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Gesundheitssystem
Versorgungsforschung: Check-up für
das Gesundheitswesen
12.05.2014 Deutschland hat
eines der besten
Gesundheitssysteme der Welt.
Doch was macht eine gute
Versorgung aus? Die
Versorgungsforschung ist ein
relativ junger Forschungszweig:
Sie untersucht, welche
Quelle: © pabijan - Fotolia.com
Therapien, Technologien und
Behandlungswege nutzen dem
Patienten wirklich? – und
sammelt so auch wichtige Erkenntnisse für medizintechnische Unternehmen.
1
Versorgungsforschung untersucht den Versorgungsalltag
Wir brauchen mehr Versorgungsforschung! – Nahezu kein medizinischer Kongress,
keine gesundheitspolitische Fachtagung kommt heute mehr ohne diese Forderung aus.
Warum aber muss jetzt die Versorgung selbst untersucht werden?
Fachleute sind sich einig, klinische
Studien spiegeln nur sehr begrenzt
den Versorgungsalltag wider. Sie
werden meist unter idealtypischen
Bedingungen erstellt. In einem Artikel
für das Deutsche Ärzteblatt 2010
beschreibt der Gesundheitsökonom
Professor Gerd Glaeske die
Bedingungen: Das oft stark selektierte
Patientenkollektiv und die kontrollierte
Quelle: © spotmatikphoto - Fotolia.com
Situation in einer klinischen Studie
schränken die Übertragbarkeit der
Ergebnisse auf die Praxis ein. „Die Versorgungsforschung beschäftigt sich genau mit diesem
Delta, welches zwischen klinischen Studien einerseits und der konkreten
Versorgungssituation andererseits stattfindet“, erklärt Professor Volker Amelung vom privaten
Institut für angewandte Versorgungsforschung (INAV) in Berlin.
Versorgungsforschung ist – auch – Marktforschung
Denn zurzeit gleicht unser Gesundheitssystem noch einer riesigen Black Box. Seit 2012 geben
wir insgesamt – für gesetzliche und private Leistungen – rund 300 Milliarden Euro für
Gesundheit aus, meldet das Statistische Bundesamt. Es können aber keine validen Aussagen
darüber getroffen werden, „welche Krankenhäuser beispielsweise neue Medizintechnologien
benutzen? Und gibt es einen Unterschied im Outcome? Sterben Patienten früher in den
Häusern, die weniger moderne Medizintechnik benutzen?“ Fragen, die auch einen der
Pioniere der Versorgungsforschung in Deutschland, Professor Holger Pfaff vom Institut für
Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft (IMVR) der
Universität zu Köln umtreiben. Eine Intensivierung der Versorgungsforschung fordert
deswegen auch schon seit langem der Sachverständigenrat zur Begutachtung der
Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR) und empfiehlt, die Versorgungsforschung auf eine
gesetzliche Grundlage zu stellen – um ein wenig Licht ins Dunkel der Black Box zu bringen.
Dabei ist der relativ junge Forschungszweig besonders auch für Medizintechnikunternehmen
interessant. Er liefert wertvolle Erkenntnisse über Marktpotenziale, die nicht nur am Anfang
die Produktentwicklung beeinflussen, sondern auch in der späteren Markteintrittsphase von
Bedeutung sein können. Beispiel Hausnotrufsysteme. Das INAV untersucht derzeit die
Fragestellung: Kann durch diese Technologie die Pflegestufenprogression verlangsamt
werden? Die Annahme: Nutzer von Hausnotrufsystemen trauen sich länger in ihrer
häuslichen Umgebung zu verbleiben. Und: Welche Auswirkungen haben die
Hausnotrufsysteme auf die nächsten Angehörigen? Hier die Annahme: Angehörige werden
entlastet. Mit Erkenntnissen wie diesen können Hersteller besser vorbereitet in die
Erstattungsverhandlungen mit den Krankenkassen gehen, ein professionelles Marketing
aufsetzen, oder Kooperationen eingehen.
Unübersichtliche Forschungslandschaft
Es lohnt sich also, Versorgungsforschungsprojekte aufmerksam zu verfolgen, oder über
Forschungsverbünde gegebenenfalls mit zu initiieren. Doch wer forscht gerade an welchem
Thema? Die Forschungslandschaft ist groß und unübersichtlich. Angefangen von den
Universitäten über Krankenkassen bis zur Bundesärztekammer werden unterschiedlichste
Projekte aufgelegt, hinzu kommen private Anbieter wie das INAV, die Auftragsforschung
betreiben. Auch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) hat die
Bedeutung der Versorgungsforschung früh erkannt und fördert seit nunmehr zwei
Jahrzehnten diesen Forschungszweig, mittlerweile unter dem Dach der
Gesundheitsforschung. Insgesamt stellt das BMBF in dem Förderzeitraum von 1998 bis 2016
etwa 170 Millionen Euro zur Verfügung, heißt es in einem Papier des
Gesundheitsforschungsrates. Eine Auswahl der wichtigsten Links zum Thema
Versorgungsforschung und der vom BMBF geförderten Projekte finden Sie am Ende der
Seite.
Daneben hat das IMVR gemeinsam mit dem Institut der Techniker Krankenkasse,
Wissenschaftliches Institut für Nutzen und Effizienz im Gesundheitswesen (WINEG), eine
Datenbank auf den Weg gebracht, die zum Ziel hat, den Stand der Versorgungsforschung in
Deutschland abzubilden, Best-Practice-Modelle zu identifizieren und die Vernetzung zwischen
den Forschern zu fördern. Die Datenbank umfasst derzeit 320 registrierte Projekte und ist frei
und kostenlos zugänglich. Die meisten Projekte beschäftigen sich mit Patientenorientierung
sowie dem Zugang und der Inanspruchnahme unseres Gesundheitssystems, 22 haben
medizinische und technische Innovationen zum Forschungsgegenstand.
Klar ist aber auch: Versorgungsforschung ersetzt nicht klinische Studien, vielmehr stellt sie
eine sinnvolle Ergänzung dar. „Die Versorgungsforschung arbeitet mit mehr Variablen, dies
erhöht deutlich die Komplexität“, erläutert Professor Volker Amelung. Dennoch betont er:
„Viele Unternehmen könnten es sich einfacher machen, wenn sie in die Erstattungsphase
gehen. Es muss nicht immer das große aufwendige Versorgungsforschungsdesign sein, häufig
passt auch eine ganz kleine niedrigschwellige Studie. Nur sauber aufgesetzt muss sie sein.“
Linkliste zum Thema Versorgungsforschung
www.gesundheitsforschung-bmbf.de
Auf dieser Seite erhalten Sie einen Überblick über die vom BMBF geförderten
Versorgungsforschungsprojekte.
www.netzwerk-versorgungsforschung.de
Das Netzwerk Versorgungsforschung hat sich 2006 gegründet. Mit heute über 100
Mitgliedern bietet es eine Plattform für Fachgesellschaften, Institutionen und
Wissenschaftlern, die sich der Erforschung unseres Gesundheitssystems verschrieben haben.
Das Netzwerk organisiert den Deutschen Kongress für Versorgungsforschung vom 24. Bis 27.
Juni 2014 in Düsseldorf.
www.versorgungsforschung-deutschland.de
In dieser Datenbank sollen alle Versorgungsforschungsprojekte in Deutschland registriert
werden. Ziel ist, Transparenz im Projektdschungel zu bieten und die Versorgungsforscher
miteinander zu vernetzen.
www.monitor-versorgungsforschung.de
Die Website des gleichnamigen zwei monatlich erscheinenden Print-Magazins bietet
Nachrichten, Veranstaltungstermine und Abstracts. Der Monitor Versorgungsforschung ist ein
Medium der eRelation AG - Content in Health.
www.wido.de
Das wissenschaftliche Institut der AOK ist eine der ältesten Einrichtungen in Sachen
Versorgungsforschung. Seit 1976 arbeiten die Wissenschaftler daran, unser
Gesundheitssystem zu erforschen.
www.wineg.de
Dieses Institut arbeitet im Auftrag der Techniker Krankenkasse. Es hat sich zum Ziel gesetzt,
Fragen im Sinne der Versicherten zu stellen und wissenschaftliche Antworten zu geben mit
dem Ziel, die gesundheitliche Versorgung zu verbessern.
www.inav-berlin.de
Das Institut für angewandte Versorgungsforschung ist ein Beratungsunternehmen und
begleitet seine Kunden von der Konzeption über die Markteinführung bis zur Evaluation im
Gesundheitswesen.
2
Daten im Überfluss
Obwohl Deutschland über eine gute Ausgangslage an Versorgungsdaten verfügt,
profitierte die Versorgungsforschung bislang kaum davon. Ein Pilotprojekt des
Deutschen Instituts für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) soll dies
nun ändern. Auch medizintechnische Unternehmen haben künftig Zugang.
Mehr als 70 Millionen Menschen in
Deutschland gehören der
gesetzlichen Krankenversicherung an.
Die 134 Kassen in Deutschland
verfügen damit über einen
ungeheuren Schatz an Daten. Ob
Arztbesuche, Krankenhausaufenthalte,
Arzneimittelverordnungen, Heil- und
Hilfsmittelverordnungen – bei ihnen
laufen die unterschiedlichen
Quelle: © Gina Sanders - Fotolia.com
Datenströme ihrer Versicherten
zusammen. Diese Kassendaten
werden Sekundär- oder auch Routinedaten genannt. Sie sind für die Versorgungsforschung
von besonderer Bedeutung, weil dieser Datenpool ein wesentlich größeres Patientenkollektiv
repräsentiert, als dies etwa in klinischen Studien dargestellt werden kann und weil sie
sektorenübergreifend Rückschlüsse auf die Versorgungssituation der Patienten ermöglichen.
Big Data: Milliarden von Versorgungsdaten stehen zur Verfügung
Bis vor kurzem war der Zugang für die Versorgungsforscher zu diesen Daten nicht möglich.
Und nicht nur die Kassendaten waren unter Verschluss, traditionell werden die
Versorgungsdaten von den Organisationen der Selbstverwaltung gehütet wie ein Schatz. Mit
der Datentransparenzverordnung aus dem Jahr 2012 hat das Bundesgesundheitsministerium
nun eine Tür geöffnet hin zu mehr Datentransparenz. Seit dem Februar dieses Jahres startet
das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) ein Pilotprojekt
zur Nutzung von Versorgungsdaten. Es erlaubt der Selbstverwaltung, aber auch
Forschungseinrichtungen und Interessenvertretungen von Patienten, mit Krankenkassendaten
zu arbeiten. Was nicht im Gesetz steht: Auch privatwirtschaftliche Unternehmen können
beispielsweise durch Kooperationen mit Forschungseinrichtungen indirekt die Daten nutzen.
Sven Borowski, Presseverantwortlicher des DIMDI: „Wir können schon aus fehlenden
rechtlichen und personellen Voraussetzungen keine Interessenskonflikte oder wirtschaftliche
Verflechtungen prüfen.“
Möglich ist es nun, mit den Routinedaten der gesetzlichen Krankenkassen zu arbeiten. Die
Routinedaten aller gesetzlichen Krankenkassen laufen beim Bundesversicherungsamt
zusammen. Dort wird ein kassenartenübergreifender Finanzausgleich errechnet. Diese
Datensätze erhält künftig das DIMDI. Damit stehen dem DIMDI zunächst 5,4 Milliarden
pseudonymisierte Datensätze zur Verfügung, in einem weiteren Schritt sind es zirka 8,3
Milliarden. In dieser Größenordnung wurden die Datensätze der gesetzlichen
Krankenversicherung bislang noch nicht zusammengeführt. Das Informationssystem
Versorgungsdatenbank des DIMDI ist somit ein wichtiger Schritt für eine leistungsfähigere
Versorgungsforschung in Deutschland. Denn nur eine Zusammenführung der Daten aus den
unterschiedlichen Versorgungsbereichen erlaubt einen ganzheitlichen Blick auf unser
Versorgungssystem. Allerdings werden mit dem DIMDI-Pilotprojekt nicht alle Wünsche der
Versorgungsforscher erfüllt, beispielsweise ist noch keine Verknüpfung der Routinedaten mit
anderen Datenquellen, wie zum Beispiel dem Krebsregister, möglich. Auch der
Regionalbezug der Daten soll erst im Laufe des Projekts realisiert werden.
Ohnehin sei der Umgang mit Routinedaten ein extrem mühsames Geschäft erläutert Professor
Volker Amelung. „Es ist eines der am meisten unterschätzten Gebiete, unterschiedliche
Datensätze miteinander verknüpfen, die zu einem unterschiedlichen Zeitpunkt, in
unterschiedlicher Qualität, zur Verfügung stehen. Jeder Datensatz muss auf Plausibilität
überprüft werden.“ Deswegen sei die Arbeit mit Routinedaten auch die klassische
Kernkompetenz der Versorgungsforschung.
3
Register helfen Daten generieren
Register sind ein wichtiger Teil der Versorgungsforschung: Sie generieren medizinische
und produkttechnische Daten unter Alltagsbedingungen und dienen so der
Qualitätssicherung in der medizinischen Versorgung.
Einer der häufigsten Eingriffe in
deutschen Krankenhäusern ist das
Einsetzen eines künstlichen Gelenks.
Mehr als 360.000 Menschen
erhielten 2013 ein künstliches Hüftoder ein künstliches Kniegelenk. Die
Komplikationsrate liegt bei nur etwa
zwei Prozent laut Bundesverband
Medizintechnologie (BVMed).
Dennoch ist es wichtig zu wissen,
Quelle: © psdesign1 - Fotolia.com
warum in zwei Prozent der Fälle ein
Gelenkersatz Probleme bereitet oder
gar eine Revisions-Op erforderlich macht. „Mit Registern sammeln wir
Marktbeobachtungswissen“, sagt Joachim M. Schmitt, Geschäftsführer des BVMed. „In einer
Längsschnittbeobachtung wollen wir herausfinden, war es ein Produktfehler, hat der Arzt
einen Fehler gemacht oder lag es an der Compliance des Patienten.“ Um die Qualität bei
Endoprothesen transparenter zu machen, ist der BVMed 2013 gemeinsam mit der Deutschen
Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie (DGOOC), dem AOK-Bundesverband
und dem Verband der Ersatzkassen sowie dem BQS-Institut mit einem Endoprothesenregister
gestartet und ist damit politischen Forderungen ein Stück zuvor gekommen. Im
Koalitionsvertrag sind weitere Register geplant, ein Transplantationsregister und ein
Implantateregister sollen aufgebaut, bereits bestehende Register sollen dabei einbezogen
werden, die Datenlieferung ist dann verpflichtend.
Industrie und Kassen haben den Wert von Registern früh erkannt
Register schaffen ein Stück weit Transparenz. Vor dem Aufbau des Endoprothesenregisters
gab es beispielsweise keine aggregierten Daten, wann und wo ein Fabrikat zum Einsatz kam –
mangelhafte Produkte konnten nicht zurückverfolgt werden. BVMed-Geschäftsführer Joachim
M. Schmitt spricht über den Aufbau des freiwillig zustande gekommenen
Endoprothesenregisters deswegen auch von einem Leuchtturmprojekt der
Versorgungsforschung. Ein wesentlicher Bestandteil des EPRD ist eine Produktdatenbank, die
von den Endoprothetik-Unternehmen des BVMed finanziert und gepflegt wird. Die
Produktdatenbank umfasst bereits über 35.000 unterschiedliche Artikel und ist damit auf
einem guten Weg, das Marktgeschehen bei den Gelenkersatz-Implantaten möglichst
vollständig abzubilden. Für den Aufbau des Registers sind drei unterschiedliche Datensätze
erforderlich: die Routinedaten der Krankenhäuser, die pseudonymisierten Patientendaten der
Krankenkassen sowie die Produktdaten der Implantatehersteller. Beteiligt sind rund 17 im
BVMed vertretene Hersteller von Endoprothesen, dies sind rund 95 Prozent des Marktes.
Beteiligt an dem Projekt sind Krankenkassen, die Medizinischen Fachgesellschaften und
„zunehmend auch Krankenhäuser“, so Schmitt.
Register dienen somit der Qualitätssicherung und damit dem Patientenschutz, aber auch die
Unternehmen können wertvolle Hinweise erhalten, die in ihre Produktentwicklung einfließen.
Die Industrie, so scheint es, hat die Bedeutung von Registern zunehmend erkannt, neben
einem Herzklappenregister sind weitere Register im Aufbau: beispielsweise das Register
PTAREG zur Behandlung von Gefäßverschlüssen (PVAK) mit Stent-Systemen, initiiert vom
BVMed-Fachbereich. Allerdings steht und fällt die Güte der Datenqualität der freiwilligen
Register mit ihrer Anzahl der beteiligten Firmen und Kliniken. Zugang zu den Registerdaten
haben Hersteller, Krankenhäuser und Krankenkassen, nicht aber Patienten oder
Patientenvertreter. Letztere werden durch eine Publikation informiert. Eine erste Evaluation
der Registerdaten steht in diesem Jahr noch bevor.
4
Versorgungsforschung aus Sicht der AOK
Die AOKen zählen zu den größten gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland und sie
unterhalten seit Jahrzehnten ein eignes Institut für Versorgungsforschung, das
Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO). Im Interview erklärt Geschäftsführer Jürgen
Klauber, was das WIdO mit seinem Datenpool macht und warum nicht jede
medizintechnische Innovation ein Fortschritt ist.
Das WIdO gibt es nun seit 38 Jahren und es zählt mit seiner Arbeit zu den Pionieren in der
Versorgungsforschung in Deutschland. Was hat damals zu seiner Gründung geführt? Warum
ist es für die AOK heute wichtig,
Versorgungsforschung zu betreiben?
Jürgen Klauber: Als das Institut im Jahr 1976 gegründet wurde, wurde ihm die Aufgabe
zugeschrieben, mit wissenschaftlicher Forschung für die AOK wie auch im Sinne der gesamten
Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) tätig zu werden. Dabei wurde Wert darauf gelegt,
einen mit entsprechenden Freiheiten
ausgestatteten Wissenschaftsbetrieb
im Verbandsgefüge auf den Weg zu
bringen. Der bisherige Erfolg des
WIdO bestätigt, dass diese Ausrichtung
zukunftsweisend war.
Versorgungsforschung bleibt auch
heute für die AOK essentiell, geht es
Quelle: © thomasp24 - Fotolia.com
doch darum, den Menschen im
Krankheitsfall eine qualitativ hochwertige Versorgung zu bieten. Natürlich liegt es auch im
Interesse der Versicherten und der Gesellschaft, diese möglichst wirtschaftlich zu gestalten.
Das WIdO versteht sich dabei als Bindeglied zwischen Wissenschaft und Praxis.
Was sind die zentralen Forschungsschwerpunkte und Erkenntnisse Ihres Instituts?
Klauber: Die Forschungsschwerpunkte des WIdO sind vielfältig. Fragen der Qualität und
Wirtschaftlichkeit der Versorgung werden seit Jahrzehnten sowohl in der sektoralen
Betrachtung des Arzneimittelmarktes, der ambulanten und der stationären Versorgung
empirisch analysiert wie auch in einer intersektoral am Patienten orientierten
Versorgungsperspektive. Natürlich umfasst dies auch die ordnungspolitischen
Gestaltungsoptionen.
Beispielsweise haben die Analysen zum Arzneimittelmarkt, unter anderem dargelegt im
jährlichen Arzneiverordnung-Report, seit Mitte der 80er Jahre vielfältige Impulse im Sinne
einer rationalen, qualitativ besseren und wirtschaftlicheren Arzneimitteltherapie gesetzt. Diese
haben Eingang in diverse Gesetzgebungen gefunden. Der aufkeimende Generikamarkt,
Arzneimittelfestbeträge, der Marktrückgang umstrittener Arzneimittel, die Kritik
patentgeschützter Nachahmerprodukte, die Entwicklung vertragswettbewerblicher
Möglichkeiten bis hin zu den heutigen zentralen Preisverhandlungen wurden frühzeitig
thematisiert, analysiert und befördert. Neben den Impulsen für die Gestaltung von
Marktrahmenbedingungen werden aber auch die Marktakteure in der Praxis unterstützt. Dies
ist beispielsweise der Fall, wenn das WIdO Software bereitgestellt, die eine unabhängige
pharmakologische Beratung der Ärzte unter Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitsaspekten erlaubt.
Mit Qualitätssicherung mit Routinedaten (QSR) bietet das WIdO heute ein Verfahren, das es
gestattet, Unterschiede in der indikationsbezogenen Ergebnisqualität der Patientenversorgung
im Krankenhaus deutlich zu machen und dies auch in der zeitlichen Nachverfolgung nach der
Entlassung aus dem Krankenhaus. So ist es erheblich, wenn Komplikationsraten bei
bestimmten Eingriffen im schlechtesten Viertel der Krankenhäuser mindestens doppelt so
hoch sind wie im besten Viertel der Häuser. Wichtig ist natürlich auch hier der Transfer in die
Praxis. Krankenhäuser können ausführliche Klinikberichte zur Verbesserung in ihrem
klinikinternen Qualitätsmanagement nutzen. Versicherte und einweisende Ärzte haben die
Möglichkeit, sich im Internet über Outcome-Unterschiede zu informieren.
Zentrale Herausforderungen für die Versorgungsforschung sind die Auswirkungen der
demographischen Entwicklung und die chronischen Volkskrankheiten. Umfänglichste
Aktivitäten der Versorgungsforschung sind in den letzten zehn Jahren in Deutschland
entstanden. Viele dieser Themen greift auch das WIdO in seiner Forschungsarbeit und in
Forschungskooperationen auf. Ergebnisse werden unter anderem im Versorgungs-Report
veröffentlicht, der sich mit chronischen Erkrankungen und Gesundheit im Alter befasst, aber
auch einzelne Versorgungsfelder fokussiert. Jüngst wurde der aktuelle Report zum
Schwerpunkt Depression veröffentlicht.
Ein weiteres zentrales Themenfeld der WIdO-Arbeit ist die betriebliche Gesundheitsförderung
und auch mit den Fragen der Sicherung der Pflege wird sich das Institut in den nächsten
Jahren verstärkt befassen.
Warum braucht eines der besten Gesundheitssysteme der Welt überhaupt
Versorgungsforschung?
Klauber: Auch wenn Deutschland ein gutes Gesundheitssystem hat, belegt es nicht in allen
Bereichen Spitzenplätze. Hierzu kann man auf die Gutachten des Sachverständigenrates
verweisen, die Fragen von Unter-, Über- und Fehlversorgung thematisieren. Beispielsweise
Überlebensraten bei bestimmten Krebserkrankungen sind keineswegs international top
sondern liegen eher im Mittelfeld. Hinsichtlich der Frage, welches Versorgungsniveau mit
welchen Gesundheitsausgaben realisiert wird, zeigen internationale Rankings, z. B. des
Commonwealth Fund, immer wieder, dass auch in unserem sicher recht guten
Gesundheitssystem Luft nach oben besteht. Ganz abgesehen davon, dass man sich auch gute
Plätze immer wieder neu erarbeiten muss.
Versorgungsforschung steht und fällt mit der Datenqualität. Mit mehr als 24 Millionen
Versicherten kann das WIdO auf einen hochwertigen Datenpool zurückgreifen. Wie
aussagekräftig sind Ihre Daten? Was leisten sie und was nicht?
Klauber: In der Tat erlauben die uns vorliegenden anonymisierten Routinedaten aus der
Abrechnung der Leistungserbringer mit den Krankenkassen umfängliche Möglichkeiten der
Versorgungsforschung. Die gesundheitliche Versorgung eines Versicherten kann so im
Zeitverlauf und über alle Versorgungsbereiche hinweg, egal ob ambulante oder stationäre
Leistungen, Arzneimittel, Heilmittel etc. untersucht werden. Dazu nutzen wir die modernsten
Möglichkeiten der Big Data - Analyse.
Der Vorteil dieser Daten liegt auf der Hand. Es entsteht kein zusätzlicher Erhebungsaufwand
und zweckgebundene Abrechnungsdaten, die geprüft sind, stehen für Validität und
Vollständigkeit. Natürlich haben auch Abrechnungsdaten ihre Grenzen, die man je nach
Forschungsfrage sorgfältig betrachten muss. So muss man die Qualität der Daten gleichwohl
immer auch prüfen, auch sind sie nicht immer ausreichend. So können beispielsweise beim
zuvor benannten QSR-Verfahren nicht alle Qualitätsindikatoren mit Routinedaten gebildet
werden, Prozessindikatoren der Versorgungsqualität im Krankenhaus brauchen sehr wohl
auch zusätzliche Erhebung und Dokumentation.
Zweifellos besteht aber mit den vorliegenden Routinedaten aus der Abrechnung ein
umfänglicher Datenschatz, welcher der Versorgungsforschung gemäß § 303 SGB V ja auch
zugänglich gemacht wird.
Schaut man sich die WIdO-Forschungsschwerpunkte an, fällt auf, Sie nehmen so ziemlich alles
unter die Lupe, nur die Medizintechnik nicht. Was ist der Grund dafür?
Klauber: Leider können wir nicht alles machen. Unsere Versorgungsforschung ist zwar breit
aufgestellt, aber im Focus steht zunächst der Patient, die Frage einer qualitativ hochwertigen
und wirtschaftlichen Versorgung. Unsere Tätigkeit ist da in der Tat schon sehr umfänglich.
Einzelne Produktbewertungen oder Evaluationen von Produkteinführungen in die Versorgung,
seien es Medizinprodukte, neue Therapieverfahren oder neue Hilfsmittel und
telemedizinische Möglichkeiten in der Vernetzung der Gesundheitsversorgung, zählen aktuell
nicht zu unserem direkten Tätigkeitsfeld.
Zweifellos besteht hier aber auch ein wichtiges Feld der Versorgungsforschung, wenn es
darum geht zu bewerten, was medizintechnische Innovationen tatsächliche leisten und für
welche Patientengruppen sie geeignet sind. Verwiesen sei beispielsweise auf die Diskussion
um die kathetergestützte Aortenklappen-Implantation. Generell gilt, dass nicht jede
vermeintliche medizintechnische Innovation ein Fortschritt ist. Hier ist es neben der zunächst
notwendigen Bewertung der Produkteignung und Produktsicherheit dann auch eine Aufgabe
der Versorgungsforschung, den praktischen Nutzen und die Reichweite einer neuen
Medizintechnik zu bewerten.
5
Versorgungsforschung in der Praxis – Beispiel Heimdialyse
Das IGES-Institut hat herausgefunden: Jeder dritte Patient könnte zu Hause dialysiert
werden. Nur fünf Prozent der heute 83.000 dialysepflichtigen Patienten nutzt diese
Versorgung.
Die Versorgungssituation von
dialysepflichtigen Patienten richtet sich
in Deutschland zu stark an
strukturellen Gegebenheiten und nicht
am individuellen Versorgungsbedarf
der Patienten aus. Dies ist ein
Ergebnis einer Untersuchung des
IGES Institut in Berlin im Auftrag des
Medizintechnik- und
Pharmaunternehmens Baxter
Quelle: © beerkoff - Fotolia.com
Deutschland. „Vor allem die
Peritonaldialyse, bei der Schadstoffe
über das Bauchfell in eine Dialyselösung gelangen, ist als Heimverfahren besonders geeignet.
Sie kommt jedoch zu selten zum Einsatz. 95 Prozent der Dialysepflichtigen werden mittels
Hämodialyse behandelt. Dabei wird das Blut außerhalb des Körpers über synthetische
Membranen gereinigt, was derzeit fast ausschließlich in Dialyseeinrichtungen geschieht.“
Künftiger Versorgungsbedarf ist nur durch Heimdialyse zu decken
„Deutschland ist im Vergleich zu den internationalen Verteilungen stark auf die Hämodialyse
in Dialysezentren ausgerichtet“, sagt Professor Dominik Alscher, Vorstandsmitglied der
Deutschen Gesellschaft für Nephrologie. Notwendig sei eine verbesserte Patienteninformation
über die Möglichkeiten der Peritonaldialyse, damit die Patienten selbst entscheiden können,
welche Versorgung für sie die richtige sei. Hans-Holger Bleß, Leiter des Bereichs
Versorgungsforschung im IGES Institut, nennt neben den infrastrukturellen Bedingungen
auch eine fehlende Differenzierung in der Vergütung sowie mangelnde Kenntnisse der
Nephrologen und Fachpflegekräfte in der Heimdialyse als Gründe für die Unterversorgung.
Durch statistische Modellierung epidemiologischer Daten und durch Expertengespräche
prognostizieren die Wissenschaftler einen Anstieg der Patientenzahlen bis 2020 um 20
Prozent und einen Rückgang der Fachärzte um acht Prozent. Ursachen für die Zunahme
dialysebedürftiger Menschen sehen die Experten in der Zunahme der Volkskrankheiten
Diabetes und Bluthochdruck, aber auch in den Erfolgen der Nierenersatztherapie.
© medizintechnologie.de/im
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