»I« Eine TanzLesung zu Müllers Irene und Goethes Iphigenie Tanztheater Katja Erdmann-Rajski Programmheft »I« EINE TANZLESUNG zu Müllers Irene und Goethes Iphigenie Etymologiae. TanzVerse Akt III 17. März 2016 (Premiere) 18.-19. März 2016 12.-13. April 2016 jeweils 20 Uhr 15 Uhr Theaterhaus Stuttgart Ein fremdes Zimmer. Fremd das Bett und der Schrank. Die Heimat nur in einem Koffer. Müllers »I« ist auf der Flucht vor politischem, Goethes »I« vor religiösem Terror. Im Exil treffen sie auf die Fremde. In sich selbst. Ein irritierend ergreifender Dialog ent­w ickelt sich zwischen Goethes erhaben-klassi­s cher Vers­s prache und Herta Müllers beängstigend zerbrechlicher Prosa, zwischen Glucks dra­matischer Opern­musik und der minimalistischen Elektroklang­w elt Ockerts, zwischen Tanz und Sprache. Als TanzLesung über die Fremde. Text J.W. Goethe Iphigenie auf Tauris Herta Müller Reisende auf einem Bein Musik Christoph Willibald Gluck: Iphigénie en Tauride Matthias Ockert stretto Wir danken für die Förderung dem Kulturamt der Landeshauptstadt Stuttgart und der LBBW Mit Unterstützung vom Produktionszentrum Tanz+Performance e.V. und Theaterhaus Stuttgart Fotografie Maor Waisburd 1 2 3 Haben Sie viel Gepäck. Einen Koffer, sagte Irene. Möbel. Nein. Na, dann kaufen Sie sich bald ein Bett. Er lachte: Die beste Erfindung der Menschheit ist das Bett. 4 Es musste eine Überlegung geben vom Bett zum Kleiderschrank. Eine innere Vorstellung vom Tag. Vielleicht hing diese Vorstellung zusammen mit dem Schlaf, dachte Irene. Mit der Wärme der Haut. Mit der Farbe der Fußböden vielleicht, auf die das Licht fiel. Das wird sich herausstellen, wenn ich eine Wohnung hab. 5 6 EIN LEBEN AUS DEM KOFFER Prolog. »Geht es jetzt um Dich oder mich?« »Um uns, denke ich.« »Wir sind also beide »I«? Na, da ist ja nicht mehr viel von mir übrig.« Iphigenie ist zu Recht enttäuscht. Sie, die Gallionsfigur des klassi­ schen Huma­nitäts­ideals, steht in unserem Stück nicht mehr im Mittel­p unkt. Aber mittendrin. Iphigenie schlüpft in Irene und agiert aus ihr heraus. So wie all die Klassiker in uns – auch wenn wir uns ihrer gar nicht (mehr) bewusst sind. All der Themen, der Rhythmen klassischer Verssprache, die (noch) in uns sind. Unmerklich – wie auch die Texte von Goethe und Müller von der Sprecherin so gelesen werden, dass sie unmerklich ineinander übergehen. Und so wie sich im Tanz immer wieder Fragmente klassischer Bewegungs­s prache unvermit­telt nach außen, nach vorne drängen. Aber schauen wir uns, was im Tanz ungetrennt, mal getrennt voneinander an. Interlog. Zu lesen, zu sehen und zu hören nur auf der Bühne. Epilog. Es ist ein dramaturgischer Trick. Defoes Robinson Crusoe, Melvilles Moby Dick, Sartres Geschlossene Gesellschaft, Stephen Kings Shining, Karin Haushofers Die Wand. Oder Hitchcocks Traum, einmal einen ganzen Film in einer Telefonzelle z­ u drehen. Sie sperren ihre Figuren in einen Raum ein - eine Insel, ein Schiff, in sicht- und unsichtbare Wände. Dann müssen sie sich den Konflikten stellen. Sich selbst stellen. Ohne Fluchtmöglichkeit. So auch »I«. In der sich Goethes Iphigenie als auch Herta Müllers Irene aus ihrer Erzählung Reisende auf einem Bein begegnen. Beide auf der Flucht – und in der Flucht verfangen. Die eine findet – knapp dem Opfertod durch ihren Vater entgangen – Asyl als Priesterin in Dianas Tempel auf Tauris. Doch immer bin ich, wie im ersten [Jahr hier] fremd. Denn ach mich trennt das Meer von den Geliebten Und an dem Ufer steh ich lange Tage, Das Land der Griechen mit der Seele suchend, Und gegen meine Seufzer bringt die Welle Nur dumpfe Töne brausend mir herüber. Weh dem der fern von Eltern und Geschwistern Ein einsam Leben führt! Ihm zehrt der Gram Das nächste Glück vor seinen Lippen weg. In der Fremde bleibt sie die Fremde. Der Einsamkeit könnte sie nur in die Arme des taurischen Königs entfliehen. Dessen männliches (Besitz) Begehren sie aber selbstbewusst abwehrt. Von Jugend auf hab ich gelernt gehorchen, […] allein dem harten Worte, Dem rauhen Ausspruch eines Mannes mich Zu fügen lernt‘ ich weder dort noch hier. 7 Vehement pocht sie auf ihr Selbstbestimmungsrecht als Frau: Beschönige nicht die Gewalt Die sich der Schwachheit eines Weibes freut! Ich bin so frei geboren als ein Mann. Worte nur. Schön gesetzt. (Video)Projektionen eines allzu naiven Humanismus. Die folgenlos an ihr abgleiten. Als Frau bleibt ihr als Zuflucht vor männlicher Gewalt nur der kühle Tempel priesterlicher Jungfräulichkeit. Und wenn sie ihr Bruder Orest dann doch noch über das Meer »rettet«, dann in genau die patriarchal-brachiale Heimat, vor der sie eigentlich (dank göttlicher Hilfe) geflohen ist. Irenes Flucht aus den ideologischen Mauern eines totalitären Regimes endet in der »Freiheit«. Einem gesichts- und geschichts­ losen Zimmer. Schrank, Bett, Tisch, Stuhl füllen es nicht mit Leben. Das steckt in einem Koffer voller Erinnerungen. Abgewetzt, aber zum Bersten voll. Irene hatte geträumt, dass sie den Koffer packte. Überall im Zimmer lagen Sommerblusen. Der Koffer war voll. Irene legte noch Sommerblusen dazu. Sie waren schwer zu falten, weil sie so leicht waren, dass sie aus den Händen glitten. Das neue Leben will nicht in den Koffer passen. Es entgleitet ihr wie eine seidene Sommerbluse. Ich bin nicht heimatlos. Nur im Ausland. Ausländerin im Ausland, meint sie. Karger lässt sich die Entfremdung nicht beschreiben. Auch sie bleibt in der Fremde die Fremde. Ja, wird sich selbst fremd - wenn sie sich ihre Passfotos anschaut. 8 Eine bekannte Person, doch nicht wie sie selbst. Und da, worauf es ankam, worauf es Irene ankam, an den Augen, am Mund, und da, an der Rinne zwischen Nase und Mund, war eine fremde Person gewesen. Eine fremde Person hatte sich eingeschlichen in Irenes Gesicht. Das Fremde an Irenes Gesicht war die andere Irene gewesen. Sie kramt ihr altes Ich aus dem Koffer. Probiert ihre Kleider wie Rollen an. All die Kleider einer Person, die sie nicht mehr ist. Sie probiert ihre neuen an. Kleider einer Person, die sie nicht kennt. Und bleibt dazwischen stecken. In einer stillstehenden Flucht. Da kamen Gedanken in Irenes Kopf und gingen. Und keiner hatte was mit ihr zu tun. Ihr Koffer stand neben dem Stiegenhaus, warf einen Schatten neben die Tür. Und kein Gedanke drängte Irene zum Bleiben. Und keiner zum Gehn. Der Koffer stand lange geschlossen im Flur, als wäre Irene nur halb am Leben. Sie konnte nicht denken, nicht gehen. Am Ende lässt sie alles zurück. Einen Haufen voller Kleider. Textile Abhäutungen einer Fluchtexistenz. Irene verlässt die vier Wände, die nicht die ihren waren. Den leeren Koffer nimmt sie mit. Und ein neues Leben. Vielleicht. Literatur Goethe, Johann Wolfgang von: Iphigenie auf Tauris. In: Ders.: Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. 5: Dramen III. München: C.H. Beck, 1981, S. 7-67. Müller, Herta: Reisende auf einem Bein. 3. Auflage. Frankfurt a. M.: Fischer, 2013. 9 Arkas. Noch bedeckt Der Gram geheimnisvoll dein Innerstes; […] Und wie mit Eisenbanden bleibt die Seele Ins Innerste des Busens dir geschmiedet. 10 Iphigenie. Wie‘s der Vertriebnen, der Verwaisten ziemt. Arkas. Scheinst du dir hier vertrieben und verwaist? Iphigenie. Kann uns zum Vaterland die Fremde werden? Arkas. Und dir ist fremd das Vaterland geworden. 11 MITWIRKENDE Katja Erdmann-Rajski (Konzeption, Choreografie, Regie, Tanz) studierte an der Stuttgarter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Musik­erziehung mit dem Hauptfach Rhythmik. Nach ihrer anschließenden Tanzausbildung mit den Schwerpunkten zeitgenössischer Tanz, Tanztheater und Ausdruckstanz produ­ziert sie seit 2001 ihre eigenen Stücke in den Grenzbereichen von Musik und Tanz. Stipendiatin der Kunststiftung Baden-Württemberg. Zweimalige Konzeptions­förderung der Stadt Stuttgart für die Reihen WahlVer­ wandt­s chaften. Leben am Telefon und Etymologiae. TanzVerse in 5 Akten. Für C------H. Jandls Zunge erhielt Katja Erdmann-Rajski den Sonderpreis für eine herausragende choreographische Leistung beim Stuttgarter Theaterpreis 2010. 2013 erreichte ihr Solo­s tück Ritus die Finalistenrunde beim Stuttgarter Solotanz­festi­ val. Jurymitglied beim 19. Internationalen Solo-Tanz-Theater Festival Stuttgart 2015. Intensive Forschungsarbeiten zum Tanz (Gret Palucca). Lehrt seit 2003 im Bereich Kulturpädagogik/Kulturelle Bildung an der EH Darmstadt. Verena Wilhelm (Tanz) wurde 1986 in Schwetzingen geboren und begann im Alter von vier Jahren mit klassischem Ballettunterricht. Auf das Abitur folgte eine zeitgenössische Tanzausbildung in Berlin, die sie 2009 abschloss. Seitdem arbeitet sie freiberuflich als Tänzerin, u.a. mit Modjgan Hashemian für das Ballhaus Naunynstraße und das Tanzhaus Zürich, Companie Golde G. in Cottbus, mit tanzLOOPS für das LOFFT Leipzig und Hellerau – Zentrum für Künste Dresden und Christian Weiß/mehrsicht bzw. xweiss in mehreren Produktionen. 2012 wurde sie für ihre erste Soloarbeit FIRE AND FORGET mit einem Preis für Choreografie des Intern­a ­ tionalen Tanztheaterfestivals Stuttgart ausgezeichnet, zudem erhielt sie eine Residenz bei den werkstattmachern/LOFFT LEIPZIG. 2014 tanzte sie in Katja Erdmann-Rajskis Stück passion, 2015 in bloody business und Penthe. 12 Ulrike Goetz (Lesung) erhielt ihre Aus­bildung im Fach Sprechkunst an der Staat­lichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart. Seit 1986 entwickelt und erarbeitet sie (szenische) Lesungen und musikliterarische Programme, wirkt mit bei performativen Projekten in Zusammenarbeit mit Bildenden Künstlern, Schauspielern, Tänzern, Komponisten, Musikern und interpretiert Sprechrollen in Hörspielen, Orato­ rien und musiktheatralischen Werken. Sie lehrt Stimmbildung und Sprechgestaltung u. a. im Studiengang Intermediales Gestalten an der Kunstakademie Stuttgart und im Fachbereich Figurentheater an der Stuttgarter Musikhochschule. Anja Abele (Video) studierte an der Staat­ li­chen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart Kunsterziehung (u.a. bei Prof. Rainer Ganahl) und Intermediales Gestalten bei Joachim Fleischer. Schwerpunkt ihrer künstlerischen Arbeit bilden Untersu­chun­ gen und Interventionen im öffentlichen Stadt­r aum, die in Performances, Installa­ tionen und Videos umgesetzt werden. Darüber hinaus entwickelt sie in Theaterund Event­b ereichen Medieninszenierungen wie 2009 für die Frei­l ichtoper Didone Abbandonata (Projektstipendium Aka­demie Schloss Solitude) und in den letzten Jahren verstärkt Live-VideoElemente für Bühnenproduktionen und Bandkonzerte. Letzte Produktionen waren Gleisendes Glück/Studio Theater Stuttgart (Regie: Christoph Küster), die intermediale Tanzperformance Zeit­ge­n ossen/ Ackerstadtpalast Berlin/Turley Mannheim (mit Tänzerin Dorothea Eitel) und verschiedene Inszenierungen der Künstler­ gruppe Utopienwerkstatt (z.B. Textband spielt: Die Maske des roten Todes nach E.A. Poe/Uraufführung Wilhelmspalais Stuttgart/ nomi­n iert für den Stuttgarter Theaterpreis 2015). Anja Abele ist außerdem Gründungsmitglied von Plenty Empty e.V., Internet­ plattform zur Vernetzung von Künstlern und Leerstand in Stuttgart. 13 Oliver Feigl (Video), geb. 1983, studierte freie Grafik, Kunsterziehung und inter­ media­les Gestalten an der staatlichen Akade­mie der Bildenden Künste Stuttgart und war Betreiber des unabhängigen ­Projekt­r aumes »Arbeitstitel« in Stuttgart. Er lebt und arbeitet in Stuttgart. Seine Videoinstallationen sind in ­­Ausstel­l un­ gen im In- und Aus­land vertreten. Oliver Feigl ist als Gastdozent an diversen Hoch­s chulen tätig und Mitglied des Theater­ensembles MeinhardtKrauss-Feigl - cinematographic theatre und dort für die mediale Gestaltung zuständig. Das Ensemble bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Figuren- und Schauspiel, Tanz, Film und Neuen Medien. Ihre Inszenierungen wurden auf einer Vielzahl von nationalen und internationalen Festivals aufgeführt. Carolin Bock (Licht /Technik) studierte Kulturwissenschaft an der Universität Hildesheim. Sie arbeitete als Licht­gestal­ terin im Kleinkunstbereich mit Friedhelm Kändler, Die Steptokokken, dem Duo Marianne Iser & Thomas Duda sowie der freien Theatergruppe Mahagoni. 2001 bis 2003 war sie als Produktionsassistentin bei BM Communications in Ludwigsburg tätig. Danach machte sie sich selbstständig. 2003 traf sie den Choreografen Lior Lev und hat als Projektbe­ treuerin sowie Lichtgestalterin an seinen Produktionen mitgewirkt. Für die Tänzerin und Choreografin Christine Chu gestaltete sie 2006 und 2007 das Lichtdesign für Glücken des Tages, 10 Fragen an Ellen und Trans-Vision. Seit 2008 arbeitet sie mit Katja ErdmannRajski zusammen und entwickelte das Lichtdesign für Glenn Gould (2008), Hedy Lamarr (2010), Die Geliebte (2011), Cantus firmus (2012), die sieben schmerzen (2013), passion (2014), bloody business und Penthe (2015). 14 Matthias Schneider-Hollek (Musik) Querflöten- und Komposi­tionsstudium (Schwerpunkt: Elektronische Musik) in Stuttgart. Komponiert seither Filmmusiken für ARD/ARTE/SWR/MDR, Musik für inter­nationale Theater- und Tanzbühnen. Instal­l a­tionen/Performances im inter­­me­dialen Kontext. Live- und Studioprojekte u.a. durban poison IV, elektronminibarklingelton, Donnerstagskartell, New York Lounge, Dundu und Munich Composers Collective. Arbeitet seit 2006 mit Katja Erdmann-Rajski zusammen. Ulrich Fleischmann (Dramaturgie) studier­te Germanistik und Geschichte an der Uni­ver­s ität Stuttgart und Histori­s che Anthro­po­logie an der École des Hautes Études en Sciences Sociales, Paris. Seit 1995 arbeitet er als Texter, Designer und Konzeptioner in dem von ihm mitbegrün­deten Büro ­­textgestalt. Fleischmann & Kirsch Kommunikationsdesign. Designauszeich­ nungen (red dot award, DDC, if, Corporate Design Preis, Berliner Type, u.a.) und Publikationen über Design, Text und Literatur. Seit 2005 begleitet er die Arbeit Katja ErdmannRajskis in Kommunikation und Dramaturgie. Von 2008 bis 2013 Professor für Textgestaltung an der Fakultät für Gestaltung der Hochschule Augsburg, lehrt er dort seit 2014 als Professor für Angewandte Kultursemiotik (Bild und Text). 15 16 Was ist der Tod? ein Übergang zur Ruhe, Und dann, an deiner Seite Ist er Vorgeschmack der Seligkeit. Meinetwegen sollst du sterben! Ich bereite dir den Tod! Du stirbst meinetwegen, Ich nur zog dich ins Verderben, Und ich soll nicht mit dir sterben? Wonne ist mir dies Gebot! Edle Seele! dir zu leben War mein Wunsch und all mein Streben. Ohne dich ist mirs nur Pein, Länger auf der Welt zu sein. Ich will alles gerne leiden, Ruhig sterb‘ ich, und mit Freuden, Da ich dir zur Seite bin. Um dich, Geliebter! Um dich, Geliebte! Geb‘ ich gern mein Leben hin! O welche Seligkeit! Mit der Geliebten / dem Geliebten sterben Ist seliges Entzücken! Mit wonnevollen Blicken. Verlässt man da die Welt. Duett Belmonte, Konstanze, Die Entführung aus dem Serail Tanztheater Katja Erdmann-Rajski [email protected] www.erdmann-rajski.de