Theoretische Philosophie 2

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2. Erkenntnistheorie in der Frühen Neuzeit
2.1 Das Projekt der Erneuerung der Philosophie
Umbruch in der Erkenntnistheorie im 17. Jahrhundert:
Fortschreiten auf sicherer Grundlage für die Erkenntnis von Natur, Geist und Gott.
Bacon, Descartes: Abwendung von der Aristotelischen Philosophie,
Naturwissenschaften als Vorbild der Erkenntnis.
Alternativer Weg zur Erkenntnis:
(1) Identifikation und Ablegen von Vorurteilen: alles ist von Neuem zu prüfen.
(2) Erkenntnistheoretischer Fundamentalismus: Basis gültiger Erkenntnisse und
Verfahren zur Gewinnung weiterer Erkenntnisse.
Fundament:
Bacon: Erfahrung.
Descartes: Vernunft.
Verfahren:
Bacon: Verallgemeinerung von Erfahrungen
Descartes: Vernunftschluss
=> Aufteilung des Projekts einer neuen Begründung der Philosophie in Empirismus und
Rationalismus.
Der Aristotelische Begriff des Wissens bleibt maßgeblich:
Durch Rückführung von Phänomenen auf das Fundament der Erkenntnis wird deren
Beschaffenheit klar, und man versteht zugleich, dass diese Beschaffenheit keine andere
sein kann.
Empiristische Umsetzung: Bacons „ Experimentum crucis“.
Entwurf von zwei erschöpfenden Alternativen. Widerlegung einer Alternative durch die
Erfahrung.
=> Empirischer Beweis der anderen.
Beispiel: Newtons optisches Experimentum crucis.
Das Prisma bringt entweder die im weißen Licht enthaltenen Farben zum Vorschein
(Analyse) oder es erzeugt diese Farben (Produktion).
Widerlegung der zweiten Alternative.
=> Beweis der ersten.
(3) Verpflichtung auf praktisch relevantes Wissen: die neue Wissenschaft soll Wissen
hervorbringen, das für das Leben taugt.
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(4) Bewusstsein des Fortschritts: Die Wissenschaft wagt einen Neuanfang, sie führt
nicht einfach eine Tradition fort.
Bacons Instauratio magna
„Multi pertransibunt & augebitur scientia“
Der Gedanke des Erkenntnisfortschritts gewinnt erstmals klare Gestalt.
2.2 Descartes’ rationalistische Erkenntnistheorie und dualistische Leib-Seele-Theorie
René Descartes
(1596–1650)
1604–1612: Jesuitenkolleg
La Flèche
1628–1649: Aufenthalt in den Niederlanden
Februar 1650: Tod in Stockholm
Rationalismus in der Erkenntnistheorie: Verlässliches Wissen über die Welt gründet sich
auf die Einsicht, dass bestimmte Wahrheiten offenkundig oder evident sind.
Meditationes de prima philosophia(1641)
Pricinpia philosophiae(1644).
Beseitigung von Vorurteilen durch skeptischen Zweifel
Keine unserer landläufigen Überzeugungen ist hinreichend geprüft, um als Wissen
gelten zu können.
Wir können uns über den Wahrheitsgehalt von Empfindungen nicht sicher sein.
Auffinden eines Fundaments der Erkenntnis durch Radikalisierung des Zweifels: an
allem soll zunächst gezweifelt werden.
„Cartesischer Zweifel“.
Fiktion eines genius malignus, der uns in die Irre führen will.
Die Existenz des Zweifelnden und die Verlässlichkeit der Wahrnehmungen
„Nun, wenn er mich täuscht, so ist es also unzweifelhaft, daß ich bin. ... ‚Ich bin, ich
existiere’ [ist] notwendig wahr (1641, 43-45).
„Cogito, ergo sum“.
Aus der Existenz des Zweifels folgt die Existenz des Zweifelnden.
Die Vernunft, nicht die Wahrnehmung, stellt das Fundament der Erkenntnis bereit.
Descartes’ Geltungskriterium für Behauptungen: klare und deutliche ( clare et distincte)
Vorstellbarkeit der entsprechenden Sachverhalte.
„klar“: dem aufmerksamen Geiste gegenwärtig und offenkundig „deutlich“: von anderen
Erkenntnissen unterschieden und abgegrenzt.
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Zweiter Schritt: Ableitung des Gegenstandsbezugs bestimmter Wahrnehmungen.
Beweisgang über die Demonstration der Existenz Gottes.
Scholastische Kausaltheorie, derzufolge eine Ursache mindestens ebensoviel
Wirklichkeit oder Vollkommenheit in sich tragen muss wie die Wirkung.
=> Eine endliche Substanz, wie ich selbst es bin, kann nicht die Vorstellung einer
unendlichen Substanz bilden.
Bei Gott gehört das Dasein zum Wesen.
Güte und Wahrhaftigkeit gehören zur Vollkommenheit Gottes: Ausschluss des genius
malignus.
Rechtfertigung des Schlusses von den Sinneswahrnehmungen auf die Existenz der
zugehörigen Gegenstände.
Die Möglichkeit des Irrtums
(1) Irrtum und Schuld sind Zustände des Mangels: zu ihrer Entstehung bedarf es nicht
der Mitwirkung Gottes.
(2) Irrtum und Schuld entstammen daraus, dass der Wille zu urteilen weiter reicht als
das Urteilsvermögen.
(3) Diese Möglichkeit des Fehlurteils ist Folge der Urteilsfreiheit.
(4) Die Vollkommenheit der Gesamtheit der Welt wird dadurch erhöht, dass einige
Menschen dem Irrtum unterworfen sind (1641, 101-113, 143).
Andeutung der Leibnizschen Denkfigur, dass die Vollkommenheit des Ganzen die
Unvollkommenheit einzelner Teile verlangen könne.
Leib-Seele-Dualismus
Anwendung dieser Grundsätze der Erkenntnistheorie und des Geltungskriteriums der
klaren und deutlichen Vorstellbarkeit von Sachverhalten auf die Erkenntnis des LeibSeele-Verhältnisses.
Klare und deutliche Vorstellbarkeit begründet die Möglichkeit der Existenz.
Vorstellbarkeit als verschieden: getrennte Existenz möglich:
=> Wirkliche Verschiedenheit.
Untersuchung der Vorstellungen von Körper und Geist: wesentlich verschiedene
Merkmale.
Materie: allein durch Ausdehnung charakterisiert.
=> Alle Körper bestehen aus Teilen.
Geist: einheitlich durch „Denken“ bestimmt.
=> Verschiedenheit von Geist und Körper.
Aristotelische „Sandkastenontologie“: Bindung von Eigenschaften an einen Träger.
Die jeweils unterschiedlichen kriterialen Eigenschaften von Geist und Materie verweisen
auf die Existenz jeweils verschiedener zugehöriger Substanzen:
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– Mentale Fähigkeiten zeigen die einheitliche res cogitans als ihren Träger an.
– Materielle Eigenschaften sind an die einheitliche res extensa gebunden.
Interaktionismus: Beide Substanzen stehen in Wechselwirkung.
Der Geist wirkt auf den Körper und der Körper auf den Geist.
Ort der Körper-Geist-Wechselwirkung: Zirbeldrüse (Epiphyse).
Im physiologischen Mechanismus ist allein die res extensa wirksam. Der Körper
unterliegt ausschließlich den Gesetzen der Physik.
Die Wirksamkeit der res cogitans ist auf den Bereich der geistig-emotionalen
Fähigkeiten beschränkt.
Das Denkmotiv der Verstehbarkeit der Welt prägte das 17. Jahrhundert nachdrücklich.
„Mechanische Philosophie“: Alles Geschehen in der Welt wird von klar durchschaubaren
Eigenschaften bestimmt, nämlich Größe, Gestalt, Lage und Bewegung von
Materieteilen.
Der Interaktionismus und die Erhaltung der Bewegung
Bedenken: Descartes’ Auffassung von Leib-Seele- Wechselwirkung steht im
Widerspruch zu seiner Physik.
Erhaltungssatz für Bewegungen während der Geist zugleich durch Einwirkung auf die
Zirbeldrüse neue Bewegung zu erzeugen scheint.
Tatsächlich kein Widerspruch:
Descartes’ Physik: Die „Menge der Bewegung“ im Universum bleibt erhalten.
Menge der Bewegung: Impulsbetrag: |mv|.
=> Die Richtung der Bewegung wird nicht von diesem Erhaltungssatz erfasst.
Der Geist ändert nicht die Menge der Bewegung; er lässt die Geschwindigkeitsbeträge
aller beteiligten Körper konstant.
Stattdessen Einfluss auf die Richtung der Bewegung.
=> Einklang zwischen der Cartesischen Physik und der Leib-Seele-Wechselwirkung.
Descartes’ begriffliches Kunststück: Vereinigung dreier Annahmen ohne Widerspruch:
(1) Die materielle Welt ist kausal abgeschlossen.
(2) Der Geist ist nicht-materiell.
(3) Der Geist wirkt auf den Körper; sein Einfluss bewirkt körperlich fassbare
Unterschiede.
Grundlage: Erhaltung der Bewegungsmenge als Ausdruck kausaler Abgeschlossenheit
und zugleich als einzige universell gültige Zwangsbedingung für Wechselwirkungen.
Leibniz: Nicht allein Erhaltung der skalaren Menge der Bewegung (des Impulsbetrags),
sondern auch der determinatio (des vektoriellen Impulses).
=> Kein Raum für den Cartesischen kräftelosen Einfluss.
Klassische Mechanik: Erhaltung des vektoriellen Impulses.
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=> Richtungsänderung → Impulsänderung.
Der Einfluss des Geistes auf Bewegungsrichtungen ließe die Erhaltungssätze nicht
unangetastet und verletzte daher die kausale Abgeschlossenheit der Welt.
Bereits die unmittelbaren Nachfolger wichen von Descartes ab:
Leibniz gegen (3): keine Wechselwirkung zwischen Körper und Geist.
Hobbes gegen (2): Geist von materieller Natur.
=> Descartes steckte den Rahmen für weite Teile der nachfolgenden philosophischen
Diskussion ab.
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