Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Makrotheorien“ SS 2008,14. September 2008 Gerald Czech 9000325 der sich im akademischen Umfeld adä- Einleitung quat bewegen will. Allein die Auswahl Im Rahmen der Lehrveranstaltung „So- des jeweiligen Zitatenlieferanten für zialwissenschaftliche Makrotheorien“ die Grundlagen bei einer sozialwissen- im Sommersemester 2008 unter der schaftlichen Arbeit verortet den Autor Leitung von a.o. Univ. Prof. Dr. Gerda bereits im weiten Feld dieser verschie- Bohmann entstand diese Abschlußar- denen Zugänge zur einzigen Wahrheit beit über die zwei Lehreinheiten „Von über den Menschen. den ‚reinen Typen der Herrschaft’ zur Die Lehrveranstaltung selbst hat mir Disziplinargesellschaft“ und „Von der die sozialwissenschaftliche Makroper- funktional stabilisierten sozialen Ord- spektive zum ersten Mal in Form eines nung zur ‚funktional differenzierten netzwerkartigen Zugangs zu den Klas- Gesellschaft’“. sikern der Soziologie vermittelt. Nicht Die Lehrveranstaltung konfrontiert die Informationen über einzelne Säu- mich mit einem „Kanon“ der sozialwis- lenheilige der soziologischen Wissen- senschaftlichen Makrotheorien, die ich schaft und ihre singulär betrachteten als Sozioökonom gehört, gelesen und – paradigmatischen Werke, sondern die zumindest grob – verstanden haben theoretischen Zusammenhänge in den sollte. Werken der Klassiker waren aus mei- Da die Sozialwissenschaften im Sinne des Multiparadigmatismus auch inner- ner Sicht die vermittelten Inhalte im Seminar. halb eines Genres, also beispielsweise Diese Abschlussarbeit entstand im Lau- innerhalb der Makrotheorien, noch fe das Augusts 2008, wobei ich mich – komplett verschiedene Grundannah- wie mir das häufig passiert – aufgrund men über die Gesellschaft per se, aber des interessanten Inhalts immer mehr auch über die Position, die Aufgaben in Details der Originaltexte verschiede- und die Handlungsmöglichkeiten der nen Theoretiker verzettelte, was einzelnen gesellschaftlichen AkteurIn- manchmal auch zum Verlust des Ge- nen haben, müssen in den Folgenden samtbildes geführt hat. Kapiteln die einzelnen Theorien jeweils Einzig zu den letzten bearbeiteten Tex- einzeln und unabhängig voneinander ten habe ich keine Primärliteratur ver- betrachtet und beurteilt werden. wendet, sondern nur auf Sekundärlite- Ganz nach Pierre Bourdieu ist das Wis- ratur zurückgegriffen, Niklas Luhmann sen um diese verschiedenen Theorien, zählt bis jetzt (leider) noch nicht zum zumindest aber das Mitredenkönnen Repertoire meiner eigenen Bibliothek1. bei Dinnergesprächen, in denen diese Namen fallen, ein essentieller Teil des Habitus eines Sozialwissenschafters, 1 Ein Manko, das ich im Laufe der nächsten Wochen bei meinem nächsten Besuch in einer Seminararbeit „Sozialwissenschaftliche Makrotheorien“ - Sommersemester 2008 - Gerald Czech (9000325) Auch finde ich das Gesamtwerk noch in keinster Weise rund und ausgewogen. Gerne hätte ich noch zusätzliche Zeit, um die Kapitel besser voneinander abzugrenzen, Querverweise zu ziehen und die eine oder andere zusätzliche Quelle einzubauen. Auf der anderen Seite böte das die Möglichkeit mich noch weiter in Details zu verstricken um den roten Faden des Gesamtwerks zu verlieren. Fachbuchhandlung mit Sicherheit beseitigen werde. Definitionen 2 Seminararbeit „Sozialwissenschaftliche Makrotheorien“ - Sommersemester 2008 - Gerald Czech (9000325) Einleitung Von den „reinen Typen der Herrschaft“ zur Disziplinargesellschaft Definitionen Typen der Herrschaft Legale Herrschaft und Bürokratie Charismatische Herrschaft Traditionale Herrschaft Wesentliche Aspekte der Weberschen Herrschaftstypen Disziplin als gesellschaftliches Phänomen Michel Foucaults Machtbegriff Die Disziplinen und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen Das Panopticon als Metapher für die Gesellschaft Resümee Von der funktional stabilisierten sozialen Ordnung zur „funktional differenzierten Gesellschaft“ Talcott Parsons’ Strukturfunktionalismus Das AGIL-Schema Letzte Realität Gesellschaftsstruktur Funktionale Differenzierung als Schlüsselkategorie Systemtheorie Psychische Systeme und konstruktivistische Weltsicht Soziale Systeme Codes und Programme Resümee Literatur Von den „reinen Typen der Herrschaft“ zur Disziplinargesellschaft In diesem Teil der Arbeit soll zunächst das Webersche Konzept der Herrschaftstypologie dargelegt werden um in weiterer Folge die Disziplinargesellschaft zu erörtern, wie sie von Michel Foucault beschrieben wurde. Definitionen Max Weber, der „Urvater“ der verstehenden Soziologie beschrieb die unterschiedlichen Typen der Herrschaft in seinem „opus magnum“ „Wirtschaft und Gesellschaft“, das erst nach seinem Tod im Jahre 1922 von seiner 1 3 3 4 5 7 8 9 9 11 12 13 14 16 16 16 17 18 18 19 20 20 21 22 24 Frau Margarethe Weber herausgegeben wurde. (vgl. Weber, Weber 1984, S. 425) Das Werk ist im zu Beginn stark definitorisch weil Weber als gelernter Jurist versucht, zunächst Begrifflichkeiten aus der Soziologie genau zu definieren und voneinander abzugrenzen, bevor er die konkreten Zusammenhänge dieser Konstrukte erläutert und in die Tiefe geht. Wesentliche Definitionen, speziell hinsichtlich der Typen der Herrschaft und im Kontext der später zu erörternden Disziplinargesellschaft sind folgende: Definitionen • „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung 3 Seminararbeit „Sozialwissenschaftliche Makrotheorien“ - Sommersemester 2008 - Gerald Czech (9000325) den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“2 (Weber 2006, S. 62) • „Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“ (Weber 2006, S. 62) von Menschen zu finden.“ (Weber 2006, S. 62) „Der Begriff der ‚Disziplin‘ schließt die ‚Eingeübtheit‘ des kritik- und widerstandslosen Massengehorsams ein.“ (Weber 2006, S. 62) Im dritten Teil der Monographie erläutert er die Wichtigkeit dieses Begriffs Eine weitere Definition von Herrschaft für die Machtausübung: „Von allen je- gibt Weber im dritten Teil seines nen Gewalten aber, welche das indivi- Buchs: »Unter „Herrschaft“ soll hier duelle Handeln zurückdrängen, ist die also der Tatbestand verstanden wer- unwiderstehlichste eine Macht, welche den,: daß ein bekundeter Wille („Be- neben dem persönlichen Charisma fehl“) des oder der „Herrschenden“ das auch die Gliederung nach ständischer Handeln anderer (des oder der „Be- Ehre entweder ausrottet oder doch in herrschten“) beeinflussen will und tat- ihrer Wirkung rational umformt: die sächlich in der Art beeinflußt, daß dies rationale Disziplin“ (Weber 2006, S. Handeln, in einem sozial relevanten 1034) Grade, so abläuft, als ob die Beherrschten den Inhalt des Befehls, um Typen der Herrschaft seiner selbst willen, zur Maxime ihres Weber unterscheidet drei Typen legiti- Handeln gemacht hätten („Gehor- mer Herrschaft, die er als rational, tra- sam“)« (Weber 2006, S. 918) ditional und charismatisch bezeichnet. Diese Definition erinnert stark an die Während die rationale Herrschaft auf im ersten Teil, allerdings ist sie bei dem „Glauben an die Legalität gesatz- weitem nicht so präzise. ter Ordnungen und des Anweisungs- Eine weitere soziologische Kategorie, deren Definition hier von Bedeutung ist, ist die Disziplin: „Disziplin soll heißen die Chance, kraft eingeübter Einstellung für einen Befehl prompten, automatischen und schematischen Gehorsam bei einer angebbaren Vielheit rechts“ beruht, führt er die traditionale Herrschaft auf den „Alltagsglauben an die Heiligkeit von Traditionen und die Legitimität der durch sie zur Autorität Berufenen“ zurück. Charismatische Herrschaft beruht nach Weber auf „ausseralltäglicher Hingabe an die Heiligkeit oder die Heldenkraft oder die Vorbildlichkeit einer Person und der 2 durch sie offenbarten oder geschaffe- Später im Buch meint Weber allerdings: „Herrschaft ist ein Sonderfall von Macht“ Weber 2006a, S. 975 – sie sei auch, „eines der wichtigsten Elemente des Gemeinschaftshandelns“. Weber 2006a, S. 975 nen Ordnung“. (Weber 1990, S. 124) Typen der Herrschaft 4 Seminararbeit „Sozialwissenschaftliche Makrotheorien“ - Sommersemester 2008 - Gerald Czech (9000325) Diese Typologie beruht auf Webers „Im Fall der satzungsmäßigen Herr- Einteilung der unterschiedlichen Arten schaft wird der legal gesatzten sachli- sozial zu handeln: „Wie jedes Handeln chen unpersönlichen Ordnung und kann auch das soziale Handeln be- dem durch sie bestimmten Vorgesetz- stimmt sein 1. zweckrational: durch ten kraft formaler Legalität seiner An- Erwartungen des Verhaltens von Ge- ordnungen und in deren Umkreis ge- genständen der Außenwelt und von horcht. Im Fall der traditionalen Herr- anderen Menschen und unter Benut- schaft wird der Person des durch Tra- zung dieser Erwartungen als »Bedin- dition berufenen und an die Tradition gungen« oder als »Mittel« für rational, (in deren Bereich) gebundenen Herrn als Erfolg, erstrebte und abgewogene kraft Pietät im Umkreis des Gewohnten eigne Zwecke, – 2. wertrational: durch gehorcht. Im Fall der charismatischen bewußten Glauben an den – ethischen, Herrschaft wird dem charismatisch ästhetischen, religiösen oder wie im- qualifizierten Führer als solchem kraft mer sonst zu deutenden – unbedingten persönlichen Vertrauens in Offenba- Eigenwert eines bestimmten Sich- rung, Heldentum oder Vorbildlichkeit verhaltens rein als solchen und unab- im Umkreis der Geltung des Glaubens hängig vom Erfolg, – 3. affektuell, ins- an dieses sein Charisma gehorcht.“ besondere emotional: durch aktuelle (Weber 1990, S. 124) Affekte und Gefühlslagen, – 4. traditional: durch eingelebte Gewohnheit.“ (Weber 2006, S. 32) Diese vier verschiedenen Handlungstypen finden sich in den Typen der Herrschaft wie folgt wieder: die rationale Herrschaft beruht auf dem zweckrationalen Handeln, der Ratio; die traditionalistische Herrschaft beruht auf dem Legale Herrschaft und Bürokratie Als „legale Herrschaft mit bureaukratischem Verwaltungsstab“ bezeichnet Max Weber den Idealtypus der rationalen Herrschaft. Folgende Grundlagen gelten nach Weber damit sich legale Herrschaft entwickeln kann: traditionalen Handeln und die Charis- Es existiert ein "gesatztes Recht"; die- matische Herrschaft auf dem wertrati- ses wird auch eingehalten; Recht ist onalen Handeln. Eine Herrschaft auf- ein Satz abstrakter Regeln, die auch grund affektuellen Handelns erscheint angewendet werden. Die Verwaltung nicht erstrebens- bzw. realisierenswert, als „rationale Pflege von Interessen“ Weber selbst meint auch, dass streng hat ebenso festgeschriebene Ordnun- affektuelles Handeln an der Grenze gen. Der Vorgesetzte hält sich an die dessen stünde, was man als „sinnhaft“ selben Regeln, wie der Untergebene, bezeichnen könnte. (vgl. Weber 2006, der "dem Recht" und nicht dem Vorge- S. 32) setzten gehorcht. Die Macht des Vorgesetzten ist daher auf seinen "gesatzLegale Herrschaft und Bürokratie 5 Seminararbeit „Sozialwissenschaftliche Makrotheorien“ - Sommersemester 2008 - Gerald Czech (9000325) ten" Zuständigkeitsbereich beschränkt. Amtshierarchie fixe Kompetenzen. Sie (vgl. Weber 1990, S. 125) sind vertraglich nach ihrer fachlichen Als Jurist war für Max Weber die Büro- Eignung beschäftigt und beziehen ein kratie der Idealtypus der legalen und fixes Gehalt. Das Amt ist ihr einziger rationalen Herrschaft. Dies legte er Hauptberuf und sieht eine Laufbahn auch entsprechend deutlich dar: Als bzw. Karriere vor, die Amtsmittel sind „geronnenen Geist“ (Weber, Kaesler getrennt und der Beamte unterliegt 2004, S. 16) bezeichnete er die Büro- einer Amtsdisziplin. (vgl. Weber 1990, kratie3. S. 126f) „Der reinste Typus der legalen Herr- Wesentlich an Webers idealer Konzep- schaft ist diejenige mittels bureaukrati- tion der Bürokratie ist der hauptberufli- schen Verwaltungsstabs. Nur der Leiter che Beamte, der vom Staat Geld als des Verbandes besitzt seine Herren- Ausgleich für seine Leistungen erhält. stellung entweder kraft Appropriation Das war früher – speziell auch in ande- oder kraft einer Wahl oder Nachfolger- ren Herrschaftstypen - nicht immer designation. Aber auch seine Herren- üblich. Erst diese geregelte Bezahlung befugnisse sind legale »Kompeten- durch den Dienstherren führt auch da- zen«.“ (Weber 1990, S. 126) zu, dass der Beamte keine eigene ökonomische Machtbasis aufgrund seines Diese Art der Herrschaftsausübung, nämlich die rationale und legale Herrschaft mit der Bürokratie als Herrschaftsmittel, ist im Sinne Webers der Idealtyp, weil der bürokratische Verwaltungsstab eine „Präzisionsinstru- Amts hat, beispielsweise von den eingenommenen Gebühren oder Mautzahlungen leben muss, und damit dem weisungsbefugten Vorgesetzten zur absoluten Gehorsamkeit verpflichtet wird. (vgl. Mayntz 1997, S. 62) ment zur Ausübung von Herrschaft“ (Mayntz 1997, S. 63) darstellt Weber erkennt auch die realen Machtverhältnisse innerhalb von bürokrati- Für die Unterhaltung des bürokratischen Apparats benötigt man Beamte, deren Eigenschaften Weber wie folgt beschreibt: Beamte sind persönlich frei und nur an sachliche Amtspflichten gebunden, haben innerhalb einer 3 „Geronnener Geist ist auch jene lebende Maschine, welche die bureaukratische Organisation mit ihrer Spezialisierung der geschulten Facharbeit, ihrer Abgrenzung der Kompetenzen, ihren Reglements und hierarchisch abgestuften Gehorsamkeitsverhältnissen darstellt.“ (Weber, Kaesler 2004, S. 16) schen Organisationen als Gefahren: „Die bureaukratische Verwaltung bedeutet: Herrschaft kraft Wissen: dies ist ihr spezifisch rationaler Grundcharakter. Über die durch das Fachwissen bedingte gewaltige Machtstellung hinaus hat die Bureaukratie (oder der Herr, der sich ihrer bedient), die Tendenz, ihre Macht noch weiter zu steigern durch das Dienst-wissen: die durch Dienstverkehr erworbenen oder Legale Herrschaft und Bürokratie 6 Seminararbeit „Sozialwissenschaftliche Makrotheorien“ - Sommersemester 2008 - Gerald Czech (9000325) »aktenkundigen« Tatsachenkenntnis- tät von irgendeinem ethischen, ästheti- se. Der nicht nur, aber allerdings spezi- schen oder sonstigen Standpunkt aus fisch bureaukratische Begriff des »objektiv« richtig zu bewerten sein »Amtsgeheimnisses« – in seiner Bezie- würde, ist natürlich dabei begrifflich hung zum Fachwissen etwa den kom- völlig gleichgültig: darauf allein, wie sie merziellen Betriebsgeheimnissen ge- tatsächlich von den charismatisch Be- genüber den technischen vergleichbar herrschten, den »Anhängern«, bewer- – entstammt diesem Machtstreben.“ tet wird, kommt es an.“ (vgl. Weber (vgl. Weber 1990, S. 129) 1990, S. 140) Charismatische Herrschaft Ob jemand nun über „Charisma“ ver- Als „Charismatische Herrschaft“ bezeichnet Weber die Art von Machtausübung, die auf dem charismatischen Typ des sozialen Handelns beruht. Der Herrschende wird von den Beherrschten aufgrund besonderer charakterlicher Eigenschaften als Autorität anerkannt. Beispiele dafür aus neuerer Zeit sind sektenartige Vereinigungen. fügt, ergibt sich nur von Seiten der Beherrschten durch Anerkennung der Herrschaft. Als „Legitimation“ werden oft Wunder, Offenbarungen, Heldentum oder andere Ereignisse bzw. Eigenschaften angegeben, die dann das Charisma des Herrschenden in den Zielgruppen der Beherrschten also bei den „Gläubigen“ evozieren. Daher kann es auch leicht passieren, dass die Der Charismaträger führt daher die Grenzen der Herrschaft eines charis- Gläubigen, die Beherrschten um in der matischen Führers auch Grenzen in der Diktion Max Webers zu bleiben, auf- „Kommunizierbarkeit“ des Charismas grund der zuerkannten Fähigkeit zu selbst darstellen, die sich aufgrund von führen. kulturellen oder sprachlichen Grenzen „»Charisma« soll eine als außeralltäg- ergeben. lich (ursprünglich, sowohl bei Prophe- „Diese »Anerkennung« ist psycholo- ten wie bei therapeutischen wie bei gisch eine aus Begeisterung oder Not Rechts-Weisen wie bei Jagdführern wie und Hoffnung geborene gläubige, ganz bei Kriegshelden: als magisch bedingt) persönliche Hingabe.“ (Weber 1990, S. geltende Qualität einer Persönlichkeit 140) heißen, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem andern zugänglichen Kräften oder Eigenschaften oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als »Führer« gewertet wird. Wie die betreffende Quali- Dieser Herrschaftstyp ist – zumindest in seiner reinen Form - inkompatibel zu vielen anderen kulturellen Phänomenen. Beispielsweise die „gesatzte Ordnung“ einer Bürokratie widerspricht der Vorgangsweise der freien „Eingebung“ des Herrschenden und schränkt die Charismatische Herrschaft 7 Seminararbeit „Sozialwissenschaftliche Makrotheorien“ - Sommersemester 2008 - Gerald Czech (9000325) Handlungsfähigkeit und damit auch die geglaubt wird auf Grund der Heiligkeit Glaubwürdigkeit des Herrschenden ein. altüberkommener (»von jeher beste- Auch die Grundlagen der freien Markt- hender«) Ordnungen und Herrenge- wirtschaft passen nicht zur charismati- walten. Der Herr (oder: die mehreren schen Herrschaft: „Reines Charisma ist Herren) sind kraft traditional über- spezifisch wirtschaftsfremd. Es konsti- kommener Regel bestimmt. Gehorcht tuiert, wo es auftritt, einen »Beruf« im wird ihnen kraft der durch die Tradition emphatischen Sinn des Worts: als ihnen zugewiesenen Eigenwürde.“ »Sendung« oder innere »Aufgabe«. Es (Weber 1990, S. 130) verschmäht und verwirft, im reinen Bereits Weber erkennt, dass auch tra- Typus, die ökonomische Verwertung ditionale Herrschaft in gewissen Gren- der Gnadengaben als Einkommens- zen abläuft. Auch der noch so autoritä- quelle, – was freilich oft mehr Anforde- re Führer kann seine Untergebenen rung als Tatsache bleibt.“ (Weber nur bis zu einem bestimmten Level 1990, S. 142) quälen, bevor die Beherrschten die Interessant ist in jedem Falle die Tat- Herrschaft selbst in Frage stellen wür- sache, dass Weber in diesem Herr- den und einen Tausch des Herrschen- schaftstyp bereits einige Jahre vor der den (nicht des Herrschaftssystems) Machtübernahme der Nationalsozialis- anzetteln würden: ten deren spätere Herrschaft und die „Die tatsächliche Art der Herrschafts- damit verbundenen Mechanismen rela- ausübung richtet sich darnach: was tiv gut und deutlich beschrieben hat. üblicherweise der Herr (und sein Verwaltungsstab) sich gegenüber der tra- Traditionale Herrschaft ditionalen Fügsamkeit der Untertanen Anders als bei der legalen Herrschaft gestatten dürfen, ohne sie zum Wider- erfolgt gehorsam in der traditionalen stand zu reizen. Dieser Widerstand Herrschaft nicht aufgrund gesatzten richtet sich, wenn er entsteht, gegen Rechts, sondern aufgrund von Traditi- die Person des Herrn (oder: Dieners), onen, die entweder auch vom Herr- der die traditionalen Schranken der schenden so empfunden werden, oder Gewalt mißachtete, nicht aber: gegen von ihm frei und willkürlich ausgelegt das System als solches (»traditionalis- werden. Daher unterscheidet Weber tische Revolution«).“ (vgl. Weber 1990, auch das „material traditionsgebunde- S. 130f) ne Herrenhandeln“ vom „material traditionsfreien Herrenhandeln“. (vgl. Weber 1990, S. 130) Traditionale Herrschaften waren in Europa lange Jahrhunderte der Standard und wurden erst im 19. oder 20. jahr- „Traditional soll eine Herrschaft heißen, hundert durch legale Herrschaftstypen wenn ihre Legitimität sich stützt und ersetzt. Traditionale Herrschaft 8 Seminararbeit „Sozialwissenschaftliche Makrotheorien“ - Sommersemester 2008 - Gerald Czech (9000325) Wesentliche Aspekte der Weberschen Herrschaftstypen Parlamentarische Kontrolle zu bringen. Weber zufolge benötigt jede Art der Anders, als später beispielsweise Fou- Machtausübung in Form von Herrschaft cault sieht Weber die Herrschaft aus zur kontinuierlichen Entwicklung einen der Sicht des Herrschenden, der zu- Verwaltungsstab. Dieser ist immer zum meist in Form einzelner Personen also Teil von der Herrschaft abgegrenzt um mehr oder weniger demokratisch legi- eigenen Interessen nachzugehen. Bei- timierten AkteurInnen besetzt wird. Die spielsweise verursacht der Stab bei der Herrschafts-Untergebenen-Hierarchien charismatischen Herrschaft, durch "Ve- sind zumeist einfach strukturiert und ralltäglichung" schlussendlich die Zer- eindeutig zuordenbar. Auch das Modell störung der Herrschaft, bei traditiona- der Gesellschaft ist bei Weber ein klar listischen Herrschaft versuchen sich die hierarchisches, das eindeutig oben und Lehensleute sich der fürstlichen Verfü- unten kennt und zuordenbar ist. gungsgewalt zu entziehen. Bei der le- Disziplin als gesellschaftliches Phänomen galen Herrschaft versucht der bürokra- (vgl. Mayntz 1997, S. 29f) tische Verwaltungsstab laufend, seine Befugnisse zu vergrössern und damit auch an Einfluß zu gewinnen4. (vgl. Mayntz 1997, S. 62) Dass Disziplin nicht nur eine Kategorie für konservative Denker darstellt, sondern in spezieller Weise ein wichtiger Bestandteil für das darstellt, dass man Für Karl Marx war die bürokratische Herrschaft ein Zeichen des Klassenge- Gesellschaft nennt, beweist folgendes Zitat: gensatzes und daher als bürgerliche Klassenherrschaft zu bekämpfen und zu zerschlagen. Weber war (obwohl selbst Jurist) durchaus auch bürokratiekritisch - so bezeichnete er die Bürokratie in seinem Spätwerk als "stahlhartes Gehäuse der neuen Hörigkeit" und führte aus, dass sie zu Innovationsfeindlichkeit neigt. Als Lösung schlug er allerdings vor, die Verwaltung zu Demokratisieren und unter „Jede Körperschaft, jede größere Gemeinschaft, die auf der Mitwirkung mehrerer Einzelmenschen beruht, bedarf der Disziplin, d.h. der Unterordnung des einzelnen, ohne die ein Zusammenwirken unmöglich ist. Ohne Disziplin wäre kein Fabrikbetrieb, kein Schulunterricht, kein Militär und kein Staat möglich.“ (Luxemburg 2000, S. 15) Max Weber versteht Disziplin als Herr- 4 Man merkt, dass lediglich das legale System durch die Bürokratie eine selbststabilisierende Tendenz hat, während die anderen Herrschaftstypen laufenden Aufwand von Seiten der Herrschaft benötigen, die eigene Position gegenüber dem Verwaltungsstab erneut zu festigen. schaftsinstrument, das sozusagen als Schnittstelle am Individuum für die Herrschaftsausübung dient. Die Selbstdisziplinierung stellt sich "in den Dienst Wesentliche Aspekte der Weberschen Herrschaftstypen 9 Seminararbeit „Sozialwissenschaftliche Makrotheorien“ - Sommersemester 2008 - Gerald Czech (9000325) der Fremdbestimmung". Ein Zusam- es zu einer Arbeitsteilung, zur „techni- menhang zwischen der inneren Selbst- schen Unterordnung des Arbeiters un- disziplinierung und der äußeren Diszip- ter den Gang des Arbeitsmittels“ die linierungsstruktur entsteht nach Weber den Arbeiter zu einer „kasernenmässi- durch die "rationalen" Herrschaftsap- gen Disziplin“ zwingt, die Arbeiter wer- parate und ihre Verwaltungsstäbe (Bü- den zu „gemeinen Industriesoldaten“, rokratien) als soziale Strukturen. Der die Vorarbeiter zu „Industrieunteroffi- moderne Mensch wird in der rationalen zieren“. (Karl Marx, 1983 446f zit in: Herrschaftsstruktur zu einem "Räd- Hillebrandt 2000, S. 105f) chen" der Maschine Gesellschaft, dessen Aufgabe festgelegt und normiert ist. Die Disziplinierung und Internalisie- Norbert Elias beschreibt in seiner Sozialisierungstheorie den Zusammenhang von Soziogenese - der Änderung rung dieser Strukturen führt - so We- von sozialen Institutionen - und Psy- bers ernüchternde Diagnose - dazu, chogenese - der Änderung der indivi- dass dieses Ziel auch als erstrebens- duellen Psychostruktur der AkteurIn- wert verstanden wird, und die indivi- nen. Erst die Internalisierung der so duellen Ziele der gesellschaftlichen Ak- genannten "Affektkontrolle", also der teurInnen sich darauf beschränken, Disziplin und der Unterordnung indivi- vielleicht zu einem größeren und ein duellen Akteurshandelns unter die Ge- wenig wichtigeren Rädchen im "stahlharten Gehäuse" zu werden. Eine mögliche Lösung dieser Problema5 samtinteressen der Gesellschaft, schafft die notwendige Stabilität zur Differenzierung komplexerer Sozial- tik sah Max Weber im Charismati- strukturen. Dieser Einbau der gesell- schen Typ der Herrschaft. Ob diese schaftlich notwendigen Selbstkontroll- Alternative angesichts der Verbrechen strukturen in die Psychostruktur der der NS-Diktatur als erstrebenswert ein- Akteure wird Psychogenese genannt zuschätzen ist, muss sich der Leser/die und ist gleichzeitig Voraussetzung und Leserin selbst im Klaren sein. (vgl. Hil- weiterer Grund für die Weiterdifferen- lebrandt 2000, S. 113f) zierung der gesellschaftlichen Verände- Karl Marx wiederum bewertet Disziplin rungen, die Elias als Soziogenese be- als Zwangsmechanismus, der die Frei- zeichnet hat. Disziplin ist daher aus heit des einzelnen einschränkt. Durch Sicht von Norbert Elias gleichzeitg "ge- die Herrschaft der Kapitalisten kommt sellschaftstragende Struktur" und individuelles Phänomen. (vgl. Hillebrandt 5 Weber hatte allerdings eher die Ende des 19. Jahrhunderts doch verklärte Napoleonische Variante der charismatischen Herrschaft im Auge und nicht das später nach den selben Mechanismen agierende verbrecherische Nationalsozialistische Regime in Deutschland und Österreich 2000, S. 107f) Disziplin ist als „ein auf Ordnung bedachtes Verhalten“ die Grundlage für die Sicherung der komplexeren Gesell- Disziplin als gesellschaftliches Phänomen 10 Seminararbeit „Sozialwissenschaftliche Makrotheorien“ - Sommersemester 2008 - Gerald Czech (9000325) schaftsordnung. Während in früheren "In zwölf Semestern Studium an der Zeiten externe Disziplinierungsinstituti- Pariser École normale supérieure onen - zunächst in Mitteleuropa in brachte der Sohn eines Mediziners es Form der kirchlichen Strukturen, in auf drei Abschlüsse (Philoso- späterer Zeit auch durch Herrschaftli- phie/Psychologie) sowie zwei Selbst- che und dann auch durch staatliche mordversuche." (Barth 2004) Organe - diese Ordnung auf niedrige- Michel Foucault erklärt die Disziplin rem Niveau aufrechterhalten haben, über seinen spezifischen Machtbegriff. geht die Tendenz der modernen Industriestaaten zur Internalisierung dieser dezentralen Disziplinierungsstrukturen in die vergesellschafteten Individu- Macht selbst ist kein Privileg von Personen oder Personengruppen, weil es keinen Machtfreien Raum gibt. Wissen und Macht sind genuin miteinander en. (vgl. Hillebrandt 2000, S. 102f) verknüpft, dadurch entfaltet Macht Michel Foucaults Machtbegriff neben repressiver Wirkungen auch Michel Foucault wurde 1926 in Poitiers (F) geboren und starb 1984 in Paris. produktive Kräfte. (vgl. Hillebrandt 2000, S. 117) „Die von Foucault proklamierte ‚Mikro- (Müller 2002a) Er war eine politisch und im Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften zeit seines Lebens umstrittene Gestalt, seine Thesen wurden nicht von allen unumstritten zur Kenntnis genommen. Speziell auch sein radikaler Lebenswandel – er machte beispielsweise auch keinen Hehl aus seiner Homosexualität6 – führte oftmals dazu, dass sein Werk nicht die Anerkennung bekam, die es verdiente. Er wurde vielfach als „linker Philosoph“ mißverstanden, obwohl er selbst auch aus der kommunistischen Partei ausgetreten war und in kritischem Abstand zur Ideologielastigkeit der Linken 1968-er Bewegung stand. Vgl. (vgl. Müller 2002a) physik der Macht’ wirkt durch kleinste Elemente, sie wirkt als Netz, das die Familie, sexuelle Beziehungen, Wohnverhältnisse, Schule, Krankenhäuser, Psychiatrie, Gefängnisse etc. als Feld von Kräfteverhältnissen und MachtWissens-Techniken begreift. Die Macht ist mithin keineswegs, wie Marxisten glauben, im Besitz einer bestimmten Klasse angesiedelt, und sie kann auch nicht einfach durch den Sturm auf ihr Zentrum erobert werden. Daher lässt sich Macht auch nicht einfach mit ökonomischer Macht gleichsetzen. Sie ist nicht ‚monolithisch’ und wird somit nicht von einem einzelnen Punkt aus kontrolliert“. (Barth 2004) Macht wird als "Vielfältigkeit von Kräf- 6 Michel Foucault gilt auch als einer der ersten prominenten AIDS-Toten, der sich selbst wohl infiziert hat, bevor die Immunschwächekrankheit als solche bekannt geschweige denn im Detail erforscht war. teverhältnissen" beschrieben, die als „Spiel, das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen diese Kräf- Michel Foucaults Machtbegriff 11 Seminararbeit „Sozialwissenschaftliche Makrotheorien“ - Sommersemester 2008 - Gerald Czech (9000325) teverhältnisse verwandelt, verstärk, nisiert die Disziplin einen "analyischen verkehrt“; „indem sie sich zu Systemen Raum", der Leistungsfähigkeit der In- verketten“ verstärken und isolieren dividuen steigert und "die Körper der sich diese Kräfteverhältnisse. Macht Individuen auf Funktionen reduziert". selbst kann man nicht besitzen, sie ist (Hillebrandt 2000, S. 118) ein Phänomen, „was sich in unzähligen Punkten aus und im Spiel ungleicher und beweglicher Beziehungen vollzieht“. ( Foucault 1983, S113; S115 zit. in Hillebrandt 2000, S. 117) An der Art, wie Soldaten ausgebildet wurden, wie sie equipiert waren, und wie uniformiert erklärt Michel Foucault zunächst die Unterschiede in der Gesellschaft, die sich am Übergang zur Für die gesellschaftsstrukturierende Europäischen Moderne im 18. Jahr- Kraft der Disziplin bedarf es Wissens, hundert abgespielt haben, als die mo- das kategorisiert vorliegt und erst auf- derne Gesellschaft entstand. Auch die grund dieser "Gegenstandsbereiche Bestrafung, die davor oft noch als und Wahrheitsrituale" (Foucault 1977: Gaudium für die Bevölkerung und zur 250 zit. in Hillebrandt 2000, S. 119) Manifestation der Herrschaftlichen das Individuum und seine Erkenntnisse Macht cora publico am Körper des De- produziert. linquenten durchgeführt wurde und „Über diese theoretische Bestimmung daher als "peinliche Strafe" bezeichnet entwickelt sich Macht in Foucaults wird, wandert in die Gefängnisse, wo Theorie zur Schlüsselkategorie der Re- statt des Körpers immer mehr der produktion des Sozialen.“ (Hillebrandt Geist der Bestraften Ziel des justitiellen 2000, S. 117) Handeln ist. (vgl. Foucault 2004, S. 173–175) Die Disziplinen und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen Anhand unterschiedlicher gesellschaftlicher Institutionen, der Schule, der Fabrik, des Spitals oder des Klosters, Die Techniken der Disziplin sind für die man mehr oder minder auch als Foucault wichtige Transformationsstel- totale Institutionen bezeichnen könnte, len für Macht innerhalb der Gesell- schildert Foucault die vier grundlegen- schaft. Als wesentlich sieht er im histo- den Disziplinierungspraktiken der Ver- rischen Prozess der Entwicklung unse- teilung von Individuen im Raum: die rer modernen Mitteleuropäischen Ge- Klausur, also das Einschließen der ge- sellschaft die Geburt des Gefängnisses. samten Institution und damit die Ab- Hier werden die Techniken der Diszip- trennung von schädlichen und nicht linierung angewendet, in dem die Kör- steuerbaren Einflüssen von außen; die per räumlich aufgeteilt und parzelliert Parzellierung, also die kleinräumige werden, durch die Einschließung orga- Strukturierung der Individuen auf ein- Die Disziplinen und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen 12 Seminararbeit „Sozialwissenschaftliche Makrotheorien“ - Sommersemester 2008 - Gerald Czech (9000325) zelne und klar zuordenbare Plätze, die schaft kommt es dazu, dass diese zur eine Anwesenheitskontrolle genauso "gesellschaftstragenden Struktur" wer- zulassen, wie die Steuerung von Kom- den. munikation; Die Zuweisung von Funktionsstellen, also die klare Zuordnung "Es kommt zu einer für die Individuen unsichtbaren Biopolitik der Macht, die der zuvor parzellierten Individuen auf in die letzten Poren der Gesellschaft einzelne Funktionen innerhalb der je- eindringt, ohne daß es für die Indivi- weiligen Institution; die Einführung von duen eine Möglichkeit gibt, dieser Mik- Rängen und Rangfolgen zur weiteren Strukturierung der Individuen neben rophysik der Macht zu entrinnen." (Hillebrandt 2000, S. 120f) der örtlichen Zuteilung. (vgl. Foucault 2004, S. 180–190) „Der erwartete Besserungseffekt resul- Das Panopticon als Metapher für die Gesellschaft tiert weniger aus Sühne und Reue als „Der perfekte Disziplinapparat wäre vielmehr direkt aus der Mechanik einer derjenige, der es einem einzigen Blick Dressur. Richten ist Abrichten “ (Fou- ermöglichte, dauernd alles zu sehen. cault 2004, S. 232) Ein zentraler Punkt wäre zugleich die Analog zur geographischen Disziplinierungspraxis nimmt die zeitliche Orientierung ebenso einen wesentlichen Platz ein. Regelmäßigkeit, Pünktlichkeit und zeitliche Zuordnung sind ebenso Teil dieser Mechanismen, wie die kom- Lichtquelle, die alle Dinge erhellt, und der Konvergenzpunkt für alles, was gewußt werden muss: ein vollkommenes Auge der Mitte, dem nichts entginge und auf das alle Blicke gerichtet wären“ (Foucault 2004, S. 224) plette Ausfüllung des verfügbaren Zeit- Das Panopticon ist die architektonische raums mit disziplinierter Tätigkeit. Das Umsetzung des Prinzips der totalen Nichts-Tun, der so genannte Müßig- Disziplinierung der eingeschlossenen gang wird verhindert, der gesamte Individuen durch eine immerwährende, Tag, das gesamte Leben ist durch unsichtbare und amorphe Überwa- Stundenpläne eingeteilt. (vgl. Foucault chungsmacht, das Bentham Ende des 2004, S. 190–195) 18. Jahrhunderts als Strafanstalt ge- „Diese Methoden, welche die peinliche Kontrolle der Körpertätigkeiten und die dauerhafte Unterwerfung ihrer Kräfte ermöglichen und sie gelehrig/nützlich machen, kann man die »Disziplinen« nennen.“ (Foucault 2004, S. 175) plant aber nie in realiter umgesetzt hat. In einem Ringförmigen Gebäudekomplex sind die Zellen an der Aussenfläche angeordnet und werden vom runden Innenhof, genau im Mittelpunkt des Ringes überwacht. Vom zentralen Überwachungsturm blickt man unbe- Durch das Eindringen der Disziplinar- merkt in die nach innen durchsichtigen techniken in alle Bereiche der Gesell- Zellen, die in Form von Segmenten Das Panopticon als Metapher für die Gesellschaft 13 Seminararbeit „Sozialwissenschaftliche Makrotheorien“ - Sommersemester 2008 - Gerald Czech (9000325) angeordnet sind. (vgl. Foucault 2004, Interessant ist die Camouflage der Dis- S. 256–261) ziplinstruktur, die sich unter dem Konzept "Steigerung der individuellen „Daraus ergibt sich die Hauptwirkung Freiheit" internalisieren lässt, um des Panopticon: die Schaffung eines schlussendlich durch diese gleichge- bewußten und permanenten Sichtbarkeitszustands beim Gefangenen, der schalteten Selbstdisziplinierungen zur das automatische Funktionieren der Massendisziplinierung zu führen, also Macht sicherstellt.“ (Foucault 2004, S. genau die zuvor vorgetäuschte "individuelle Freiheit" .wieder zu zerstören. 258) (vgl. Hillebrandt 2000, S. 122) Die laufende potentielle Kontrolle, das gesellschaftsimmanente unsichtbare Resümee Panopticon führt zur Notwendigkeit, Ging Max Weber Anfang des 20. Jahr- sich selbst zu disziplinieren. hunderts noch von ganz deutlichen Laufende Kontrolle und permanente Strukturen der Herrschaft aus, es für Überwachung sind Disiziplinierungs- alle Beteiligten immer ganz klar, wer techniken und Mittel der guten Abrich- Herrschender ist, und wer Beherrsch- tung von Individuen. Das so genannte ter, so verändert sich diese Perspektive "panoptische Prinzip" ist die ultima ra- auf die Gesellschaft im Laufe des 20. tio dieser Disziplinierungen. Permanen- Jahrhunderts bis zur postmodernen te potentielle Überwachung durch die Betrachtung Michel Foucaults sehr abstrakte Kontrollinstanz, die das Indi- deutlich. viduum selbst nicht erkennen vermag Stellt Weber noch die Zweckrationalität führen dazu, dass die Überwachten die in den Mittelpunkt seiner Betrachtun- Disziplin internalisieren und zu Subjek- gen, so ist der Zweck und die Ratio des ten werden. Erst diese Genese des In- Individuums keine Kategorie im Den- dividuums erlauft die Produktion des ken Foucaults. Herrschaftsmechanis- Wissens über sich selbst und damit die men verschwimmen, das „Oben“ und Möglichkeit sich als Subjekt der panop- „Unten“, das bei Max Weber noch er- tischen Kontrolle des Objekts zu ent- kennbar war – jene klare und eindeuti- ziehen. (vgl. Hillebrandt 2000, S. 119) ge Zuordnung der Aufgaben für jeden "Individualisierung ist für Foucault die Akteur innerhalb der Gesellschaft - ist moderne Form der Disziplinierung, oh- in Foucaults multilateraler und dezen- ne die die moderne Konstitution der traler Machtstruktur nicht mehr er- modernen Gesellschaft als Disziplinar- kennbar. gesellschaft nicht möglich ist." (Hil- Waren einst die Disziplinierenden lebrandt 2000, S. 120f) Strukturen, Richter im Auftrag der Herrschenden klar zu erkennen, so verwandelte sich die Realität hin zu Resümee 14 Seminararbeit „Sozialwissenschaftliche Makrotheorien“ - Sommersemester 2008 - Gerald Czech (9000325) anonymen Disziplinierungsorganen, die als Teilaufgabe von vielen Institutionen der Gesellschaft mit erledigt werden. Mit dem Wandel der Strukturen, der einher geht mit einer Steigerung der Komplexität von Gesellschaftsimmanenten Beziehungsgeflechten, muss sich auch der Mensch selbst ändern. Waren zu Beginn der Moderne noch externe Disziplinierungsmechanismen ausreichend, die geringe Komplexität der Gesellschaft zu strukturieren, benötigt man im 21. Jahrhundert intrinsische Disziplinierungsstrukturen, getarnt als individuelle Befreiung, um der modernen hochkomplexen Gesellschaft Rechnung zu tragen. Welche Änderungen in der Struktur die moderne Disziplinargesellschaft noch benötigt, um sich der weiterhin unaufhaltbaren Komplexitätssteigerung innerhalb der Gesellschaft anzupassen, ist aus heutiger Sicht nicht zu beantworten. Doch eines ist sicher, Veränderungen werden weiterhin notwendig sein. Resümee 15 Seminararbeit „Sozialwissenschaftliche Makrotheorien“ - Sommersemester 2008 - Gerald Czech (9000325) Von der funktional stabilisierten sozialen Ordnung zur „funktional differenzierten Gesellschaft“ sellschaft wurde. (vgl. Schülein, Brun- Talcott Parsons’ Strukturfunktionalismus entwickelt werden […], die sich ganz Talcott Parsons (geboren 1902) war US-Amerikaner und Sohn eines protestantischen Geistlichen und einer Frau- ner 2001a, S. 91f) „Menschliches Handeln ist »kulturell«, insofern auf Handlungen bezogene Sinnbedeutungen und Intentionen allein auf das universelle Merkmal menschlicher Gesellschaften, die Sprache, konzentrieren.“ (Parsons 1975, S. 14) enrechtlerin, der zunächst in den USA Parsons teilt in seiner Theorie die un- Biologie studierte um dann einen Ab- terschiedlichen organisierten Formen schluss der Wirtschaftswissenschaften der Interaktionen, des menschlichen zu erlangen. An der London School of Handelns in vier differenzierte so ge- Economics (LSE) studierte er im An- nannte Systeme ein: den Organismus; schluss Nationalökonomie, eine Ausbil- das gelernte Verhaltenssystem, die dung, die er 1927 in Heidelberg - einer Persönlichkeit; das kulturelle System der früheren Wirkungsstätten Max We- und als vierte Ebene das Sozialsystem, bers - mit seiner Dissertation über Ka- das die sozialen Beziehungen organi- pitalismus abschloss. Danach war er an siert. (vgl. Parsons 1975, S. 15–16) der Harvard University in Cambridge, Das AGIL-Schema USA zunächst im Bereich der Ökonomie und anschließend ab 1931 im Bereich der Soziologie tätig. 1979 starb Parsons in München im Zuge einer Deutschlandreise, die er anlässlich des 50. Jahrestags seiner Promotion unter- Gesellschaften sind nach Parsons Handlungssysteme. Für Handlungssysteme gilt, dass diese vier verschiedene Grundfunktionen erfüllen müssen: 1. Anpassung an die Umweltbedingungen und Gewinnung von er- nahm. (vgl. Müller 2002b) forderlichen Ressourcen (Adopti- Talcott Parsons greift in seiner Theorie on):„[…] seine allgemeinere An- sowohl auf die Ideen von Max Weber, passung an die generellen Bedin- als auch auf die Konzepte Emile Durk- gungen des Milieus “ (Parsons heims zurück. Der Sinnzusammenhang 1975, S. 17); von sozialem Handeln, wie ihn Weber definiert hat ist ein wesentliches Ele- 2. Zielerreichung des Systems (Goal- ment in seinem zunächst als Hand- Attainment): „ [..] seine Ausrich- lungstheorie ausgelegtem Konzept, das tung auf das Erreichen von Zielen später zu einer Systemtheorie der Ge- in bezug auf das Milieu“ (Parsons 1975, S. 17); Talcott Parsons’ Strukturfunktionalismus 16 Seminararbeit „Sozialwissenschaftliche Makrotheorien“ - Sommersemester 2008 - Gerald Czech (9000325) 3. 4. Innere Einheit und Verhinderung ständigkeit in bezug auf sein Milieu von zu starken Abweichungen erreicht.“ (Parsons 1975, S. 19) (Integration): „die innere Integra- Die Gesellschaft ist in Parsons Struktur tion des Systems“ (Parsons 1975, das soziale System. Diese gliedert sich S. 17); - ganz im Sinne eines fraktalen Musters Erhalten der Grundstruktur und - erneut in vier Unterstrukturen, die damit Bewahrung von Kontinuität erneut die vier Grundfunktionen des (Latency): „[…] alles was mit der AGIL-Modells erfüllen müssen: Wirt- Aufrechterhaltung der höchsten schaftssystem zur Anpassung, politi- »regierenden« oder kontrollieren- sches System zur Zielerreichung, Nor- den Formen des Systems zu tun men und Regeln als Integrationsfunk- hat“ (Parsons 1975, S. 17) tion und die Kultur und die Werte zur Aus diesen vier Grundfunktionen, besser gesagt aus den Anfangsbuchstaben Strukturerhaltung. Natürlich kann man nun das Wirtschaftssystem selbst wieder aus der Perspektive der vier zu von Parsons' englischsprachigen Be- erfüllenden Funktionen sehen und er- zeichnungen: Adoption, GoalAttainment, Integration, Latency, entsteht das Akronym AGIL, das dem Ge- neut strukturieren. Produktionstechnik wäre beispielsweise das Subsystem zur Anpassung, die Wirtschaftspolitik dient samtmodell schließlich den Namen gab: AGIL-Modell (vgl. Schülein, Brun- der Zielerreichung, das Wirtschaftsrecht der Integration und die Wirt- ner 2001a, S. 92) schaftskultur der Strukturerhaltung. Aus diesen Grundfunktionen von Hand- (vgl. Schülein, Brunner 2001a, S. 93) lungssystemen konstruiert Parsons nun unterschiedliche Subsysteme, die ge- Letzte Realität nau diese vier Funktionen - jedes ge- Die unterschiedlichen Teilsysteme bil- nau eine davon - erfüllen: Der Orga- den für jedes dieser Subsysteme auch nismus (Anpassung), die Persönlichkeit das Milieu, von dem sich diese im Sin- (Zielverwirklichung), das soziale Sys- ne der Differenzierung auch abzugren- tem (Integration), das kulturelle Sys- zen haben. tem (Strukturerhaltung). Er gibt seiner funktionalistischen Theorie damit auch die Struktur. (vgl. Schülein, Brunner Die so genannte "letzte Realität" bildet ein eigenes Milieu oberhalb sämtlicher Systeme, an dem sich sozusagen alles 2001a, S. 93; Parsons 1975, S. 17) ausrichten kann. So hat beispielsweise „Eine Gesellschaft ist ein Typus des das Sozialsystem fünf verschiedenen Sozialsystems innerhalb eines Univer- Milieus, mit denen es sich austauscht: sums sozialer Systeme, welches als die letzte Realität, kulturelle Systeme, System den höchsten Grad der Selb- Persönlichkeitssysteme, Verhaltensor- Letzte Realität 17 Seminararbeit „Sozialwissenschaftliche Makrotheorien“ - Sommersemester 2008 - Gerald Czech (9000325) ganismen und das physisch-organische Das Vorhandensein von Rollen ist hier- Milieu. (vgl. Parsons 1975, S. 19f) bei die Schnittstelle der Makrotheorie „Aber welche Stellung ein Legitimationssystem innerhalb dieser Entwicklung auch immer einnimmt, es ist stet angewiesen auf eine - und sinnvoll abhängig von einer - Begründung durch Parsons in die Mikrotheorien der Rollen, wie sie beispielsweise Dahrendorf in seinem Werk „homo sociologicus“ hinreichend beschrieben hat8. (vgl. Parsons 1975, S. 33) geordnete Beziehungen zu einer letz- „Nicht das totale, konkrete Individuum, ten Realität.“ (Parsons 1975, S. 23) sondern die Person in ihrer Rolle ist Nähere Ausführungen zum Konzept der letzten Realität finden sich nicht, Parsons benützt diesen „Notausgang“ um die Ausrichtung und den Sinn des kulturellen Systems zu begründen, das sozusagen Abbilder und „Repräsentati- das Mitglied eines Kollektivs, auch der gesellschaftlichen Gemeinschaft. […] Der pluralistische Charakter der von einer Person beanspruchten Rollen ist eine wichtige Grundlage der soziologischen Theorie und darf nie vergessen onen“ dieser letzten Realität herstellt.7 werden.“ (vgl. Parsons 1975, S. 36) „Das heißt, seine Begründung ist immer im gewissen Sinn eine religiöse.“ Funktionale Differenzierung als Schlüsselkategorie (Parsons 1975, S. 23) Der Übergang zur Moderne führte zur Gesellschaftsstruktur Steigerung der Komplexität in der Die kollektive Organisation bietet den einzelnen Individuen unterschiedliche Rollensets, die mit verschiedenen Rollenerwartungen und -Chancen versehen sind. Diese Rollen werden nun von den Individuen selbstständig eingenommen und ausgefüllt. So wird nach Parsons das Dilemma zwischen Verge- Welt. Nicht mehr eine steuernde Zentralinstanz hat das Macht, Interpretations und Wahrheitsmonopol, sondern die Gesellschaft wird multilateral und polyzentrisch. Dadurch verändert sich auch die Perspektive, die ein Beobachter einnimmt, der die Gesellschaft beschreiben möchte. sellschaftung und Individualismus der „Mit dem Übergang zur Moderne hat gesellschaftlichen AkteurInnen gelöst. sich eine azentrische oder polyzentri- (vgl. Parsons 1975, S. 32f) sche Gesellschaft formiert, die keine bindende, Autorität gebende Instanz mehr zuläßt. »Das hat zur Folge, daß sich kein Standpunkt mehr festlegen 7 Möglicherweise ist das für den Pastorensohn Parsons auch die einzige Möglichkeit, seinen eigenen Glauben, oder den in der Amerikanischen Gesellschaft immanenten christlichen Glauben, in seinen Theoriekomplex einzubauen. 8 Vgl. Hierzu auch die Seminararbeit zur LV „Sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“, in der ich die Rollentheorie Dahrendorfs ausgeführt habe. Gesellschaftsstruktur 18 Seminararbeit „Sozialwissenschaftliche Makrotheorien“ - Sommersemester 2008 - Gerald Czech (9000325) läßt, von dem aus das Ganze, mag tems. Dabei einstehen Teilsysteme, die man es Staat oder Gesellschaft nen- für die anderen Teilsysteme jeweils nen, richtig beobachtet werden kann«“ wieder zur Umwelt werden. (vgl. (Luhmann,1984:629 zit in Kneer, Noll- Kneer, Nassehi 2000, S. 116) mann 2000, S. 86) Systemtheorie Man kann „das Konzept funktionaler Differenzierung als Schlüsselkategorie der fachwissenschaftlichen Bemühung um eine Theorie moderner Gesellschaften ansehen.“ (Kneer, Nollmann 2000, S. 77) Niklas Luhmann übernimmt wesentliche Theoriekonzepte Parsons und berücksichtigt gängige Kritik am Strukturfunktionalismus. Wichtigste Änderung ist die Vorreihung des Funktionsbegriffs über die Kategorie der Struktur. Im Sinne der Luhmannschen Systemtheorie wird funktionale Differenzierung als Auftrennung der gesellschaftlichen Funktionen auf spezialisierte und voneinander abhängigen Teilsystemen verstanden: „Die einzelnen Teilsysteme sind, da sie sich alle auf die Bearbeitung einer gesellschaftlichen Funktion konzentrieren, in einer wesentlichen Die funktionale Analyse tritt vor die strukturelle Beschreibung von Systemen. Durch diesen paradigmatischen Perspektivenwechsel geht Luhmann auch nicht länger davon aus, daß soziale Systeme geteilte Normen und Werte haben, der Begriff des "Sozialen" ist daher nicht länger normativ. (vgl. Kneer, Nassehi 2000, S. 37f) Hinsicht gleich. Und sie sind zugleich ungleich, da sie jeweils unterschiedli- Eine weitere wesentliche Erweiterung, che Funktionen erfüllen “ (Kneer, die Luhmann selbst erst in den Nollmann 2000, S. 84) 1980ern in seine Systemtheorie eingeführt hat ist das aus der Biologie über- Luhmann unterscheidet drei unterschiedliche Formen der Differenzierung des Gesellschaftssystems: Segmentäre Differenzierung als Ausdifferenzierung in gleiche Teilsysteme, Stratifikatori- nommene und adaptierte Konzept der Autopoiesis. Als autopoietische Systeme bezeichnet man geschlossene Systeme, die die Elemente, aus denen sie bestehen selbst erzeugen. (vgl. Schü- sche Differenzierung als ungleiche Schichten als Subsysteme und schließ- lein, Brunner 2001b, S. 105) lich funktionale Differenzierung als Tei- „Der Begriff bezeichnet in der System- lung in Subsysteme entlang spezifi- theorie eine Organisation der Operati- scher Funktionen der Teile (vgl. Kneer, onen eines Systems, durch welche alle Nollmann 2000, S. 83f) Elemente des Systems durch die selek- Als Systemdifferenzierung versteht man die erneute Differenzierung der Systembildung innerhalb eines Sys- tive Verknüpfung der Elemente dieses Systems erzeugt werden. Der Begriff impliziert, dass nur das System selbst Systemtheorie 19 Seminararbeit „Sozialwissenschaftliche Makrotheorien“ - Sommersemester 2008 - Gerald Czech (9000325) seine Elemente erzeugen kann und in Die als „Thomas Theorem9“ bekannte der Tiefenstruktur seiner Selbststeue- Feststellung, dass Situationen real rung von seiner Umwelt abhängig ist.“ sind, wenn sie von den Menschen für (Willke 2006, S. 247) real gehalten werden, zeigt, dass die Grundsätzlich unterscheidet Luhmann Welt selbst nur als Konstruktion einer zwischen psychischen Systemen und Welt aufgrund der dort zur Verfügung sozialen Systemen. Als psychisches stehenden Informationen über die Sys- System ist beispielsweise das mensch- temumwelt im jeweiligen Bewusst- liche Bewusstsein zu nennen, als soziales System eine Organisation, wie ein Verein, oder eine Firma. seinssystem des Betrachters darstellt. Gerade der Systemtheoretische Ansatz ist als Radikalkonstruktivistische Theorie bekannt (vgl. Willke 2006, S. 48f) Als Emergenz bezeichnet Luhmann die Tatsache, dass sich auf einer weiteren Ordnungsebene Eigenschaften ausbilden, die aus der darunterliegenden Struktur nicht hervorgehen, also beispielsweise die Gedanken, die nicht aus der banalen Gehirnstruktur zu erklären sind, daher als emergente Ebe- Das psychische System arbeitet nicht mit Abbildungen der Außenwelt, sondern mit Zuordnungen von gefilterten neuronalen Zuordnungen. Es sind daher nicht direkte Wirkungen von Ereignissen in der Systemumwelt, die Eingang in das psychische System finden, ne dem psychischen System zugeord- sondern die Ereignisse stoßen neuro- net werden. Es existiert zwar eine nale Relationen an, was weiter im Be- strukturelle Koppelung und eine Ab- wusstseinssystem mit diesen Relatio- hängigkeit - ohne Gehirnstruktur kann nen passiert, ist vom externen Stimu- kein psychisches System Gedanken lus unabhängig. (vgl. Willke 2006, S. produzieren, trotzdem ist das System selbst geschlossen, im Beispiel des Gehirns operieren daher Gehirn und Bewußtsein von einander getrennt. (vgl. Kneer, Nassehi 2000, S. 62) Psychische Systeme und konstruktivistische Weltsicht „Psychische Systeme sind autopoietische Systeme, deren nicht weiter auflösbare Letzteinheiten Gedanken bzw. 64) Soziale Systeme „Soziale Systeme sind autopoietische Systeme, die in einem rekursivgeschlossenem Prozeß fortlaufend Kommunikation aus Kommunikation produzieren. Das Soziale bildet diesem Verständnis zufolge eine eigenständige, emergente Ordnungsebene.“ (Kneer, Nassehi 2000, S. 80) Vorstellungen sind. Die Bewußtseinse- Nach Luhmann meint ein soziales Sys- lemente haben ereignischarakter, d.h. tem einen Sinnzusammenhang von sie sind nur von kurzer, momentaner 9 Dauer“ (Kneer, Nassehi 2000, S. 64) “If men define situations as real, they are real in their consequences.” Psychische Systeme und konstruktivistische Weltsicht 20 Seminararbeit „Sozialwissenschaftliche Makrotheorien“ - Sommersemester 2008 - Gerald Czech (9000325) sozialen Handlungen die aufeinander se Funktion. Sie vermitteln zwischen verweisen. Diese Begrifflichkeit unter- der unbestimmten Komplexität der scheidet sich stark von der Weber- Welt und der menschlichen Kapazität schen Definition des sozialen Handelns. zur Komplexitätsreduktion.“ (Schülein, Dies ist notwendig, weil Systeme mehr Brunner 2001b, S. 109) sind, als die handelnden AkteurInnen, Ein soziales System bildet eine Struk- sie sind emergente Ordnungen. (vgl. tur, sie entwickeln Regeln zur Redukti- Schülein, Brunner 2001b, S. 108) on der Umweltkomplexität. Es werden „Soziale Systeme reproduzieren sch Erwartungen für Systemimmanentes dadurch, daß sie in einem dynami- Verhalten generalisiert. Dadurch kön- schen Dauerprozeß ereignishafte nen soziale Systeme einen stabilen Kommunikationen an Kommunikatio- Rahmen bilden und ihren eigenen Be- nen anschliessen. Jede Kommunikation stand über längere Zeit beibehalten. erzeugt, mit anderen Worten, fortlau- (vgl. Schülein, Brunner 2001b, S. 109) fend neue Folgekommunikationen oder das System hört auf zu existieren. Codes und Programme Soziale Systeme beziehen sich dabei Nach Luhmann sind Funktionssysteme auf sich selbst; sie sind insofern opera- operativ geschlossen, das heißt, sie tiv geschlossen, als sie ihre Elemente operieren im Selbstkontakt ohne direk- nicht aus der Systemumwelt beziehen, te Außenbeziehung und stellen alle sondern mittels eigener Operationen Systemkomponenten emergent selbst selbst herstellen.“ (Kneer, Nollmann her. Als wesentliches Element der ope- 2000, S. 83) rativen Schließung dienen binäre Co- Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang, dass Kommunikation im Sinne der Systemtheorie ein dreistufiger Prozess ist, der aus Information, Mitteilung und Verstehen besteht und daher nicht Personen zuordenbar ist, sondern zum Inhalt des Systemhandelns. (vgl. Kneer, Nassehi 2000, S. 95) des, beobachtungsleitende Grundunterscheidungen für die Funktion des Systems, die nur zweiwertig, also wahr oder falsch, als Wert annehmen können. Je nach Funktion des Systems unterscheidet sich der jeweilige und ausschließliche Code dieses Systems: Für das Wissenschaftssystem beispielsweise ist es relevant, ob eine Aussage wahr oder falsch ist, für das Die Funktion von sozialen Systemen ist Religionssystem, ob etwas dem Heil die Reduktion der Umweltkomplexität: dient, oder nicht, für das Rechtssys- „Da der einzelne Mensch nur sehr be- tem, ob etwas rechtmäßig ist, oder grenzte Fähigkeiten zur Erfassung und nicht. (vgl. Kneer, Nollmann 2000, S. Reduktion von (Welt)Komplexität be- 86f) sitzt, übernehmen soziale Systeme dieCodes und Programme 21 Seminararbeit „Sozialwissenschaftliche Makrotheorien“ - Sommersemester 2008 - Gerald Czech (9000325) Um Systeme anzuleiten, inwiefern Co- ler Bestandteil des Systemwirkens ist des anzuwenden sind, existieren Pro- wie das System selbst. Das System grammierungen, die die Zuordnungen selbst definiert sich über diese Diffe- zu den jeweiligen Codes festlegen. renz zwischen innen und außen. (vgl. (vgl. Kneer, Nollmann 2000, S. 87) Schülein, Brunner 2001b, S. 108; Für Luhmanns Gesellschaftstheorie Kneer, Nollmann 2000, S. 83) finden die jeweiligen spezifischen Co- Luhmann differenziert Handlungssys- des für unterschiedliche Funktionssys- teme in drei verschiedene Typen mit teme Eingang und erklären auch die steigender Stabilität: Interaktionssys- die fortlaufende Entkopplung von Sys- teme entstehen durch das Handeln von temen, die im Sinne einer Systemdiffe- Anwesenden, die einander wahrneh- renzierung entstanden sind. Wenn es men. Die Systeme lösen sich durch das für das Wirtschaftssystem von Rele- Auseinandergehen der Anwesenden vanz ist, ob gezahlt wird oder nicht, so wieder auf. Organisationssysteme be- lässt sich die Komplexität von juristi- nötigen gewisse Bedingungen zur Mit- schen Problemen – die ja vom juristi- gliedschaft. Ihre Funktion besteht un- schen System unter Zugrundelegung ter anderem darin, Handlungsabläufe des Codes rechtmäßig oder nicht festzulegen und für Mitglieder und rechtmäßig verarbeitet werden- dort Nichtmitglieder, also für System und nicht erfassen. Erst durch Programmie- Umwelt erwart- und berechenbar zu rung, beispielsweise über die Strafe, machen. Das Stabilste der Handlungs- die ja in zahlbar/nicht zahlbar über- systeme nach Luhmann ist die Gesell- setzt ist, findet juristische Realität auch schaft als umfassendes soziales Sys- die wirtschaftliche Relevanz, man kann tem. Alle Interaktions- und alle Organi- daher sagen, dass eine Kopplung der sationssysteme gehören zur Gesell- entkoppelten Systeme erst über diese schaft - trotzdem ist se mehr als nur 10 Programmierungen stattfinden kann. die Summe aller Teile, sie ist ein "Sys- Die Grenze zwischen Systemumwelt tem höherer Ordnung, ein System an- und System ist als Differenzierung von deren Typs" (Luhmann, 1975, 11 zit. in Innen und Außen ein wesentliches Kneer, Nassehi 2000, S. 42) konstitutives Element des Systems. Resümee Das heißt auch, dass ein System oftmals ohne seine Umwelt nicht bestehen kann und diese genauso essentiel- Legte Talcott Parsons in seiner Theorie noch die Struktur der Gesellschaft in den Mittelpunkt und versuchte die Erklärung von dieser Perspektive aus zu 10 Möglicherweise erklärt diese Entkopplung auch die fehlende Relevanz meiner Seminararbeit für mein direktes Arbeitsumfeld, da Wahrheit (als Code für das Wissenschaftssystem) nicht dem dort verwendeten Code entspricht erklären, so versucht Niklas Luhmann einen anderen Weg. Die Einbeziehung von Konzepten aus anderen WissenResümee 22 Seminararbeit „Sozialwissenschaftliche Makrotheorien“ - Sommersemester 2008 - Gerald Czech (9000325) schaftsdisziplinen, wie das AutopoiesisKonzept aus der Biologie erweitern das Konzept dramatisch. Auch die Änderung der Perspektive, weg von er erklärenden Struktur hin zur Funktion von Systemen ermöglicht andere Betrachtungen. Die Erkenntnistheoretische Betrachtungen und die Zugrundelegung eines Radikalkonstruktivistischen Zugangs ermöglichen es der Systemtheorie deutlich breitere Zusammenhänge des Sozialen zu beschreiben. Gerade die steigende Komplexität der Gesellschaft seit dem Übergang in die Moderne ist für viele Erklärungsmodelle der sozialwissenschaftlichen Makrotheorien wesentlicher Motor der Dynamik und des sozialen Wandels. Auch Luhmann bedient sich dieses Beschreibungsmodells, indem er die Hauptfunktion der sozialen Systeme als komplexitätsreduzierend postuliert. Einher mit der Komplexitätsreduktion der Realität geht aber auch die Spezialisierung und mit ihr die Differenzierung in Unmengen unterschiedlicher sozialer Subsysteme, die in Folge zur weiteren Systemdifferenzierung und zur Entkopplung neigen. Inwieweit die Fragmentierung der sozialen Strukturen durch laufende weitere Differenzierungstendenzen im Endeffekt zu einer Komplexitätserhöhung des Gesellschaftssystem als ganzes im Sinne eines fraktalen Supersystems führt kann nicht abgeschätzt werden. Resümee 23 Seminararbeit „Sozialwissenschaftliche Makrotheorien“ - Sommersemester 2008 - Gerald Czech (9000325) Literatur Barth, Thomas (2004): TP: Das Netz der Macht. Michel Foucault zum 20.Todestag. Online verfügbar unter http://www.heise.de/tp/r4/artikel/17/17734/1.html, zuletzt geprüft am 31.08.2008. Foucault, Michel (2004): Disziplin. In: Foucault, Michel; Seitter, Walter (Hg.): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. 8. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 184), S. 173–294. Hillebrandt, Frank(2000): Disziplinargesellschaft. In: Kneer, Georg; Nassehi, Armin; Schroer, Markus (Hg.): Soziologische Gesellschaftsbegriffe. Konzepte moderner Zeitdiagnosen /. 2. Aufl. 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