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Themen
Markus Wochnik
Jugendliche im ländlichen Raum –
Heimatbezug und Berufswahl
Untersuchungen zum Zusammenhang von Berufswahl und Region befassen sich häufig mit der Frage, aus welchen Gründen Jugendliche ihren Wohnort wechseln und ländliche Regionen verlassen. Die gegensätzliche Frage wird in der Regel
nicht gestellt. Dabei lohnt es sich gerade in Zeiten, in denen in allen möglichen Zusammenhängen der demografische Wandel und die Facharbeitersituation thematisiert werden, zu untersuchen, welche Entscheidungsmuster und -prozesse Jugendliche dazu veranlassen, NICHT aus ländlichen Regionen abzuwandern. So wird deutlich, was die Jugendlichen in ländlichen Räumen hält und wie ihr Bezug zur Heimat die Berufswahl beeinflussen kann.
Jugendliche an der ersten Schwelle in ländlichen
Räumen
In der medialen Darstellung in Deutschland entsteht oft der
Eindruck, dass die Jugendlichen, die im ländlichen Raum verbleiben, zu den Verlierern des demografischen Wandels gehören, weil sie diejenigen sind, die es nicht in die Stadt oder
in stadtnahe Regionen schaffen. Oft wird ihnen mangelnde
Flexibilität und Reife, nicht nur in Bezug auf die Ausbildung,
unterstellt. Die (biografischen) Leistungen, die diese Jugendlichen durch das Bleiben erbringen, werden dabei meist nicht
beachtet. Es ist jedoch durchaus interessant, wie Jugendliche, die sich dazu entscheiden, in der heimatlichen Region
zu bleiben, mit der Berufswahl umgehen. Dazu lassen sich
u. a. folgende Fragen formulieren:
•• Welchen Einfluss hat der Heimatbezug auf die Berufswahl?
•• Welche Rolle spielen regionale Ausbildungsplatzangebote
bei der Berufswahl?
•• Halten Jugendliche an ihrem Wunschberuf fest, wenn dieser nicht mit der getroffenen Migrationsentscheidung
kompatibel ist? Welcher Entscheidung wird also eine höhere Priorität zugesprochen?
Die folgenden Einschätzungen zu diesen Fragen beruhen auf
15 biografisch-narrativen Interviews, die mit Jugendlichen in
einer handwerklichen Ausbildung in drei hessischen Kreisen
(Werra-Meißner-Kreis, Vogelsbergkreis und Odenwaldkreis)
für eine Studie geführt wurden (vgl. Wochnik 2014). Im Vordergrund dieser Studie stand die Frage nach den Bleibestrategien der Jugendlichen an der ersten Schwelle ins Arbeitsleben.
Die theoretische Basis zur Erklärung des Zustandekommens
der Strategien bilden Konzepte aus Bourdieus Habitus-Konzept, der erziehungswissenschaftlichen Biografie- (u. a. Schütze 1983, Marotzki 2006) und der Migrationsforschung (u. a.
Kalter 2000, Haug 2013). Die Strategien können zum einen habituell begründet sein (Milieuzugehörigkeit, Verwurzelung im
ländlichen Raum), sich auf der anderen Seite aber auch aus der
Biografie heraus entwickeln (Bezug zu bestimmten Berufsfelder durch Kontakt durch Eltern oder andere Bezugspersonen
während der Kindheits- und/oder Jugendphase). Es wurden
Handlungsweisen und -strategien dieser Jugendlichen identi-
Dr. Markus Wochnik
Dipl. BPäd, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Universität Kassel, Institut für Berufsbildung, E-Mail:
[email protected]
fiziert, die Rückschlüsse darauf zulassen, wie sie den Übergang
zwischen Schule und Ausbildung gestalten. Besonderes Augenmerk lag hierbei auf Jugendliche in ländlichen Räumen
und die aus den regionalen Kontexten entstehenden gesellschaftlichen wie individuellen Besonderheiten. Alle drei Kreise sind dadurch gekennzeichnet, dass für sie bis 2030 ein starker Bevölkerungsrückgang prognostiziert wird – es handelt
sich also um Abwanderungskreise.
Landkreis
Bevölkerung
2011*
Abnahme in % von
2009 bis 2030**
Werra-Meißner
103.109
15,4
Vogelsbergkreis
108.109
15,6
Odenwaldkreis
96.796
8,4
Tabelle 1: Bevölkerungsentwicklung in den drei hessischen Kreisen
(* Hessisches Statistisches Landesamt 2012, ** Wegweiser Kommune 2012)
Bedeutung regionaler Komponenten bei der
­Ausbildungsplatzwahl
Ein wichtiger Aspekt bei der Betrachtung ist die Angebotsstruktur im Bereich der Ausbildungsplätze. In ländlichen Regionen gibt es u. U. weniger Möglichkeiten, in einzelnen Berufen einen Ausbildungsplatz zu finden. Darüber hinaus
kann davon ausgegangen werden, dass auch die Angebotsbreite im Gegensatz zur Stadt geringer ist. Ein anderes
­entscheidendes Moment sind ggf. für bestimmte Regionen
einzigartige Berufe, die zur Auswahl stehen, z. B. Elfenbein-
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Jugendliche im ländlichen Raum – Heimatbezug und Berufswahl
schnitzerei im Odenwald. In diesen Fällen könnten sich Berufswahl und Migrationsentscheidung gegenseitig direkt
bedingen, weil die Berufswahl eine explizit regionale Komponente aufweist. Für viele handwerkliche Berufe gilt dieser
eindeutige regionale Bezug jedoch eher nicht, da sowohl in
ländlichen wie in städtischen Regionen i. d. R. (noch) ausreichend Ausbildungsplatzangebote vorhanden sind.
„Konkurrenz“ zwischen Entscheidungen
Bei der Betrachtung des Übergangs an der ersten Schwelle
ist ein genauerer Blick auf die Entscheidungen lohnenswert.
Jugendliche entscheiden in dieser Phase, welchen Beruf sie
erlernen möchten. Aus der einschlägigen Literatur (vgl. u. a.
Herzog et al. 2006) lässt sich ableiten, dass es sich bei dieser
Wahl um einen länger andauernden Prozess handelt. In diesem Zusammenhang ist eine bloße Momentaufnahme wenig hilfreich, vielmehr muss die Betrachtung des gesamten
Prozesses einschließlich seines Vorlaufs im Vordergrund stehen. Häufig lässt sich dabei erkennen, dass Jugendliche einen Wunschberuf für sich gefunden haben, der in den meisten Fällen von diesen auch biografisch begründet werden
kann. Diese Begründung kann z. B. eine enge Verbundenheit
mit dem Beruf eines Elternteils sein oder aber ein Beruf in
einem Feld, zu dem die Jugendlichen eine emotionale Bindung aufgebaut haben.
Gerade in ländlichen Räumen werden Jugendliche zeitgleich
mit der Frage nach dem Gehen oder Bleiben konfrontiert. Für
die Jugendlichen in den Städten wird angenommen, dass die
Migrationsentscheidung wegen des größeren und breiteren
Angebots an Ausbildungsmöglichkeiten weniger Bedeutung
hat. Es besteht für diese ggf. sogar überhaupt keine Konkurrenz in der Entscheidung zwischen Migration und Beruf.
Zur Berufswahlentscheidung „auf dem Land“ kommt eine
Migrationsentscheidung hinzu. In diesem Zusammenhang
stellt sich das Problem, welche dieser beiden Entscheidungen die höhere Relevanz für die Jugendlichen aufweist. Bei
der hier betrachteten Gruppe entsteht ein Gegenüber der
Bleibeentscheidung und der Berufswahl, die teilweise sogar
auf einen ganz bestimmten Ausbildungsbetrieb beschränkt
bleibt. In meiner Untersuchung zeigte sich, dass die Migrationsentscheidung bedeutsamer ist als die für einen bestimmten Beruf. Ergibt sich also eine Situation, die verhindert, dass die Jugendlichen den gewünschten Beruf erlernen
können, entscheiden sie sich in der Regel für einen anderen
Beruf und wenden sich nicht gegen die Entscheidung zu bleiben. Die Migrationsentscheidung besitzt also Priorität vor
der Berufswahlentscheidung (Wochnik 2014).
Wie aber entstehen solche Entscheidungen? Was steht zur
Disposition? Was nicht? Heinz (2000, S. 166) geht davon aus,
dass dies stark davon abhängt, wie Jugendliche biografische
Erfahrungen verarbeiten. Prozesse der Selbstsozialisation
bewirken die Art und Weise, in der Bedingungen der Berufs-
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wahl bewertet werden und das Gewicht, das diesen in Entscheidungskonflikten zugemessen wird.
Die von mir erhobenen Daten zeigen, dass die Entscheidungen der untersuchten Jugendlichen unter der Prämisse erfolgten, dass sie in der heimatlichen Region verbleiben wollten. Vor die Wahl gestellt, gaben sie regelmäßig dieser
Entscheidung die höhere Priorität und waren eher bereit,
ihre Berufswahlentscheidung zu revidieren, als die Region
zu verlassen.
Deutlich wird diese Relevanzsetzung in Aussagen wie: „demnach habe ich dann, wie gesagt, gesagt, ‚gut, ähm, versuche
ich erst mal hier alles auszureizen, was geht, bevor ich dann
wirklich sage, äh, dass ich weggehe‘.“ (Wochnik 2014, S. 153).
Aushandlungsprozesse im ländlichen Raum
Um die Struktur der relevanten Aushandlungsprozesse fassen zu können, kann zum einen auf (pädagogische) Biografieforschung zurückgegriffen werden. Zum anderen bedarf
es aber eines Ansatzes, der es ermöglicht, neben der individuellen Ebene auch gesellschaftliche Strukturen in die Betrachtung mit einzubeziehen. Hier erweist sich das Konzept
des Habitus nach Bourdieu und die damit verbundene Überlegung zur Ausstattung mit verschiedenen Kapitalsorten
(z. B. kulturelles oder soziales Kapital, vgl. z. B. Bourdieu
1983) als hilfreich. Auf diese Weise lässt sich nachzeichnen,
inwiefern gesellschaftliche Wirkungen Einfluss auf die Biografie der Jugendlichen nehmen und wie umgekehrt die Jugendlichen in der Auseinandersetzung mit der Umwelt für
sich gültige Welt- und Selbstkonzepte entwickeln, die zu einer – analytisch fassbaren – Entscheidungsfindung führen.
Für die befragten Jugendlichen lässt sich auf diese Weise ein
Konstrukt der Auseinandersetzungen mit dem Übergang an
der ersten Schwelle beschreiben. Dabei finden Aushandlungen in zwei unterschiedlichen Dimensionen statt. Auf der
einen Seite geht es auf der individuellen Ebene um die Frage nach Selbst- und Wirklichkeitskonstruktionen (Biografie),
auf der anderen um die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Orientierungsmustern (Habitus, vgl. Bourdieu).
Diese Dimensionen lassen sich in einige untergeordnete Kategorien aufschlüsseln:
Selbst- und Wirklichkeitskonstruktion
Gesellschaftliche
­Orientierungsmuster
Dorf- und Stadtbilder
Schullaufbahn und -erfolg
Konstruktion von Heimat
und Selbstbild
Wunschberuf und Bewertung von Berufen
Partnerschaft, Familie, Ver- Berufliche und betriebliche
wurzelung
Karriere(planung)
Verwertung sozialen und
kulturellen Kapitals
Monetäre Begründungszusammenhänge
Tabelle 2: Dimensionen der Aushandlungskategorien (Wochnik 2014, S. 123 ff.)
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Entlang dieser Kategorien kann eine Einordnung der Relevanzen der Jugendlichen vorgenommen werden. Es kann
entweder ein offener oder aber ein geschlossener Umgang
in Bezug auf die Dimension der Selbst- und Wirklichkeitskonstruktion festgestellt werden. D. h., dass sich die Jugendlichen entweder stark an vorgegebenen Lebenswegen, die ihnen in ihren Umfeld begegnen, bewegen oder aktiv eigene
Wege für sich und ihre Vorstellungen konstruieren. In
­Hinblick auf gesellschaftliche Orientierungsmuster findet
entweder eine Anpassung an die gesellschaftlichen bzw.
­institutionellen Vorgaben oder der Versuch von Selbstverwirklichung statt. Je nach unterschiedlicher Ausprägung dieser Vergleichs­dimensionen entstehen Strategien, um den
Verbleib im ländlichen Raum zu organisieren. In dieser Auflistung wird deutlich, dass Beruf eher ein Teilaspekt, nicht
aber die hauptsächliche Verhandlungsebene darstellt.
Zusammenspiel von Biografie und Habitus
Die Biografie erhält an der ersten Schwelle darüber hinaus eine
weitere besondere Bedeutung. In der Regel sind die biografischen Verläufe der Jugendlichen – zumindest institutionell –
vor allem durch solche Ereignisse geprägt, die von den meisten
der Jugendlichen einer Kohorte zeitgleich durchlebt werden
(vgl. Kohli 1985, Filipp/Ferring 2002). Dazu gehört z. B. der institutionelle Verlauf Kindergarten – Schule – Ausbildung. Eine
echte Entscheidung tritt, wenn überhaupt, bei der Wahl der
weiterführenden Schule auf. Häufig ist eine biografische Projektion der Jugendlichen erkennbar, wenn sie in vielen Fällen
schon bei der Schulwahl strategisch vorgehen. Dabei spielen
mögliche Berufswünsche eine Rolle und das Wissen darum,
welcher Abschluss dafür benötigt wird. Wenn z. B. die Möglichkeit bestünde, ein Gymnasium zu besuchen und mit dem Abitur abzuschließen, dies aber für den Wunschberuf nicht unbedingt notwendig ist, dann wird die Schulform gewählt, die den
mindestens verlangten Schulabschluss bereitstellt (z. B. FOS).
Bei diesen Entscheidungen wird bereits deutlich, dass die Jugendlichen ihre eigene Perspektive entwickeln und die notwendigen Schlüsse ziehen. Ihr Ansatz ist dabei allerdings
eher pragmatisch. Auch beim Übergang zwischen Schule
und Ausbildung wird diese Fähigkeit aktiviert, allerdings ist
in diesem Zusammenhang festzustellen, dass die Projektionsflächen zunehmend abstrakter werden. Ein isoliertes
Ziel, wie es der gewünschte Ausbildungsberuf darstellt, ist
hier selten vorzufinden, da neben der schon erwähnten Migrationsentscheidung auch soziale Komponenten verstärkt
in die biografischen Konstruktionsvorgänge einbezogen
werden. Dazu zählen familiale ebenso wie regional-soziale
Bindungen. Damit verbunden ist das Bedürfnis nach Sicherheit und Stabilität, das durch die besondere Bindung zum
ländlichen Raum und seine Strukturen gewährleistet wird.
Jugendliche, die im ländlichen Raum verbleiben, besitzen eine
starke Verbindung und Identifikation mit der Region, in der
sie leben und meist auch aufgewachsen sind. Diese Bindungs-
tendenzen sind noch einmal höher, wenn schon Eltern und
ggf. Großeltern aus der gleichen Region stammen. Auffällig
dabei ist, dass dörfliche bzw. ländliche Strukturen eine besondere Orientierungsfunktion übernehmen. Es kann von einem
dezidierten dörflichen bzw. ländlichen Habitus gesprochen
werden. Entscheidend sind die Ausstattung der Jugendlichen
mit sozialem Kapital (z. B. Verwandt- und Bekanntschaften)
und kulturelles Kapital (z. B. Einbindung in die ländlichen
Strukturen und/oder Ausstattung mit einem bestimmten
Schulabschluss). Diese Kapitalsorten werden bei der jeweiligen Strategie in unterschiedlicher Weise eingesetzt. Z. B. ist
zu beobachten, dass die Jugendlichen aktiv werden, um Ausbildungsplätze in Firmen zu erhalten, in denen die Eltern oder
andere Verwandte und Bekannte bereits arbeiten. Der Einsatz
von sozialem Kapital kann aber auch bedeuten, dass dies bewusst zur Abgrenzung von der Familie verwendet wird, weil
die Biografie ein solches Lösen „verlangt“.
Identifizierte Strategietypen
Dabei können grundsätzlich drei Strategietypen beobachtet
werden: der Heimatverbundene, der Zögerliche und der (rationale) Planer.
Der Heimatverbundene zeichnet sich durch eine besonders
enge Bindung zur heimatlichen Region aus und passt sich gesellschaftlichen Orientierungsmustern an. Dazu können z. B.
Jugendliche gezählt werden, die aktiv an der festen Verortung im heimatlichen ländlichen Raum arbeiten, indem sie
sich z. B. ihr eigenes Wohneigentum aneignen und gestalten.
Dies kann in Häusern sein, die bereits in familiärem Besitz
sind. Darüber hinaus sind die Bindungen zum Lebenspartner,
aber auch zu Freunden stärker im ländlichen Raum verwurzelt als bei anderen Jugendlichen. „Also wie gesagt, jetzt irgendwo großstadtmäßig, das wäre nur ein Punkt wirklich,
sagen wir mal, eine Ausweichmöglichkeit. Was dann allerdings nicht von Dauer sein sollte.“ (Wochnik 2014, S. 132)
Beim Zögerlichen gestaltet sich die Selbst- und Wirklichkeitskonstruktion im Gegensatz eher offen, das Maß der Anpassung an gesellschaftliche Orientierungsmuster ist ähnlich
hoch, auch wenn es sich in der Richtung unterscheidet. Der
Zögerliche sticht durch einen inneren Konflikt hervor, der
sehr vielgestaltig sein kann, der ihn aber daran hindert, klare Entscheidungen zu treffen. Oft werden Entscheidungen
relativiert, weil meist etwas Äußerliches diesen entgegenstehen. Die Folge kann eine eingeschränkte Handlungsfähigkeit sowohl in Bezug auf die Berufswahl als auch auf die Migration bedeuten. „Ja sicher; bevor ich weg kann, muss ich
ja – Ich habe durch meinen Unfall, das habe ich jetzt nicht
erzählt, gut, das kann man nicht wissen, fünfeinhalbtausend
Euro Schulden, die ich schon das ganze Jahr mit mir rumtrage […] ich rauche zweihundert Euro im Monat in die Luft rein,
dann kann ich es auch dafür für Schulden nutzen. Es ist logisch, aber es ist halt ne Sucht. Und ähm (.) aus dem Grund
muss ich erst ein bisschen Geld verdienen, bis ich doch dann
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Jugendliche im ländlichen Raum – Heimatbezug und Berufswahl
letztendlich weg kann. Oder ich finde halt einen Job, aus anderswo.“ (ebd., S. 168 f.)
Der (rationale) Planer kann offene wie geschlossene Einstellungen einnehmen, immer unter der Prämisse, dass sein selbst
gestecktes Ziel möglichst gut erreicht werden kann. Der Planer zeichnet sich dadurch aus, dass er sehr genau weiß, welche Arten von Kapital er besitzt und wie er diese nutzen kann,
um seine Ziele zu erreichen. Er agiert gezielt in den für ihn relevanten sozialen Feldern und nutzt die vorhandenen Potenziale in hohem Maße aus. Im Gegensatz zu den anderen Typen
ist sein Handeln auf ein konkretes, vorher festgesetztes Ziel
ausgerichtet, Anpassungen dieser Ziele finden seltener statt,
eher Anpassungen in den Strategien das Ziel zu erreichen.
„Und wenn man den Plan »net« hat, (…) kann man auch schnell
woanders enden. Und da habe ich weder Lust, noch Zeit dafür.
Ich will (…) das, was ich habe, so schnell wie möglich erreichen,
um mir dann wieder neue Ziele zu setzen.“ (ebd., S. 200)
Berufliche Perspektiven im ländlichen Raum
­entwickeln
Zusammengefasst bedeutet dies, dass es nicht allein strukturelle und rational fassbare Faktoren sind, welche die Entscheidungsmuster an der ersten Schwelle beeinflussen. Vernachlässigte man emotionale und soziale Faktoren, dann
bliebe das Bild unvollständig. Diese Erkenntnisse sind auf
verschiedene Weise für die (berufs-)pädagogische wie betriebliche Praxis von Bedeutung.
Im Bereich der Berufsorientierung ergibt sich die Möglichkeit nicht nur subjektsensibel, sondern in einem gewissen
Maße auch regionalsensibel vorzugehen und die jeweiligen
biografisch begründeten Welt- und Selbstkonstruktionen
der Jugendlichen aktiv in die Orientierungsangebote einzubeziehen. Hierbei soll auf Schütze (2009) verwiesen werden,
der es als besondere Aufgabe von Schule betrachtet, die
Schülerinnen und Schüler biografisch zu begleiten und die
Entwicklung biografischer Kompetenz zu fördern. Dies gilt
meiner Ansicht nach sowohl in den allgemeinbildenden
Schulen als auch in den beruflichen Schulen, insbesondere
im sogenannten Übergangssystem.
Durch eine zusätzliche Thematisierung der biografischen
Kompetenzen der Jugendlichen und einer Wertschätzung der
(bisherigen) biografischen Leistungen könnte eine individuell bedeutendere Berufsorientierung angeboten werden. Neben der Betrachtung von Mobilität, Flexibilität und Karriereoptionen werden so auch emotionale wie soziale Motive
systematisch einbezogen und bieten eine sinnvolle Ergänzung. So werden keine Bereiche aus der Beratung ausgeblendet, die für die Jugendlichen (entscheidungs-)relevant sind.
Betrachtet man die Ausbildungsplatzentwicklung in ländlichen Räumen, kann dies bedeuten, dass für die Jugendlichen
die Berufswahl zunehmend schwieriger wird. Geht man von
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den oben genannten Prognosen zur Bevölkerungsentwicklung aus, ist ebenfalls damit zu rechnen, dass die Zahl der
Ausbildungsplätze abnimmt. Die Jugendlichen, die ihre Migrationsentscheidung über die Berufswahl stellen, werden
in Zukunft möglicherweise vor noch größere Schwierigkeiten gestellt, als sie es ohnehin schon sind, wenn die Angebote zurückgehen. Ggf. bedeutet dies auch, dass mehr Jugendliche den ländlichen Raum verlassen, obwohl sie es
eigentlich nicht wollen. Dies wäre mit einer Vielzahl an neuen Problemlagen verbunden, die aus einer solchen „erzwungenen“ Migrationsentscheidung entstünden, da die emotionale und soziale Sicherheit und Stabilität ins Wanken gerät.
Für die Ausgestaltung von (beruflichen) Bildungsprozessen
kann dies als ein Hinderungsgrund angesehen werden. Den
Jugendlichen geht die Möglichkeit verloren, eine berufliche
Perspektive im gewünschten Lebensraum zu entwickeln.
Für die betriebliche Praxis kann es hilfreich sein, dass ausbildende Unternehmen den Umstand nutzen, dass es Jugendliche gibt, die auf jeden Fall im ländlichen Raum verbleiben
wollen. Sie könnten entsprechend ihre Ausbildungsanwerbung darauf abstimmen und neben den sachlichen und fachlichen Anforderungen an den Beruf auch stärker als bisher
die regionalen und sozialen Komponenten in den Fokus rücken. Auf diese Weise gäbe es die Möglichkeit, eine weitere
Bewerbergruppe aktiv einzubeziehen, um (noch) vorhandene Ausbildungsplätze zu besetzen.
Literatur
Bourdieu, P. 1983: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital.
In: Kreckel, R. (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten. Göttingen, 183–198.
Filipp, S.-H./Ferring, D. 2002: Die Transformation des Selbst in der Auseinandersetzung mit kritischen Lebensereignissen. In: Jüttemann, G./Thomae, H. (Hrsg.):
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Haug, S. 2013: Migration. In: Mau, S./Schöneck, N. M. (Hrsg.): Handwörterbuch
zur Gesellschaft Deutschlands, Wiesbaden, 593–607.
Heinz, W. R. 2000: Selbstsozialisation im Lebenslauf – Umrisse einer Theorie
biographischen Handelns. In: Hoernig, E. M. (Hrsg.): Biographische Sozialisation.
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Herzog, W./Neuenschwander, M. P./Wannack E. 2006: Berufswahlprozess – Wie
sich Jugendliche auf ihren Beruf vorbereiten, Bern.
Hessisches Statistisches Landesamt 2012: Die Bevölkerung der hessischen Gemeinden am 30. Juni 2012. Fortschreibungsergebnisse auf Basis der Volkszählung von 1987. (URL: http://statistik-hessen.de/static/publikationen/A/AI2_
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Kalter, F. 2000: Theorien der Migration. In: Mueller, U./Nauck, B./Diekmann, A.
(Hrsg.): Handbuch der Demographie: Modelle und Methoden. Band 1, Berlin
und Heidelberg, 438–475.
Kohli, M. 1985: Institutionalisierung des Lebenslaufs. Historische Befunde und
theoretische Argumente. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 37, 1–29.
Marotzki, W. 2006: Forschungsmethoden und -methodologie der Erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung. In: Ders. (Hrsg.): Handbuch erziehungswissenschaftliche Biographieforschung. Wiesbaden, 111–135.
Schütze, F. 1983: Biographieforschung und narratives Interview. In: Neue Praxis,
13, 283–293.
Schütze, F. 2009: Die Berücksichtigung der elementaren Dimensionen biografischer Arbeit in der Schule der Zukunft. In: Bosse, D./Posch, P. (Hrsg.): Schule
2020 aus Expertensicht. Wiesbaden, 359–364.
Wegweiser Kommune 2012: Bertelsmann-Stiftung (URL: http://wegweiserkommune.de) – Zugriff am 6. Mai 2014.
Wochnik, M. 2014: Aufbruch in dieselbe Welt – Bleibestrategien von Jugendlichen im ländlichen Raum, Marburg.
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