110603 Süddeutsche Zeitung

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Süddeutsche Zeitung/Feuilleton, 3. Juni 2011
Liebhabereien
Einar Schleef und Goethe bei den Ruhrfestspielen.
Wir alle kennen das zur genüge: Theater, das karrieristisch denkt, aufs
Publikum schielt oder routiniert Spielpläne vollstreckt. Wie schön, wenn man
daran erinnert wird, was Theater auch sein kann: eine echte
Herzensangelegenheit. Niemand zwingt Edgar Selge und seine Bühnen- und
Lebenspartnerin Franziska Walser, Goethes 'Iphigenie' zu spielen, kein
Intendant, kein Geldverdiendruck (hoffen wir jedenfalls). Nicht mal ein
Regisseur - denn den gibt es nicht, wenn die beiden jetzt bei den
Ruhrfestspielen und später im Maxim Gorki Theater in Berlin Goethes schwer
verdauliches Versdrama auf die Bühne bringen.
Es ist eine persönliche, fast private Vorstellung. Frau Walser selber erinnert
noch daran, die Handys auszuschalten. Dann hört man Herrn Selge aus der
ersten Parkettreihe zischen: 'Ja, wenn du nicht anfängst, fang ich an.' Was
Frau Walser mit trotzigem 'Nee!' quittiert. Kaum auf der Bühne, steht ihr dann
aber doch ganz theatralisch staunend der Mund offen mit tragischdramatischem Augenaufschlag. So tönt sie als Goethes gute Priesterin ins
Publikum. Selbst scheinbar spontan improvisierte Eingebungen wie 'Ach, du
lieber Gott, das ist ja gestrichen' wirken inszeniert.
Edgar Selge spricht an diesem Abend große Worte gelassen aus; bei seiner
Partnerin ist es eher umgekehrt. Ob als zu läuternder Barbarenkönig Thoas,
Iphigenies gestrandeter Bruder Orest oder dessen aufwiegelnder Kumpel
Pylades - immer blitzt das Selge-typische Augenzwinkern auf. Er kann auch
zornig, aber er liebt es lässig. Das tut dem Text gut, der atmen kann. Aber
Selge will mehr.
Diese Inszenierung in Eigenregie, unterstützt von befreundeten Ausstattern,
führt den Text mit einfachen Mitteln auf - und gleichzeitig vor. Per Filzstift
kritzelt Selge seine Rollennamen an die Wand, und wenn zu viele Figuren dran
sind, greift man betont linkisch zu putzigen Handpuppen. Man verehrt den
Text: Sonst würde man ihn kaum aufführen. Aber verschaukelt ihn: Weil man
ihm doch misstraut? Sagt Iphigenie: 'Ich zaudere.' Entgegnet Selge: 'Nein, an
dieser Stelle des Stücks wird nicht mehr gezögert, du hast genug Monologe
gehabt.' Hoho, wie
frech.
Die Zuschauer danken die Ironie mit frenetischem Beifall. Selten so gelacht bei
einer 'Iphigenie'! Aber wozu eigentlich? Das spöttische Kommentieren ist mehr
ein Kokettieren mit dem Publikum. Dass Goethes heiliges Humanitätsdrama
konstruiert, pathetisch, sprachlich totgeschliffen ist, ist bekannt. Sich darüber
zu belustigen, ist immer einfacher, als es lebendig und lebensnah zu machen wie es unlängst Sarantos Zervoulakos am Theater Oberhausen mit einer
exzellenten Hauptdarstellerin Elisabeth Kopp gelang. Hier aber sieht und
bestaunt man eine Edgar-Selge-Show. Am Ende geriert sich der Gatte noch
keck als Schauspiellehrer: 'Noch mal, ich hab dich nicht verstanden.' Während
Iphigenie zur störrischen Ehe- und Hausfrau wird: 'Ich bin so frei als wie ein
Mann.'
Das ist dann wenigstens ein Hauch von Interpretation. Aber vor allem
Ausdruck der ältesten aller Literaten-Weisheiten: Was sich neckt, das liebt sich.
Gilt hier mehr noch als gegenüber Goethe für den Spiel- und Ehepartner: Am
Ende verbeugt man sich dankbar voreinander.
Mit der Uraufführung von Einar Schleefs fast vollendetem Spätwerk 'Gute Reise
auf Wiedersehen' erfüllt sich auch Regisseur Ernst M. Binder einen
Herzenswunsch. Das Drama ist der vierte Teil der Tetralogie 'Totentrompeten',
den Binder einst beim Meister in Auftrag gab. Schon Teil eins und zwei hatte er
Mitte der Neunziger inszeniert. Zehn Jahre nach Schleefs Tod kann er jetzt mit seiner eigenen Truppe Drama Graz und dem Staatstheater Schwerin sowie
in Koproduktion mit den Ruhrfestspielen - das letzte Kapitel dieser NachwendeAuf- und -Abarbeitung realisieren.
Um es vorweg zu nehmen: Es täte dem Ruhm Schleefs keinen Abbruch, wenn
das unvollendete Drama weiter in der Nachlassschublade schlummern würde.
Es ist eine stilistisch ambitionierte, aber schwer verschachtelte Elegie aus
staubigen DDR- und Wendejahre-Reflexionen. Trude, Elly und Lotte, die drei
Alten aus dem Harz-Kaff Sangerhausen, sind durch Gewinn einer Fernreise
irgendwo zwischen Italien und Amerika konfrontiert mit der geballten
westlichen Freiheit, die sie fasziniert und irritiert und zu langen
Bewusstseinsgrabungen im kollektiven Ost-Gedächtnis animiert. Von Stöckchen
auf Hölzchen.
Ein Gestrüpp, in das die Regie eine lichtende Schneise schlagen müsste. Binder
versucht es, indem er einen ulkigen Polizisten-Prolog voranstellt, der in die
Metaphorik von Schleefs Stummelsprache einführt, und mit einem Diavortrag
aus vorherigen Inszenierungen als Nacherzählung 'Was bisher geschah'. So
gewappnet, geht es mit Trude (Modell Morgenmantel mit Lockenwickler), Elly
(Kostüm mit Feder im Haar) und Lotte (schlichtes Sommerkleid) auf die
Hartplastik-Sitzschalen-Wartebank. Und dann wird geredet. Redlich müht man
sich, aber der sperrige Text bleibt papieren und kommt einem selbst im
bissigen Zank der drei Systemtrümmerfrauen nicht nahe. Schutt zu ihren
Füßen. In ihrem Rücken eine Lufthansa-Stewardess, die artifiziell kranichartige
Schreie ausstößt - der Ruf der Freiheit? Eher die Wende als Sturzflug.
'Die deutsche Geschichte', konstatiert Trude. Und Elly ergänzt: 'Kannste
vergessen.' Und als bräuchte es da noch einen Kommentar, tritt schließlich der
Dramaturg höchstselbst in einem Epilog auf die Bühne und spricht von der
Verwurzelung des Menschen, aus der es kein Entkommen gebe. Was als
posthumer Liebesdienst am großen Schleef gedacht war, endet so als
Liebhaberveranstaltung. Rührig, aber nicht berührend.
Goethe leicht bekömmlich, Schleef im Schlafrock? Das Herz des Kritikers
schlägt woanders.
VASCO BOENISCH
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