Einführung in die Psychiatrie Univ.-Doz. Dr. Hans-Bernd Rothenhäusler Universitätsklinik für Psychiatrie LKH - Universitätsklinikum Graz Medizinische Universität Graz Arbeitsfeld der Psychiatrie • Psyche … Seele • Iatros … Arzt • Psych – iater … Seelen – Arzt, Arzt für psychische Leiden • Psychiatrie … Seelenheilkunde, Fachgebiet der Medizin, welches die Lehre und Wissenschaft von der Erkennung und Behandlung psychischer Störungen umfasst Wie wird man „Psychiater“? • Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin – – – – – Studium der Humanmedizin 5 Jahre Hauptfach Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin 6 Monate Gegenfach Innere Medizin 6 Monate Gegenfach Neurologie Bestehen der Facharztprüfung • Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie – – – – – 4 Jahre Hauptfach Kinder- und Jugendpsychiatrie 10 Monate Kinder- und Jugendheilkunde 8 Monate Psychiatrie 6 Monate Neurologie Bestehen der Facharztprüfung Zu unterscheiden vom „Psychiater“? • Facharzt für Neurologie – Erkrankungen des zentralen, peripheren und vegetativen Nervensystems sowie der Muskulatur – Früher Neurologie und Psychiatrie unter der Bezeichnung „Nervenheilkunde“ zusammengefasst – In Graz 1990 die kombinierten Ordinariate für Psychiatrie und Neurologie voneinander getrennt – Überschneidungsgebiete, z.B. Alzheimer-Demenz Zu unterscheiden vom „Psychiater“? • Psychologe – Studium der Psychologie: eine teils den naturwissenschaftlichen, teils den geisteswissenschaftlichen Fakultäten zugeordnete Wissenschaft, die sich mit der Erforschung des normalen Seelenlebens des Menschen und der zugehörigen Vorgänge befasst – Hauptfächer sind Klinische Psychologie, Pädagogische Psychologie und Arbeits- und Betriebspsychologie – Diplomprüfung – Mögliche Tätigkeitsbereiche: Verkehrspsychologe, Pädagogischer Psychologe, Arbeitspsychologe, Sportpsychologe, Klinischer Psychologe – Klinischer Psychologe: Er/Sie arbeitet in Krankenhäusern, Heimen, Beratungsstellen usw. und ist sowohl diagnostisch (z.B. Persönlichkeitsdiagnostik) als auch therapeutisch (klinisch – psychologische Behandlung) tätig. Psychotherapie • Psychotherapie – Behandlung psychischer Krankheiten mit psychischen Mitteln (z.B. beeinflussendes, stützendes Gespräch) – Psychotherapie reiht sich innerhalb der Psychiatrie in eine ganze Fülle anderer Behandlungsverfahren ein (z.B. Psychopharmakotherapie, Lichttherapie, Schlaftherapie, Elektrokrampftherapie, Psychoedukation, Soziotherapie) – Psychotherapie können Mediziner, Psychologen und Angehörige anderer Berufsgruppen erlernen – Propädeutikum: Grundausbildung – Fachspezifikum: 4-jährige theoretische und praktische Ausbildung, z.B. Psychoanalyse, Verhaltenstherapie Arbeitsfeld der Psychiatrie Psychische Störungen nach der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ICD … International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems ICD – 10, Kapitel V Zehn Gruppen (F00 – F98) Arbeitsfeld der Psychiatrie Sehr vielfältige Krankheitserscheinungen Große Psychiatrie: Schizophrenie, bipolare affektive Störungen, depressive Störungen, Delirien, Demenzen, Suchterkrankungen Kleine Psychiatrie: Persönlichkeitsstörungen, Belastungs- und somatoforme Störungen usw. Psychosomatische Erkrankungen im klassischen Sinne: Essstörungen, psychische Faktoren bei Asthma, Colitis ulcerosa, Magenulkus, Dermatitis usw. (z.B. in Deutschland eigenständiger Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie) Arbeitsfeld der Psychiatrie Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen (F00 – F09) Demenz bei Alzheimer – Krankheit, vaskuläre Demenz, Demenz bei Krankheit durch das HI – Virus, Demenz bei Creutzfeldt – Jakob -, Pick-, Huntington-, Parkinson-Krankheit Delir (nicht durch Alkohol oder sonstige psychotrope Substanzen bedingt) Organische affektive Störungen (z.B. cortisoninduzierte depressive Störung) Beispiel „Demenz“ Störung von Gedächtnisfunktionen, die zu einer Beeinträchtigung im Alltag/Beruf führen Störungen in mindestens einem weiteren kognitiven Bereich (z.B. Sprache, Objekterkennung, Urteilsvermögen, abstraktes Denken) Verminderung der Affektkontrolle oder Veränderung des Sozialverhaltens: Reizbarkeit, Apathie, Vergröberung des Sozialverhaltens, emotionale Labilität Kognitiven Ausfälle mindestens 6 Monate Ausschluss eines Delirs Delir – Mini-Mental Status Test (MMST) „Folstein“ - Test Max. Punkte 5 Kognitive Domänen (11 Aufgaben/Fragen) 5 Orientierung örtlich 3 Merkfähigkeit 5 Aufmerksamkeit und Rechnen 3 Erinnerungsfähigkeit 9 Sprachvermögen und Verständnis < 24 Delirantes oder dementielles Syndrom Orientierung zeitlich Beispiel Klinik „Alzheimer-Demenz“ Aus: Rothenhäusler & Täschner, 2007 (Springer Wien) Charakteristisch schleichend beginnender Prozeß mit zunehmender Vergesslichkeit. Es entwickeln sich Orientierungsstörungen: anfangs zeitliche, später räumliche Desorientiertheit, schließlich situative und die Person betreffende Desorientiertheit. Wortfindungsstörungen, Apraxie usw. treten hinzu. Akzessorische Symptome wie Wahn, Halluzinationen, Unruhe, Weglauftendenzen usw. können zusätzlich auftreten. Einige Patienten erkennen die kognitiven Defizite und reagieren depressiv bis hin zu einem suizidalen Syndrom. Andere Patienten hingegen imponieren unangemessen heiter, suchen ihre Defizite zu verbergen. Die äußere Fassade bleibt relativ lange erhalten. In 6 bis 8 Jahren durchlaufen die Patienten die verschiedenen Stadien von leichter Demenz, über mittelschwere Demenz bis hin zur schweren Demenz mit Bettlägerigkeit und Pflegebedürftigkeit. Beispiel Ursache „Alzheimer-Demenz“ Neurodegenerative Hirnkrankheit, die gekennzeichnet ist durch progrediente kortikale Atrophie im Temporal- und Parietallappen, Neurofibrillenveränderungen (intrazelluläres mikrotubuläres Tau-Protein) und amyloide Plaques (extrazelluläre Ablagerung von beta-Amyloid-Peptiden) Ursachen sind u.a. cholinerges Defizit im zusammenhang mit der neuronalen Degeneration des Nucleus basalis Meynetrt, Verdacht auf polygenetische Erbgänge bei der sporadischen Form mit spätem Beginnnach dem 65. Lebensjahr Gesicherte Risikofaktoren sind höheres Lebensalter, Demenzerkrankungen bei Verwandten ersten Grades, leichte kognitive Störung Demographische Alterung in den wirtschaftlich entwickelten Ländern Im Jahre 1900: 4% der Bevölkerung > 65 Jahre Im Jahre 1985: 12% der Bevölkerung > 65 Jahre Im Jahre 2000: 22% der Bevölkerung > 65 Jahre Delirante Syndrome Akut auftretender Verwirrtheitszustand 1. mit einhergehender Bewusstseinstrübung 2. mit insgesamt fluktuierendem Verlauf 3. mit nächtlicher Akzentuierung der Symptomatik Delir – Epidemiologie - Ergebnisse prospektiver Studien zur Inzidenz postop. Delire bei Senioren Studien Patientenpopulation Häufigkeit > 65a, elektive Chirurgie, N = 100 14% Seymour (`83) > 65a, allg.-chir. Eingr., N = 258 9.7% Williams (`85) > 60a, Hüftoperationen, N = 170 51.5% Schneider (`02) 53 - 84 a (66.8), gefässchir., N = 47 36% 45 – 85 a (68.2), CABG, AVR, N = 34 32.4% Millar (`81) Rothenhäusler (´04) Delir – relevante ätiologische Faktoren Höheres Lebensalter (besonders > 80 Jahre) Hohe Komorbidität Schlechter körperlicher Allgemeinzustand Polypharmazie Vorbestehende dementielle Erkrankung Schwerhörigkeit Harnwegsinfekte Einnahme von Psychopharmaka Niedriges S-Albumin Alkoholabusus Delir – Liste wichtiger delirogen wirksamer Pharmaka Substanzen mit anticholinergem Effekt z.B. TZA, niedrigpotente Neuroleptika, Spasmolytika, Antiparkinsonmittel Antibiotika z.B. Gyrasehemmer Antihistaminika Glukokortikoide Analgetika z.B. Opioide Sympathomimetika z.B. Amphetamine, Theophyllin, Lithium Arbeitsfeld der Psychiatrie Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen (F10 – F19) Störungen (Abhängigkeits-, Entzugssyndrom usw.) durch • • • • • • • • • Alkohol Opioide Cannabinoide Sedativa oder Hypnotika Kokain Halluzinogene Tabak Stimulanzien Lösungsmittel Delirursachen – Mnemonic „I WATCH DEATH“ Infection Withdrawal Acute metabolic Trauma Encephalitis, meningitis, syphilis, HIV, sepsis Alcohol, barbiturates, sedative-hypnotics Acidosis, alkalosis, electrolyte disturbance, hepatic/renal failure Head injury, postoperative, severe burns CNS pathology Abscess, hemorrhage, subdural hematoma, infection, seizures, stroke, tumors, vascultitis Hypoxia Anemia, carbon monoxide poisoning, hypotension, cardiac/pulmonary failure Deficiencies Endocrinopathies Vitamine B12, folate, thiamine Hyper/hypoadrenocorticism, hyper/hypoglycemia Acute vascular Hypertensive encephaolopathy, stroke, arrhythmia, shock Toxins or drugs Medications, illicit drugs, solvents Heavy metals Lead, mercury Abhängigkeit 1. 2. 3. 4. 5. 6. Starkes Verlangen oder Zwang, psychotrope Substanzen zu konsumieren („Craving“) Verminderte Kontrolle über Beginn, Beendigung oder die Menge des Konsums Körperliches Entzugssyndrom Toleranzentwicklung Vernachlässigung anderer Neigungen oder Interessen zugunsten des Konsums von Substanzen Anhaltender Konsum psychotroper Substanzen trotz eindeutiger schädlicher Folgen Entzugssymptome unter Opioiden Charakterisiert durch eine zentrale noradrenerge Sympathikusaktivität als Folge einer Enthemmung des pontinen Locus coeruleus 1. Tritt nach der letzten Einnahme von morphinhaltigen Substanzen nach ca. 8 Stunden ein 2. Erreicht nach 48 Stunden das Maximum 3. Klingt nach maximal 5 bis 7 Tagen ab 4. In der Regel kommt es zwar subjektiv zu massiven Beeinträchtigungen durch Entzugssymptome, aber objektiv meist nicht zu vital bedrohlichen Symptomen (im Gegensatz zum Delirium tremens !) Stadien des Opioidentzugssyndroms nach letzter Opioiddosis Entzugsstadium Symptomatik Stadium 0 Verlangen nach Opioiden (craving), Angst, Unruhe Stadium I Gähnen, Hyperhidrose, Tränenfluss, Rhinorrhö Stadium II Mydriasis, Piloerektion, Tremor, Muskelzucken, Hitze- und Kälteschauer, Muskelschmerzen, Anorexie Stadium III Schlaflosigkeit, Blutdruck- und Temperatursteigerung, Tachypnoe, Übelkeit Stadium IV Zusätzlich Zusätzlich Zusätzlich Fieber, Diarrhö, Übelkeit, Erbrechen, Muskelkrämpfe Nichtopioidgestützte Entwöhnung Clonidin – Mittel der ersten Wahl bei der Opioidentwöhnung Benzodiazepine Arbeitsfeld der Psychiatrie Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen (F20-F29) Paranoide Schizophrenie, Hebephrene Schizophrenie, Katatone Schizophrenie, Schizophrenie simplex, Wahnhafte Störung (z.B. Folie a deux) Schizoaffektive Störungen Schizotype Störung Usw. ICD-10 (WHO) Kriterien für Schizophrenie Mindestens eines der folgenden Merkmale 1 Monat Gedankenlautwerden, Gedankeneingebung, Gedankenentzug oder Gedankenausbreitung Kontrollwahn, Beeinflussungswahn etc. Kommentierende oder dialogische Stimmen Anhaltender, kulturell unangemessener, bizarrer Wahn Oder mindestens 2 der folgenden Merkmale 1 Monat Anhaltende Halluzinationen jeder Sinnesmodalität Neologismen, Gedankenabreißen oder Einschiebungen in den Gedankenfluss Katatone Symptome wie Erregung, Haltungsstereotypien etc. Negative Symptome wie auffällige Apathie, Spracharmut, verflachte oder inadäquate Affekte Schizophrenie: Epidemiologische Daten I (H. Häfner, 2000) Häufigkeit, Ersterkrankungsalter und Geschlechtsunterschiede Lebenszeitprävalenz 1% Geschlechtsverteilung 1:1 Erkrankungsalter erkranken 5 a früher als Ersterkrankungsalter von 18 – 25 a Ersterkrankungsalter von 23 – 30 a Schizophrenie: Epidemiologische Daten II (H. Häfner, 2000) Häufigkeit, Ersterkrankungsalter und Geschlechtsunterschiede Zweiterkrankungsgipfel (nur bei , Östrogenabfall) Ersterkrankungen < 40 a Ersterkrankungen > 40 a 45 – 50 a 75 % 25 % Schizophrenie: Verlauf und Prognose Unabhängig vom Lebensalter müssen ca. 80 % aller an einer schizophrenen Psychose Erkrankten mit immer wiederkehrenden Reexazerbationen rechnen (H. Häfner, 2000) Tod durch Suizid 10 chronischer Verlauf 25 Langzeitstudien L. Ciompi & C. Müller (1976) Lausanne M. Bleuler (1972) Zürich G. Huber, G. Gross & R. Schüttler (1979) Bonn mehrere Phasen 45 nur 1 Phase 20 0 nur 1 Phase 10 mehrere Phasen 20 30 chronischer Verlauf 40 Tod durch Suizid 50 Störung diverser dopaminerger Neurotransmittersysteme vier dopaminerge Bahnen: - Mesolimbisch (zu viel Dopamin … Plussymptome) - Mesokortikal (zu wenig Dopamin … Minussymptome) - Nigrostriatal (indifferent) - Tuberoinfundibulär (indifferent) Atypika – Einteilung nach dem Rezeptorprofil Multirezeptor-Antagonisten Clozapin Leponex® Olanzapin Zyprexa® Quetiapin Seroquel® Selektive Dopamin-D2/D3Rezeptorantagonisten Amisulprid Solian® D2-5-HT-Antagonisten Risperidon Risperdal® Ziprasidon Zeldox® [Sertindol Serdolect®] Dopamin-Serotonin-Systemstabilisatoren Aripiprazol Abilify® Arbeitsfeld der Psychiatrie Affektive Störungen (F30-F39) Manische Episoden Bipolare affektive Störung Leichte depressive Episode Mittelgradige depressive Episode Schwere depressive Episode mit/ohne psychotische Symptome Zyklothymia Dysthymia Usw. Versorgungsrealität: nur ca. 15% der PatientInnen mit Depressionen adäquat diagnostiziert und behandelt ! „The WHO estimates that Major Depressive Disorder is the fourth most important cause of loss in disability-adjusted life-years, and will be the second most important cause by 2020.“ (Voellinger et al., 2003) Negative Auswirkungen der Depression auf Verlauf körperlicher Erkrankungen Unbehandelte Depression: nach Herzinfarkt: 4-fach erhöhte Mortalität Frasure-Smith et al (1993) 270:1819-1825 nach Apoplex: 7-fach erhöhte Mortalität Colantonio et al (1992) 136:884-894 bei Diabetes mellitus: erhöhte Komplikationsrate, vermehrte Non-Compliance Gavard JA et al (1993) 16:1167-1178 Begriffsbestimmung I Wörtliche Aussagen depressiver PatientInnen „Ich fühle mich immer müde, habe große Angst vor der Zukunft.“ „Ich fühle mich körperlich schrecklich, meine Beine sind bleischwer, es ist als ob ein Berg auf die Brust drückt und ständig habe ich im Hals ein unangenehmes Kloßgefühl“. „Ich fühle mich freudlos, appetitlos, wertlos.“ Begriffsbestimmung II Major Depression oder Depressive Episode (nach APA – DSM-IV-TR und WHO – ICD-10) Für die Dauer von mindestens 2 Wochen leiden die PatientInnen an folgenden Kernsymptomen: Gedrückte Stimmung Freudlosigkeit Interessenlosigkeit Einteilung der Symptomatik nach gestörten Funktionsbereichen Affektivität Bedrücktheit, Traurigkeit, ziellose Angst, Scham, Gereiztheit, verminderte Reagibilität, Anhedonie Kognition Grübeln, verminderte Konzentration, negative Sichtweise bez. Selbst/Umwelt/Zukunft (kognitive Triade), Einengung auf pessimistische Themen (Schuld, Sünde, Krankheit, Tod, Suizid) Soma Schlafstörungen, veränderter Appetit, Libidoverlust, Morgentief, frühmorgendliches Erwachen,Verlust der LebensFrische, leibliche Missempfindungen/Schmerzen Epidemiologie Major Depression in der Allgemeinbevölkerung (APA, 2000) Prävalenz Lebenszeit Punkt Frauen 10% - 25% 5% - 9% Männer 5% - 12% 2% - 3% Depression und Geschlecht Diagnostischer Bias Symptombericht Artefakt Hormonschwankungen nach Geburt vor Menstruation Biologisch Rollenstress durch Psychosozial Mehrfachbelastung von Hausarbeit, Kinderbetreuung und Erwerbsarbeit Multifaktorielle Ätiopathogenese Genetische Prädisposition Konkordanzraten für bipolare Verläufe bei eineiigen Zwillingen 80%, für unipolar 50% Konstitutionelle Prädisposition: Instabilität der Neurotransmittersysteme Endogener Faktor Somatischer Faktor Depressiogene Pharmaka Lichtenzug Körperliche Erkrankungen Entwicklungsfaktor Depressive Erkrankung Reaktiver Faktor Ängstlich-fürsorglicher Erziehungsstil, Unzureichend verarbeitete Verlusterlebnisse Disharmonie in der Partnerschaft Familienkonflikte, Rollenkonflikte, Fehlende sozioökonomische Unterstützung, akute Verluste Zeitkriterium 2 Wochen 2 Jahre Stärke der Symptomatik Anzahl der Symptome Major Depr.: 1+ (2) + 4 Depressive Episode: Schwer: 3 (3) + 4+ Mittel: 2 (3) + 3 Leicht: 2 (3) + 2 Zusatzsymptome Konzentration, Insuffizienz, Schuld, Suizidgefahr, Schlaf-, Appetitverlust, Neg. Zukunftsperspekti. Spezielle Symptomcluster Verlauf Polarität melancholisch psychotische Einzelne Episode, rezidivierend 2+ Episoden in 5 aa, chronisch, rapid cycling 4+ Episoden/a, saisonal Unipolar Bipolar Verlauf und Prognose Unipolare Depression I Manifestationsalter bei Ersterkrankungen 2 Häufigkeitsgipfel: 20.- 30. und 50. – 60. Lebensjahr Dauer unbehandelter depressiver Episoden 6 – 8 Monate Prognose der einzelnen Erkrankungsepisode ca. 80% Restitutio ad integrum, ca 20% chronifizieren Rezidive Bei mindestens 50% der PatientInnen kommt es nach der Ersterkrankung zu Rezidiven ! Mittlere Zykluslänge 4 – 5 Jahre Verlauf und Prognose Unipolare Depression II Übergang von unipolare in bipolare Verläufe ca. 4% der PatientInnen mit unipolaren Depressionen Bipolar – I – Störung (Manie) ca. 8% der PatientInnen mit unipolaren Depressionen Bipolar – II – Störung (Hypomanie) („switch to bipolar“) Suizidrisiko Bis zu 15% der PatientInnen mit schweren Depressionen Suizid ca. 50% der PatientInnen mit depressiven Störungen Suizidversuch Risikofaktoren für suizidale Handlungen Klinische Faktoren In erster Linie: Vorliegen eines depressiven Syndroms; Status nach Suizidversuchen Im weiteren: Alkohol- und Drogenmissbrauch; schmerzhafte, chronische und lebenseinschränkende körperliche Erkrankungen Im speziellen: BorderlinePersönlichkeitsstörungen, schizophrene Erkrankungen Psychopathologische Faktoren Gefühle der Hoffnungslosigkeit und Ausweglosigkeit Soziodemographische Faktoren Allein lebend, Arbeitslosigkeit, Alter über 45 Jahre bei männlichem Geschlecht, Alter zwischen 15 und 24 Jahren, Verwitwung, Partnerverlust, Beziehungskrisen Psycho- und Somatotherapie depressiver Erkrankungen Psychologische Therapieverfahren Psychodynamisch-tiefenpsychologische Therapie Kognitive Verhaltenstherapie Interpersonelle Psychotherapie Biologische Therapieverfahren Pharmakotherapie Lichttherapie Schlafentzugsbehandlung z.B. nicht-medikamentöse biologische Therapieverfahren Lichttherapie Täglich 1 – 2 Stunden in Lichtquelle mit Mindestens 2500 Lux über mindestens 1 Woche Schlafentzugsbehandlung Partieller Schlafentzug: Wecken um 1:30 Uhr Gesellschaftsspiele, Gymnastik, Spazierengehen Am Tag auf keinen Fall schlafen. Periodische Anwendungen ca. einmal wöchentlich Arbeitsfeld der Psychiatrie Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen (F40-F48) Agoraphobie Soziale Phobien Spezifische Phobien Panikstörung Generalisierte Angststörung Zwangsstörung Akute Belastungsreaktion Posttraumatische Belastungsstörung Somatoforme Störungen Dissoziative Störungen z.B. ernsthafter Verkehrsunfall, Vergewaltigung, Kampfhandlung Posttraumatische Belastungsstörung PTSD = posttraumatic stress disorder Trauma •Lebensbedrohung (objektiv/subjektiv) •Überwältigende Furcht, Angst, Horror •Extreme Hilflosigkeit Kriterium A Atypische, nichtnormative Stressreaktion mit Symptomen, die 3 Domänen zugeordnet werden: 1. Wiederkehrende, eindringliche, belastende Erinnerungen an das Ereignis (Intrusion) Kriterium B > 1 Monat 1 Symptom 2. Ständiges Vermeiden von Reizen, die in irgendeiner Weise mit dem Trauma zusammenhängen sowie Abstumpfung Kriterium C > 1 Monat 3 Symptome 3. Gesteigerte psychophysiologische Aktivität (Hyperarousal) Kriterium D > 1 Monat 2 Symptome Prävalenz von Trauma und PTSD mehr als 40 % mit traumatischem Erlebnis konfrontiert 25 % mehrfache Traumata 50 % 40 % 30 % 20 % 10 % 0% Zeuge von Gewalt Unfall Bedrohung Angriff sexuelle Belästigung Kessler et al. Arch Gen Psychiatry (1999) Kampfhandlung frühkindlicher Missbrauch Vergewaltigung Geschätzte PTSD-Häufigkeit als Folge der Terroranschläge auf das World Trade Center in New York („11. September 2001“) Yehuda et al. N Engl J Med (2002) *Ca. 100,000 Personen waren Augenzeugen der Terroranschläge *Bei ca. 35% hiervon wird aller Wahrscheinlichkeit nach eine PTSD entstehen Basierend auf Erfahrungen mit dem BombenAnschlag von Oklahoma City 1995 Komplikationen im PTSD -Verlauf [Litz, Roemer 1996] komorbide psychiatrische Störungen suizidale Verhaltensweisen Probleme in Familie und emotional nahen Beziehungen, sexuelle Dysfunktionen Coping-Defizite in der Verarbeitung posttraumatischer Symptome Somatoforme Beschwerden und andere somatische Gesundheitsprobleme Persönlichkeitsveränderungen infolge chronischer oder früherer Traumatisierung (z.B. Defizite in Selbstfürsorge, affektiver Regulation, grobe Verzerrungen in der Wahrnehmung persönlicher Verantwortlichkeit und Selbstwirksamkeit) Verlauf einer Posttraumatischen Belastungsstörung 94 % Shalev, Yehuda 1999 % mit PTSDSymptomen Zeit ? 47 % 42 % ? 25 % - 15 % Gruppe A Gruppe B Wo 3 Mo 9 Mo Jahre die meisten Personen, die ein PTSD entwickeln, erholen sich, - ca. ¼ zeigen einen chronischen Verlauf Psychotraumatologie in medizinischen Kontexten 1980 – 1990: primäres Forschungsinteresse Folgen traumatischer Ereignisse wie Krieg, sexuelle Übergriffe, kriminelle Gewalt, Naturkatastrophen 1990 – bis heute: verändertes Forschungsspektrum Untersuchungen zu weiteren Traumata wie lebensbedrohliche/extrem beeinträchtigende somatische Erkrankungen, berufsbedingte Traumata bei Rettungspersonal, Polizei und Feuerwehr Traumatische Erlebnisse auf ICU Erinnerung von Patienten an: Gefühl zu ersticken Schwere Angst oder Panik Schwere Schmerzzustände Alpträume/Halluzinationen während der intensivmedizinischen Behandlung. Erinnerte Alpträume (I) ... Das Pflegepersonal lief mit Punkerkleidung umher und wollte mich nicht waschen, sondern mir die Haut abziehen ... ... Kriegsszenen, Wände, die abblättern und mich begraben, Schlangen, Kröten und Spinnen, die auf mich zukamen, und ich konnte nicht weglaufen ... ... Die Aufhängevorrichtungen an der Decke sahen aus wie lange Würmer, die auf mich herabfielen ... Erinnerte Alpträume (II) ... Mein Sohn wurde ertränkt, meine Tochter war verschwunden, ich selber habe eine Zeitreise gemacht, ich war eingesperrt und alles um mich herum war verschwommen ... ... Ich wurde immer wieder eingegossen in durchsichtiges Material ... ... Ich träumte, ich wäre ein Elektrogerät und war zerlegt ... ... Darüber möchte ich nicht sprechen, es ist unsäglich, einfach furchtbar ... PTSD bei Überlebenden eines ARDS im Langzeitverlauf Kapfhammer-HP, Rothenhäusler-HB, Krauseneck-T, et al. Am J Psychiatry (2003) Im Median 8 Jahre post ICU (Range: 3 – 13 Jahre) u.a. mit SCID nach DSM-IV nachuntersucht: N = 46 (m: 24, w: 22); Alter 36.50 Jahre (18-50) Dauer der mech. Ventilation 26.50 d (6-78) Trauma A definiert als: ARDS incl. der ICUBehandlung ARDS-assoziiertes PTSD PTSD - Vollbild 23.9% Sub - PTSD 17.8% 58.3% Kein PTSD PTSD bei Patienten nach Lebertransplantation im Mittelzeitverlauf Rothenhäusler-HB, Ehrentraut-S, Kapfhammer-HP, et al. Psychother Psychosom (2002) Im Median 3.8 Jahre post orthotoper Lebertransplantation (Range: 5 – 129 Monate) u.a. mit SCID nach DSM-III-R nachuntersucht: N = 75 (m: 43, w: 32); Alter 52.2 Jahre (16-71) Trauma A definiert als: orthotope Lebertransplantation incl. der ICU-Behandlung LTx-assoziiertes PTSD PTSD - Vollbild 5.4% Sub - PTSD 17.3% 77.3% Kein PTSD Prozess der Traumatisierung bei LTx-Patienten Alter bei Traumaexposition (Kinder vs. Erwachsene) Akute Abstossungsreaktionen LTx-assozierte PTSD -Anamnese für Stimmungserkrankungen Dauer der ICU-Behandlung PTSD bei Patienten nach herzchirurgischen Eingriffen im Kurzzeitverlauf Rothenhäusler-HB, Grieser-B, Kapfhammer-HP, et al. Gen Hosp Psychiatry (2005) Prospektive 1 – Jahres – Outcome – Studie bei PatientInnen nach CABG bzw. AVR u.a. mit SCID nach DSM-IV evaluiert: N = 34 (m: 22, w: 12); Alter 70.5 Jahre (45-85) Trauma A definiert als: kardiochirurgischer Eingriff incl. der ICU-Behandlung Achse – I Diagnosen (SCID) Kognitive Störungen (SKT) 20 38,3 32,4 11,8 32,3 38,2 32,4 40 60 17,7 17,6 60 58,8 2,9 80 34,1 20 5,9 0 Admission ICU Discharge 1-Yr F/up Free of SCID D/o Minor D/o (eg Minor Depr, GAD) Major Depression PTSD Delirium Partial PTSD Adjustment D/o Cognitive Impairments Therapeutische Ansätze bei der PTSD Psychotherapeutische Optionen Pharmakologische Interventionen Arbeitsfeld der Psychiatrie Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren (F50-F59) Anorexia nervosa Bulimia nervosa Nichtorganische Schlafstörungen Sexuelle Funktionsstörungen Psychische und Verhaltensstörungen im Wochenbett usw. Arbeitsfeld der Psychiatrie Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (F60-F69) Paranoide, schizoide, dissoziale, emotional instabile („Borderline“), histrionische, anankastische, ängstliche oder abhängige Persönlichkeitsstörungen Störungen der Impulskontrolle (z.B. pathologisches Stehlen, pathologisches Spielen usw.) Störung der Geschlechtsidentität (z.B. Transsexualismus) Störung der Sexualpräferenz (z.B. Fetischismus, Exhibitionismus, Voyeurismus, Pädophilie, Sadomasochismus, Nekrophilie, Sodomie usw.) Artifizielle Störung („Münchhausen-Syndrom“) Persönlichkeitsstörungen Beispiel „emotional instabile PS“ Borderline – Persönlichkeitsstörung nach DSM (1980, 1987, 1994) – Impulsivität, die potenziell selbstschädigend ist – Instabile, gleichzeitig jedoch intensive zwischenmenschliche Beziehungen – Unangemessener, intensiver, unzureichend kontrollierter Zorn oder chronische Gereiztheit – Anzeichen von Identitätsunsicherheit – Affektive Instabilität mit starken Stimmungsschwankungen – Grosse Schwierigkeiten mit dem Alleinsein – Selbstschädigungshandlungen – Chronische Gefühle von Leere und Langeweile – Vorübergehende, durch Belastungen ausgelöste paranoide Vorstellungen oder schwere dissoziative Symptome Arbeitsfeld der Psychiatrie Intelligenzminderung (F70-F79) Leichte Mittelgradige Schwere Schwerste Intelligenzminderung Arbeitsfeld der Psychiatrie Entwicklungsstörungen (F80-F89) Artikulationsstörung Lesestörung Rechtschreibstörung Frühkindlicher Autismus Usw. Arbeitsfeld der Psychiatrie Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend (F90-F98) Hyperkinetische Störungen Störung des Sozialverhaltens Emotionale Störungen des Kindesalters Ticstörungen Enuresis Enkopresis Stottern Usw. Arbeitsfeld der Psychiatrie Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend (F90-F98) Hyperkinetische Störungen Störung des Sozialverhaltens Emotionale Störungen des Kindesalters Ticstörungen Enuresis Enkopresis Stottern Usw. Grazer Psychiatrielehrbuch Universitätsklinik für Psychiatrie LKH – Universitätsklinikum Graz Auenbruggerplatz 31, 80336 Graz Vorstand: Univ.-Prof. DDr. Hans-Peter Kapfhammer MODUL 21 – Spannungsfeld Persönlichkeit Modulkoordinator und Prüfer: Univ.-Doz. Dr. Hans-Bernd Rothenhäusler Gastgebende Kliniken 1. Universitätsklinik für Medizinische Psychologie und Psychotherapie 2. Universitätsklinik für Psychiatrie Vielen Dank für die Aufmerksamkeit !