Depression im Alter Fachtagung SVAT, 29.10.2011 Dr. med. Sibylle Süss 1 Altersstruktur in der Schweiz Quelle: Bundesamt für Statistik, Neuchâtel 2009 : 3 Mit einer Lebenserwartung der Frauen von 81,6 Jahren und der Männer von 75,6 Jahren bleiben die Deutschen heute doppelt so lange jung wie ihre Vorfahren im 19ten Jahrhundert. Rangfolge der Ursachen für Tod und chronische Behinderung ("disability-adjusted life years") weltweit 1990 2020 Atemwegserkrankungen 1 1 Koronare Herzerkrankung Gastrointestinale Infektionen 2 22 Depression Perinatale Komplikationen 3 3 Verkehrsunfälle 44 4 Zerebrovaskuläre Erkrankungen Koronare Herzerkrankung 5 5 Chron.-obstr. Lungenerkrankung Zerebrovaskuläre Erkrankungen 6 6 Atemwegserkrankungen Tuberkulose 7 7 Tuberkulose Masern 8 8 Kriegsfolgen Verkehrsunfälle 9 9 Gastrointestinale Infektionen Angeborene Fehlbildungen 10 10 HIV Malaria 11 11 Perinatale Komplikationen Chron.-obstr. Lungenerkrankung 12 12 Folgen von Gewalt Epilepsie 13 13 Angeborene Fehlbildungen Eisenmangelanämie 14 14 Selbstverstümmelungen Proteinmangelerkrankungen 15 15 Lungenkrebs Depression "The Global Burden of Disease“, Harvard School of Public Health, 1998 5 Häufigkeit der zwei wichtigsten psychischen Erkrankungen im höheren Lebensalter (>65 Jahre) Demenzen: 17% Depressionen: 9% Subdiagnostische Depressionen: 18% Depressionen in Altenheimen: 27% 26 - 40% Berliner Altersstudie (BASE) 6 Lebenszeitprävalenz depressiver Erkrankungen in der Gesamtbevölkerung (nach ICD-10) leichte 5,6% mittelschwere 7,3 % schwere 4,2% Lebenszeitprävalenz total: 17,1% 7 Diagnostisches und therapeutisches Defizit In hausärztl. Gesamtzahl Behandlung behandl.bed. Depressionen in Deutschland 2,4 - 2,8 Mio. ca. 4 Mio. 100 % 60-70 % als Depression diagnostiziert suffizient behandelt 1,2 - 1,4 Mio. 240-360 Tausend 30-35 % 6-9 % nach 3 Mo. Behandlung compliant 100-160 Tausend 2,5-4 % Kompetenznetz Depression 9 „Depression“ - was ist das? • Eine „Gemütskrankheit“… • Eine seelische Erkrankung mit vorwiegend Störung von Stimmung, Antrieb und Denken • Diagnose anhand genauer Kriterien (ICD-10, Internationale Klassifikation der WHO) 10 Übergang zwischen Gesundheit und Krankheit (nach ICD-10) 11 Formale Diagnosekriterien einer depressiven Episode 12 ICD-10 Diagnosekriterien einer depressiven Episode Hauptsymptome: 1. Gedrückte Stimmung 2. Interessenverlust, Freudlosigkeit 3. Erhöhte Ermüdbarkeit und Antriebsmangel 13 ICD-10 Diagnosekriterien einer depressiven Episode Weitere häufige Symptome: • Verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit • Vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen • Schuldgefühle und Gefühle der Wertlosigkeit • Negative und pessimistische Zukunftsperspektiven • Schlafstörungen • Verminderter Appetit • Suizidgedanken, Suizidhandlungen 14 ICD-10 Diagnosekriterien einer depressiven Episode Quantifizierung / Schweregrad • leicht (mit oder ohne somatisches Syndrom) • mittel • schwer (mit oder ohne psychotische Symptome) 15 Somatisches Syndrom Appetit- und Gewichtsverlust Schlafstörungen Psychomotorische Hemmung Psychotische Symptome Wahn (Versündigungs- Verarmungswahn) Halluzinationen (diffamierende und anklagende Stimmen) Geruchshalluzinationen Angst vor einer Katastrophe Stupor (Erstarrung) 16 Eine Depression betrifft den ganzen Menschen! Freudlosigkeit Traurige Stimmung Angstzustände Wertlosigkeit Extreme Schuldgefühle Gedanken an Tod Grübeln Verminderte Denk- und Konzentrationsfähigkeit Lustlosigkeit, Müdigkeit, Antriebslosigkeit Psychomotor. Hemmung oder Agitiertheit Schlafstörungen Gewichtsverlust oder Gewichtszunahme Libidoverlust Kopfschmerzen Magendarmbeschwerden 17 Depression: Alarmsymptome • Der Betroffene hat das Interesse an Tätigkeiten verloren, die ihm früher Freude bereiteten. • Er zieht sich von Freunden und Verwandten zurück und verlässt das Haus kaum noch. • Er wirkt niedergeschlagen und energielos. Es fällt ihm schwer, anstehende Aufgaben anzupacken und Entscheidungen zu treffen. • Alltagsverrichtungen wie Putzen und Einkaufen bereiten ihm Mühe, eventuell vernachlässigt er auch Körperhygiene und Ernährung. • Er fühlt sich wertlos und grübelt oft über den Tod nach. • Er klagt über Schmerzen, für die sich keine körperliche Ursache finden lässt, Übelkeit oder Appetitlosigkeit. www.seniorweb.ch 18 Besonderheiten der Depression im Alter • Über Traurigkeit wird nicht geklagt, obwohl die Patienten anderen depressiv erscheinen • Besonders starke Beschäftigung mit Gesundheit und körperlichen Problemen (Somatisierung, „larvierte Depression“) • Pat. scheint mehr durch Störungen seiner Gedächtnisleistungen als durch die Depression beeinträchtigt („Pseudodemenz“) 19 Kognitive Einschränkungen Depressive Pseudodemenz Altersdemenz • Schneller, erkennbarer Beginn • Schleichender, unklarer Beginn • Stimmung ist beständig depressiv • Stimmung und Verhalten fluktuieren • „Weiss-nicht“-Antworten sind typisch • Angenähert richtige Antworten überwiegen • Patient stellt Defizite besonders heraus • Patient sucht Defizite zu verbergen • Grosse Schwankungen der kognitiven Leistungsschwäche • Kognitive Leistungsschwäche relativ konstant Kasper et al., 1994 20 Lavierte Depression oder somatisierte Depression Müdigkeit Kopfschmerzen Depression maskiert durch körperliche Symptome Schwindel Rückenschmerzen Atembeschwerden Herzbeschwerden Magen-Darm-Beschwerden Unterleibsbeschwerden Depression: Ein leibnahes Geschehen Müdigkeit Kopfschmerzen Schwindel Rückenschmerzen v. a. bei Frauen Unterleibsbeschwerden Miktionsbeschwerden Atembeschwerden u. a. Engegefühl Herzbeschwerden u. a. Herzrasen, Palpitationen Magen-DarmBeschwerden u. a. Obstipation, Übelkeit, Völlegefühl, Schmerzen 22 Wechselbeziehung zwischen Depression und körperlichen Erkrankungen Depression Körper Erhöhtes Risiko für: • Osteoporose • Bluthochdruck • Viscerales Fett • Diabetes mellitus • Sterblichkeit n. Herzinfarkt • etc. 23 Mortalität Herzinfarkt: Höhere Sterblichkeit bei Depression Monate nach Infarkt 24 Wechselbeziehung zwischen Depression und körperlichen Erkrankungen Depression Körper Mangelsyndrome - Eisenmangel - Vit. B12 Mangel - Schilddrüsenunterfkt. und andere körperliche Erkrankungen erhöhen das Risiko für eine Depression 25 Häufigkeit depressiver Störungen bei Patienten mit körperlichen Erkrankungen Erkrankung Depressionshäufigkeit (%) • Myocardinfarkt 20 • Zerebraler Insult 30 - 50 • Krebserkrankungen 30 - 50 • Morbus Parkinson 20 - 30 • HIV 20 - 30 • Multiple Sklerose 30 - 50 • Demenz 40 • Chronisches Nierenversagen 20 - 30 nach Arolt V. Depression bei körperlichen Erkrankungen. Neurotransmitter 2003; 14 (2): 68-70 26 Ängste im Alter 2/3 der depressiven Patienten können ausgeprägte Angstsymptome haben Angst ist sowohl als Bestandteil von Depressionen, als auch als eigenständiges Syndrom sehr verbreitet Angst vor… o körperlichen Beschwerden o Misserfolgen, Kränkungen o Lebensverlust, Vereinsamung und Isolation o drohender Abhängigkeit u. Pflegebedürftigkeit o sozialen Rollenveränderungen, finanziellen Einbussen 27 Suizidale Entwicklung nach Pöldinger • • • • Phase der Erwägung von Suizid Phase der Möglichkeit des eigenen Suizids Phase der Ambivalenz Phase des Entschlusses Präsuizidales Syndrom nach Ringel • Zunehmende Einengung (Verhalten, Affekt, zwischenmenschliche Beziehungen) • Aggressionsstau und Wendung der Aggression gegen sich • Selbstmordphantasien- und Impulse 28 Suizidversuche bei schweren Depressionen • 40% der Betroffenen machen einen Suizidversuch • 15% der Suizidversuche enden erfolgreich • 42% der Suizidenten haben in der Woche vor dem Tod ihren Hausarzt aufgesucht Besonderheiten suizidalen Verhaltens im Alter − stärkere Intention zu sterben − „harte“ Suizidmethoden häufiger − suizidales Verhalten schwerer erkennbar (Dunkelziffer) − 1:2 versus 1:10 der Suizidversuche sind erfolgreich 29 Warnzeichen bei Suizidalität sind: • Vermehrtes Sprechen über Hoffnungslosigkeit Lebensüberdruss, Selbstmordgedanken • Verschenken von persönlichen Sachen • Risikoreiches oder selbstzerstörerischem Verhalten (z.B. Ampel bei rot Überfahren) • Regelung wichtiger Angelegenheiten (z. B. Testament aufsetzen, Schulden bezahlen) • Gesteigerter Alkohol- oder Drogenkonsum • Identifikation mit Suizid: „Die hat es geschafft!“, „Der ist seine Sorgen los!“ • Rückzug von Familie, Freunden, üblichen Aktivitäten • Plötzliche Verhaltensänderung (z. B. aktiver, weniger klagsam) 30 Risikofaktoren für eine Depression im Alter • Unverheiratet • Seit kurzem verwitwet • Schwerwiegende Lebensereignisse • Fehlen eines sozialen Netzes • Gleichzeitige körperliche Erkrankungen Häufige Gründe für Altersdepressionen • Vereinsamung wegen sozialer Isolation, Kontaktmangel durch Verlust von Ehepartner, Freunden, echten mitmenschlichen Beziehungen, Verlust religiöser Bindungen • Verlust der Selbständigkeit durch körperliche Krankheiten oder Behinderungen und psychische Störungen • Inaktivität infolge Pflichtleere, Mangel an neuen Zielsetzungen, Fehlen von Aufgaben • Entwurzelung durch Umzug in eine kleinere Wohnung in fremder Umgebung, Eintritt in Alters- und Pflegeheime • Verlust von Ansehen und Macht, finanzielle Sorgen, Missachtung des Alters 32 Alterstypische psychosoziale Belastungen • Verlust und Verlassenwerden von wichtigen Bezugspersonen • Verlust von gewohnten Lebenskonzepten im Haushalt, Wohnen, Arbeit und Freizeit • Verlust körperlicher Funktionstüchtigkeit • Angst vor Autonomieverlust und Abhängigkeit • Objektive materielle Probleme • Beziehungsprobleme Sie bedingen teils als Auslöser oder als Ko-Faktoren das Auftreten von depressiven Erkrankungen im Alter. 33 Vulnerabilität-Stress-Modell Person A Person B Stress Vulnerabilität Stress Vulnerabilität Vulnerabilität Stresspegel Stress Kritische Schwelle Person C 34 Multifaktorielles Krankheitsmodell 35 Genetik Geschlechtsverhältnis Männer: Frauen 1:2 Morbiditätsrate für Verwandte ersten Grades bei bipolaren oder rezidivierenden depressiven Störungen bis zu 25% Konkordanzraten bei eineiigen Zwillingen bis zu 92% zweieiigen Zwillingen bis zu 23% 36 Depression Sympathikus Hypothalamus CRH Mobilisierung freier Fettsäuren ACTH Blutdruck Herzfrequenz Cortisol Wachstumshormon Viszerale Fettakkumulation Insulinresistenz NIDDM, CVD, Schlaganfall Hyperinsulinämie Dyslipidämie Thrombogenetische Veränderungen 37 Prestel, Aldenhoff, Reiff, 2003 Veränderungen des Hypothalamus-HypophysenNebennierenrinden (HPA)-Systems – Bedeutung für die Entstehung depressiver Erkrankungen? Befunde bei depressiven Patienten • Cortisol in Speichel und 24-h-Sammelurin • Liquor: CRH • Hypothalamus: CRH mRNA • Charakteristische Befunde in verschiedenen neuroendokrinen Funktionstests Hypothese Überaktivität zentraler CRH-Schaltkreise ist relevant für die Pathogenese und Aufrechterhaltung affektiver Erkrankungen Keck et al. 38 Medikamente, die eine Depressionen auslösen können ZNS-dämpfende Substanzen • Alkohol • Benzodiazepine • Barbiturate Antihypertensiva (Blutdrucksenkende Mittel) • Betablocker • Clonidin • Methyldopa Kortikosteroide (Kortison) Antikonvulsiva (gegen Epilepsie) Tuberkulostatika (gegen Tuberkulose) Chemotherapeutik (gegen Krebs) 39 Wann und wie sollte eine Depression behandelt werden? • Falls die Verstimmung länger andauert oder mit dauerhafter Freudlosigkeit, Antriebslosigkeit oder gar Suizidgedanken verbunden ist. • Erste Ansprechsperson ist der Hausarzt, der körperliche Ursachen ausschliesst und die Notwendigkeit einer medikamentösen Einstellung oder die Notwendigkeit einer Überweisung zu einem Psychiater/Psychologen abklärt. • Meist ist eine ambulante Behandlung ausreichend, bei schwerer Depression oder drängenden Suizidgedanken ist ein stationärer Aufenthalt notwendig. 40 Die 3 Säulen der Depressionsbehandlung Psychotherapie Biologische Therapiekonzepte Soziotherapie und anderes - Kognitive PT - Pharmakotherapie -Aktivierungstherapie - Interpersonelle PT - Lichttherapie - Bewegungstherapie - Familientherapie - Wachtherapie -Training sozialer - EKT Kompetenzen - rTMS - Ernährung - Internistische Begleitth. - Entspannungsverfahren - Körperliche Aktivität 41 Interpersonelle Psychotherapie Late Life (IPT-LL) • Keiner klassischen Therapieschule zuzuordnen • Fokussierung auf interpersonelle und soziale Problembereiche und deren Bearbeitung im Hier und Jetzt • IPT-LL ist eine an die Bedürfnisse des älteren Menschen angepasste Form der IPT. 42 Interpersonelle Psychotherapie Late Life (IPT-LL) Es wird auf 4 Problembereiche fokussiert: 1) Trauer (z.B. pathologische Trauerreaktion) 2) Interpersonelle Konflikte (z.B. Eheproblematik) 3) Rollenwechsel und –übergänge (z.B. Pensionierung) 4) Einsamkeit 43 Falsche Ratschläge! • Keine Appelle („Reiß dich zusammen“ oder „Stell dich nicht so an!“), sondern Verständnis und Mitgefühl. • Zu verstehen geben, dass man da ist. • Keine Ablenkungen forcieren: Der Betroffene kann an den meisten Aktivitäten keine Freude empfinden und entwickelt nur Schuldgefühle. • Nicht zu Urlaub oder Reisen überreden: Der Betroffene fühlt sich am wohlsten in seiner gewohnten Umgebung. • Die Erkrankung nicht ausreden wollen, sondern ernstnehmen. • Den Betroffenen keine Entscheidungen mit weitreichenden Konsequenzen treffen lassen. 45 Antidepressiva • Geben Stabilität, um von einer Psychotherapie oder anderen Massnahmen zu profitieren. • Machen nicht abhängig! • Wirken innerhalb von 1-2 Wochen • Es gibt aktivierende Substanzen und schlafanstossende Medikamente • Bei leichten Depressionen kann auch ein pflanzliches Präparat versucht werden (Johanniskraut). 46 Behandlung der Depression im Alter Biologische Behandlungskonzepte Psychotherapie Soziotherapie Pharmakotherapie Kognitive PT SSRIs NaSSA Internistische Begleittherapie Training sozialer Kompetenz Interpersonelle PT Familientherapie SNRI Lichttherapie Milieutherapie NARI Wachtherapie MAO-H rTMS Phytopharmaka EKT (TZA) (Tetraz.AD) "mood stabilizer" F. Müller-Spahn 2006 Take Home Message • Das Alter hat viele Gesichter, und auch die Depression im Alter! • Depressionssymptome werden mitunter als normale Alterserscheinungen fehlinterpretiert. • Die Mortalität bei älteren Patienten mit einer Depression ist erhöht. • Die Suizidrate ist höher. • Häufig v.a. körperliche Beschwerden („larvierte Depression“) oder Konzentrationsstörungen (Pseudodemenz) im Vordergrund, über die depressive Stimmung wird selten geklagt. • Das Fehlen eines sozialen Netzes oder körperliche Erkrankungen sind wesentliche Risikofaktoren für eine Depression. 48 Wichtige Botschaften für einen depressiven Menschen • Der Patient ist kein Einzelfall • Die Art der Störung ist bekannt, es ist eine „richtige“ Krankheit, die nichts mit „Willensschwäche“ zu tun hat • Die Depression ist behandelbar (Hoffnung vermitteln) 49 Vorurteile (auch unsere eigenen!) gegenüber der Behandlung älterer depressiver Menschen abbauen! „…Hohes Alter ist notwendigerweise mit Unglücklichsein verbunden…“ „…Eine medikamentöse Therapie stellt wegen den Nebenwirkungen ein zu hohes Risiko dar…“ „…Alte Leute sind nicht mehr flexibel genug für Veränderungen…“ 50 NZZ am Sonntag, 18. März 2007 51 Besten Dank für Ihre Aufmerksamkeit! 52