Kinder und Jugendliche in der wissenschaftlichen Forschung

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Bildung, Sozialisation und Lernen.
Citation for the original published chapter:
Kraus, A. (2017)
Kinder und Jugendliche in der wissenschaftlichen Forschung: Einführung.
In: Anja Kraus, Jürgen Budde, Maud Hietzge & Christoph Wulf (ed.), Handbuch Schweigendes
Wissen: Erziehung, Bildung, Sozialisation und Lernen (pp. 392-400). Weinheim: Verlagsgruppe
Beltz
N.B. When citing this work, cite the original published chapter.
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In: Kraus, A.; Budde, A.; Hietzge, M.; Wulf, Ch. (Hg.): Handbuch Schweigendes Wissen Erziehung, Bildung,
Sozialisation und Lernen. Weinheim, Basel: Juventa/Beltz. 2017, S. 392 – 400
Kinder und Jugendliche in der wissenschaftlichen Forschung –
Einführung
Anja Kraus
Diverse gesellschaftliche Gruppen werden stets unter bestimmten historischen und lokalen
Bedingungen, epistemologischen Vorzeichen und mit praktischen Zielsetzungen als
Gegenstände oder auch als Akteure sozialwissenschaftlicher Forschung thematisiert.
Teilweise sind solche Zusammenhänge auch selbst Gegenstand der Forschung, sehr häufig
aber bleiben sie unreflektiert. In unserem Kontext ist die Thematisierung von Kindern und
Jugendlichen in der Forschung von Interesse, Sie wird ausschnitthaft anhand der These
analysiert, an expliziten wie impliziten Menschenbildern orientiert zu sein.
Die Beforschung von Kindern und Jugendlichen erklärt sich vor allem dadurch, dass diese
Personengruppe traditionell an die Pädagogik verwiesen ist – altgriechisch παιδαγωγία
paidagogía: von παῖς pais, Kind, und ἄγειν ágein, führen, leiten – und damit grundsätzlich ein
gegenständliches Verhältnis zu ihr nahegelegt wird. Im Rahmen von Pädagogik werden dem
Selbstverständnis eines Kindes oder Jugendlichen unausgesetzt Bilder gegenübergestellt, die
man sich von ihnen macht, wie auch solche, die erwünscht sind und die durch Bildung,
Erziehung, Lernen und Unterweisung realisiert werden sollen. Daher weist Eckard Liebau die
Frage „Braucht die Pädagogik ein Menschenbild?“, mit der er seinen 2004 erschienenen
Aufsatz überschreibt, zugleich mit seinem Hinweis als „trivial“ zurück, dass die gesamte
Geschichte der Pädagogik als „Auseinandersetzung über das richtige Menschenbild“ (ebd.,
125) ausgelegt werden kann:
„In allem pädagogischen Handeln stecken, wenn nicht explizite, so doch immer mindestens implizite
Menschenbilder, Bilder davon also, was der Mensch und was seine Bestimmung sei und Bilder davon,
welche Gestalt der Entwicklungsweg des Menschen habe bzw. haben solle.“ (ebd., 123)
Explizite und implizite Bilder von Kindheit und Jugend liegen nun nicht nur dem
pädagogischen Handeln zugrunde. Sie beeinflussen auch gesellschaftliche und politische
Diskurse. Aus dieser Tatsache folgt die zentrale Aufgabe der praktischen wie auch der
wissenschaftlichen Pädagogik, Menschenbilder kritisch zu reflektieren. Dies schließt im
Prinzip alle expliziten wie impliziten, auch die pädagogikfernen Menschenbilder ein.
In Hinblick auf Menschenbilder generell ist interessant, dass zwar zunächst alle Menschen mit
lebenslangem Lernen in Verbindung gebracht werden und damit dazu angehalten sind, auch
ihre Menschenbilder auf den Prüfstand zu stellen. Konkret wird dies dann aber nur
bestimmten gesellschaftlichen Gruppen auferlegt . Dies geschieht etwa implizit in Bezug auf
marginalisierte Gruppen wie Menschen mit Migrationshintergrund oder solche mit
Behinderungen, gilt aber auch ganz explizit etwa für einige Berufsgruppen wie bspw.
Lehrer_innen (vgl. Europäisches Parlament 2006). Ihnen wird dann
(zu Recht oder zu
Unrecht) unterstellt, dass ihre Sichtweisen und ihr Menschenbild ständiger Revision zu
unterliegen habe. Andere gesellschaftliche Gruppen hingegen, wie bspw. die professionell in
der Politik, in der Journalistik oder im höheren Managementtätigen, scheinen davon
weitgehend enthoben. Ihnen wird viel eher zugeschrieben, dass sie Sichtweisen, insbesondere
Menschenbilder prägen, ja sogar entwerfen- Von anderen wird erwartet, dass sie bereits
bestehende Auffassungen schlicht reproduzieren. Manche sind auch strukturell dazu genötigt,
dies zu tun. Demnach obliegt die Definitions- und Deutungsmacht über Menschenbilder
letztlich dafür ausersehenen gesellschaftlichen Gruppen, andere reproduzieren sie, und wieder
anderen ist die Arbeit am eigenen Menschenbild als (lebenslange) Lernaufgabe überantwortet.
Zugleich bestehen stets viele Menschenbilder nebeneinander, die in einer Gesellschaft mehr
oder
weniger
maβgeblich
sind.
Menschenbilder
beruhen
aber
nicht
nur
auf
Machtverhältnissen und bringen Ausschlüsse und blinde Flecke mit sich, sie unterliegen auch
dem historischen und kulturellen Wandel und individuellen Auslegungen. – Jedenfalls gerät
mit der Referenz auf Menschenbilder und deren Relativität jede Annahme und jedes Konzept,
die auf solche rekurrieren oder solche enthalten, unter Verdacht, schweigendes Wissen mit
sich zu führen. Solch ein schweigendes Wissen schlägt sich etwa in unausgesprochenen
sozialen Übereinkünften, in unwillkürlichen sozialen Anpassungsleistungen und Habitus, in
materiellen und strukturellen Gegebenheiten und/oder in nicht-diskursiven Praktiken nieder.
Wenn also eine wichtige Aufgabe der Pädagogik darin besteht, Bilder von Kindheit und
Kindern, Jugend und Jugendlichen kritisch zu reflektieren, so beginnt dies, folgt man Philippe
Ariès (1978 [1960]), mit der „Entdeckung der Kindheit“. Diese datiert der Historiker auf das
16. Jhd. und bestimmt sie als eine Gefühlskultur näher. Während er diese Entdeckung mit
einer zunehmenden Isolation der Altersgruppe der Kinder von der Erwachsenengesellschaft in
Verbindung bringt, hält Lloyd de Mause (1989 [1974]) das Konzept Kindheit ganz im
Gegenteil für einen Zivilisationserfolg. Neil Postman (1983 [1982]) wiederum attestiert seiner
Zeit ein „Verschwinden der Kindheit“. Man mag über solche historischen Analysen und die in
ihnen vorgenommene Wertungen streiten, insbesondere da sie, methodisch nicht vollständig
transparent,
eine
Überschau
vorspiegeln.
Gerade
der
im
Zusammenhang
dieser
Argumentationen unabdingbare Bezug zur Pädagogik macht es vielmehr notwendig,
historisch sehr viel weiter zurückzudenken und generalisierende Aussagen praxistheoretisch
zu relativieren. Es wird an den drei Positionen aber deutlich, dass sich der Begriff des
schweigenden Wissens nicht nur an Zusammenhänge des Lernens und der Erziehung, Bildung
und Sozialisation, sondern auch an theoretische, nicht zuletzt an wissenschaftliche Ansätze
anlegen lässt, die ebensolche abbilden. In den eben referierten Positionen stillschweigend
mitgedachte Signaturen der Zivilisationskritik, wie auch solche einer Parteinahme für die
Altersgruppe der Heranwachsenden entfalten eine ganz eigene Symbolizität, etwa eine – nicht
zuletzt auch normative – Apostrophierung bestimmter Gefühlskulturen.
Selbst wissenschaftliche Ansätze, die Kinder experimentell beforschen und damit
beanspruchen, objektiv-valide, reliable und repräsentative Aussagen zu machen, wie etwa die
Entwicklungspsychologie, suggerieren bestimmte Orientierungs- und Denkmuster, die weder
objektiv sind noch sind sie in diesen Theorien selbst hinreichend reflektiert. In der
Nachkriegszeit avancierte in Deutschland etwa die sich kognitivistisch verstehende
Entwicklungspsychologie zur zentralen Referenz der Pädagogik. Sie untersucht die kognitive,
emotionale, sprachliche und moralische Entwicklung des Kindes sowie Qualitäten seines
sozialen
Verhaltens,
auch
Bindungsverhaltens,
und
die
Identitäts-
und
Persönlichkeitsentwicklung in Hinblick auf deren Regelhaftigkeit und Phasen. Maurice
Merleau-Ponty stellt den bekanntesten Protagonisten dieser Forschungsrichtung, Jean Piaget,
kritisch in eine Reihe mit jenen bewusstseinsphilosophisch orientierten Autoren, welche die
„mathematisch-logische Rationalität als einen Felsen in der Brandung selbstkritischer
Zersetzungserscheinungen moderner Rationalität“ betrachten (Meyer-Drawe 1986, S.259).
Genauer kritisiert Merleau-Ponty an Piagets Denken klar bestimmte Kategorien, welche
fragwürdige überlieferte Dichotomien wie Materie-Geist nicht hinterfragen. Piaget unterstelle
vorschnell, dass diese dem Kinde fehlten (Merleau Ponty 1994, S.179), genauso gehe Piaget
unreflektiert von der schlichten Gültigkeit des Kausalitätsprinzips aus (ebd., S.182). Die
Stufung an Reifegraden, die Piaget herausgearbeitet hat, ist bekanntermaßen allgemein, auch
ahistorisch und kulturübergreifend gedacht; Ondrej Kaščák & Branislav Pupala (2013, S.181)
weisen darauf hin, dass Piagets Idee, dass körperliche, psychische und soziale
Reifungsprozesse normgerecht ablaufen könnten, der Vorstellung einer „Normierung und
Normalisierung der Kindheit“ entspricht. Genauer besehen handelt es sich bei all den
kritisierten stillschweigenden Annahmen Piagets um recht dezidierte Erziehungsprogramme,
die in impliziter Weise mit seinen systematisch gewonnenen und durch beweiskräftige Daten
belegten Forschungsergebnissen verquickt sind.
Dem durch nachvollziehbar sichtbare Entwicklungsstufen geprägten Bild von Kindheit und
damit Kindern steht in den 1950er Jahren in Hinblick auf die Jugend und Jugendliche (die
Piaget wie Erwachsene sieht) die Idee der Generation und des Generationenverhältnisses
(Schelsky 1963) – etwa als Moratorium (Zinnecker 2013) – gegenüber. Heinz-Hermann
Krüger und Cathleen Grunert (2009, S.13) schreiben:
„Während die Kindheitsforschung zu einer Domäne der Entwicklungspsychologie avancierte, kamen
auf dem Gebiet der Jugendforschung die entscheidenden Impulse für eine theoretische Diskussion um
Jugend vor allem aus dem Lager der Jugendsoziologie, die bis zum Beginn der 1970er Jahre dieses
Forschungsfeld dominierte .“
Während
also
auf
der
einen
Seite
das
kognitionspsychologisch
begründete
Entwicklungsmodell die Jugend und die Jugendlichen tendenziell nicht mit einschließt, bleibt
auf der anderen Seite in Hinblick auf Kindheiten und Kinder die soziologische Frage nach der
Verschiedenheit der Generationen und nach Generationenverhältnissen unbeleuchtet. Ebenso
stand es lange um die Bedingungen des Aufwachsens von Kindern, mit gewissen Ausnahmen
wie bspw. die Studie „Der Lebensraum des Großstadtkindes“ von Martha Muchow und Hans
H. Muchow (1935). Auch wies Talcott Parsons bereits in den 1950er Jahren in seiner
Systemtheorie, die er auch auf die Schule und auf die Ebene der Schulklassen bezieht, auf den
starken Einfluss der Sozialisationsinstanz Schule hin, in der sich ein klar strukturiertes und
regelhaftes Rollensystem abbilde (vgl. Parsons 1951; 1968). Eine generelle Öffnung des
forschenden Blicks auf die Lebensbedingungen von Heranwachsenden erfolgte aber erst in
den sozialisationstheoretischen und sozialökologischen Ansätzen der 1980er Jahre. So macht
etwa der Sozialisationstheoretiker Urie Bronfenbrenner (1976) gelingendes Aufwachsen von
sozialstrukturellen und kulturellen Faktoren abhängig. Mit der Frage „Wer kümmert sich um
unsere Kinder?“ arbeitet er entscheidende Aspekte der sozialen Einbettung von Kindern, wie
auch solche ihrer Gefährdung sowie Entfaltungsmöglichkeiten heraus, wobei er der Familie
eine zentrale Rolle zuspricht. Etwa zeitgleich mit seinem ökosystemischen Ansatz wurde auf
die Konstruktion von Wirklichkeit als einem aktiven, selbsttätigen und zugleich sozial
gerahmten Prozess abgehoben, der durch Interaktion gerahmt ist: „Die theoretischen Diskurse
in der Kindheits- und Jugendforschung wurden in den 1980er und in den 1990er Jahren durch
konstruktivistische Ansätze geprägt“ (vgl. Krüger & Grunert 2002, S.23). In Deutschland kam
in
dieser
Zeit
die
sog.
neue
Kindheitsforschung
mit
einer
eigenständigen
Forschungsperspektive auf (vgl. dazu Heinzel 2000, Fölling-Albers 2001, Röhner 2003).
Nach ihr gilt die Kindheit und Jugend nicht nur als eine eigenständige Lebensphase (vgl.
Honig, Leu & Nissen 1996), sondern es werden auch in ihrem Rahmen bereits sehr junge
Kinder und erst recht Jugendliche als „soziale Akteure“ (Honig 1996, S.15) gesehen. Die neue
Kindheitsforschung will einen Perspektivwechsel vollziehen, nach dem Kinder und
Jugendliche nicht mehr nur als Forschungsgegenstand gelten, sondern Forschung „aus der
Sicht von Kindern“ (Mey 2003) erfolgt. Favorisierte Forschungsmethoden für die Erhebung
im Bereich der qualitativen Kindheits- und Jugendforschung sind in der neueren Kindheitsund Jugendforschung neben der Teilnehmenden Beobachtung vor allem qualitative
Interviews, Gruppendiskussionen und nicht-reaktive Verfahren (vgl. Krüger 2006).
Die Forschung, die explizit nach „der Perspektive der Kinder“ fragt und deren erklärtes Ziel
es ist, nicht nur über Kinder zu forschen, sondern sie generell als aktiv Handelnde und (Mit-)
Gestaltende zu betrachten (siehe Honig 1999), ist kein deutsches Phänomen, sondern ein
internationales. Auch in nord- und mitteleuropäischen wie auch in anglophonen Ländern war
seinerzeit ein neues Interesse an einer Forschung aufgekommen, die, „[…] wenn möglich, die
Perspektive der Kinder selbst zum Gegenstand ihrer Analyse macht“ (Krüger & Grunert 2009,
S.13). In den skandinavischen Ländern wurden in den letzten Jahren vor allem zu Kindern im
Vorschulbereich
eine
Vielzahl
an
Studien
insbesondere
sozialkonstruktivistischer
Kindheitsforschung veröffentlicht (z.B. Einarsdottir 2007; Dockett, Einarsdottir & Perry
2009; Emilson 2014).
Allerdings ist der neuen Kindheitsforschung stets die Frage anhängig, „[…] inwieweit
Aussagen von Erwachsenen über Kinder und Kindheit überhaupt Aussagen aus einer
kindlichen Perspektive sein können“ (Mey 2003, S.23). Zumindest für Deutschland kann man
es so sehen, dass derzeit der gesamte Forschungsansatz erodiert. So weisen bspw. Sabine
Sandring, Werner Helsper und Heinz-Hermann Krüger (2015, S.13) darauf hin, dass sich
zwar
seit
den
1990er
Jahren
das
„Individualisierungstheorem“
bzw.
„individualisierungstheoretische Ansätze“ in Theorie- und Forschungsdiskursen zum Sujet
Jugend stark durchgesetzt haben, es in den letzten Jahren aber zur erneuten und verstärkten
Bezugnahme auf Theorien der sozialen Ungleichheit sowie Theorien zum sozialen Raum,
zum
Habitus
sowie
zu
einer
verstärkten
Kritik
„individualisierungstheoretischen Linien“ gekommen ist.
an
bzw.
Infragestellung
von
In der aktuellen pädagogischen und soziologischen Kindheits- und Jugendforschung, werden
die Begriffe Kindheit und Jugend, etwas bescheidener, auf der einen Seite auf „soziale
Tatsachen“, also auf eine konkret beschreibbare Kindheit oder Jugend bezogen. Auf der
anderen Seite gelten Kindheit und Jugend als eine „soziale Konstruktion“ (Scholz 1994). Sie
stehen dann gleichzeitig für eine „kulturell geprägte Auffassung vom Kind, eine
Konstruktion“ (Berg 2004, S.498) und für die Möglichkeit der Heranwachsenden, ihre
Sichtweisen selbst darzulegen. Heike Deckert-Peaceman, Cornelie Dietrich und Ursula
Stenger (2010) unterscheiden zwischen einer strukturbezogenen und einer subjektbezogenen
Kindheitsforschung, die jeweils unterschiedlichen Kindheitstheorien folgen. Während sich die
strukturbezogene Kindheitsforschung auf soziologische, sozialwissenschaftliche Zugänge
stützt, wird in der subjektbezogenen Kindheitsforschung auf Vorstellungen Bezug genommen,
die
der
entwicklungspsychologischen
und
der
psychoanalytischen
Theoriebildung
entstammen. Argyro Panagiotopoulou und Hans Brügelmann (2003) weisen darauf hin, dass
in Bezug auf beide Richtungen in den letzten Jahren eine Annäherung erfolgte. So gewinnen
bspw. die Peer-Kulturen, die zunächst in der Hauptsache von der (Jugend-) Soziologie
herausgearbeitet wurden, zunehmend auch in der Schüler_innen_forschung an Bedeutung
(vgl. bspw. Breidenstein 2004, De Boer & Deckert-Peaceman 2009). Ferner wird im Rahmen
der Unterrichts- und Schulforschung zunehmend die Sicht der Schüler_innen erhoben (als
Überblick Helsper & Böhme 2008). Eine interessante Studie zur Ganztagesschulkultur ist z.B.
die Studie „Lernkultur in Ganztagesschulen“ von Sabine Reh, Sebastian Idel, Ulrich Kolbe &
Kerstin Rabenstein (2010), in der aus ethnographischer Sicht Interaktionen im Unterricht
beforscht werden. Deutlich wird allerdings in diesen und auch in anderen Studien, in denen
insbesondere Schüler_innen als Konstrukteure ihrer Wirklichkeit in den Blick genommen
werden, dass den individuellen Kindern und Jugendlichen in der Schule streng genommen
kaum Raum für autonome Entscheidungen zugebilligt wird, ihnen demnach eine aktive
Konstruktion ihrer Alltagswelt im institutionalisierten Setting nur bedingt möglich ist. Sabine
Andresen und Klaus Hurrelmann (2010, S.35) etwa ziehen das Fazit, dass Kinder in der
Institution Schule „einer übermächtigen Gesellschaft“ gegenüberstehen und sich den
schulischen Machtverhältnissen beugen müssen. Die Individualität des einzelnen Kindes
könne sich demnach „nur in Nischen und Rückzugsbereichen“ entwickeln (ebd.). Die Frage,
ob und in welcher Weise der einzelne Schüler, die einzelne Schülerin als „Ko-Konstrukteur
seiner Lebenswelt und Selbsterfahrung“ erforscht werden kann, der „[…] sich zusammen mit
anderen Kindern sowie Erwachsenen aktiv und kreativ die Welt aneignet und sie im günstigen
Fall mitgestaltet“, stellt also weiterhin ein Forschungsdesiderat dar (Deckert-Peaceman,
Dietrich & Stenger 2010, S.9).
Die ausschnitthafte Analyse der expliziten wie impliziten Menschenbilder, die bei der
Thematisierung von Kindern und Jugendlichen in der Forschung stets mitspielen, lässt
darauf schlieβen, dass es der sozialwissenschaftlichen Forschung nicht gelingt, den
Fokus auf Kinder und Jugendliche entweder als ihre Gegenstände oder als ihre Akteure
tatsächlich
scharf
zu
stellen.
So
werden
an
der
kognitivistischen
Entwicklungspsychologie Erziehungsprogramme sichtbar und in der akteursbezogenen
Kindheitsforschung schlägt die Übermächtigkeit diverser Erziehungsverhältnisse durch.
Eine Existenz aus eigenem Recht scheint den Kindern und Jugendlichen, zumindest im
Zusammenhang der hier skizzierten Forschung, nicht vergönnt oder sie ist eventuell auf
hier nicht dargestellte Studien beschränkt, denen es gelingt, diese Wertigkeit zu
erhalten. Die Verminderung kindlicher oder jugendlicher Existenz, die mit
sozialwissenschaftlichen Studien offenbar einhergehen kann, sollte zu denken geben und
die Macht der Wissenschaft entsprechend relativiert werden. In den folgenden drei
Beiträgen wird die Bedeutung des schweigenden Wissens im Zusammenhang mit
Peerkulturen (Amling), mit Mode, Kleidung und Körperbild in Jugendszenen (Grundmeier)
sowie in Bezug auf kindliches Spiel und Spielzeug (Brougére) ausdifferenziert. Steffen
Amling gibt einen Überblick über derzeit aktuelle Ansätze einer Beforschung von
Peerkulturen und geht dabei der Frage nach, welcher Stellenwert dem Theorem des
„schweigenden Wissens“ dabei jeweils zugeschrieben wird, das er als Grundbegriff der
empirischen Forschung in diesem Bereich herausstellt. Anne-Marie Grundmeier widmet sich
dem Phänomen der Bereitschaft Jugendlicher, die eigene Lebenswelt auf der Basis des
persönlichen Lifestyles zu verändern und neu zu ordnen. Dabei arbeitet sie weitenteils
implizit verbleibende Strategien heraus, die körperliche Subjektivierungsprozesse lancieren.
Gilles Brougère dekonstruiert die weit verbreitete Auffassung, dass im Spiel (immer)
pädagogisch sinnvoll gelernt wird und plädiert dafür, die informellen, erzieherischen
Potentiale des Spiels in Hinblick auf verschiedene Spielaktivitäten differenzierter zu sehen als
bisher geschehen. Zusammenfassend wird das Theorem des „schweigenden Wissens“ in den
Beiträgen von Steffen Amling und Gilles Brougére vor allem an Forschung angesetzt,
während Anne-Marie Grundmeier besonders auf dessen körperliche Dimension und die damit
verbundenen Lernpotentiale abhebt.
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