Alter und Kriminalität Schwerpunkt offiziell registrierter Kriminalität: Jugendalter – Männer: Heranwachsende – Frauen: Jugendliche Alterskriminalität (> 60 Jahre) – Schwerpunkt liegt auf einfachem Diebstahl (ähnlich der Kinderkriminalität) Kriminologie I WS 2006-2007 Page 1 Jugend und Kriminalität Kinderkriminalität Formale Definitionen – Eintragungsfähigkeit Bundeszentralregister (ab relativer Strafmündigkeit: Erziehungsregister, 14 Jahre) – Eintragungsfähigkeit Polizeiliche Informationssysteme (Baden-Württemberg beispw. PAD = Personenauskunftsdatei): nicht gesetzlich festgelegt, 6-8 Jahre Kriminologie I WS 2006-2007 Page 3 Inhaltliche Gesichtspunkte der Kinderkriminalität Materielle Definition der Kinderkriminalität Normative Bedingungen wirken sich aus auf (und werden beeinflusst durch) – äußeres Erscheinungsbild – innere Vorgänge (Unrechtseinsicht et.) – Wahrnehmung durch die Gesellschaft (und ihre Institutionen) Kriminologie I WS 2006-2007 Page 4 Entwicklung der Kinderkriminalität Alle Kriminologie I WS 2006-2007 Einfacher Diebstahl 00 20 99 19 98 19 97 19 96 19 95 19 94 19 93 19 92 19 91 19 90 19 89 19 88 19 19 87 180.000 160.000 140.000 120.000 100.000 80.000 60.000 40.000 20.000 0 Körperverletzung Page 5 Jugendkriminalität Kriminologie I WS 2006-2007 Page 6 Polizeilich registrierte deutsche Jugendliche Tatverdächtige und Verurteilte (pro 100.000) Tatverdächtige Jugendliche Tatverdächtige HW Kriminologie I WS 2006-2007 98 19 97 19 96 19 95 19 94 19 93 19 92 19 91 19 90 19 89 19 88 19 87 19 86 19 85 19 19 84 8000 7000 6000 5000 4000 3000 2000 1000 0 Verurteilte Jugendliche Verurteilte HW Page 7 Junge Menschen als Täter und Opfer von Tötungsdelikten (pro 100.000) 25 20 15 10 5 19 77 19 78 19 79 19 80 19 81 19 82 19 83 19 84 19 85 19 86 19 87 19 88 19 89 19 90 19 91 19 92 19 93 19 94 19 95 19 96 19 97 19 98 0 Kindl. TV Jugendl. Opfer Kriminologie I WS 2006-2007 Jugendl. TV Heranw. Opfer Heranw. TV Kindl. Opfer Page 8 Polizeilich registrierte deutsche Jugendliche Tatverdächtige und Verurteilte (pro 100.000) Raubdelikte 300 250 200 150 100 50 Tatverdächtige Jugendliche Tatverdächtige HW Kriminologie I WS 2006-2007 98 19 97 19 96 19 95 19 94 19 93 19 92 19 91 19 90 19 89 19 88 19 87 19 86 19 85 19 19 84 0 Verurteilte Jugendliche Verurteilte HW Page 9 Jährliche Prävalenzraten des Raubverdachts in den Geburtskohorten 1970, 1973, 1975, 1978 männlich/deutsch 250 200 1970 1973 1975 1978 150 100 50 0 14 J. Kriminologie I WS 2006-2007 15 J. 16 J. 17 J. 18 J. 19 J. Page 10 Erklärungen Die Anzeigeneigung (kriminelle Reizbarkeit) hat zugenommen Prekäre (Risiko) Gruppen sind größer geworden Informelle Kontrollen werden schwächer (Familie, Nachbarschaft etc.) Risiken (kriminelle Anreize) werden größer (beispw. neue Medien) Die Jugend hat sich verändert Begehung von Straftaten in Gruppen hat zugenommen Kriminologie I WS 2006-2007 Page 11 Gesellschaftliche Bedingungen und Jugendkriminalität Neue Gelegenheiten und neue Risiken Der Zerfall von Systemen informeller Kontrolle Individualisierungstendenzen und Modernisierungsverlierer Die Zunahme prekärer (Risiko-) Gruppen Der sozio-kulturelle Kontext der (Gross-)Stadt reduzierte Zugangschancen und Schattenwirtschaften Gettoisierung und Segregation Verlust von Akzeptanz und Legitimation Kriminologie I WS 2006-2007 Page 12 Alterskriminalität Kriminologie I WS 2006-2007 Page 13 Erklärung der Alterskriminalität Theorie der Schwäche – biologische Gründe – (Ersatzhandlungen) größere Toleranz alten Menschen gegenüber (weniger Anzeigen) höheres Maß an internen Kontrollen (und als Konsequenz hieraus eine größere Konformitätsbereitschaft) Theorie der Gelegenheiten – Alterungsprozesse als "Ausgliederung" (Desozialisation) und als Reduzierung der Teilnahme an (allen) sozialen Aktivitäten. Kriminologie I WS 2006-2007 Page 14 FrauenKriminalität Kriminologie I WS 2006-2007 Page 15 Tatverdächtige Insgesamt sowie Frauen 2.500.000 2.000.000 1.500.000 1.000.000 500.000 Insgesamt Kriminologie I WS 2006-2007 00 20 99 19 98 19 97 19 96 19 95 19 94 19 93 19 92 19 91 19 90 19 89 19 88 19 19 87 0 Weiblich Page 16 Anteile weiblicher Tatverdächtiger 1987-2000 24 23,5 23 22,5 22 21,5 21 20,5 Kriminologie I WS 2006-2007 00 20 99 19 98 19 97 19 96 19 95 19 94 19 93 19 92 19 91 19 90 19 89 19 88 19 19 87 20 Page 17 Erklärung der Frauenkriminalität Biologische und moralische Erklärungen (Theorie der Schwäche) These der "Ritterlichkeit“ Theorie unterschiedlicher Sozialisation Unterschiedliche Sozialkontrolle unterschiedliche Gelegenheiten (bedingt durch unterschiedliche Integration in das öffentliche bzw. Berufsleben) Emanzipationsprozesse? Unterwelt als Spiegelbild der Oberwelt (Diskriminierung und Machtgefälle) Kriminologie I WS 2006-2007 Page 18 Gefährliche Klassen: Schicht und Kriminalität Ausgangspunkt: offiziell registrierte Kriminalität konzentriert sich auf untere soziale Schichten – Schichtmodell und Klassenmodelle der Gesellschaft 19. Jahrhundert: Debatte über „Gefährliche Klassen“ – Lumpenproletariat – Frage der Kontrolle (Einbindung) gesellschaftlicher Gruppen – Bindung durch Arbeit und Arbeitsmarkt – Klassenstrafrecht und Klassenjustiz Kriminologie I WS 2006-2007 Page 19 Amateure, Abenteurer, Professionalität (crime as work) und Organisierte Kriminalität Verbrechen als Beruf Sutherland: The Professional Thief Schattenwelten und Schattenwirtschaften Normen und Werte regulieren die Schattenwirtschaften und damit verbundene Berufsrollen (Dieb und Hehler, Zuhälter etc.) Lerntheorien, Gelegenheitstheorien, ökonomische Theorien Kriminologie I WS 2006-2007 Page 21 Organisierte Kriminalität Der Diskurs über organisierte Kriminalität und Innere Sicherheit Das OrgKG 1992 Geldwäsche, Gewinnabschöpfung und neue Ermittlungsmethoden Kriminologie I WS 2006-2007 Page 22 Definition Organisierter Kriminalität Planmässige Begehung von Straftaten Einzeln oder in Gesamtheit von erheblicher Bedeutung Zwei oder mehr Beteiligte auf längere oder unbestimmte Zeit arbeitsteilig gewerbliche/geschäftsähnliche Strukturen unter Anwendung von Gewalt oder anderer zur Einschüchterung geeigneter Mittel oder unter Einflussnahme auf Politik, Wirtschaft, Verwaltung, Justiz Kriminologie I WS 2006-2007 Page 23 Geschichte der Organisierten Kriminalität 17./18. Jahrhundert Räuber- und Gaunerbanden 19./20. Jahrhundert Grossstädtische Unterwelten Berufs- Gewohnheitsverbrecher/Professionelle Kriminalität Kriminologie I WS 2006-2007 Page 24 Erklärung der Organisierten Kriminalität Grossstadtmilieus Anpassung und Rationalisierung Entwicklung von Schwarzmärkten Reaktion von Minderheiten („ethnische Leiter“) Theorie des „schwachen Staats“ Kriminologie I WS 2006-2007 Page 25 Ethnische Minoritäten und Kriminalität Kriminologie I WS 2006-2007 Page 26 Ausländeranteile an Tatverdächtigen und Wohnbevölkerung 40 35 30 25 20 15 10 5 Anteil Tatverdächtige Kriminologie I WS 2006-2007 99 19 97 19 95 19 93 19 91 19 89 19 87 19 85 19 83 19 81 19 79 19 77 19 75 19 73 19 71 19 69 19 67 19 65 19 63 19 19 61 0 Anteil Wohnbevölkerung Page 27 Ausländerstatus und Tatverdacht Asylbewerber Ausbildung Kriminologie I WS 2006-2007 Arbeitnehmer Illegal 19 97 96 19 95 19 94 19 19 93 92 19 91 19 90 19 89 19 88 19 87 19 86 19 85 19 19 84 40 35 30 25 20 15 10 5 0 Touristen Page 28 Raum und Kriminalität Kriminologie I WS 2006-2007 Page 29 Räumliche Verteilungen Grossstädte vs. Land – Grossstädte (< 500.000) = ca. 18% der Einwohner, aber etwa 35% der registrierten Kriminalität – Kleinstädte (40% der Einwohner, aber 20% der Kriminalität) Industriestaaten vs Entwicklungsländer Stadtteile (hot spots) Unterschiede zwischen Grossstädten (beispw. München vs. Hamburg) – Hamburg: 16.168/100.000 – München: 9.263/100.000 Kriminologie I WS 2006-2007 Page 30 Erklärung der Unterschiede und Reaktionen Chicago-Schule der Kriminologie – Soziale Desorganisation – Häufiger Wechsel der Personen/Haushalte – Zusammenbruch informeller Sozialkontrolle Zero-Tolerance Policing – „Wehret den Anfängen“ – broken windows Prozess Kriminologie I WS 2006-2007 Page 31 Was wird durch Polizeiliche Kriminalstatistiken gemessen? Anzeigebereitschaft (Opfer ist „gate keeper“) – Determinanten » Deliktsschwere, ethnische Zugehörigkeit, Illegalität (beisp. Illegale Immigranten, Drogenmärkte) » Direkt beeinflussbar durch gesetzliche, vertragliche Verpflichtungen (Geldwäsche, Versicherungen) Kontrollintensität im Falle opferloser Delikte – „proaktive“ Polizei (V-Leute, under cover policing, TÜ etc.) – abhängig von Investitionen in Polizei und Verfahrensrecht Kriminologie I WS 2006-2007 Page 32 „Selbstjustiz“/Informelle Erledigung von Straftaten Selbständige Erledigung von Kriminalität beispw. durch – Betriebsjustiz – Öffentliche Verkehrsbetriebe (Erhöhter Fahrpreis) – Familie – Nachbarschaft Kriminologie I WS 2006-2007 Page 33 Konsequenzen Dunkelfeld der Kriminalität Gesetz der konstanten Verhältnisse? Alternative Messinstrumente – Selbstberichtsbefragungen (Self reported delinquency SRD) – Opferbefragungen Kriminologie I WS 2006-2007 Page 34 SRD Fragen Die meisten Menschen tun in ihrem Leben manchmal Dinge, die verboten sind, z.B. ohne Fahrkarte im Bus fahren oder etwas stehlen. Wir möchten gerne von Dir wissen, ob Du auch schon einmal etwas Verbotenes getan hast. Ich habe schon einmal – einen ganzen Tag oder mehrere Tage die Schule geschwänzt – in einem Geschäft etwas gestohlen – jemanden so geschlagen, dass er/sie verletzt war oder blutete Kriminologie I WS 2006-2007 Page 35 Freiburger SRD Studie www.mpicc.de – forschung/online publications and resources – Oberwittler u.a.: Soziale Lebenslagen und Delinquenz von Jugendlichen Kriminologie I WS 2006-2007 Page 36 Freiburger SRD Studie Kriminologie I WS 2006-2007 Page 37 Freiburger SRD Studie Kriminologie I WS 2006-2007 Page 38 Freiburger SRD Studie Kriminologie I WS 2006-2007 Page 39 Freiburger SRD Studie Kriminologie I WS 2006-2007 Page 40 Freiburger SRD Studie Kriminologie I WS 2006-2007 Page 41 Freiburger SRD Studie Kriminologie I WS 2006-2007 Page 42 Freiburger SRD Studie Kriminologie I WS 2006-2007 Page 43 Freiburger SRD Studie Kriminologie I WS 2006-2007 Page 44 Freiburger SRD Studie Kriminologie I WS 2006-2007 Page 45 Selbstberichtsuntersuchungen Beziehen sich ganz überwiegend Auf junge Menschen Werden häufig als Schuluntersuchungen durchgeführt (Klassenbefragungen) Basieren auf retrospektiven Fragen Haben Sie …, Wie oft haben Sie in den letzten 12 Monaten ….? Kriminologie I WS 2006-2007 Page 46 Probleme retrospektiver Befragung Erinnerung Vergessen Fehlerhafte Plazierung Falsche Erinnerung der Häufigkeit Verdrängung/Beschönigung Von erheblicher Relevanz für die Erinnerung Die jeweilige Bedeutung des Ereignisses Kriminologie I WS 2006-2007 Page 47 Befunde aus Selbstberichtsforschungen Kriminalität ist (bei Kindern und Jugendlichen) weit verbreitet (Ubiquitätsthese; Normalitätsthese) Die weite Verbreitung von Kriminalitätsbegehung ist beschränkt auf triviale Delikte (Schwarzfahren, kleine Diebstähle). Nahezu alle Jugendliche begehen irgendwann einmal eine Straftat. Für die meisten jungen Menschen bleibt es bei einer oder einer gelegentlichen kleinen Straftat Kriminologie I WS 2006-2007 Page 48 Befunde Schwere Kriminalitätsbegehung sowie wiederholte und mehrfache Deliktsbegehung sind selten. Unterschiede zwischen den Geschlechtern bleiben bestehen, wenn schwere Straftaten und wiederholte Deliktsbegehung einbezogen werden (und auf triviale Delikte verzichtet wird). Kriminologie I WS 2006-2007 Page 49 Befunde Das Dunkelfeld ist offensichtlich bei leichten Delikten stärker ausgeprägt als bei schweren Delikten. Die Ergebnisse aus Täterbefragungen lassen sich im Bereich von schwerer Kriminalität mit denen der Kriminalstatistik zur Deckung bringen. Kriminologie I WS 2006-2007 Page 50 Befunde Eine strikte Trennung zwischen Tätern und Nichttätern (oder Tätern und Opfern) kann nicht durchgeführt werden Kriminologie I WS 2006-2007 Page 51 Opferbefragungen Fragestellungen – Selbst erlittene Kriminalität – Einstellungen – insb. aber Kriminalitätsfurcht Kriminologie I WS 2006-2007 Page 52 Opferbefragungen Vorteile – weniger sensible Fragen für die Befragten » Ausnahme: Betrug, sexuelle Gewalt Nachteile – nur Deliktsbereiche mit individuellen Opfern Kriminologie I WS 2006-2007 Page 53 Freiburger SRD Studie Kriminologie I WS 2006-2007 Page 54 Freiburger SRD Studie Kriminologie I WS 2006-2007 Page 55 Deutschland: Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht Kriminologie I WS 2006-2007 Page 56 Deutschland: Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht Kriminologie I WS 2006-2007 Page 57 Deutschland: Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht Kriminologie I WS 2006-2007 Page 58 Deutschland: Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht Kriminologie I WS 2006-2007 Page 59 International Crime Victims Survey (ICVS 2000) Kriminologie I WS 2006-2007 Page 60 International Crime Victims Survey (ICVS 2000) Kriminologie I WS 2006-2007 Page 61 International Crime Victims Survey (ICVS 2000) Kriminologie I WS 2006-2007 Page 62 International Crime Victims Survey (ICVS 2000) Kriminologie I WS 2006-2007 Page 63 International Crime Victims Survey (ICVS 2005) Kriminologie I WS 2006-2007 Page 64 International Crime Victims Survey (ICVS 2005) Kriminologie I WS 2006-2007 Page 65 Niederlande Schaubild: Entwicklung der polizeilich registrierten Kriminalität (per 100.000) sowie der selbstberichteten (Opfer)Kriminalität (per 100) in den Niederlanden 9000 40 8000 35 7000 30 6000 25 5000 20 4000 15 3000 10 2000 5 1000 0 0 19 80 19 81 19 82 19 83 19 84 19 85 19 86 19 87 19 88 19 89 19 90 19 91 19 92 19 93 19 93 19 94 19 95 19 96 19 97 19 98 45 Selbstberichtete Straftaten (Opfer) /100 Kriminologie I WS 2006-2007 Polizeilich registrierte Taten/100.000 Page 66 USA Grafik: Trends in Gewaltkriminalität in den USA (1973-2000) NCS-Daten /1000 14 12 10 8 6 4 2 Raub Kriminologie I WS 2006-2007 Vergewaltigung 99 19 97 19 95 19 93 19 91 19 89 19 87 19 85 19 83 19 81 19 79 19 77 19 75 19 19 73 0 Schwere Körperverletzung Page 67 Normalität der Kriminalität Kriminalität und ökonomische/kulturelle Leistungen (Rechtswissenschaft, Arbeitsplätze, Versicherungen, Literatur) Kriminalität als Schrittmacher für sozialen Wandel (beispielsweise sexuelle Emanzipation, Gewerkschaften/Arbeiterbewegung) Kriminalität macht Normen erst sichtbar (aus der Abweichung ergibt sich erst der Inhalt und die Autorität der Norm) Kriminalität als Voraussetzung für Integration einer Gesellschaft (die konformen Gesellschaftsmitglieder solidarisieren sich gegen den Abweichler) Der Verbrecher ist notwendig als Projektionsobjekt für Triebwünsche und dafür, daß dauerhafter Triebverzicht (und damit die Kanalisation der Antriebskräfte in kulturelle Leistungen) ermöglicht wird. Kriminologie I WS 2006-2007 Page 68 Kriminalitätstheorien Soziologische Theorien Psychologische Theorien Ökonomische Theorien Biologische Theorien Kriminologie I WS 2006-2007 Page 69 Soziologische Kriminalitätstheorien Kriminologie I WS 2006-2007 Page 70 Anomietheorie der Kriminalität Durkheim Merton Kriminologie I WS 2006-2007 Page 71 Mertons Anomietheorie Gesellschaften zerfallen in eine kulturelle und in eine soziale Struktur – die kulturelle Struktur gibt an, welche Ziele in einer Gesellschaft erreicht werden sollten und wie dies geschehen sollte (Normen und Werte) – die soziale Struktur entscheidet über die Möglichkeiten, die Ziele tatsächlich zu erreichen: objektive Bedingungen des Handelns Kriminologie I WS 2006-2007 Page 72 Anomietheorie Sind kulturelle und soziale Strukturen nicht integriert, dann entsteht – für den einzelnen Menschen eine anomische Situation oder Stress Kriminologie I WS 2006-2007 Page 73 Reaktion auf Anomie Innovation: Die kulturellen Ziele werden beibehalten, die normativ zugelassenen Wege werden ersetzt durch illegale oder illegitime Mittel (Abweichung, Kriminalität). Ritualismus: Die Werte und Ziele werden aufgegeben, die zugelassenen institutionalisierten Mittel werden zum Eigenwert. Rückzug aus der Gesellschaft. Sowohl Werte und Ziele als auch die Mittel werden abgelehnt. Die Anpassung besteht darin, sich aus der Gesellschaft auszugrenzen. Rebellion: Sowohl Werte als auch Normen werden abgelehnt, gleichzeitig wird versucht, die abgelehnten Werte und Normen durch ein neues (gerechteres) System von Werten und Normen zu ersetzen. Kriminologie I WS 2006-2007 Page 74 Cloward/Ohlin: Anomie und Zugangschancen Erweiterung der Anomietheorie kriminellen Verhaltens durch Cloward/Ohlin Ergänzt wird die Anomietheorie um die Zugangschancen zu illegitimen Mitteln Bei Merton enthält die Sozialstruktur implizit eine Annahme zur Verteilung der Zugangschancen zu legitimen Mitteln, – der Unterschicht diese legitimen Mittel weitgehend verbaut sind. Cloward/Ohlin stellen die Frage nach der Verteilung der illegitimen Möglichkeiten. Rückgriff auf Theorie der differentiellen Assoziation. Kriminologie I WS 2006-2007 Page 75 Theorie der differentiellen Assoziation Theorie der differentiellen Assoziation: – kriminelles Verhalten wird gelernt, wie jedes andere Verhalten auch. – Die hiermit verbundenen Annahmen betreffen: – Kriminelles Verhalten wird in intimen Bezugsgruppen gelernt. – Das, was gelernt wird, besteht nicht nur darin, wie man Diebstähle oder andere kriminelle Verhaltensweisen begeht, sondern auch in bestimmten Wertemustern, Einstellungen (die für bestimmte professionelle Kriminalitätsbegehung bezeichnend sind). – Der Zugang zu derartigen Gruppen ist unterschiedlich verteilt. – Insoweit hängt die Begehung von Kriminalität davon ab, ob und inwieweit man zu bestimmten Gruppen und damit Lernmöglichkeiten Zugang bekommt. Kriminologie I WS 2006-2007 Page 76 Theorieintegration Integration der Theorie der differentiellen Assoziation und der Anomietheorie Typisierung verschiedener subkultureller Anpassungsmuster: – Die kriminelle Subkultur (die entsprechende Lern- und Kontaktmöglichkeiten voraussetzt). – Die Konfliktsubkultur (Banden). – Die Rückzugssubkultur (Scheitern in jeder Hinsicht, d. h. sowohl im legalen als auch im illegalen Bereich). Kriminologie I WS 2006-2007 Page 77 Hauptgesichtspunkt der Anomietheorien – Strukturell erzeugter „Stress“ führt zu Kriminalität (oder anderen abweichenden „stresslösenden“ Verhaltensweisen) – Politische Reaktion: Herstellung von Chancengleichheit, Beseitigung von Armut (Politik der sechziger und siebziger Jahre; war on poverty) Kriminologie I WS 2006-2007 Page 78 Subkulturtheorien Kriminologie I WS 2006-2007 Page 79 Cohens Kultur der Gang Kulturtheorie männlicher Bandenkriminalität – Ausgangspunkt: Mertons Analyse von kultureller und sozialer Struktur – männliche Jugendliche der Ghettos können bereits in der Schule die von der Mittelschichtsgesellschaft gesetzten Erwartungen nicht oder nur schwer erfüllen. – Hieraus folgt individuelle Frustration. – Zur Lösung der Frustration werden im Wege einer kollektiven Reaktionsbildung die Mittelschichtsnormen und -werte entwertet und durch eine andere Wertekultur ersetzt. – Dies ist die Wertekultur der Bande. Kriminologie I WS 2006-2007 Page 80 Millers Kulturkonflikttheorie Die Subkultur der Bande das Produkt eines größeren subkulturellen Kontextes. Miller versteht die Jugendbande als Teil einer traditionsreichen Subkultur (der Unterschicht, der Arbeiterklasse). Die Verhaltensweisen, die als deviant oder kriminell bezeichnet werden können, entstehen dabei aber nicht wie bei Merton oder Cohen aus der Frustration oder der Anomie, sondern aus der allgemeinen Motivation, mit subkulturellen Werten und Normen konform zu bleiben. Die Kriminalität der Bande ist deshalb ein Nebenprodukt subkultureller Normen, die mit denen der dominanten Kultur im Widerspruch stehen. Abweichung und Kriminalität sind damit kein Produkt einer zielgerichteten Reaktion auf Mittelschichtsnormen, sondern der Versuch, nach den in der Subkultur geltenden Normen zu leben. Kriminologie I WS 2006-2007 Page 81 Subkulturelle Werte – Schwierigkeiten mit dem Gesetz haben, – Härte und Männlichkeit (gegenüber Weichheit und Feigheit), – Gerissenheit (gegenüber Beschränktheit, Gelderwerb durch harte Arbeit), – Risiko und Aufregung, Autonomie (gegenüber Unterordnung und Autorität). Kriminologie I WS 2006-2007 Page 82 Labeling Approach Anomietheorien verweisen auf sozial bedingten Stress auf den einzelnen, der somit zu Abweichung und kriminellem Verhalten getrieben wird und keine eigenständigen Beiträge leistet. Im Labeling Approach (oder Etikettierungsansatz) wird die einzelne Person ebenfalls in den Mittelpunkt gerückt. Hiermit wird dann auf Interaktionen (zwischen Personen oder zwischen Personen und Institutionen) verwiesen. Der labeling approach ist mit den Arbeiten von Becker verbunden (wie wird man Jazzmusiker; wie wird man Haschischraucher). Der labling approach wurde in den 60er Jahren auch in Deutschland bzw. in Westeuropa rezipiert. Der labeling approach ist methodisch mit qualitativen Verfahren verbunden. Kriminologie I WS 2006-2007 Page 83 Labeling Approach Ausgangspunkt: – die Normsetzung schafft die Voraussetzung für die Möglichkeit des von ihnen abweichenden Verhaltens. – Soziale Normen "verursachen" deshalb Abweichung bzw. Kriminalität. Kriminologie I WS 2006-2007 Page 84 Labeling approach Die Bewerung einer Handlung als konform oder abweichend erfordert: – Ein Bewertungsschema (Norm) – Ein Bewertungsvorgang: d. h. ein Interaktionsprozess, in dessen Verlauf Menschen anderen Menschen die Eigenschaft abweichend bzw. kriminell zuschreiben. Kriminologie I WS 2006-2007 Page 85 Zuschreibungsprozess 1. Schritt: Verhalten (oder Abweichung) 2. Schritt: Interaktionsprozesse, Handelt es sich um eine Abweichung; ist die betreffende Person ein Dieb? 3. Schritt: Zuschreibung in Form von – Selbstzuschreibung, Identitätsveränderung – Fremdzuschreibung, Rekonstruktion der Geschichte des Individuums – erleichtert durch Aktenführung (Jugendämter, Strafakten) Kriminologie I WS 2006-2007 Page 86 Konsequenzen des labeling approach Unterscheidung zwischen – Primärabweichung – Sekundärabweichung Besondere Bedeutung für kriminelle Karriere Besondere Bedeutung für Kriminalpolitik – – – – Verhinderung von Sekundärkriminalität Diversion Non-Intervention Reduzierung von Stigma, beispw. Bundeszentralregistergesetz Kriminologie I WS 2006-2007 Page 87 Stress oder Kontrolle? Kriminalitätstheorien als Erklärung – pathologischer Erscheinungen, die im Verlaufe von Vergesellschaftungs- oder Sozialisationsprozessen auftreten. Erklärung der Fehl- oder Nichtanpassung eines Menschen, – verursacht durch sozialstrukturelle Pathologien, familiäre Ausnahmesituationen oder persönlichkeitsspezifische Defizite "Stresstheorien" fassen solche Ansätze zusammen, die – von einem allgemein gesellschaftlichen Norm- und Wertekonsensus ausgehen und – die abweichende oder kriminelle Handlungen durch blockierte Zugänge und dadurch ausgelösten Streß verursacht ansehen. – Der Schwerpunkt in der Erklärung der Entstehung von Konformität liegt auf der Erziehung und dem Prozess der Norminternalisierung. Kriminologie I WS 2006-2007 Page 88 Ausgangsfrage Hobbes: Der Mensch ist des Menschen Wolf Problem: Wie kann der Einzelne geschützt werden? Schutz (innere Sicherheit) bietet allein der Staat (durch äußeren Zwang) Kriminalität wird verhindert durch äußeren Zwang Kriminologie I WS 2006-2007 Page 89 Änderung der Ausgangsfrage Aus der Fragestellung von Hobbes „Warum verhalten sich Menschen konform?“ wird die Frage „Warum verhalten sich Menschen abweichend?“ Kriminologie I WS 2006-2007 Page 90 Antwort der sozialstrukturellen Gesellschaftstheorie Menschen verhalten sich konform, weil – es ein konsentiertes Werte- und Normensystem gibt, – das im Laufe der Sozialisation jeder Mensch, der „normal“ erzogen wird, „internalisiert“. – Insoweit kommen Erwartungen der Gesellschaft (Normen) und Interessen des Einzelnen zur Deckung. Konformität ist deshalb die Regel (und nicht erklärungsbedürftig), Abweichung ist die Ausnahme (und deshalb erklärungsbedürftig) Kriminologie I WS 2006-2007 Page 91 Probleme Werte- und Normkonsens ist zweifelhaft – 1960er Jahre: Vietnamkrieg, Studentenunruhen, Rassenunruhen in den USA Was ist Norminternalisierung? – Freudsches Konzept des Über-Ichs und des Gewissens als Übernahme von Fremderwartungen (gesellschaftliche Normen) – Konsequenz: schlechtes Gewissen, aber keine Verhinderung des Normbruchs Kriminologie I WS 2006-2007 Page 92 Neues Interesse an Kontrolltheorien Kontrolltheorie der Kriminalität (Hirschi) Erklärungsbedürftig ist, warum sich der Einzelnen an die Regeln hält Kriminologie I WS 2006-2007 Page 93 Variable Attachment: emotionale Bindung an relevante andere (Eltern, peers) Commitment: rationale Bindung über instrumentelle Interessen (beispielsweise erworbener Status, der nicht aufs Spiel gesetzt werden soll, Karrierechancen, die man sich nicht verderben will) Belief: Bindung aufgrund gemeinsamer geteilter Werte und Normvorstellungen; Glaube an die Legitimität der Ordnung und der Normen Involvement: Bindung auf der Basis der faktischen Teilnahme an den Institutionen der Gesellschaft (beispielsweise durch Arbeit oder Ausbildung). Kriminologie I WS 2006-2007 Page 94 Fortentwicklung der Kontrolltheorie Hirschi/Gottfredson – Allgemeine Kriminalitätstheorie – Kriminalität ist Ausdruck mangelhafter » Selbstkontrolle Kriminologie I WS 2006-2007 Page 95 Was bedingt die Konformität mit Internationalem Recht? Führt die Ratifizierung der UNO Anto Folter Konvention zu weniger Folter? – Nur ganz schwache Korrelation zwischen Ratifizierung und Ausmaß der Folter Demokratie und Folter? – Voll ausgebildete Demokratien folgen Pflichten aus der Konvention eher und zeigen nach Ratifizierung eine Verbesserung der Praktiken Kriminologie I WS 2006-2007 Page 96 Warum halten sich Staaten an Konventionen? Der Staat als rationaler Akteur? Direkte Sanktionen: ökonomische Sanktionen oder humanitäre Intervention (Sicherheitsrat) Informelle Sanktionen: Reputation und Scham Konformität mit internationalem Recht reflektiert nationale Interessen Wahrnehmung von internationalem Recht als legitim und gerecht Kriminologie I WS 2006-2007 Page 97 Voraussetzungen für Konformität Politische Strukturen – Ausmaß der politischen Beteiligung und der Gleichheit Systeme der Rechtfertigung von Anti-Folter Politik – Entwickelt und unterstützt durch soziale und politische Eliten – Ausschluss von Feindbildern, insb. das außergewöhnliche Verbrechen, gefährliche Menschen Systeme der Organisation von Autorität – Vorgesetztenverantwortlichkeit Kontrolle lokaler Dynamik von Folter – Insb. Schutz von Gruppen mit niedrigem sozialem Status: Obdachlose, Drogenabhängige Kriminologie I WS 2006-2007 Page 98 Literatur Hathaway, O.A.: Do Human Rights Treaties Make a Difference? The Yale Law Journal 111(2002), S. 19352042. Cole, W.M.: Sovereignty Relinquished? Explaining Commitment to the International Human Rights Convenants, 1966 – 1999. American Sociological Review 70(2005), S. 472-495. Kriminologie I WS 2006-2007 Page 99 Psychologische Kriminalitätstheorien Theorie der Psychodynamik (Freud) Persönlichkeit gliedert sich in Es, Ich und Über-Ich – Es: Triebe – Ich: Person oder Persönlichkeit – Über-Ich: Gewissen Entwicklung der Psyche – Ausbildung des Ich (und damit der Abgrenzung zu anderen Personen) – Ausbildung des Über-Ichs (gesellschaftliche Normen und Erwartungen) Die Entwicklung von – Ich und Über-Ich: Identifikationsprozesse (mit Mutter und Vater) Kriminologie I WS 2006-2007 Page 101 Psychodynamik und Abweichung Abweichendes Verhalten entsteht als Folge von Fehlentwicklungen in der Persönlichkeit – neurotische Fehlentwicklungen: ein zu starkes ("tyrannisches") Über-Ich (bedingt durch zu starke Identifikations- und Unterwerfungsprozesse in der frühen Erziehung) läßt eine adäquate Verarbeitung der Triebe nicht zu. Triebimpulse werden verdrängt und aufgestaut. Verbrechen und Abweichungen werden dann zu Symptomen (Beispiel: der Verbrecher aus Schuldgefühl). – Psychopathische Entwicklungen (als Folge gestörter (fehlender) Identifikation) führen zu Über-Ich-Defiziten, die eine angemessene Kontrolle der Triebe und eine interne Steuerung des Menschen auf der Basis der Repräsentanz gesellschaftlicher Erwartungen im ÜberIch nicht gewährleisten. Kriminologie I WS 2006-2007 Page 102 Lerntheorien Kriminelles Verhalten wird erlernt wie jedes andere Verhalten (Sutherland) Lernmechanismus der operanten Konditionierung (Bekräftigungslernen) – Problemverhalten wird aufgrund verstärkender Verhaltenskonsequenzen erworben und verfestigt. Hypothese: Eine Person wird dann antisoziales Verhalten (kriminelles Verhalten) zeigen, wenn sie in der Vergangenheit dafür bekräftigt/belohnt worden ist und wenn aversive Konsequenzen das Verhalten nicht unterdrückt haben. Kriminologie I WS 2006-2007 Page 103 Lerntheorien Erklärung erstmaligen Verhaltens/Erklärung seltenen Verhaltens – hier kann die Bekräftigung bzw. Verstärkung keine Rolle spielen Lerntheorie stellt heute auf eine Dreiteilung ab: – Erwerb von Verhalten, – Auslösung von Verhalten – Stabilisierung von Verhalten. Der Erwerb von Verhalten erfolgt durch Beobachtungslernen. Kriminologie I WS 2006-2007 Page 104 Eysencks Persönlichkeitstheorie der Kriminalität Unterscheidung zwischen Extrovertierten und Introvertierten Beobachtung: Extrovertierte sind stärker mit Kriminalität belastet Annahme: Kriminalität tritt eher bei extrovertierten Personen auf weil: – Extrovertierte Menschen weniger Angst haben – Angst eine Voraussetzung für Konditionierung darstellt – Extrovertierte Menschen deshalb schwerer lernen, weil sie weniger ängstlich sind Kriminologie I WS 2006-2007 Page 105 Counter Strike Kriminologie I WS 2006-2007 Page 106 Politik unter Zugzwang: Bürger fordern Verbot von Gewaltspielen Das Erfurter Schulmassaker hat eine vehemente Diskussion über die Rolle der Gewalt in den Medien ausgelöst. Killerspiele der Art, wie sie Robert Steinhäuser suchtmäßig spielte, wurden entwickelt, um Soldaten zum ungehemmten Töten zu drillen. Sie haben in Kinderzimmern nichts zu suchen! Das Schulmassaker in Erfurt und die berechtigte Wut der Bevölkerung über die bisherige Untätigkeit der Politik haben eine allgemeine Debatte über die Ursache der "Neuen Gewalt" ausgelöst. Die Teilnahme von über 100000 Menschen am Erfurter Gedenkgottesdienst für die Opfer am 3. Mai - eine der größten Versammlungen in Deutschland seit der Wiedervereinigung machte deutlich, daß die Geduld der Bevölkerung zur Neige geht. Eine Umfrage des Bonner dimap-Instituts ergab, daß 81% der Bevölkerung ein Verbot von Gewaltvideos und brutalen Computerspielen befürworten. Kriminologie I WS 2006-2007 Page 107 StGB § 131 Gewaltdarstellung (1) Wer Schriften (§ 11 Abs. 3), die grausame oder sonst unmenschliche Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder menschenähnliche Wesen in einer Art schildern, die eine Verherrlichung oder Verharmlosung solcher Gewalttätigkeiten ausdrückt oder die das Grausame oder Unmenschliche des Vorgangs in einer die Menschenwürde verletzenden Weise darstellt, 1. verbreitet, 2. öffentlich ausstellt, anschlägt, vorführt oder sonst zugänglich macht, 3. einer Person unter achtzehn Jahren anbietet, überläßt oder zugänglich macht oder 4. herstellt, bezieht, liefert, vorrätig hält, anbietet, ankündigt, anpreist, einzuführen oder auszuführen unternimmt, um sie oder aus ihnen gewonnene Stücke im Sinne der Nummern 1 bis 3 zu verwenden oder einem anderen eine solche Verwendung zu ermöglichen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. Kriminologie I WS 2006-2007 Page 108 Beobachtungslernen Massenmedien, Videospiele und Gewalt Hypothesen – „Konsum“ (Beobachtung) von Gewalt erzeugt Gewalttätigkeit – Keine Auswirkungen – „Konsum“ von Gewalt führt zu weniger Gewalttätigkeit Problem der Überprüfung – Längsschnittfragestellung – Labor- und Feldforschung Kriminologie I WS 2006-2007 Page 109 Forschungsergebnisse AMERICAN ACADEMY OF PEDIATRICS: Media Violence. Pediatrics 108(2001), S. 1222-1226. Anderson, C.A., Bushman, B.J.: The Effects of Media Violence on Society. Science 295(2002), S. 2377-2379. Media violence and aggression: 46 longitudinal samples involving 4975 participants, 86 cross-sectional samples involving 37,341 participants, 28 field experiment samples involving 1976 participants, and 124 laboratory experiment samples involving 7305 participants. Kriminologie I WS 2006-2007 Page 110 Forschungsergebnisse Anderson, C.A., Bushman, B.J.: The Effects of Media Violence on Society. Science 295(2002), S. 2377-2379. Kriminologie I WS 2006-2007 Page 111 Auslösung von Verhalten Wahrnehmung von Gelegenheiten Befehl und Gehorsam Kriminologie I WS 2006-2007 Page 112 Das Milgram Experiment (1961) Angeregt durch den Beginn des Strafverfahrens gegen Eichmann in Israel Aufruf zur Teilnahme an einem Experiment über „Lernen, Gedächtnis und Strafe“; 4,50 US$ für Teilnahme Rollen: Lernender, Lehrer und Wissenschaftler, der das Experiment überwacht Der Lernende wird in einem Stuhl festgeschnallt und an Elektroden angeschlossen Vorgetäuscht wird zur Zuordnung der Rollen von Lernendem und Lehrer eine Zufallsauswahl. Der Lernende wird allerdings immer von einem Schauspieler gespielt. Das Experiment besteht aus: – Vorlesen von Begriffspaaren, die vom Lernenden wiederholt werden müssen – Bei Fehlern muss der Lehrer Stromstöße versetzen – Stromstöße reichen von 15 Volt bis 450 Volt (Lebensgefahr) Kriminologie I WS 2006-2007 Page 113 Das Milgram Experiment Kriminologie I WS 2006-2007 Page 114 Durchführung 30 Schalter von 15 - 450 Volt, markiert mit Hinweisen wie 15 Volt = leichter Schock, 75 Volt = schmerzhaft bis 450 Volt = Lebensgefahr Vor Beginn des Versuchs wurden die Versuchspersonen von einem anwesenden Versuchsleiter, der als legitimierte Autoritätsfigur auftrat, nochmals massiv darauf hingewiesen, wie wichtig die strikte Einhaltung der Regeln sei Der angebliche Schüler äußerte vor Beginn des Versuchs beiläufig, er habe ein leichtes Herzleiden, wolle aber dennoch am Versuch teilnehmen Das Opfer begann bei 75 Volt zu stöhnen, woraufhin viele Versuchspersonen den Versuchsleiter vorsichtig baten, das Experiment zu unterbrechen, was dieser jedoch mit barscher Kritik und Appellen an die Männlichkeit seiner Versuchspersonen ablehnte Bei 180 Volt bat dann der "Schüler" eindringlich, das Experiment abzubrechen, da er die Schmerzen nicht mehr ertrage Bei 300 Volt brüllte er um Hilfe, danach schwieg er Kriminologie I WS 2006-2007 Page 115 Ergebnisse The theory that only the most severe monsters on the sadistic fringe of society would submit to such cruelty is disclaimed Two-thirds of this studies participants fall into the category of ‘obedient' subjects, they represent ordinary people drawn from the working, managerial, and professional classes (Obedience to Authority) Ultimately 65% of all of the "teachers" punished the "learners" to the maximum 450 volts No subject stopped before reaching 300 volts Kriminologie I WS 2006-2007 Page 116 Literatur Milgram, S.: Behavioral Study of Obedience. Journal of Abnormal and Social Psychology 67(1963), S. 371-378. Milgram, S.: Obedience to Authority; An Experimental View. Harpercollins 1974. Blass, Th.: The Milgram paradigm after 35 years: Some things we now know about obedience to authority. Journal of Applied Social Psychology 25 (1999), S. 955-978. Blass, Th.: The Man Who Shocked the World", Psychology Today (35)2002. Blass, Th.: The Man Who Shocked the World: The Life and Legacy of Stanley Milgram. Basic Books 2004. Kriminologie I WS 2006-2007 Page 117 Stanford Prison Experiment 1971 (Zimbardo) Das Experiment 24 junge Männer (Mittelschicht, psychisch unauffällig und gesund) – Per Zufall: 12 Gefängniswärter, 12 Gefangene – Briefing der „Gefängniswärter“: Gewalt ist nicht erlaubt, ansonsten die Vermittlung des Gefühls vollständiger Kontrolle – Das Experiment musste nach einigen Tagen abgebrochen werden; sadistische und erniedrigende Behandlung von Gefangenen war die Regel Kriminologie I WS 2006-2007 Page 118 Ergebnisse des Stanford Prison Experiments Haney, C., Banks, W. C., Zimbardo, P. G.: Interpersonal dynamics in a simulated prison. International Journal of Criminology and Penology, 1(1973) 69-97. – The experiment's results demonstrate the impressionability and obedience of people when provided with a legitimizing ideology and social and institutional support – The results support situational attributions of behavior rather than dispositional attribution: the situation caused the participants' behavior rather than anything inherent in their individual personalities Kriminologie I WS 2006-2007 Page 119 Ansätze zur Erklärung von Holocaust, Folter etc. Disposition vs. Situation Erklärung durch: Veränderungen des moralischen Bezugsrahmens Aus dem Tötungs- (Folter)verbot wird ein Tötungs-/Foltergebot Rechtfertigungssysteme Vollkommener Ausschluss der Opfer aus dem moralischen Bezugsrahmen Dies erlaubt die Aussage: Ich töte/foltere, bin aber ein anständiger Mensch geblieben Veränderungen des moralischen Bezugsrahmens können offensichtlich sehr schnell erfolgen Kriminologie I WS 2006-2007 Page 120 Literatur zu Abu Ghraib Fiske, S.T., Harris, L.T., Cuddy, A.J.: Why Ordinary People Torture Enemy Prisoners. Science, 26. November 2004, Bd. 306, S. 1482-1483. Kriminologie I WS 2006-2007 Page 121 Ökonomische Kriminalitätstheorien Ökonomische Kriminalitätstheorien Makro-ökonomische Ansätze – Arbeitslosigkeit und Kriminalität ..\..\Links\Arbeit07.ppt – Krisen und Kriminalität – Preisentwicklung und Kriminalität Rational Choice – Handlung als Ergebnis von Nützlichkeitsabwägungen Kriminologie I WS 2006-2007 Page 123 Ökonomische Kriminalitätstheorien Wann treten Nützlichkeitskalkulationen auf? Wie wird Nützlichkeit bewertet? Grenznutzen und Grenzschaden Einschränkungen der rational choice Erklärung – Normen, normative Orientierung (normative Theorien) – Routinen, routine activity approach Kriminologie I WS 2006-2007 Page 124 Biologische Kriminalitätstheorien Biologische Kriminalitätstheorien Annahme: Kriminalität ist vererblich Adoptions- und Zwillingsstudien Genetische/molekularbiologische Forschung Gehirnforschung Kriminologie I WS 2006-2007 Page 126 Zwillingsstudien Christiansen (1977) – 3.586 Zwillingspaare – In 900 Fällen fiel mindestens ein Zwilling kriminell auf – bei 35,2% der eineiigen Zwillinge war auch der zweite Zwilling kriminell auffällig – bei 12,5% der zweieiigen Zwillinge waren beide auffällig – eineiige Zwillinge sind offensichtlich einer gleichförmigen sozialen Reaktion unterworfen – aus den Verteilungen lässt sich folgern, dass annähernd zwei Drittel der eineiigen Zwillinge unterschiedliche Verläufe im Hinblick auf kriminelle Auffälligkeiten nahmen Kriminologie I WS 2006-2007 Page 127 Adoptionsstudien Hutchings/Mednick 1977 Untersuchung der Entwicklung adoptierter Kinder – Waren weder der leibliche Vater noch der Adoptivvater kriminell auffällig – Auffälligkeit adoptierter Kinder 10% – War der biologische Vater nicht kriminell, aber der Adoptivvater – Auffälligkeitsquote der Kinder 11%. – Unauffälligkeit des Adoptivvaters und Auffälligkeit des biologischen Vaters – Auffälligkeitsquote der Kinder 22% – Sowohl der biologische als auch der soziale Vater sind kriminell auffällig – Auffälligkeitsquote der Kinder 36%. Kriminologie I WS 2006-2007 Page 128 Chromosomen-Anomalien XYY anstatt XY – Annahme erhöhter Gewalttätigkeit – Basiert im Wesentlichen auf der Beobachtung, dass in Gefängnispopulationen XYY in etwa 1-3% vorliegt, während die Anomalie in der Bevölkerung bei unter 1% der Personen auftritt Kriminologie I WS 2006-2007 Page 129 Gehirnfunktionen und kindliche Entwicklung Child development in developing countries. Developmental potential in the First 5 years for children in developing countries. The Lancet 2007, 60-70. Gehirnfunktionen und damit das kognitive Potential werden durch Umweltbedingungen stark beeinflusst » Armut » Ernährung » Interaktionen/Stimulation Defizitäre kognitive Entwicklung korreliert stark mit schulischem und beruflichem Erfolg Prekäre Rahmenbedingungen werden weiter „vererbt“ Das Gehirn und seine Funktionen haben hohe Plastizität und sind deshalb auch für Interventionen in späteren Lebensjahren empfänglich Kriminologie I WS 2006-2007 Page 130 Quelle: Pfeiffer, C., Wetzels, P., Enzmann, D.: Innerfamiliäre Gewalt gegen Kinder und Jugendliche und ihre Auswirkungen. Forschungsberichte Nr. 80, Hannover 1999 Kriminologie I WS 2006-2007 Page 131 Auftreten von Kriminalität im Jugend- und Erwachsenenalter (%) in Abhängigkeit von Misshandlung oder Vernachlässigung als Kind Misshandelt Kontrollgruppe Jugendkriminalität 27,4 17,2 Erwachsenenkriminalität 41,6 32,5 Gewaltkriminalität 18,1 13,9 N 908 667 Kriminologie I WS 2006-2007 Page 132 Molekularbiologie Neuropeptide (Botenstoffe im Zentralnervensystem), insbesondere Oxytocin Verstärkte Ausschüttung von Oxytocin führt zu mehr Vertrauen in zwischenmenschlichen Interaktionen Stabilere Beziehungen/Bindungen Euphorie Kriminologie I WS 2006-2007 Page 133 Genetische Bedingungen Misshandelte Kinder mit einem MAOA (Monoamin Oxidase A) Gen, das lediglich in geringem Ausmaß das MAOA Enzym produziert, entwickeln häufiger Verhaltensprobleme (insbesondere auch Gewaltkriminalität) im späteren Leben Caspi, A., McClay, J., Mofitt, T.E., Mill, J., Judy Martin, J., Ian W. Craig, I.W., Alan Taylor, A., Poulton, R.: Role of Genotype in the Cycle of Violence in Maltreated Children. Science 297(2002), S. 851-854; Michael D. De Bellis, M.D.: The Psychobiology of Neglect. Child Maltreatment 10(2005), S. 150-172. Kriminologie I WS 2006-2007 Page 134 Soziale Kontrolle Soziale Kontrolle Gesellschaftliche Institutionen/Systeme zur Erzeugung und Erhaltung von Verhaltenskonformität – Strafrechtliche Sozialkontrolle – Allgemeine Sozialkontrolle Kriminologie I WS 2006-2007 Page 136 Soziale Kontrolle und Prävention Primärprävention – Prävention unerwünschten Verhaltens durch Erziehung etc. Sekundärprävention – Prävention durch Strafgesetze (Androhung von Strafe) Tertiärprävention – Prävention durch Rückfallverhütung Kriminologie I WS 2006-2007 Page 137 Normgenese Strafrechtsnormen als konsensualer Kern des Normensystems Strafrechtsnormen als Ausdruck von – Gruppeninteressen – Institutionellen Interessen Probleme der Normgeneseforschung – Seltenheit des Normsetzungsereignisses – Komplexität von Normsetzungsprozessen – Probleme des Datenzugangs – Verknüpfung mit Normimplementation Kriminologie I WS 2006-2007 Page 138 Bedingungen und Funktionen Kriminalisierung und Entkriminalisierung Überkriminalisierung Überkriminalisierung und präventive Wirkungen des Strafrechts – Fragmentarischer Charakter des Strafrechts – Straftat und Strafe als Ausnahmeerscheinungen Kriminologie I WS 2006-2007 Page 139 Institutionen Strafrechtlicher Verhaltenskontrolle Polizei Staatsanwaltschaft Gerichte Soziale Dienste in der Justiz Vollstreckungseinrichtungen, insbesondere Strafvollzug Kriminologie I WS 2006-2007 Page 140 Polizei Rechtsgrundlagen polizeilichen Handelns – Polizeigesetze der Länder » Gefahrenabwehr und Aufrechterhaltung von Ordnung » Ermessen – Strafprozessordnung » Polizisten als „Hilfsbeamte“ der Staatsanwaltschaft » Ermittlungen bei Verdacht strafbarer Handlungen » Legalitätsprinzip Kriminologie I WS 2006-2007 Page 141 Sicherheit und Privatisierung Entstehung einer privaten Polizei (Sicherheitsgewerbe) 2003 (Schutzdienste und Detekteien) – Ca. 117.000 sozialversicherungspflichtig Angestellte – Umsatz ca. 4 Milliarden € Erklärung – Sicherheit(sgefühle) – Zweifel an der Gewährleistung von Sicherheit durch die Polizei – Konzentration der Polizei auf schwere Kriminalität Kriminologie I WS 2006-2007 Page 142 Grenzen der Privatisierung Verfassungsrechtliche Schranken der Privatisierung – Rechtsstaatsprinzip – Grundrechtsschutz – Demokratieprinzip Zwang und Gewalt sind (außerhalb der individuellen Notrechte) nur als staatlich ausgeübte Gewalt legitimierbar Einsatz Privater – strenge normative Anleitung – oder eine zeitnahe und unmittelbare Kontrolle durch den Staat Alle Tätigkeiten, bei denen Gewalt (oder das Risiko des Einsatzes von Gewalt) keine Rolle spielt, sind privatisierungsfähig – – – – Notrufanlagen (Public Private Partnership) Radarüberwachung Überwachung des ruhenden Verkehrs Objektschutz, Personenschutz Kriminologie I WS 2006-2007 Page 143 Grafik: Anzahl öffentlicher und privater Polizei pro 100.000 der Wohnbevölkerung in den Ländern der EU 600 488 500 440 400 362 394 344 300 318 275 200 100 75 109 379 375 320 236 233 193 477 304 276 217 310 256 201 143 121 132 152 184 135 160 76 69 19 Öffentliche Polizei/100.000 Kriminologie I WS 2006-2007 lie Lu n xe m bu Ni rg ed er la nd Po e rtu ga l Sp an S c ie n h EU w e de In n sg es am t Ita an d Irl Ö st er re ic h B En el gi gl en an d/ W a Dä les ne m ar k Fi nn la n Fr an d kr ei De ch ut sc hl G an rie d ch en la nd 0 Private Polizei/100.000 Page 144 Tatverdacht Entstehung des Tatverdachts – Weitgehend Anzeigeerstatter, reaktive Orientierung der Polizei » >90% der Anzeigen resultieren aus Mitteilungen von Opfern – Alltagstheorien und Kontrolle – proaktive Methoden der Ermittlung – verdachtsunabhängige Kontrollen (Schleierfahndung) im Grenzraum Kriminologie I WS 2006-2007 Page 145 Polizeiforschung Untersuchungen über die Polizei – Wie entsteht Tatverdacht – Polizeiliche Ermittlungseffizienz – Verhältnis Polizei und Gesellschaft/Minderheiten – Übernahme von ethnischen Minderheiten in der Polizei Untersuchungen für die Polizei – Kriminalistik Kriminologie I WS 2006-2007 Page 146 Ermittlungseffizienz Grafik: Ermittlungseffizienz der Polizei in Abhängigkeit von einem zu Beginn der Ermittlungen identifizierten Tatverdächtigen (Einbruchsdiebstahl; Dölling 1999, S.52) 120 100 97 72 80 60 60 40 30 22 20 20 0 Aufklärung Anklage Tatverdächtiger bekannt Kriminologie I WS 2006-2007 Verurteilung Tatverdächtiger unbekannt Page 147 Polizeiliche Kontrollstrategien Community Policing Zero tolerance Kriminologie I WS 2006-2007 Page 148 Community Policing Dezentralisierung der Polizeiarbeit – Statt zentralisiertem reaktivem Funkstreifendienst zurück zur Fußstreife – Lokale Prioritätensetzung in Stadtquartieren Problem-orientiertes polizeiliches Vorgehen – Entstehungshintergründe analysieren (lokale Bedürfnisse) – prinzipiell offenes Spektrum an Lösungen Bürgerorientierte Setzung von Handlungsprioritäten – Intensivierung der Kontakte zu den Bürgern – Betonung von Ordnungsproblemen und Sicherheitsgefühl Aktive Beteiligung der Bürger – Neighborhood Watch Kriminologie I WS 2006-2007 Page 149 Zero Tolerance Broken Windows Theorie – Schwere Kriminalität ist eine Folge des Verlustes an informeller Sozialkontrolle – Erste Anzeichen sozialer Unordnung (Grafitti, Bettler, Müll auf der Straße, „zerbrochene Fensterscheiben“ etc.) sind auch erste Zeichen für den Rückzug informeller Sozialkontrolle » Einwohner ziehen sich zurück und kümmern sich nicht mehr um ihre Umwelt » Potentielle Straftäter nehmen die Zeichen als Zeichen für fehlende Kontrolle wahr – Konsequenz: » nachdrücklich dafür sorgen, dass die ersten Anzeichen nicht entstehen » Konzentration der Polizeiarbeit auf die Ordnung George L. Kelling, G.L., Wilson, J.Q.: Broken Windows. The police and neighborhood safety. The Atlantic Monthly 249(1982), S. 29-38. Kriminologie I WS 2006-2007 Page 150 Evaluation der Zero Tolerance Politik in New York Eingeführt 1993 Zwischen 1990 und 1996: Rückgang schwerer registrierter Kriminalität um 35% Entsprechender Rückgang der Kriminalität in demselben Zeitraum in 17 der 25 größten amerikanischen Städte und in 12 von 17 Industriestaaten Kontrollvariable: – – – – Rückgang des Crack-Kokain Konsums Rückgang der Arbeitslosigkeit Demographischer Wandel Wirtschaftlicher Aufschwung Kriminologie I WS 2006-2007 Page 151 Zero Tolerance und Beschwerden Graph: Index crimes and Complaints for Abuse of Police Authority in New York 1993-1998 700000 3000 600000 2500 500000 2000 400000 1500 300000 1000 200000 500 100000 0 0 1993 1994 1995 Index Crimes Kriminologie I WS 2006-2007 1996 1997 1998 Complaints Page 152 Traditionelle Funktionen der Staatsanwaltschaft Repräsentiert die rechtliche Dimension des Ermittlungsverfahrens » Ausgleich zwischen Effizienz und Rechtsstaat » Kontrolle und Anleitung der Polizei Neutralität im Ermittlungsverfahren Gate-Keeper für Gericht und Kriminalstrafe; Anklagemonopol Ausnahmen: » England: Polizei nimmt Funktionen der StA wahr; eine StA besteht erst seit 1986 » Dänemark: Polizei übernimmt Anklagefunktion in bestimmten Deliktsbereichen Kriminologie I WS 2006-2007 Page 153 Wandel der Staatsanwaltschaft Starke Zunahme der Straftaten und des Fallaufkommens in den 1960er und 1970er Jahren Komplexe und zeitaufwendige Verfahren der Wirtschaftskriminalität Tendenz zum Präventions- und Risikostrafrecht Kriminologie I WS 2006-2007 Page 154 Entwicklungen in der Staatsanwaltschaft Zunahme der Einstellungsentscheidungen (Bagatelleinstellungen: §§153, 153a StPO) Diversion: Verfahrensökonomie und Entstigmatisierung Verstärkte Einführung und Nutzung vereinfachter und beschleunigter Verfahren (Strafbefehlsverfahren) Verschiebung der de facto Strafzumessung auf die Staatsanwaltschaft Absprachen (deal) Kriminologie I WS 2006-2007 Page 155 Veränderungen in der Praxis des Strafprozesses Verlagerung des Schwerpunkts von der Hauptverhandlung auf das (Vor-) Ermittlungsverfahren Zunehmende Bedeutung der Eilanordnungen im Strafverfahren Zunehmende Bedeutung von vorläufigen Massnahmen mit erheblichem punitiven Charakter (Beispiel: Einfrieren von Konten, vorläufiger Zugriff auf Vermögenswerte) Wechsel von ante facto Kontrolle durch das Gericht hin zu post facto Kontrollen Richterliche Kontrolle verliert im Zusammenhang mit neuen Ermittlungsmaßnahmen an Bedeutung Kriminologie I WS 2006-2007 Page 156 Erledigungen von Strafverfahren 28,1 30 27,5 24,5 25 20 15 11,3 8,6 10 5 0 lage k n A Kriminologie I WS 2006-2007 s t. ng ehl n f u i l e l E b e f e st Stra ingt Ein d e e t ing Unb Bed And eres Page 157 Struktur der Auflagen 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 95,7 Kriminologie I WS 2006-2007 Geldauflage Gemeinnützige Leistungen Wiedergutmachung Unterhalt 1,5 2,4 0,4 Page 158 Trends in Verfahrenserledigungen (%) 25 20 15 10 5 0 81 9 1 83 9 1 85 9 1 87 9 1 Anklage Kriminologie I WS 2006-2007 89 9 1 Strafbefehl 91 9 1 93 9 1 §153 95 9 1 97 9 1 §153a Page 159 Ungleichmäßigkeit in der Einstellung 18 16 16 14 12 10 11 9 9 8 12 11 11 10 9 7 8 6 4 12 5 5 2 0 % §153a Kriminologie I WS 2006-2007 8 8 Baden-Wuerttemberg Bayern Berlin Brandenburg Bremen Hamburg Hessen M.-Vorpommern Niedersachsen Nordrhein-W. Rheinland P Saarland Sachsen Sachsen-A. Schleswig-H. Page 160 Ungleichmäßigkeit Ungleichmäßigkeit innerhalb Deliksgruppen – beispw. Drogendelikte – beispw. Diebstahl Ungleichmäßigkeit zwischen Delikten – beispw. Eigentums- vs. Wirtschaftsdelikte Fragen: – Soll Gleichmäßigkeit hergestellt werden? – Wie kann Gleichmäßigkeit hergestellt werden? Kriminologie I WS 2006-2007 Page 161 Kontrolle des Einstellungsermessens Einführung von allgemeinen Richtlinien (Einstellungsrichtlinien, vergleichbar sentencing guidelines) Kontrolle durch das Opfer – beispw. “Klageerzwingungsverfahren“ – beispw. zwingende Wiedergutmachung in Frankreich Interne Kontrollen Begründungspflichten Kriminologie I WS 2006-2007 Page 162 Gewaltenteilung Dominanz des exekutiven Rechts – Flexibilität und Informalität – Marginalisierung der Gerichte Das Gericht beschränkt sich im wesentlichen auf Fälle der Verhängung von Freiheitsstrafe Konventionelle Straftaten und die Straftaten der konventionellen Gesellschaft fallen in die Erledigungskompetenz der StA Kriminologie I WS 2006-2007 Page 163 Gerichte und Richter Fragestellungen Wie entwickeln sich Sanktionsmuster? Wodurch sind Strafzumessungsentscheidungen bedingt? Kriminologie I WS 2006-2007 Page 164 Strafzumessungsmodelle Ermessen und Strafzumessung – Unbeschränkt (vgl. beispw. Frankreich) – begrenzt (Deutschland, Österreich) – Richtlinien (Holland, USA, Schweden) Individualisierung, Prognose und Sanktionen – Abschaffung der Strafrestaussetzung – Orientierung an „good time“ Three strikes and you are out: Strafzumessung nach BaseballRegeln Kriminologie I WS 2006-2007 Page 165 Sanktionsmuster Sanktionsmuster sind geprägt durch die normativen Rahmenbedingungen – §47 Geldstrafe hat Priorität über die kurze Freiheitsstrafe – §56 Bewährung bei Freiheitsstrafen bis zu 2 Jahren Kriminologie I WS 2006-2007 Page 166 Sanktionsmuster Verteilung der Strafen in % 90 81,4 80 70 60 50 40 30 20 10 12,6 1,4 6 0 Freiheitsstrafe Freiheitsstrafe Freiheisstrafe mit o.Bew. > 2 Jahre ohne Bew. Bew. Kriminologie I WS 2006-2007 Geldstrafe Page 167 Gefangene pro 100.000 der Wohnbevölkerung (31. 3.) Alte Bundesländer 120 100 80 60 40 20 19 61 19 63 19 65 19 67 19 69 19 71 19 73 19 75 19 77 19 79 19 81 19 83 19 85 19 87 19 89 19 91 19 93 19 95 19 97 19 99 20 01 20 03 0 Kriminologie I WS 2006-2007 Page 168 Methodische Zugänge der Strafzumessungsforschung Strafverfolgungsstatistiken Fiktive Fälle Strafakten Teilnehmende Beobachtung Kombinationen: Akten und Interviews Kriminologie I WS 2006-2007 Page 169 Schwerer Raub: Erwachsenenstrafen (%kumuliert) 2004 (Strafrahmen 3 – 15 Jahre) 98 100 100 90 80 75 70 60 50 45 40 30 26 20 10 0 1 - 6 Monate Kriminologie I WS 2006-2007 4 - 12 Monate 1-2 Jahre 2-3 Jahre 3-5 Jahre 5-10 Jahre > 10 Jahre Page 170 Strafzumessungsforschung Befunde – Strafe bleibt im unteren Drittel des Strafrahmens – Strafe ist orientiert an „glatten Zahlen“ – Strafzumessung orientiert sich nicht an dem komplexen Programm des §46 StGB, sondern an wenigen Faktoren » Schwere » Vorstrafen – Strafzumessung entwickelt lokale Traditionen und damit auch regionale Differenzen Kriminologie I WS 2006-2007 Page 171 Vollstreckung Geldstrafe – Ersatzfreiheitsstrafe und gemeinnützige Arbeit Bewährung – Bewährungshilfe Freiheitsstrafe – Gefängnissystem Kriminologie I WS 2006-2007 Page 172 Die Ökonomie der Strafe Ökonomische Rahmenbedingungen – Prinzip der Selektion Kosten sowie Kosten-Nutzen-Analysen – Was kostet das Strafrecht? Kriminologie I WS 2006-2007 Page 173 Personal pro 100.000 der Bevölkerung Richter Österreich Dänemark Frankreich Deutschland Niederlande Schweden UK Kriminologie I WS 2006-2007 StA 19,8 6,5 11 25,4 10 19,2 14,9 Polizei 2,6 10 2,2 7,5 3 7,9 4,1 Gefängnis 420 265 403 302 254 309 376 Insgesamt 45 566 80 424 43 493 43 532 95 408 94 477 82 521 Page 174 Kosten pro Einwohner in Euro Kosten in Euro/Einwohner Justiz StA Österreich 57 Dänemark 30 Frankreich 23 Deutschland 64 Niederlande 23 Schweden 33 Kriminologie I WS 2006-2007 Polizei 4 5 6 19 11 8 Gefängnis 203 117 132 137 151 119 Insgesamt 26 290 32 184 19 180 25 245 54 239 43 203 Page 175 Europäische Entwicklungen EMRK Europäische Anti-Folter Konvention Konsequenzen – Abschaffung der Todesstrafe – Ausschluss von Körperstrafen Minimum Standards (auch) für „community“ Sanktionen Tampere 1999: Die Union als einheitliches Gebiet des Rechts Kriminologie I WS 2006-2007 Page 176 Gefängnis und Alternativen Kritik der Freiheitsstrafe und des Gefängnisses – F. v. Liszt: Marburger Programm 1882, Der Zweckgedanke im Strafrecht Gefängnis als „Schule des Verbrechens“ – Subkulturtheorien – Prisonisierungstheorien Gefängnis als „totale Institution“ (Goffman, E.: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt 1972) Kriminologie I WS 2006-2007 Page 177 Die Subkultur Insassenkultur – besondere Sprache – besondere Normen » Status » Verhältnis zu Vollzugsstab – Verhaltensweisen » Schwarzmärkte in Vollzugsanstalten – kollektive Einstellungen (beispielsweise gegenüber den Vollzugsbeamten, der Strafjustiz) Kriminologie I WS 2006-2007 Page 178 Prisonisierung Begriff – Anpassung und Gewöhnung an die Wertvorstellungen und Normen der Subkultur Clemmer – unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Grad der Anpassung an die Subkultur (Prisonisierung) und der Dauer des Aufenthalts im Gefängnis – Clemmer, D. (1940) The prison community. New York. Wheeler – Anpassung folgt einem U-Verlauf: Anpassung an die Gefängnissubkultur ist am Anfang der Haft recht schwach ausgeprägt, nimmt bis zur Mitte der Haft stark zu, um sich dann vor der Entlassung wieder abzuschwächen – Wheeler, S. (1961): Socialisation in Correctional Communities. In: American Sociological Review. S. 697 – 712 Offene Fragen – Hat das Gefängnis eine eigenständige Wirkung in Form von „Haftprägungen“ (Lerngelegenheiten in der sog. „Schule des Verbrechens“) oder wird die Subkultur importiert (beispw. Gangs) – Kann derartigen Prisonisierungsprozessen im Gefängnis entgegengewirkt werden? Kriminologie I WS 2006-2007 Page 179 Wirkungen des Gefängnisses Unmittelbare Auswirkungen Mittelbare Auswirkungen: Stigmatisierung und Chancenverschlechterung Besserung durch Behandlung – Wirkungsforschung/Behandlungsforschung – Problem fehlender kontrollierter Experimente – Lange Zeit überschätzt – Effekte partiell vorhanden, aber eher bescheiden Auswirkungen auf die Nachbarschaft und Wohnumgebung von Gefangenen und Strafentlassenen Kriminologie I WS 2006-2007 Page 180 Die Entwicklung von Alternativen zur Freiheitsstrafe Gefängnis und Alternativen zur Freiheitsstrafe Finanzielle Strafen Geldstrafe/Tagessatzgeldstrafe Ziele Diversion (Teil) ausgesetzte Strafe (Freiheitsstrafe) Bewährung und Restaussetzung Ziel: Rehabilitation Gemeinnützige Arbeit Community Sanktionen Ziele: Überwachung und Rehabilitierung Restitution Wiedergutmachung Mediation Ziele: Opferorientiert Behandlungs-Sanktionen Drogen Sexualstraftäter Ziele: Risikokontrolle/Rehabilitation Gewinnabschöpfung Elektronisch kontrollierter Hausarrest Ziele: Überwachung Kombinationen von Alternativen Ziele: Überwachung Disziplinierung Sex-Offender-Notification Sichtbare Strafarbeit Sicherungsverwahrung (Lebens) Lange Freiheitsstrafe Ziele: Sicherung und Risikokontrolle Ziel: Sicherung/Prävention Kriminologie I WS 2006-2007 Ziele: Opferschutz, Scham Page 181 Wandel strafrechtlicher Sozialkontrolle Von Todes- und Leibesstrafen zur Freiheitsstrafe – abgeschlossen Ende des 19. Jahrhunderts Von Freiheitsstrafe zu Kontroll- und Geldstrafen – abgeschlossen Mitte des 20. Jahrhunderts Erklärungen – Elias: Zivilisierung von Gesellschaft und Macht – Foucault: Perfektionierung der Kontrolle Kriminologie I WS 2006-2007 Page 182 Der Prozess der Zivilisation Entstehung von sozialen Abhängigkeiten und Vergrößerung der Verletzlichkeit des Einzelnen Zügelung von Aggressivität, Vordringen zivilisierten Verhaltens und Selbstkontrolle Veränderung der Psyche und der Gefühle – Zurückhaltung bei Gewalttätigkeit und Ablehnung der (öffentlichen) Zufügung von Schmerz und Leiden Akte, die starke Gefühle auslösen oder demonstrieren, werden weitgehend aus der Öffentlichkeit entfernt Kriminologie I WS 2006-2007 Page 183 Kennzeichen moderner Strafe Nicht öffentlich Experten (Resozialisierung) vollstrecken die Strafe Kosten-Nutzen orientiert Risiko orientiert Kriminologie I WS 2006-2007 Page 184