliche Leben und die Sprechweise der Menschen, wenn sie ihre Geschäfte zu Ende bringen wollten, nachzeichnete. Kerzenlicht wurde altmodisch, als die Leute merkten, wie sinnlos es ist, seinen Dienstboten - wenn man sie überhaupt bekommen kann - unnötige Arbeit zu machen. Der gemeinsame Faktor bei all diesen Beispie­ len war ein Wandel unserer Lebensformen" (15,29f.). Schön­ bergs Text, bemerkenswert Brechtschen Charakters und in der ersten Fassung aus dem Jahre 19 3o stammend, zeigt ein funktionales Denken, das alles tilgen will, was zeitrau. bend, hinderlich, langatmig, kurz: instrumentell unbe­ gründet ist. Ihm, wie man weiß, gab die Moderne, beispiels­ weise Adolf Loos, und mit ihr die Wiener Schule ästhe­ tischen Ausdruck; noch immer beharrt das Publikum hinge­ gen auf Atmosphäre und Sinnlichkeit in der Musik. Fassen wir zusammen, wie sich das Bewußtsein unseres re­ präsentativen, wenn auch aus mehreren authentischen Indi­ viduen zusammengesetzten Komponisten, unseres wiederer­ weckten Adrian Leverkühn darstellt, welche Motive ihn an­ treiben und lenken. Die Pflicht zur Klangforschung, die Lust am Kontrapunkt und der Abscheu vor dem Verbrauchten sind die Antriebe seines kompositorischen Handelns, das sich, zudem kraft Parallelen zur musikalischen Tradition und zur allgemeinen Lebensweise seiner selbst gewiß sein 144 darf. Welche Vorstellungen hat Leverkühn vom Hörer? Solche, das sei vorweg bemerkt, in denen sich - wie es scheint - apologetische Naivität mit resignativem Wirk­ lichkeit ssinn mischen. Zentral für Webern, der unter an­ derem in Vortragsreihen über Neue Musik pädagogische Ar-, beit geleistet hat, ist der Begriff der "Faßlichkeit", den er definiert als "etwas, was überblickbar ist, dessen Konturen ich überschauen kann" (2o,18ff.). Für die Voraus­ setzung von Faßlichkeit hält er den internen, strukturellen Zusammenhang der musikalisehen Konstruktion: "Die Kompost-, tion mit zwölf Tönen hat einen Grad der Vollendung des Zusammenhangs erreicht, wie er früher auch nicht annä­ hernd vorhanden w a r . Es ist klar, wenn Beziehung und Zu­ sammenhang überall gegeben ist, daß dann auch die Faßlich­ keit garantiert ist11. Und nach Hinweisen auf die Wieder­ holung in Gregorianik und Beethovenscher Sinfonik lautet Weberns Conclusio: "Aus dieser einfachen Erscheinung her­ aus , aus dieser Idee, etwas zweimal, öfter, möglichst oft zu sagen, sich verständlich zu machen, haben sich nun die kunstvollsten Dinge entwickelt, und wenn Sie wollen, kön­ nen wir den Sprung in unsere Zeit machen: Unsere Zwölftonkomposition beruht darauf, daß ein gewisser Ablauf der zwölf Töne immer wiederkommt: Prinzip der Wiederholung!" Was sich liest wie die Beschreibung der repetitiven Musik unserer Tage, deren minimale Veränderungen sich der ge­ ringen Fähigkeit des ungeübten Ohres, Konturen zu erfassen, nachgerade elementarpädagogisch anbequemt, meint hier tat­ sächlich die Dodekaphonie. Webern wähnt, deren Komponisten hätten alles getan, um Verständlichkeit zu gewährleisten, die nur noch auf den Mitvollzug des willigen Hörers ange­ wiesen sei. Was als "adäquates Hören", der Hörertypologie Adornos entstammend, um 197o im didaktischen Konzept der Hörerziehung Verbreitung fand, wurde zuerst von Alban Berg, zu Beginn seines Essays "Warum ist Schönbergs Musik so schwer verständlich?" formuliert: "Diese Sprache durchweg zu verstehen und auch in ihren Einzelheiten zu erfassen, das heißt, ganz allgemein ausgedrückt: Einsatz, Verlauf und Ende aller Melodien zu erkennen, den Zusammenhang der Stimmen nicht als Zufallserscheinungen, sondern als Har­ monien und Harmoniefolgen zu hören und die kleinen und großen Zusammenhänge und Gegensätze als solche zu spüren, kurz und g u t : einem Musikstück ebenso zu folgen, wie man dem Wortlaut einer Dichtung folgt, deren Sprache man voll beherrscht, ist für den, der die Gabe besitzt, musikalisch zu denken, gleichbedeutend mit dem Verständnis des Werkes selbst" (1,142) . Schönberg will den Hörer in die Pflicht nehmen, die ihn selbst umfangen hält: "Und ist es nicht die Pflicht des Zuhörers, offen zu sein für das, was der Künstler zu sagen hat, und nicht Enttäuschung heraufzubt 145 schwören, indem er Dinge erwartet, die der Künstler nicht zu erzählen beabsichtigt? (...) Die einzig richtige Hal­ tung einem neuen oder unbekannten Werk gegenüber ist, ge­ duldig abzuwarten, was der Autor sagen will" (15,325). Auch ein listiger Appell an des Hörers Intelligenz dürfte wenig Früchte getragen haben: "Intelligente Menschen sind zu allen Zeiten beleidigt gewesen, wenn man sie mit Din­ gen belästigt hat, die jeder Trottel sofort verstehen konnte" (15,3o). Die eigene Lage sieht Schönberg mit durchaus realistischem Blick: "In meinem Kompositions­ stil ist häufig dieser Umstand eine der Hauptursachen, warum ich so schwer zu verstehen b i n : ich variiere unun­ terbrochen , wiederhole fast niemals unverändert, springe rasch auf ziemlich entlegene Entwicklungserscheinungen und setze voraus, daß ein gebildeter Hörer die dazwischen­ liegenden Übergänge selbst zu finden imstande ist. Ich weiß, daß ich mir damit nur selbst Enttäuschungen bereite, aber es scheint, daß die Aufgabe, die mir gestellt ist, keine andere Darstellungsweise zuläßt" (15, 257) . Summieren wir die Voraussetzungen, die nach den eigenen Worten der Autoren unerläßlich sind zum Verständnis dieser Musik: eine unbedingte Offenheit gegenüber dem Unbekannten, ad­ äquater Mitvollzug, Formgefühl und die Fähigkeit zur ima­ ginativen Verbindung von Formteilen. Solche Voraussetzun­ gen dürften jedoch ihrerseits von weiteren Voraussetzungen abhängen, die Berg implizit beschreibt, nämlich einer in­ timen Kenntnis von Kompositionsregeln und einer beweg­ lichen musikalischen Phantasie. Damit die Musik Schön­ bergs und anderer für Laien nicht länger Galimathias bleibt, damit eine amorphe Klangmasse wirklich als Musik aufgefaßt werden kann, dünkt - .mag es auch utopisch an. muten - Unterweisung im Kontrapunkt unerläßlich. "Fabriquer c 'est comprendre", diese Devise Mersennes erweist ihre Aktualität gerade an autonomer Neuer Musik, soll die Bereitschaft und Fähigkeit zu ihrer ästhetischen, nicht biographischen oder programmatischen Rezeption geweckt werden. Das populär stets aufs Neue geforderte spontane "Verstehen" scheint nämlich vor allem von einem Kriterium bestimmt, das von der Rezeptionspsychologie bisher kaum bemerkt wurde, von der Reproduktionsfähigkeit des Hörers. Der Vorwurf fehlender Melodie meint eigentlich nichts als einen Mangel an Nachsingbarkeit; ein Rhythmus gilt als unverständlich, wenn er nicht direkt reproduzierbar erscheint, wie die mit Körperrhythmen korrespondierenden periodischen Zeiteinteilungen der Popmusik. Verstehbar ist demnach nur, was beschränkt ist auf die eigenen leib­ lichen Fähigkeiten des Hörers. Da die kontrapunktisehe Komplexität der Wiener Schule, die sich einem homophonen Hören.verschließt, sich nicht auf solche rudimentären 146 Fähigkeiten reduzieren läßt, ist ihr Verständnis nur auf dem Weg analytischer Vermittlung, nur über eine Aneignung der ihr zugrundeliegenden Regeln denkbar. Das Schönberg oder die serielle Musik - verstehende Publikum schrumpft mithin auf eine winzige Zahl kompositorisch kompetenter Kenner. Auch diese Gegebenheit ist in Nietzsches, des Mu­ sikpsychologen hellsichtiger Trennung zwischen alter und neuer Musik enthalten: "Übrigens wirkt fast jede Musik erst von da an zauberhaft, wo wir aus ihr die Sprache der eigenen Vergangenheit reden hören: und insofern scheint dem Laien alle alte Musik immer besser zu werden, und alle eben geborene nur wenig wert zu sein: denn sie erregt noch keine 1Sentimentalität', welche, wie gesagt, das wesent­ lichste Glücks-Element der Musik für j eden ist, der nicht rein als Artist sich an dieser Kunst zu freuen vermag" (11,941). Hier sind freilich zwei Einschränkungen geboten: zum einen wußte Nietzsche noch nichts von den Kurven der ReizSättigung, die zum Überdruß an einer Musik führen kann, zum anderen besteht Schönbergs Hörerschaft offenbar nicht ausschließlich aus Artisten. Unter der Überschrift "Mein Publikum" zählt Schönberg selber auf: einen Feldwebel, der "viele Werke" kannte; je einen von den Gurre-Liedern be­ geisterten Nachtportier und Chauffeur; den bereits kranken Puccini und einen Fahrstuhlführer, beide beeindruckt vom "Pierrot lunaire". Vom letzteren gibt Schönberg wieder: "Den (Pierrot) habe er nämlich vor dem Krieg (etwa 19121) bei der Erstaufführung gehört und habe noch heute den Klang im Ohr; insbesondere von einem Stück, wo von roten Steinen ('Rote fürstliche Rubine') die Rede war. Und er habe dama1s gehört, daß die Musiker gar nichts mit dem Stück anzufangen wußten, und heute sei so etwas doch schon ganz leicht verständlich!" (15,248f.). Hier irrt der Fahr. stuhlführer, denn die Verbreitung Neuer Musik, angewiesen auf Verständnis, hängt kaum oder nur in geringem Maße von der Chronologie ihrer Entstehung ab, wovon nicht nur die eingangs zitierten Gymnasiasten Zeugnis geben. Die Musik der Wiener Schule . Berg stets ausgenommen - oder der seriellen steht immer noch den durchschnittlichen Erwar­ tungsmustern zu fern, um allein durch Gewöhnung des Ohrs als ästhetisches Objekt, als autonome Musik rezipiert zu werden. Bei einem Publikum, dem das Ethos des komposi­ torischen Fortschritts oder der politischen Aufklärung durch Musik ebenso fremd ist wie die Abneigung von Kom­ ponisten gegen Wiederholungen, das zu interesselosem Wohl­ gefallen und zu einer von persönlichen Bedürfnissen ab­ sehenden Kontemplation kaum in der Lage ist, das im Ge­ genteil - und die Daten sämtlicher Präferenzstatistikejn deuten darauf hin - Musik primär als Mittel der psychi­ schen Hygiene, als Medium der Regression von gesellschaft­ 147 lichem Druck benutzt, müssen andere Faktoren beim Ver­ ständnis und der Verbreitung Neuer Musik wirksam sein als ästhetische. Die Frage von Carl Dahlhaus, warum dasselbe Publikum Schönbergs "Begleitungsmusik zu einer Lichtspielszene" im Konzertsaal nicht erträgt, als Musik zu einem Film aber sehr wohl akzeptiert (vgl. 4,291), führt hier auf eine Spur, die eigentlich schon bei den roten Steinen des Fahrstuhlführers beginnt. Welche Teile der Neuen Musik haben Verbreitung gefunden, welche Werke haben - wie es heißt - sich durchgesetzt, welche Komponistennamen stehen für "erfolgreiche" Musik im 2o. Jahrhundert? Nimmt man als Indikator für Erfolg den gesellschaftlich stets noch angesehensten, die rein quantitative Verbreitung einer Sache, und vermeidet man das mühsame Stöbern in Verlaqsarchiven oder Konzertpro­ grammen (die indes kein wesentlich anderes Bild bieten dürften), geht man überdies von der Annahme aus, daß Schallplattenfirmen weniger mäzenatische als ökonomische Zwecke verfolgen, so läßt sich aus der neuesten Fassung des Bielefelder Katalogs mit Leichtigkeit eine Hitliste des 2o. Jahrhunderts erstellen (von Beethovens Neunter werden hier übrigens 3 6 Versionen feilgeboten): 1. Strawinsky: "Le Sacre du printemps" (21 Einspielungen) 2. Strawinsky: "Feuervogel" (18 Einspielungen) 3. Strawinsky: "Petruschka" (17 Einspielungen) 4. Bartok: "Konzert für Orchester" / Orff: "Carmina burana" je (13 Einspielungen) 5. Bartok: "Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug" (lo Einspielungen) 6 . Bartok: "Allegro barbaro" und "Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta" je; ( 8 Einspielungen) 7. Strawinsky: "Apollon Musagete" / Messiaen: "Apparition de l'Eglise eternelle" und "Le Merle no.ire"je( 7 Einspielungen) 8 . Messiaen: "Quartett auf das Ende der Zeit" / Bartok; "Herzog Blau­ barts Burg" / Strawinsky: "Circus Polka" und "Pulcinella" / Schönberg: Klavierstücke op.11 und op.19 / Webern: Streichquartett-Sätze op.5 und Klavier-Variationen op.27 je ( 5 Einspielungen) Ungleich schwieriger erscheint die Frage nach den Erfolgsbedingungen solch unterschiedlicher Werke. Bei manchen Stücken, etwa Messiaens, spielen vermutlich religiöse Gründe hinein, bei anderen, etwa Orffs, folkloristisehe. Zu konstatieren ist j edenfalls die unbestrittene Dominanz 148 Strawinskys und Bartoks einerseits, die relativ geringe Re­ präsentanz - mit wenig aufwendigen, sozusagen billigen Stücken - Schönbergs und Weberns andererseits. Die Vor­ herrschaft Bartoks und Strawinskys verwundert freilich wenig, da ihre Musik den beschriebenen Erwartungsmustern noch am ehesten entgegenkoromt. Der Ostinato etwa kann als spontan verstehbares Ordnungssystem gelten, das die Re­ zeption ungemein erleichtert, was heutigentags an der re^petitiven Musik ersichtlich ist, die - zumindest nach dem Willen von Steve Reich - der Wahrnehmung keine größeren Anforderungen zumuten möchte, als zur Beobachtung eines Uhrzeigers notwendig (vgl.13,9). Auch daß gerade Ballett­ musik eine unangefochtene Spitzenstellung einnimmt, will in einer Epoche des Films, der die stereotype Beförderung von Bildern durch klangliche Gesten zur Gewohnheit machte, wenig überraschen. Strawinskys 11Sacre", Bartoks "Blaubart" und Messiaens Quartett aber stehen zugleich für eine bis­ her weniger beachtete Tendenz innerhalb der Neuen Musik, für ihre programmatische Bindung ans Unheil, an Tod und Verderben, Krieg und Mord, Geisteskrankheiten und alles andere, was Unlustgefühle, Betroffenheit oder schlechtes Gewissen zu zeitigen sich eignet. Pendereckis "Threnos Den Opfern von Hiroshima" bietet dafür ein kühl kalku­ liertes Beispiel, und es ließe sich -. jenseits solch kom­ merziellen Hintersinns - von Schönbergs "Überlebendem aus Warschau" über Frederic Rzewskis "Coming together", das die Gefängnis-Metzelei in Attica zum Gegenstand hat, bis zu Vinko Clobokars jüngstem "Miserere", einem Stück über die Fremdheit von Gastarbeitern, eine lange Reihe von Gebilden aufstellen, die durch Titel, Text oder Libretto einer Äs-, thetik des Häßlichen und einem Realismus des Unerfreu­ lichen verbunden sind. Je einsichtiger, erfahrungskon­ former, nachfühlbarer die gleichsam programmatische Au f ­ ladung von Dissonanz und Dichte dem Publikum erscheint, desto stärker wächst offenbar dessen Bereitschaft zur Wahrnehmung. Dies dürfte gerade den Typus einer Art lo­ gischen Wahnsinns erklären, der sich in den letzten Jahren auf der Opernbühne etabliert hat, von Pendereckis "Die Teufel von Loudun", Peter Michael Hamels "Ein Menschen­ traum", Volker David Kirchners "Die Trauung" bis zu Rihms Kammeroper "Jakob Lenz", seinem "Tutuguri"-Ballett, auch seinem "Wölfli~Liederbuch", die allesamt über geistige Störungen und krankhafte Visionen handeln. Zu vermuten steht, daß die Musik dabei kaum getrennt vom sprachlichen oder szenischen Inhalt wahrgenommen, vielmehr als dessen Illustration aufgefaßt wird, daß also die ästhetische ei­ ner semantischen Rezeption weicht. Die Programme fungieren als Vermittlung zwischen Neuer Musik auf der einen, Be­ wußtseinsstand und Erfahrung eines Publikums, das alle 149 Kunst an sich selber mißt, auf der anderen Seite. Schön­ bergs "Begleitungsmusik" wird somit nicht länger als un­ taugliches Regressionsvehikel verurteilt, sondern als tönende Umhüllung etwa eines Krimis verstanden und goutiert. Eine weitere, dem verwandte Tendenz ist in unserer Rangfolge durch Strawinskys "Pulcinella" repräsentiert, die Musik der historischen Vergleichbarkeit zu nennen wäre. Seien es Gattungen wie Pendereckis Lukas-Passion, Ligetis "Requiem" oder Berios "Sinfonia", durchweg Er­ folgsstücke, seien es Einzelwerke wie Kagels "Variationen ohne Fuge..." auf der Grundlage der Brahmsschen HandelVariationen, seien es schließlich klassische Stücke der Sprechbühne, wie Reimanns "Lear" - stets suchen die Kom­ ponisten dabei an das Vorwissen eines Bildungspublikums anzuknüpfen, Altes als Folie des Neuen zu nutzen und so­ mit einen Reiz zu provozieren, der dem Vergleich zwischen Einst und Jetzt entspringt. Die Literaturoper wie das Paraphrasenwesen des vergangenen Jahrzehnts dürften sich gleichermaßen dem Versuch der Komponisten verdanken, bei dem anzusetzen, was Hörern vertraut sein könnte. So peri­ pher der Rang ist, den Schönbergs quantitative Verbrei­ tung auf dem Musikmarkt einnimmt, so ist auch den genann­ ten Moden gegenüber die Neue Musik als Geschichte kon­ struktiver Lösungen autonomer kompositorischer Probleme ins Abseitige geraten. Sie lebt weiter in Einzelnen, wie Klarenz Barlow, oder unter dem Schutz von Institutionen, wie des IRCAM zu Paris oder des Utrechter Studios für Sonologie, die dem Forschergeist der Wiener oder Darm­ städter Schule heute eine computerbewehrte Heimstatt bieten. Vollends in den Hintergrund des zerklüfteten Pan­ oramas der Neuen Musik sind solche Autoren geraten, die sich Adornos Diktum vom Gedicht nach Auschwitz zu Herzen genommen haben und den Klängen nur gestatten, die Zweifel an der eigenen Daseinsberechtigung in einer Welt des Bö. sen verstummend auszudrücken, wie es zum Beispiel Mathias •Spahlinger in dem charakteristisch betitelten Stück "Pho nophobie" unternimmt. Wie soll nun die schulische Musikdidaktik auf derlei Ent­ wicklungen reagieren, wie könnte sie die Konfusion des Hörers mindern, was hätte sie zu leisten jenseits der fatalen "Didaktischen Analysen", die gemeinhin den Schü­ ler blindlings als voraussetzungslos bildbares Objekt unterstellen? Sie hätte zunächst das wirklichkeitsfremd puristische Postulat des "adäquaten Hörens" aufzugeben, wie es die Komponisten selber, namentlich seit den sieb­ ziger Jahren, aufgegeben haben. Objektiv angemessen sind die Werke der Wiener oder der seriellen Schule - eigent­ lich Musik von Komponisten für Komponisten - nur zu hö­ ren ,'wenn die theoretischen Voraussetzungen dazu als 15o Bezugssystem gegeben sind. Doch Schüler zu Experten des neuzeitlichen Tonsatzes erziehen zu wollen, wäre unter den derzeit obwaltenden Umständen des Musikunterrichts wohl illusorisch, bestenfalls als rare Ausnahme möglich, unbeschadet der Erfahrung, daß sowohl die rationale Kon­ struktion Neuer Musik als auch ihre historische Ableitung Motivation und Interesse zuweilen wecken können. Aber ge­ rade - ein durchaus eigentümlicher Befund - bei den bis­ lang bedeutsamsten Protagonisten der Moderne, Schönberg und Webern, bietet der letztere W e g , da von einer Viel­ zahl von Voraussetzungen abhängig, meist unüberwindliche Schwierigkeiten. Denn die verstehende Rekonstruktion von Schönbergs Geschmack und Formgefühl läßt sich nur auf mu­ sikalischen Bahnen vollziehen; Worte, das notgedrungen gebräuchlichste Medium des Musikunterrichts, vermögen wenig. Sie können kaum das Empfinden musikalischer Schön­ heit vermitteln, nach dem Laien lechzen und das sie in der Tonalität völlig mühelos befriedigen oder ohne allzu große Mühe in den Werken der Neuen Musik, die von tonalen Strukturen leben. Der übrige Teil, die meiste autonome Neue Musik, dürfte noch für längere Zeit dem Verdikt der Un-Musik anheimfallen. Mag sein, daß die wie auch immer gearteten programmatischen Bindungen - von Bergs "Wozzeck" bis Rihms "Jakob Lenz" - als Reflex dessen gelten können, daß die Komponisten selbst die Schwierigkeiten einer äs­ thetischen Rezeption durch semantische Zugänge zu erleich­ tern suchen. Welchen Zorn erregt ein unverständliches Ge­ schehen und welche Dankbarkeit des Hörers ein verstell­ bares, mögen noch so arge Dissonanzen es begleiten. Warum sollten Musikpädagogen nicht ebenso vergehen und dem Hö­ rer entgegenkommen? Eine Didaktik der Neuen Musik, die; dieser wirklich Nutzen stiftet, hätte zugleich da anzu. setzen, wo Einfühlung, Kompassion, Katharsis möglich sind. Die Schaffung einer solchen psychischen Disposition des Hörens dürfte die wirksamste Voraussetzung dafür sein, daß Laien sich überhaupt auf die fremden Gebilde des Neuen einlassen, deren Verständnis sich spontan nicht minder emotional vollzieht als bei der ihnen gewohnten Musik. Von dort aus wäre behutsam in die inneren Bezirke des Klingenden einzudringen, zur Aufklärung in Tönen und zur Ästhetik des Verstumrnens, zu den Neuinszenierungen ver­ gangener Werke und Gattungen, am Ende gar zu der Musik, die nichts weiter sein will als Konstruktion und Form. Ein didaktischer Beginn bei derjenigen Neuen Musik, die als Illustration des Unheils mißverstanden wird oder etwa Henzes "We Come to the River" - tatsächlich so in­ tendiert ist, könnte in den Ruch vordergründiger Anpas­ sung an oberflächliche Hörgewohnheiten geraten. Doch die strengste und unabhängigste Konstruktion auf höchstem Formniveau des Jahrhunderts, zum Beispiel ein WebernQuartett, spricht sie von anderem als Angst und Kata­ strophe? 152 LITERATUR 1. A.Berg; Warum ist Schönbergs Musik so schwer verständlich? In: W.Reich, Alban Berg Leben und Werk, NA Zürich 1963 2. ders.: Was ist atonal? - Ein Radio-Dialog, in: Alban Berg, Glaube, Hoffnung und Liebe. Schriften zur Musik, hg. von F.Schneider, Leipzig 1981 3. J.Cage: Unbestimmtheit, in: die reihe V, Wien 1959 4. C.Dahlhaus: Die Musik des 19. Jahrhunderts, Laaber 198o (=Neues Handbuch der Musikwissen­ schaft Bd. 6 ) 5. H.Eisler: Musik und Politik, Schriften 1924 1948, hg. von G.Mayer, München 1973 6 . 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