PSYCHODIAGNOSTIK FÜR PSYCHOTHERAPEUTINNEN BRIGITTE SINDELAR Sigmund Freud PrivatUniversität B. Sindelar: Psychodiagnostik für Psychotherapeuten INHALT 1 Grundlagen .............................................................................................................. 3 1.1 Definition ............................................................................................................ 3 1.2 Historische Aspekte ........................................................................................... 3 1.3 Einsatzgebiete von Diagnostik............................................................................ 4 1.4 Funktionen klinisch-psychologischer Testdiagnostik .......................................... 4 1.5 Zielsetzungen der Diagnostik ............................................................................. 5 1.6 Der diagnostische Prozess ................................................................................. 5 1.7 Wege der Diagnostik .......................................................................................... 6 2 Verfahrensgruppen .................................................................................................. 7 2.1 Interviews ........................................................................................................... 7 2.2 Anamnese .......................................................................................................... 7 2.3 Exploration ......................................................................................................... 8 2.4 Tests................................................................................................................... 8 2.4.1 Leistungs- und Intelligenztests ........................................................................ 8 2.4.2 Persönlichkeitstests......................................................................................... 9 2.4.3 Projektive Testverfahren ............................................................................... 10 2.5 Testpsychologische Diagnostik bei Kindern ..................................................... 12 2.5.1Interviews….……………………………………………………………………………………………………………………………………12 2.5.2 Intelligenztests .............................................................................................. 13 2.5.3 Entwicklungstests.......................................................................................... 13 2.5.4 Schulleistungstests ....................................................................................... 14 2.5.5 Leistungstests ............................................................................................... 14 2.5.6 Projektive Verfahren...................................................................................... 14 2.6 Computergestützte Psychodiagnostik .............................................................. 15 3 Psychodiagnostik und Psychotherapie................................................................... 16 3.1 Nomothetische versus idiographische Diagnostik ............................................ 16 4 Klassifikation und Diagnostik.................................................................................. 19 4.1 Grundsätzliches................................................................................................ 19 4.2 Vorteile und Nachteile der Klassifikation .......................................................... 20 5 Der Störungsbegriff ................................................................................................ 22 5.1im ICD -10 (ICD = International Classification of Deseases) Chapter V (F): Classification Of Mental and Behavioural Disorders:.............................................. 22 5.2 im OPD (= Operationale Psychodynamische Diagnostik)................................ 22 6 Der psychologische Befund in der störungsbezogenen Diagnostik........................ 26 6.1 Richtlinien der psychologischen Befunderstellung............................................ 26 6.2 Aufbau eines psychologischen Befundes ......................................................... 27 6.2.1 Beispiel eines psychologischen Befundes..................................................... 28 6.2.2 Adressatenspezifische Adaptation des Befundes:......................................... 32 Seite 2 von 33 Sigmund Freud PrivatUniversität B. Sindelar: Psychodiagnostik für Psychotherapeuten GRUNDLAGEN 1.1 Definition "Die Wörter "Diagnose" und "Diagnostik" gehen zurück auf das griechische Verb "διαγιγνϖσκειν" (diagignoskein). Es bedeutet "gründlich kennen lernen", "entscheiden" und "beschließen". Von der ursprünglichen Wortbedeutung her (dia: durch, hindurch, auseinander; gnosis: Erkenntnis) ist Diagnostik Erkenntnisgewinnung zur Unterscheidung zwischen Objekten. Eine Diagnose liefert Aussagen darüber, welche Sachverhalte (in der Vergangenheit) für ein Verhalten (in der Gegenwart) verantwortlich sind. "Diagnostik" schließt heute auch Aussagen im Sinne einer Prognose ein" (Fisseni, 1990, S. 1). Störungsbezogene Diagnostik hat daher mehrere Ebenen: „entscheiden“: die Störung(en) benennen „gründlich kennen lernen“: die Störung in ihrer Bedingtheit und Genese verstehen „beschließen“: aus dem gewonnenen Wissen eine Behandlungsindikation ableiten Störungsbezogene Diagnostik endet nicht bei der Klassifikation, sie beginnt mit dieser. „Psychologische Diagnostik ist…die Bezeichnung für alle Methoden und deren Anwendung, welche zur Messung bzw. Beschreibung inter- und intraindividueller psychologischer Unterschiede verwendet werden.“ (Dorsch, F., Häcker, H. & Becker-Carus, Ch. (1998). Psychologisches Wörterbuch (13., überarbeitete und erweiterte Aufl.) Bern: Huber, 1998, S. 615). Oder, einfacher ausgedrückt: Psychodiagnostik ist die Feststellung psychologischer Charakteristika eines Individuums mit Hilfe besonderer Methoden. 1.2 Historische Aspekte Über Jahrzehnte hinweg hatte die Psychodiagnostik innerhalb der Psychotherapie einen vergleichsweise schweren Stand. Die Vorbehalte der 68er Kulturrevolution gegen Klassifizierung und Systematisierung sowie die zunehmende systemische Betrachtungsweise in der Beratungspraxis sahen im testdiagnostischen Messwert ein Symbol eines festschreibenden und diskriminierenden bürgerlichen Klassendenkens und eines pathologisierenden intrapsychischen Psychologieverständnisses. Insbesondere den standardisierten psychodiagnostischen Verfahren (Tests) standen und stehen zum Teil bis heute viele Psychotherapeuten mit einem gewissen Misstrauen und auch Ablehnung gegenüber. Insbesondere gilt dies für Vertreter der Psychoanalyse, der Gesprächspsychotherapie und der Systemischen Therapie, während Verhaltenstherapeuten eher bereit waren, im Rahmen der Verhaltensdiagnostik zumindest auf standardisierte Ratingskalen oder Tagebücher zurückzugreifen (Schneider u. Margraf 1996). In den letzten Jahren ist jedoch auch innerhalb der tiefenpsychologischen Schulen und der Gesprächspsychotherapie eine zunehmende Bereitschaft zu erkennen, klinische Selbst- und Fremdbeurteilungsskalen oder strukturierte Interviews bei der Erhebung diagnostischer Informationen einzusetzen. Lediglich systemische Therapeuten stehen einer psychologischen Diagnostik mittels standardisierter Testverfahren nach wie vor eher skeptisch gegenüber (Stierlin 2001). Psychodiagnostik hat innerhalb der psychotherapeutischen Forschung und Praxis in den letzten Jahren zunehmend Beachtung gefunden. Heute lautet die Frage nicht mehr, ob Psychodiagnostik vertretbar ist, sie lautet jetzt, wie Psychodiagnostik vertretbar ist: Die Problematik der Psychodiagnostik ist, dass man aus relativ wenig Beobachtungsdaten und Testresultaten, also einer relativ kleinen Stichprobe des Verhaltens, die in kurzer Zeit unter recht speziellen Bedingungen gewonnen worden sind, Aussagen machen soll über das Verhalten in vollkommen anderen Situationen, in denen die Person in ganz anderer Weise engagiert ist. Das macht es schwierig zu beurteilen, ob die psychodiagnostischen Aussagen, die man über eine Person macht, richtig sind (=„Validierungsproblem“). Die Treffsicherheit der psychodiagnostischen Aussagen hängt einerseits von der Validität der Seite 3 von 33 Sigmund Freud PrivatUniversität B. Sindelar: Psychodiagnostik für Psychotherapeuten verwendeten Verfahren ab, andererseits von der Qualität der Verarbeitung der gewonnenen Daten durch den Untersucher. Mit Sicherheit kann man sagen, dass der Wert einer Aussage, die sich nur auf einen einzigen Test stützt, in der Regel gering ist, dass aber die Beurteilung einer Person in Bezug auf irgendeinen psychischen Aspekt aufgrund wissenschaftlich begründeter Methoden (Verwendung mehrerer Tests) sicherer ist als ohne Anwendung solcher Methoden (zusammengefasst nach Arnold, Eysenck und Meili, 1994, S. 1719-1724). „Diagnostizieren ist die Kunst, eine adäquate Klassifikation zu machen und eine erfolgreiche Therapie vorzuschlagen, basierend auf unsicherem Wissen und unvollständigen Daten.“ (zit. nach Clancey) 1.3 Einsatzgebiete von Diagnostik Gruppendiagnostik: Die Zielsetzungen von Gruppendiagnostik bestehen darin, die ermittelten Daten in der Weise auszuwerten, dass Statistiken von Personenstichproben resultieren. Diese Statistiken dienen als Schätzungen für Parameter von Populationen. Die Daten dienen also als Grundlage für allgemeingültige Aussagen oder Gesetzmäßigkeiten. Dabei sind die Repräsentativität der Stichprobe, die Repräsentativität der Items sowie die Standardisierung der Datenerhebung zu berücksichtigen. Einzelfalldiagnostik: Einzelfalldiagnostik ist die spezifisch auf den Einzelfall abgestimmte Diagnostik mit Hilfe von singulären und idiographischen Hypothesen. Singuläre Hypothesen qualifizieren Aktivitäten von Personen oder Objekten, während idiographische Hypothesen Personen oder Objekte qualifizieren. Wir beschäftigen uns im Weiteren mit der Einzelfalldiagnostik: 1.4 . Funktionen klinisch-psychologischer Testdiagnostik Psychodiagnostische Testverfahren können im Rahmen der Klinischen Psychologie und Psychotherapie folgende Funktionen besitzen: Deskription: Erfassung und Beschreibung der aktuell vorliegenden Probleme bzw. Störungen eines Patienten in ihrer Art, Ausprägung, Dauer usw. Aussagen des Patienten über Beschwerden werden in spezifische Diagnostikfragen übersetzt. Klassifikation: Zuordnung von Patienten zu diagnostischen Kategorien eines statistischen Klassifikationssystems (ICD-10 und/oder DSM-IV) und/oder zu bestimmten Interventionen. Erklärung: Bereitstellung diagnostischer Informationen zur Entstehung psychischer Auffälligkeiten oder Störungen (z. B. biographische Daten oder aufrechterhaltende Bedingungen). Prognose: Beitrag zur Vorhersage von Verläufen psychischer Störungen mit oder ohne Intervention sowie Abschätzung der Erfolgswahrscheinlichkeiten von therapeutischen Interventionen. Seite 4 von 33 Sigmund Freud PrivatUniversität B. Sindelar: Psychodiagnostik für Psychotherapeuten Evaluation: Veränderungsmessungen, Bewertung von therapeutischen Interventionen Versorgungsmodellen (Wirksamkeitsnachweis und Qualitätssicherung). 1.5 oder Zielsetzungen der Diagnostik Statusdiagnostik (Eigenschaftsdiagnostik): Ziel der Statusdiagnostik ist, Aussagen über einen Ist-Zustand zu treffen. Sie versucht die Frage zu beantworten, wie sich ein Merkmalsträger zu einem gegebenen Zeitpunkt so beschreiben lässt, dass die gewonnenen Informationen erschöpfend, gültig und zuverlässig sind. Durch die Fragestellung ist vorgegeben, welchem Verwendungszweck die Aussagen dienen. Das zu einem Zeitpunkt beobachtete Verhalten und Erleben wird zur Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft (prognostisch) in Verbindung gesetzt. Im klinischen Bereich hat die Eigenschaftsdiagnostik vor allem in den Forschungsfeldern der Deskription, Klassifikation, Erklärung, Prognose und Evaluation große Verbreitung gefunden. Dem steht der nach wie vor eher geringe Stellenwert dieses Ansatzes bei der Intervention im Einzelfall gegenüber. Hier wird zumeist auf den zweiten, stärker lerntheoretisch orientierten Ansatz zurückgegriffen, der auch als Verhaltensdiagnostik (im Englischen: Behavioral Assessment) bezeichnet wird. Die strenge Gegenüberstellung von Eigenschafts- und Verhaltensdiagnostik ist jedoch aufgrund neuerer Entwicklungen innerhalb der Persönlichkeitsforschung und Psychodiagnostik kaum mehr haltbar. So hebt sich die persönlichkeitspsychologische Dichotomisierung von Eigenschaftsansatz versus Situationismus (lerntheoretischer Ansatz) im Interaktionismus auf. Innerhalb der Psychodiagnostik existieren inzwischen eine Reihe von Testverfahren, die neben stabilen Persönlichkeitseigenschaften („traits“) auch situationsabhängige Ausprägungen von Erlebens- und Verhaltensmerkmalen („states“) erfassen. Prozessdiagnostik Mit Hilfe diagnostischer Methoden werden Veränderungen im Erleben und Verhalten von Personen sowie Veränderungen von Institutionen erfasst. Es werden Feststellungen über quantitative wie qualitative Veränderungen, welche sich über eine zeitlich begrenzte Spanne ergeben haben, getroffen. Beispielsweise werden verschiedene Personen zu unterschiedlichen Situationen (Zeiten) mit parallelen Tests untersucht, dabei gilt es drei Varianzquellen zu berücksichtigen: die interindividuelle Varianz zwischen den Personen, die instrumentenbedingte Varianz zwischen den parallelen Testverfahren sowie die situationsbedingte Varianz zwischen den Situationen. 1.6 Der diagnostische Prozess Die Anfänge der Psychodiagnostik zielten darauf ab, aufgrund der Untersuchungsergebnisse ein möglichst widerspruchsfreies Bild von der Persönlichkeit des Untersuchten zu erstellen („Abbilddiagnostik“). Mittlerweile fand ein Paradigmenwechsel in der Psychodiagnostik statt: heute wird Psychodiagnostik als zielorientierter, hypothesengeleiteter Problemlöseprozess verstanden („Prozessdiagnostik“): aus der Fragestellung wird eine oder mehrere Hypothesen abgeleitet. Zu diesen Hypothesen werden durch eine systematische, zielorientierte Datenerhebung Informationen eingeholt, anhand derer die Hypothesen geprüft werden. Liegen ausreichende Informationen vor, die die Hypothesen bestätigen, wird eine Diagnose erstellt. Auf dieser basieren das Gutachten, das Behandlungskonzept und die Interventionsplanung. Im Rahmen des diagnostischen Prozesses finden sich immer wieder Diskrepanzen, das heißt: diagnostische Befunde widersprechen erwarteten Zusammenhängen. Seite 5 von 33 Sigmund Freud PrivatUniversität B. Sindelar: Psychodiagnostik für Psychotherapeuten In der Abbilddiagnostik werden Diskrepanzen zum Dilemma. In der Prozessdiagnostik dagegen führt das Aufdecken der Diskrepanzen weiter in der Hypothesenbildung und daher im Problemlöseprozess. Somit ist Prozessdiagnostik auch als Diskrepanzdiagnostik zu verstehen. Prinzip der Multimodalität: Das Prinzip der Multimodalität stellt eine zentrale Grundannahme der klinischpsychologischen und somit auch der therapiebezogenen Diagnostik dar. Multimodale (bzw. multimethodale) Diagnostik bedeutet, dass anstelle eines eng umschriebenen Zuganges ein komplexeres, d. h. multivariates Vorgehen gewählt wird. Dabei wird innerhalb einzelner Kategorien variiert, wobei die folgenden Kategorien zu unterscheiden sind: Datenebenen: somatisch somatisch/psychisch psychisch sozial Datenquellen: Klient andere Bezugspersonen (Angehörige, Therapeuten, zuweisender Arzt…) Verfahren der Leistungs- und Intelligenzdiagnostik Verfahren der Persönlichkeitsdiagnostik 1.7 . Wege der Diagnostik Datentypen: Von Cattell (1965) wurde die Unterscheidung verschiedener Datentypen eingeführt: Danach lassen sich innerhalb der psychologischen Diagnostik L(Life)-Daten, Q(Questionnaire)-Daten und T(Test)-Daten voneinander abgrenzen. Unter L-Daten werden biographische Merkmale und Fremdbeurteilungen gefasst, während Q-Daten Selbstauskünften in Befragungen entstammen, die zumeist mittels Persönlichkeitsfragebögen erhoben wurden. Persönlichkeitsfragebögen werden deshalb auch als subjektive Persönlichkeitstests bezeichnet. T-Daten schließlich gewinnt man mit Hilfe objektiver Persönlichkeitstests. Diese unterscheiden sich von den „subjektiven“ darin, dass sie in der Regel nicht auf Selbstauskünften der Probanden basieren, sondern unmittelbare, situationsbezogene Messungen eines Persönlichkeitsmerkmals anstreben. Normorientierte Diagnostik: Diagnostik erfolgt normorientiert, wenn das zu bewertende Merkmal mit den Ausprägungsgraden dieses Merkmals in einer Repräsentativstichprobe verglichen wird. Messungen in der psychologischen Diagnostik dienen dem Ziel, die Ausprägung individueller Merkmale zu bestimmen. Diese Merkmale werden als latente Konstrukte bezeichnet. Manifeste Merkmalsindikatoren sind notwendig, um die latenten Konstrukte zu erfassen. Kriteriumsorientierte Diagnostik: "Diagnostik erfolgt kriteriumsorientiert, wenn der verwendete Vergleichsmaßstab für das zu bewertende Charakteristikum eines Beurteilungssachverhaltes unabhängig von Informationen über die Verteilung der Ausprägungsgrade dieses Charakteristikums bei einer Menge dieser Beurteilungssachverhalte festgelegt wird." (Jäger & Petermann, 1995). Beispiel: „Diese Hose ist ziemlich eng.“ Der Beurteilungssachverhalt ist die Hose und das Charakteristikum ist die Weite. Die einzelne Hose wird nun unabhängig von der Verteilung Seite 6 von 33 Sigmund Freud PrivatUniversität B. Sindelar: Psychodiagnostik für Psychotherapeuten des Merkmals Weite in der Grundgesamtheit aller Hosen anhand eines vorher festgelegten Kriteriums beurteilt; in diesem Fall soll ein Mensch in eine Hose passen. Kriteriumsbezogene Diagnostik ist für alle Arten der Diagnostik, wie Status-, Prozess-, Einzelfall- und Gruppendiagnostik anwendbar. 2 VERFAHRENSGRUPPEN 2.1 Interviews Interviews werden zur Anamnesenerhebung und zur Exploration verwendet. Sie können frei oder strukturiert, auch standardisiert oder semi-standardisiert vorgegeben werden. 2.2 Anamnese Anforderung an die Anamnese: „Aus einem „Probanden“ wird ein Mensch, der an seiner Diagnostik teilhat.“ (Kessler, 1980) Inhalte, die in der Anamnese zu erfragen und erfassen sind: - Daten der biographischen Anamnese: - Familiärer und sozialer Entwicklungshintergrund: - Frühe familiäre Situation, Geburt, Geschwisterfolge: - Lebensumstände in den Kinderjahren - Besonderheiten in der Kindheit - Psychische Störungen in der Kindheit - Leistungsentwicklung: - Kindergarten, Schuleintritt, Schulkarriere, Ausbildung - Berufswahl, berufliche Karriere, - aktuelle Arbeitssituation - Besonderheiten in der Leistungsentwicklung - Leistungsstörungen in Kindheit und Jugend - Entwicklung des genitalen Rolle: - Frühe Bezugspersonen (Entwicklung in der Dyade) - Beziehung zu Eltern, Geschwistern (Entwicklung in der Triade) - Beziehungen in später Kindheit (Entwicklung in der Gemeinschaft) - Pubertät - Adoleszenz - Erwachsenenalter - Körperliche Entwicklung - Bisherige Erkrankungen (Krankheiten, Operationen, Unfälle, Spitalsaufenthalte) - Vorbehandlungen, Vorbefunde - Körperliche Befindlichkeiten und Beschwerden Selbst, interpersonelle Seite 7 von 33 Entwicklung, Entwicklung der Sigmund Freud PrivatUniversität B. Sindelar: Psychodiagnostik für Psychotherapeuten Biographische Daten zu erheben sollte nicht nur die Aufgabe haben, Bedingungen zu skizzieren, Hypothesen zu generieren und dadurch den diagnostischen Prozess zu leiten, und darauf basierend die Indikationsentscheidung zu präzisieren. Jeder Schritt des diagnostischen Prozesses sollte immer zugleich ein Prozess der Selbstauseinandersetzung sein, der durch das psychodiagnostische Material, das wir zum Einsatz bringen, angeregt wird. Auch wenn manche meinen, dass diese Wirkungen der Diagnostik vernachlässigbare Nebenwirkungen seien, zeigt die Praxis etwas anderes: der Patient ist keine „Blackbox“, in die wir auf der einen Seite Fragen einwerfen und auf der anderen Seite Antworten herauskommen. Selbst der einfachste Fragebogen setzt eine Selbstreflexion in Gang, die mit dem Kreuz auf dem Antwortbogen nicht abgeschlossen ist. Angewandte Diagnostik muss das nicht nur anerkennen, tolerieren und akzeptieren, sondern auch fördern und nutzen. Besonders zu beachten ist dieser Aspekt in der Exploration als diagnostischem Interview: 2.3 Exploration Sie ist NICHT NUR Datenerhebung und Datensammlung, SONDERN AUCH Beziehungsstruktur zwischen Exploriertem und Explorierendem mit therapeutischen Implikationen. Persönlichkeitsvariablen des Explorierenden fließen mit ein. Persönlichkeitsmerkmale gestalten die Antworten, ohne in einem direkten Zusammenhang mit dem Vorstellungsgrund, also dem eigentlichen „Objekt“ des Interviews stehen zu müssen (zum Beispiel: Anpassung des Klienten an von ihm vermutete Erwartungen des Explorierenden.) Jede Selbstdarstellung setzt einen Prozess der Selbstreflexion in Gang. 2.4 Tests "Ein psychodiagnostischer Test kann als ein spezifisches psychologisches Experiment gekennzeichnet werden, das der Erkundung und Beschreibung individueller psychischer Merkmale dient. Es besteht im wesentlichen darin, dass unter standardisierten Bedingungen eine Informationsstichprobe über den Probanden erhoben wird, die einen wissenschaftlich begründeten Rückschluss auf die Ausprägung eines oder mehrerer psychischer Merkmale des Probanden gestattet." (Jäger & Petermann, 1995). Ein Test wird aufgrund von testtheoretischen Regeln konstruiert und geprüft. Die Wissenschaftlichkeit des Verfahrens wird durch Nachweis der Haupt- (Objektivität, Reliabilität und Validität) und Nebengütekriterien (Nützlichkeit, Normierung, Ökonomie, Vergleichbarkeit) abgesichert. Ein Test ist hinsichtlich Durchführung, Auswertung und Interpretation standardisiert. Ein Test soll ein objektives, kontrolliertes Verfahren sein. Kriterien der Testbeurteilung: Objektivität = Unabhängigkeit vom Untersucher Reliabilität = wie genau misst der Test? Validität = misst der Test tatsächlich das Merkmal X? Normen = Vergleich mit Bezugsgruppe (zum Beispiel: IQ: Normen - zeitvariant!) Ökonomie Zumutbarkeit Brauchbarkeit der Ergebnisse 2.4.1 Leistungs- und Intelligenztests Da es keine einheitliche Definition von Intelligenz gibt, werden dieser Kategorie alle Testverfahren zugeordnet, die von ihren Autoren als Intelligenztest charakterisiert werden. Ein Mensch „besitzt“ nicht einen IQ. Der IQ ist der Wert, der dem Menschen aufgrund des Tests zugeordnet wird. Die Normierung von Intelligenztests ist zeitvariant. Seite 8 von 33 Sigmund Freud PrivatUniversität B. Sindelar: Psychodiagnostik für Psychotherapeuten Beispiel eines Intelligenztests: PSB-R Das PSB-R 6-13 ist ein auf der Grundlage der Thurstone`schen Primärfaktoren der Intelligenz entwickeltes Diagnostikum. Es besteht aus 9 Subtests. In der nun revidierten Form des PSB werden auch schulbezogene Wissensbereiche erfasst. Zudem wurde der verbale Bereich des Verfahrens erweitert und der Reasoningfaktor materialspezifisch aufgeteilt. Die Subtests 8 und 9 ermöglichen auch eine Erfassung der Konzentrationsfähigkeit. Neben dem Gesamtleistungswert und den einzelnen Subtests werden auch drei Faktorskalen berechnet: Verbalfaktor, Reasoningfaktor und Konzentrationsfaktor. Das Verfahren liegt in zwei echten Parallelversionen vor. - Demonstration und Übung - 2.4.2 Persönlichkeitstests Den verschiedenen Persönlichkeitstests liegen verschieden Persönlichkeitstheorien zugrunde. Als gemeinsames Charakteristikum gilt die Messung mehrerer Persönlichkeitsmerkmale ohne apparativen Aufwand. Die Persönlichkeitsmerkmale müssen im Bereich der so genannten normalen Persönlichkeit quantifizierbar sein. Das „Fünf-Faktoren-Modell“ der Persönlichkeit („Big Five“): Neurotizismus Extraversion Offenheit für Erfahrung Verträglichkeit Gewissenhaftigkeit Diese fünf Faktoren sind keine unabhängigen Faktoren und wurden von Eysenck zum „Big Three (PEN-Modell)“ zusammengeführt, Darin werden drei voneinander unabhängige Persönlichkeitsfaktoren postuliert: Neurotizismus Extraversion Psychotizismus Becker reduziert auch dieses auf zwei Hauptkomponenten („Big Two“): seelische Gesundheit Verhaltenskontrolle Beispiel: FPI-R (Freiburger Persönlichkeitsinventar) J. Fahrenberg und R. Hampel und H. Selg Das Freiburger Persönlichkeitsinventar ist ein faktorenanalytisch und itemmetrisch begründetes Persönlichkeitsverfahren. Seine Konstruktbereiche sind nicht nach theoretischen Vorentscheidungen oder im Hinblick auf eine festgelegte Anzahl von Dimensionen Seite 9 von 33 Sigmund Freud PrivatUniversität B. Sindelar: Psychodiagnostik für Psychotherapeuten ausgewählt, sondern pragmatisch als Konstruktbereiche, die den Autoren auf Grund ihrer Erfahrungen und auf Grund der Literatur interessant und wichtig erschienen. Diese Testform (FPI-R) umfasst 138 Items, die sich zu folgenden Skalen zusammensetzen: Lebenszufriedenheit, Soziale Orientierung, Leistungsorientierung, Gehemmtheit, Erregbarkeit, Aggressivität, Beanspruchung, Körperliche Beschwerden, Gesundheitssorgen, Offenheit, außerdem die zwei Sekundärskalen Extraversion und Emotionalität im Sinne Eysencks. Die Skalen werden mittels „stimmt – stimmt nicht“- Antworten erhoben: Normierung nach Geschlecht und Alter Beispiele der Fragen: Im allgemeinen bin ich ruhig und nicht leicht aufzuregen stimmt stimmt nicht Es fällt mir meist leicht, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren stimmt stimmt nicht Ich bin immer guter Laune stimmt stimmt nicht Oft habe ich alles gründlich satt stimmt stimmt nicht Ich habe einen empfindlichen Magen stimmt stimmt nicht Fehlerquellen in Selbstund Fremdbeurteilungsverfahren Persönlichkeitsfragebogen, Beschwerdefragebogen) (zum Beispiel Unklare Formulierungen Selbsttäuschung Erinnerungs- und Gedächtnisfehler Simulation/Dissimulation Bagatellisierung Antwort in Richtung sozialer Erwünschtheit 2.4.3 Projektive Testverfahren Verbal-thematische Verfahren: Die verbal-thematischen Verfahren konfrontieren den Probanden mit thematischem Reizmaterial (z.B. Wörtern, Sätzen, Bildern), das ihn zu einer verbalen Auseinandersetzung mit bestimmten Problemfeldern anregen soll. Zu den verbal-thematischen Verfahren zählen Assoziations-, Ergänzungs- und Erzählverfahren. Assoziationsverfahren bestehen aus Reizwörtern, die der Proband mit dem ersten Einfall beantworten soll. Die Thematik der Ergänzungsverfahren ergibt sich aus Satzanfängen, unvollständigen Geschichten, offenen sozialen Situationen, die dem Untersuchten einen weiten Spielraum der Beantwortung und Ergänzung lassen. Am bekanntesten wurde der Thematische Apperzeptionstest (TAT), der zu den Erzählverfahren gehört. Seite 10 von 33 Sigmund Freud PrivatUniversität B. Sindelar: Psychodiagnostik für Psychotherapeuten Beispiel: Thematischer Apperzeptionstest (TAT), Er wurde entwickelt von: Christiana D. Morgan, Henry A. Murray Dem Klienten werden szenische Bilder gezeigt, zu denen er eine möglichst dramatische Geschichte erzählen soll. Die Auswertung folgt nach Murray´s Motivationstheorie: in den vom Untersuchten erzählten Geschichten sind „needs“ und „presses“ zu analysieren. Die Antworten sollen dominante Triebe, Gefühle, Gesinnungen, Komplexe und Konflikte erkennen lassen. Formdeuteverfahren Der Klient erhält relativ unstrukturiertes, nicht eindeutig erkennbares Reizmaterial (z.B. Tintenkleckse), das gedeutet werden soll. Diese Deutungen werden klassifiziert und signiert. Aus den Signierungen werden Kennwerte errechnet. Diese interpretiert der Diagnostiker nach vorgegebenen Richtlinien. Beispiel: Der Rorschach-Test Der Rorschach-Test gilt als Prototyp der Formdeuteverfahren". Er wurde von Hermann Rorschach, (1884-1922), einem Schweizer Psychiater und Psychoanalytiker, entwickelt, der Sohn eines Zeichenlehrers war. Hermann Rorschach führte erste Versuche mit den Rorschachtafeln um 1910 an Schulkindern durch, gemeinsam mit Konrad Gehring, einem Schulkameraden Hermann Rorschachs und Lehrer. 1921 erschien Rorschachs Buch: „Psychodiagnostik“ im Verlag Bircher, Bern (später Hans Huber), das Buch war ein Ladenhüter. Anwendungsgebiete des Rorschachtests: Ursprünglich wurde der Rorschachtests als Hilfsmittel in der psychiatrischen Diagnostik angewendet. Sein Einsatzgebiet ist allerdings vielseitig: Arbeitspsychologie, Jugendpsychologie (Erziehungsberatung), Militärpsychologie, Gerichtspsychologie Demonstration und Übung – Seite 11 von 33 Sigmund Freud PrivatUniversität B. Sindelar: Psychodiagnostik für Psychotherapeuten Auswertung: Der Rorschachtest wurde lange (und wird gelegentlich auch heute noch) als nicht objektiv kritisiert, mangelhafte Gütekriterien wurden ihm vorgeworfen. Allerdings ist diese Kritik Ausdruck einer mangelnden Kompetenz in der Rorschach-Diagnostik: es gibt Rorschach-Kenner und Rorschachkönner. Denn der Rorschach-Test ist (zum Unterschied von Persönlichkeitstest in Form von Fragebogentests): - absolut unbeeinflussbar durch den Untersuchten und damit ein objektives Verfahren - die Signierung erfolgt nach festgelegten Kriterien - die Berechnung von Kennwerten aus der Signierung erlaubt sowohl psychodynamische als auch psychopathologische Diagnostik im Rahmen der psychiatrischen und neurologischen Nosologie. - inhaltliche Assoziationen des Untersuchers zu den Antworten des Untersuchten spielen in der Auswertung absolut keine Rolle. Außerdem ist der Rorschach-Test ein besonders zeitökonomisches Verfahren mit geringer Belastung für den Untersuchten und daher auch bei schweren psychischen Erkrankungen einsetzbar, dies vom Kindesalter (ab etwa drei Jahren) bis ins hohe Alter. 2.5 Testpsychologische Diagnostik bei Kindern 2.5.1 Interviews Anamnese Befragt werden dabei natürlich die Eltern. In der somatischen Anamnese werden detaillierte Daten zu Schwangerschaft und Geburt sowie der frühkindlichen Entwicklung erhoben. Ansonsten gelten dieselben Kriterien wie bei der Anamnese erwachsener Klienten. Exploration Bei der Exploration ist besonders Bedacht auf das Sprachverständnis und die sprachliche Ausdrucksfähigkeit des Kindes zu nehmen. Die sprachlichen und inhaltlichen Formulierungen sind dem Entwicklungsstand des Kindes anzupassen. Ob das Kind beim ersten Kontakt alleine oder im Beisein der Eltern (des Elternteiles) exploriert wird, ist davon abhängig, ob das Kind sich leicht von der Begleitperson trennt oder nicht. Mit zunehmender Vertrautheit mit dem Untersucher, die eventuell erst in weiteren Sitzungen erreicht wird, ist eine Exploration ohne Beisein der Eltern zwar anzustreben, darf aber nie unter Druck erreicht werden. Beispiel eines strukturierten Interviews: Kinder-DIPS - Diagnostisches Interview bei psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter S. Unnewehr und S. Schneider und J. Margraf Anwendungsbereich: Kinder und Jugendliche vom 6. bis zum 18. Lebensjahr sowie deren Eltern. Das strukturierte Interview «Kinder-DIPS» umfasst eine Kinderversion zur direkten Befragung des Kindes bzw. Jugendlichen sowie eine parallele Elternversion, die jeweils ca. 60 Min. in Anspruch nehmen. Es gliedert sich in einen Überblicksteil (Screening zur Erfassung der im Vordergrund stehenden Probleme und belastenden Lebensereignisse in den vergangenen sechs Monaten), einen speziellen Teil (Erfassung der spezifischen psychischen Störungen) sowie einen Abschnitt zur Erhebung der psychiatrischen Anamnese und Familienanamnese psychischer Störungen. Neben der Erfassung der für die Seite 12 von 33 Sigmund Freud PrivatUniversität B. Sindelar: Psychodiagnostik für Psychotherapeuten Diagnosestellung nach DSM-IV oder ICD-10 erforderlichen Symptome wird außerdem nach auslösenden und modulierenden Faktoren gefragt sowie die durch die Störung bedingte Beeinträchtigung in verschiedenen Lebensbereichen eingeschätzt. 2.5.2 Intelligenztests Auch für Kinder stehen verschiedene Verfahren zur Intelligenzmessung zur Verfügung. Sinnvoll ist, Verfahren zu verwenden, die ein mehrfaktorielles Intelligenzmodell zur Grundlage haben. Beispiel: AID 2 Adaptives Intelligenz Diagnostikum 2 K. D. Kubinger und E. Wurst Die Intelligenztestbatterie AID 2 ist einsetzbar für Kinder von 6;0 bis 15;11 Jahren. Sie stellt die Revision bzw. Neunormierung des AID dar. Zugrunde liegt die pragmatische intelligenztheoretische Position, möglichst viele Fähigkeiten zu erfassen. Thematisch orientieren sich die einzelnen Untertests grob an denjenigen der frühen Wechsler-Tests. Gemessen werden die «verbal-akustischen» Fähigkeiten: Alltagswissen, Angewandtes Rechnen, Unmittelbares Reproduzieren-numerisch, Synonyme Finden, Funktionen Abstrahieren, Soziales Erfassen und Sachliches Reflektieren sowie die «manuell-visuellen» Fähigkeiten: Realitätssicherheit, Soziale und Sachliche Folgerichtigkeit, Kodieren und Assoziieren, Antizipieren und Kombinieren-figural, Analysieren und Synthetisieren-abstrakt; neu sind die Zusatztests Unmittelbares Reproduzieren-figural/abstrakt, Merken und Einprägen sowie Strukturieren-visumotorisch. Durch die adaptive Vorgabe der Untertests ist eine extrem ökonomische Messung der Intelligenz möglich; das stets angemessene Schwierigkeitsniveau gewährleistet eine optimale Motivation der Testperson. Zur globalen Beurteilung der «Intelligenz» dient die (untere Grenze der) Intelligenzquantität - zu interpretieren als kognitive Mindestfähigkeit -, ergänzt um den Range der «Intelligenz» - zu interpretieren als Grad der Differenziertheit des erfassten Fähigkeitsspektrums. Vorzuziehen ist jedoch eine Profilinterpretation, indem die T-Werte pro Untertest und ihre Relation zueinander interpretiert werden. Ein Diagramm zur Diagnostik von Teilleistungsstörungen ermöglicht ein entsprechendes Screening in Bezug auf ausgewählte Teilleistungsfähigkeiten, das Beiblatt für Beobachtungen der «Arbeitshaltungen» dient der qualitativen Beurteilung des Arbeits- und Kontaktverhaltens bei Leistungsanforderung. Die Verfügbarkeit auch sprachfreier Instruktionen zu fünf Unter- und zwei Zusatztests erweitert die Einsatzmöglichkeiten des AID 2. Neben einer herkömmlichen manuellen Auswertung ist auch eine computerisierte Auswertung (samt Speicherung in einer Datenbank) möglich. - Demonstration von Beispielen 2.5.3 Entwicklungstests Entwicklungstests existieren sowohl für einzelne Bereiche der Entwicklung (Motorik, Sprache, usw.) als auch als allgemeine Entwicklungsskalen, in denen die Gesamtentwicklung eines Kindes erfasst wird. Der Einsatzbereich ist bevorzugt im Kleinst- und Kleinkindalter. Beispiel DENVER-Entwicklungsskalen Gezielte Beobachtung und Aufgabenstellungen erheben Meilensteine der kindlichen Entwicklung in einem Raster von 0 bis 6 Jahren auf den Skalen: Sprache, sozialer Kontakt, Feinmotorik, Grobmotorik. - Demonstration - Seite 13 von 33 Sigmund Freud PrivatUniversität 2.5.4 B. Sindelar: Psychodiagnostik für Psychotherapeuten Schulleistungstests Eine Vielzahl von Verfahren erhebt das Niveau der schulischen Leistungen eines Kindes im Lesen, Schreiben und Rechnen. Beispiel SLRT -Salzburger Lese- und Rechtschreibtest (K. Landerl und H. Wimmer und E. Moser) Im Lesetest werden sowohl sinnfreie als auch sinnhafte Wörter und Texte vorgegeben, das Lesetempo, die Lesefertigkeit und das sinnverstehende Lesen werden überprüft. Im Rechtschreibtext fügt das Kind vorgelesene Wörter in einen Lückentext ein, wobei auch der ganze Satz vorgelesen wird. Die Auswertung erfolgt nach Schulstufen. 2.5.5 Leistungstests Beispiel: Verfahren zur Erfassung von Teilleistungsschwächen (Sindelar) Dieses Verfahren zur Erfassung von Teilleistungsschwächen ist ein Instrument zur gezielten Beobachtung eines Kindes. Gegenstand der Beobachtung ist das Entwicklungsniveau der einzelnen Teilleistungen des Kindes. Ziel dieses Verfahrens ist, die Wahrnehmungs- und kognitiven Verarbeitungsfunktionen eines Kindes detailliert zu erfassen, um darauf aufbauend einen individualisierten, spezifischen Trainingsplan für das teilleistungsschwache Kind zu erstellen. Den theoretischen Hintergrund des Verfahrens bilden die Neuropsychologie, die kognitive Psychologie und die Entwicklungspsychologie. - Demonstration von Beispielen 2.5.6 Projektive Verfahren Konzept: siehe projektive Verfahren 2.2.3. Verzauberte Familie Diese kann sowohl als Zeichentest als auch als Erzähltest vorgegeben werden. (Instruktion: „Stell dir einmal vor, ihr seid alle zu Hause, deine ganze Familie. Auf einmal kommt ein Zauberer. Dieser Zauberer verzaubert euch alle. Zeichne deine verzauberte Familie auf!“ oder: „Erzähl mir: wer wird in was verzaubert?“) Schweinchen Schwarzfuß Der Schweinchen-Schwarzfuß-Test ist ein verbal-thematisches Verfahren für Kinder. Vorgegeben werden Bilder, in denen Szenen aus einer Schweinchen-Familie vorgestellt werden. Das Kind erzählt, was es auf dem Bild sieht. Dieser Test, die deutsche Ausgabe des französischen Tests «Patte Noire» von Corman, basiert auf den Auswertungen von Erfahrungen mit vorangegangenen Testmethoden, wie z.B. dem TAT und dem CAT. Der Test arbeitet mit der Anregung durch Bilder zur Projektion unbewusster Tendenzen. Die Projektion auf den Helden gelingt hier besonders gut, weil nur ein Wesen, Schweinchen Schwarzfuß, als Identifikationsfigur angeboten wird nach der Methode der bevorzugten Identifikation. Anfangs waren die Verfasser der Auffassung, dass der Anwendungsbereich auf Kinder beschränkt bleiben würde. Doch hat die Erfahrung gezeigt, dass sich dieser Test auch ausgezeichnet zur Untersuchung der Persönlichkeit von Erwachsenen eignet. - Demonstration von Beispielen Rorschach-Test Siehe vorher. Die Signierung und Interpretation der Kennwerte folgt altersspezifischen Kriterien Seite 14 von 33 Sigmund Freud PrivatUniversität B. Sindelar: Psychodiagnostik für Psychotherapeuten 2.6 Computergestützte Psychodiagnostik Mittlerweile stehen sowohl Leistungs- und Intelligenztests als auch Persönlichkeitstests (Fragebogentests) in computerisierter Form zur Verfügung. Für etliche Verfahren ist auch bereits eine Online-Auswertung möglich. Beispiel: Das Hogrefe-Testsystem Der Forderung nach nomothetischer Vorgehensweise in der Diagnostik kommt die computerbasierte Anwendung in besonderem Masse entgegen. Das regelgeleitete Vorgehen bei der Sammlung der diagnostischen Informationen entspricht direkt der Arbeitsweise dieses Mediums. Vorteile der PC-basierten Testanwendung: - Die direkte Informationsverarbeitung im PC ermöglicht Diagnostik unter kontrollierten Bedingungen - Die Administration via PC erschwert oder verhindert, dass der Untersuchte die Testkonstruktion durchschaut, weil jeweils nur ein Item auf dem Bildschirm erscheint. Diese Vorgabe führt zu einer Erhöhung der Reliabilität bei der Beantwortung und vermindert die Fehlerquellen. - Die Ergebnisse stehen mit allen Spezialauswertungen nach Syndromen oder Zusatzskalen sofort zur Verfügung. - Weiters ist auch die die Beantwortungszeit erfasst. - Der Ausdruck der Ergebnisse kann ohne weitere Aufbereitung zur Dokumentation im Gutachten verwendet werden und dem Klienten bei der Besprechung der Testergebnisse vorgelegt werden. - Auch wenn derzeit noch die Übertragung der bekannten Papier- und Bleistift-Verfahren auf die PC-Anwendung dominiert, so lässt das System weitere psychodiagnostische Entwicklungen erwarten, insbesondere das adaptive Vorgehen: Über die Qualität der individuellen Lösungen kann das System selbständig adaptiv werden und bei einer bestimmten Punktzahl automatisch auf eine neue Schwierigkeitsebene oder ein anderes Testverfahren übergehen. - Die längst geforderte und erwünschte Kontrolle von Prozess- und Entscheidungsstrategien ist in hohem Masse gewährleistet. Zu erwarten ist, dass die klassischen Tests mit einer Durchführung von A bis Z gemäß geschlossenem Messkonzept mit der Weiterentwicklung der PC-Vorgabe verschwinden werden. Offene Verfahren werden im Modulsystem beliebig kombiniert und eingesetzt können. Die Vernetzung der Daten wird interne Normierungen oder Spezialnormierungen ermöglichen und die Zuverlässigkeit des Anwendungsprozedere erhöhen. Anwenderdatenpools aktualisieren die von Verlagen publizierten Normen. Objektivität, Überprüfbarkeit, Wiederholbarkeit machen essentiell das Arbeiten mit dem PC aus und erfüllen so die Forderung der nomothetischen Diagnostik besonders gut. Die Interpretation der Testergebnisse, also der diagnostische Schritt, in dem die Hypothese mit der höchsten, weil am besten abgesicherten Wahrscheinlichkeit zum Ergebnis wird, nimmt der PC ab, zumindest für den metrischen Diagnosebereich und für den rationalen, numerischstatistischen Erkenntnisprozess. Allerdings ist dies nur ein Teil des diagnostischen Prozesses: „Was haben wir nun an psychologischem Ergebnis, definiert als Computerausdruck? Das „Knochengerüst“, wie Pulver (a.a.O.) meinte, das jetzt noch mit dem „Fleisch“ der klinischen Methoden zu umgeben sei? Aus meiner Sicht nicht mehr als einen Haufen Knochen, die zwar Seite 15 von 33 Sigmund Freud PrivatUniversität B. Sindelar: Psychodiagnostik für Psychotherapeuten sehr sauber, zierlich und akkurat herumliegen, aber noch längst kein Skelett darstellen, weil sogar der Bauplan noch fehlt. Wir kennen zwar den allgemeinen menschlichen Bauplan, können Fuß- und Handknochen unterscheiden, wissen, wo Elle und Speiche hingehören. Aber dieses Wissen alleine langt noch nicht, um das je individuelle Skelett zusammenzusetzen. Es sind die Unregelmäßigkeiten im Zusammenbau, die Winkel und Disproportionen, die verheilten Brüche und die lebensgeschichtlichen Verformungen, die aus dem allgemeinen das spezielle Skelett formen.“ (aus: Ulrike Zöllner, Antrittsvorlesung an der Hochschule für Angewandte Psychologie Zürich, 8.5.2001: „Psychodiagnostik zwischen Wissenschaft und Leidenschaft“) 3 PSYCHODIAGNOSTIK UND PSYCHOTHERAPIE 3.1 Nomothetische versus idiographische Diagnostik Nomothetische Diagnostik diagnostiziert anhand von standardisierten Testdaten, bildet so ihr Urteil. Sie versteht Diagnostik als Psychometrie, die mithilfe experimenteller und statistischer Methoden die Teilkomponenten der Persönlichkeit zu erfassen und zu analysieren versucht. Der Mittelwert der Bezugsgruppe bildet die Realnorm, auf die hin das untersuchte Individuum definiert wird. Das Instrument der nomothetischen Psychodiagnostik ist der objektive, standardisierte, normierte und hinsichtlich der Gütekriterien qualifizierte psychometrische Test. Die idiographische Richtung oder klinische Urteilsbildung versteht Diagnostik als ganzheitlich. Sie versucht, den individuellen Menschen ganzheitlich zu erfassen und zu beschreiben. Statt allgemein gültiger psychologischer Gesetzmäßigkeiten thematisiert sie das Unverwechselbare und Individuelle. Sofern überhaupt „getestet“ wird, sind projektive als qualitative Verfahren Mittel der Wahl. Die Wertung und Bewertung der psychodynamischen Zusammenhänge präsentieren sich auch im PC-Zeitalter weiterhin zumindest teilweise alogisch und a-rational, eben menschlich. In der Praxis werden diese Positionen als ein Kontinuum aufgefasst. Je nach Fragestellung wird in einem Fall mehr nomothetisch, im anderen mehr idiographisch gearbeitet. In der Kombination beider Zugänge sowie einer Erhöhung der Anzahl der Tests werden eine gegenseitige Überprüfung der Methoden und damit eine Minimierung des Fehlers angestrebt. (Fehler der Diagnostik können grundsätzlich in „falsch negativ“ (= Störung wird fälschlich als nicht vorhanden diagnostiziert, also übersehen) oder in „falsch positiv“ (= Störung wird fälschlich als vorhanden diagnostiziert) eingeteilt werden.) Die idiographische Psychodiagnostik kann nomothetisch erfasste Ergebnisse einbeziehen, um zu ihrem ganzheitlichen Persönlichkeitsbild des individuellen Menschen zu gelangen. Dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit begegnet die idiographische Diagnostik immer wieder mit Versuchen, sich dem nomothetischen Arbeiten anzunähern (siehe computerisierte Auswertungstechniken des Rorschach-Tests). Eine Annäherung kann allerdings nur geschehen unter Verzicht auf die jedem der beiden Wege eigenen qualitativen Möglichkeiten. Denn das klassische testtheoretische Denken ist auf die idiographische Diagnostik nicht anwendbar, sondern dafür ungeeignet. Zum Beispiel: Validität bedeutet in der Testtheorie, dass das Verfahren das misst, was es angibt zu messen. Diese Validität wird mithilfe statistischer Methoden geprüft. Die Validität eines idiographischen Verfahrens liegt nicht darin, dass es mit einem Außenkriterium korreliert oder mit einem anderen Verfahren, das das gleiche zu messen beansprucht; es ist dann valide, wenn es etwas aufzeigt, was sich zum Verständnis der Person und des Problems als konstruktiv erweist. Diese Validität kann erst im Testgespräch mit dem Untersuchten zusammen beurteilt werden. Seite 16 von 33 Sigmund Freud PrivatUniversität B. Sindelar: Psychodiagnostik für Psychotherapeuten Daher bedarf der idiographische Weg der Diagnostik nicht nur der Deutung, der Interpretation oder des Einordnens in ein theoretisches Erklärungssystem. Er verlangt essentiell das Verstehen im Sinne einer bewusst gehandhabten Subjektivität. Dazu eine Demonstration zur bewussten Handhabung der Subjektivität im Interesse einer objektiven idiographischen Diagnostik: Was sehen Sie hier? Eine junge oder eine alte Frau? Zuerst einmal: Sie deuten nicht, sondern Sie sehen eine junge oder eine alte Frau. Was ist daraus abzuleiten? Wohl kaum die folgenden Aussagen: Sie sehen die alte Frau: Sie sind von Ihrer Großmutter abhängig. Sie sehen die junge Frau: Sie sind auf Äußerlichkeiten fixiert. Aber aus der Antwort sind Fragestellungen ableitbar: Sie sehen eine alte Frau, weil es Ihrer konkreten Lebenssituation entspricht? Sie Angst vor dem Altwerden haben? In Ihrem Leben Ihre Großmutter eine besondere Rolle gespielt hat? Sie Weisheit mehr schätzen als Attraktivität? weil Sie depressiv verstimmt sind und daher Schönes nicht wahrnehmen? Und wozu sehen Sie das? um Angst auszudrücken, zum Beispiel vor dem Altwerden oder vor dem Tod? um Sehnsucht auszudrücken, zum Beispiel nach Ihrer verstorbenen Großmutter? um Ihr Wunschdenken auszudrücken (dass Sie sehr alt werden möchten)? Seite 17 von 33 Sigmund Freud PrivatUniversität B. Sindelar: Psychodiagnostik für Psychotherapeuten um Ihre schönen Erinnerungen an Ihre Großmutter auszudrücken? Und weshalb sehen Sie das? damit Ihr Therapeut Ihre Situation erkennen kann? damit Ihr Therapeut Ihnen helfen kann? damit Ihr Therapeut sieht, wobei er Ihnen nicht zu helfen braucht? Diese Fragen lassen sich nur im Dialog mit dem Klienten, also durch die Mitbeteiligung des betroffenen Menschen an seiner Diagnostik, beantworten, in der Begegnung, die prozesshaftes diagnostisches Arbeiten möglich macht. Abschließend sei zum besseren Verständnis Ulrike Zöllner aus ihrer Antrittsvorlesung an der Hochschule in Zürich zitiert: „Was müssen wir auf der klinischen Ebene wissen, um den Bauplan zu erstellen? Nicht, ob die Probandin emotional labil ist im Sinne einer erhöhten Empfindlichkeit, Ängstlichkeit und Reizbarkeit, erhöhter Neigung zum Grübeln, zum Stimmungswechsel und Stresserleben sowie zu psychosomatischen Störungen. Und auch nicht, ob sie dies in gleichem Aufmass mit 4, 7 oder 12 % ihrer Alters- und Geschlechtsbezugsgruppe teilt. Wir wollen wissen, wie sie dies alles erlebt, wie sich das auswirkt auf ihr Selbstwertgefühl, auf ihre Beziehung zur Umwelt und zu anderen Menschen und welchen Einfluss das hat auf ihre Zielsetzungen und ihre Lebenszufriedenheit. Wir wollen wissen, wie sie zu diesen Persönlichkeitsmerkmalen steht, sich diese erklärt, wie sie damit umgeht, wo und in welchen Bezügen sie diese im Griff hat und wo nicht, auf welche inneren Kräfte sie zurückgreift und wo sie sich Hilfe erwartet. Wir wollen ferner die nicht störungsbezogenen Persönlichkeitsanteile kennen lernen nach dem Motto von O. Sacks, „Frage nicht, welche Krankheit ein Mensch hat, sondern welcher Mensch die Krankheit hat.“. Wir wollen wissen, wie er geworden ist und was er sein zu werden gedenkt. Wir wollen einen Einblick nehmen in die Einflüsse, die ihn prägten, und die Kräfte, die ihn von außen formten und die er selbst zu seiner Formung und Gestaltung in sich mobilisierte. Kurz: ihn verstehen und dies eben mit der Leidenschaft des Diagnostikers, dessen Profession ihm immer neu zu einer faszinierenden Herausforderung wird. Die Frage nach dem Was ist dabei nur eine vorläufige auf niedriger Komplexitätsstufe. Sie wird abgelöst durch die Fragen nach dem Wie, Warum und Weshalb, dem Wieso und auch dem Wozu, bis wir in die Welt des Probanden hineingewachsen sind und sie von innen heraus sehen können, wie es Flammer (1997) als letzte Stufe des Verstehens postuliert hat.“ Seite 18 von 33 Sigmund Freud PrivatUniversität B. Sindelar: Psychodiagnostik für Psychotherapeuten 4 KLASSIFIKATION UND DIAGNOSTIK 4.1 Grundsätzliches Störungsbezogene Diagnostik hat zwei grundsätzliche Aspekte: kategorial = welche Störung liegt vor? dimensional = wie schwer ist die Störung? Ansprüche an die störungsbezogene Diagnostik: Was ist die Störung? -> wie heißt die Störung? -> woher kommt die Störung? -> was ist gegen die Störung zu tun? -> hilft das, was gegen die Störung getan wird? Deskriptive Diagnostik beantwortet die ersten beiden Fragen. Sie leistet die Zuordnung der Symptomatik zu umschriebenen Störungen (z.B. nach ICD 10): die Symptomatik wird differenziert und detailliert erhoben -> Benennen der Störung Der deskriptive Ansatz der neuen Diagnosesysteme ebnet den Weg für eine multiple Diagnosestellung bei ein und derselben Person (zum Beispiel: Angst und Abhängigkeit) = „Komorbidität“ = Benennen aller Störungen dieses Menschen => Klassifikation Daraus sind aber nur bedingt therapeutische Implikationen abzuleiten. Es gibt keine Klassifikation psychischer Störungen, die genuin aus dem psychotherapeutischen Bereich stammt. Die Diagnostik hat also noch die weiteren Fragen zu beantworten, um die Störung in ihrer Bedingtheit und Genese zu verstehen und daraus abzuleiten, welche Behandlung die Störung bessern oder beheben kann und wie der Behandlungserfolg überprüft, also evaluiert werden kann. => störungsbezogene Diagnostik In der letzten Definition psychischer Störungen durch die Amerikanische Psychiatrische Assoziation, dem DSM IV (Diagnostisches Statistisches Manual IV), finden wir den Krankheitsbegriff nicht: "Psychische Störungen sind konzeptualisiert als ein klinisch bedeutsames behaviorales oder psychisches Syndrom oder Muster, das bei einem Individuum erscheint und das verbunden ist mit gegenwärtigen Belastungen, z.B. einem schmerzvollen Symptom mit Beeinträchtigungen, z.B. Behinderung in einem oder mehreren Funktionsbereichen oder mit einem bedeutsam erhöhtem Risiko zu sterben, Schmerzen oder Behinderungen zu erleiden oder einem wesentlichem Verlust von Freiheit". (Saß, Wittchen & Zaudig 1996, 944) (Anmerkung: Die Finanzierung bzw. Teilfinanzierung von Psychotherapie durch die Sozialversicherungsträger ist an das Vorliegen von Krankheit gebunden („Vorliegen einer krankheitswertigen Diagnose“).) Auf die Krankheitsursache als Ordnungsmodell wurde verzichtet. Man beschränkte sich auf eine möglichst präzise definitorische Erfassung von "Symptomen und Syndromen". Dieses Vorgehen hat nachweislich zu einem massiven Anstieg der Reliabilität der diagnostischen Aussagen geführt. Eine Diagnostik, geordnet nach Krankheitsursachen, wie sie davor üblich war, führte dazu, dass Patienten bei gleichem Zustandsbild unterschiedliche Diagnosen je nach dem ätiologischen Hintergrund des Diagnostikers bekamen. Seite 19 von 33 Sigmund Freud PrivatUniversität 4.2 B. Sindelar: Psychodiagnostik für Psychotherapeuten Vorteile und Nachteile der Klassifikation Klassifikationssysteme sind Ordnungssysteme für Phänomene. Dies gilt auch für Klassifikationssysteme psychischer Störungen. Um eine Diagnose vergeben zu können, muss eine Diagnostik durchgeführt werden, innerhalb derer geprüft wird, ob die Kriterien für das Vorhandensein einer Störung erfüllt sind. Skepsis gegenüber der Klassifikation psychischer Störungen ging vor allem von den Psychotherapeuten aus: - Der Vorgang der Diagnostik gefährdet die akzeptierende therapeutische Haltung und fördert eine objektivierende Einstellung - Die Patienten werden durch die Vergabe von Diagnosen etikettiert, pathologisiert, im schlimmsten Fall stigmatisiert - Die Patienten werden durch die Speicherung und Weitergabe persönlicher Befunde versachlicht und entpersönlicht - Die vergebenen Diagnosen sind unvalide und für die Klärung psychotherapeutischer Zielsetzungen ungeeignet - Klassifikation bedeutet Vergröberung führt - der typologischer Ansatz der Klassifikation nivelliert interindividuelle Unterschiede und negiert die Einmaligkeit des Individuums durch vereinfachende Klassenzuweisung - die deskriptive Klassifikation ist lediglich kategorial und nicht dimensional - die Klassifikation ist weitgehend eine dichotome Entscheidungsklassifikation (Störung vorhanden oder nicht?) - sie entspricht kaum den Kriterien der Psychometrie - die Inter-Diagnostiker Reliabilität habe sich nur mäßig erhöht (trotz anderer Hoffnungen) Informationsverlust, da sie zu einer diagnostische Kritik aus (Schul-)Psychiatrie und Psychoanalyse: - eine rein deskriptive, a-theoretische Klassifikation ohne ätiologische Annahmen ist nutzlos - „bewährte“ Konzepte wie „endogen“, „psychosomatisch“, „Psychose“, „Sucht“ etc., die wegen Ätiologieannahmen und Schulenbindung in der deskriptiven Diagnostik keine Bedeutung haben, aufzugeben, ist gleichbedeutend mit einem Verlust der diagnostischen Qualität - Das System ist psychiatrielastig, d.h. psychosomatische Störungen sind randständig und die neurotischen Störungen unlogisch erfasst - die beschriebenen Krankheitseinheiten haben keine psychotherapeutische Validität, das heißt, es resultieren aus ihnen keine psychotherapeutischen Strategien - die kategorialen Syndrome sind schwer gegeneinander abzugrenzen bzw. zeigen erhebliche Überschneidungen, so dass man einen Begriff wie Komorbidität einführen muss, um zu beschreiben, dass z. B. eine Persönlichkeitsstörung zu 60% mit anderen Persönlichkeitsstörungen überlappt oder dass somatoforme Störungen zu 50% auch die Kriterien für Depression oder Angststörung erfüllen. - ICD-10 und DSM-IV sind in der Praxis schwer praktikabel Seite 20 von 33 Sigmund Freud PrivatUniversität B. Sindelar: Psychodiagnostik für Psychotherapeuten Diese Sichtweise mahnt zur Vorsicht im Umgang mit vermeintlichen Realitäten, ihrer Zuordnung und vor allem ihrer Bewertung. Dennoch lässt ein diagnostisches Klassifikationssystem wie ICD oder DSM einige unbestreitbare Vorteile erkennen: - das Ordnungssystem psychischer Störungen, auf das sich interdisziplinär und international jeder beziehen kann, erleichtert die interpersonale, interdisziplinäre und internationale Verständigung - Es ist operational definiert, d. h. die Krankheitsbilder sind genau festgelegt und es liegt nicht im Ermessen des einzelnen Therapeuten, was er dafür hält. - Es ist empirisch überprüfbar - Daraus folgt: die Ergebnisse dieser Überprüfung wirken zurück auf die Weiterentwicklung des Systems von Version zu Version, d.h. es zeigt eine gewisse Flexibilität und Anpassung an jeweils aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse - Es entwickelt sich von Version zu Version weiter - Die hypothetische Klassenbildung ermöglicht empirische Analysen, die neue Informationen (zu Ätiologie, Epidemiologie, Symptomatologie, Behandlungsmöglichkeiten) erbringen - Die Reliabilität wird immerhin in einem gewissen Maß erhöht durch den deskriptiven Ansatz und die „Operationalisierung“ der diagnostischen Leitlinien nach möglichst verhaltensnahen Symptombeschreibungen und durch die Spezifikation von Symptomanzahl und Symptomdauer sowie durch die Konstruktvalidität - Durch „diagnostische Leitlinien“ nach dem aktuellen wissenschaftlichen Stand ist eine Inhaltsvalidität gegeben - Die allgemeine Indikationsstellung („Krankheitswertigkeit“) wird erleichtert, (= behandlungsbedürftig), nicht aber die differentielle Indikationsstellung (= welcher Behandlung bedürftig) - Es ist frei von unbeweisbaren theoretischen Annahmen (z. B. der Neurosentheorie) - Zum größten Teil dienen Diagnostik und Therapieplanung und der Therapiedurchführung. Klassifikation unmittelbar der Beispiel: ICD 10: F90 hyperkinetische Störungen:einfache Aufmerksamkeitsstörung G1: Unaufmerksamkeit ­ sind häufig unaufmerksam gegenüber Details oder machen Flüchtigkeitsfehler bei den Schularbeiten und sonstigen Arbeiten und Aktivitäten ­ sind häufig nicht in der Lage, die Aufmerksamkeit bei Aufgaben und beim Spielen aufrechtzuerhalten ­ hören häufig scheinbar nicht, was ihnen gesagt wird ­ können oft Erklärungen nicht folgen oder ihre Schularbeiten, Aufgaben Pflichten am Arbeitsplatz nicht erfüllen ­ sind häufig beeinträchtigt, Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren ­ vermeiden oder verabscheuen Arbeiten, wie Hausarbeiten, die Durchhaltevermögen erfordern ­ verlieren häufig Gegenstände, die für bestimmte Aufgaben oder Tätigkeiten wichtig sind, z.B. Schularbeiten, Bleistifte, Bücher, Spielsachen und Werkzeuge Seite 21 von 33 oder Sigmund Freud PrivatUniversität B. Sindelar: Psychodiagnostik für Psychotherapeuten ­ werden häufig von externen Stimuli abgelenkt ­ sind im Verlaufe der alltäglichen Aktivitäten oft vergesslich mindestens sechs der Symptome von Unaufmerksamkeit bestanden mindestens sechs Monate lang in einem mit einem mit dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmaß. 5 DER STÖRUNGSBEGRIFF 5.1 im ICD -10 (ICD = International Classification of Deseases) Chapter V (F): Classification Of Mental and Behavioural Disorders: ­ verzichtet durchgängig auf den Begriff der Krankheit ­ nicht „psychiatrische“ Störungen, sondern „psychische Störungen“ ­ Kriterien für eine Störung ist ein Komplex von Symptomen oder Verhaltensauffälligkeiten, die mit individuellen psychischen Beeinträchtigungen, mit individuellen Behinderungen im Sinne einer verminderten Bewältigungsfähigkeit von Alltagsaktivitäten verbunden sind und auch auf der sozialen Ebene mit Belastungen und Funktionsbeeinträchtigungen verbunden sein können ­ diagnostiziert anhand „diagnostischer Leitlinien“ ­ spezifiziert Anzahl und Gewichtung der Symptome, die für eine Diagnose vorliegen müssen ­ Angaben zur Symptomdauer sind dabei allgemeinere Richtlinien ­ unterscheidet Diagnose-Typen: – „sichere Diagnose“: die diagnostischen Leitlinien müssen vollständig erfüllt sein – „vorläufige Diagnose“: die diagnostischen Leitlinien sind nicht vollständig erfüllt, da Informationen fehlen, die wahrscheinlich ergänzt werden können – „Verdacht auf ...“-Diagnose: die diagnostischen Leitlinien sind nicht vollständig erfüllt, da Informationen fehlen, die nicht ergänzt werden können ­ Prinzip der Komorbidität: so viele Diagnosen wie nötig (Haupt-, Neben- und Zusatzdiagnosen) ­ Rangreihe nach Aktualität der Störungskomponenten (Leidensdruck) ­ stellt auch Bezug her zu den anderen ICD-10-Kapiteln (zum Beispiel somatischen) 5.2 im OPD (= Operationale Psychodynamische Diagnostik) Dieses Klassifikationssystem nimmt eine psychotherapiespezifische diagnostische Klassifikation vor, das den psychodynamischen Anschluss an das international gebräuchliche ICD-System leistet (Arbeitskreis OPD 1996, 2001). Es beinhaltet vier psychodynamische Achsen und eine klassifikatorische Achse, wobei die Achsen aus mehreren Dimensionen zusammengesetzt sind, die als Ganzes ein Muster des Erlebens und Verhaltens bilden. Auf der fünften Achse wird eine Verknüpfung mit der Symptombeschreibung nach ICD vorgenommen und damit an das international gültige diagnostische Klassifikationssystem angeschlossen: Seite 22 von 33 Sigmund Freud PrivatUniversität B. Sindelar: Psychodiagnostik für Psychotherapeuten Achse I: Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen Achse II: Beziehung Achse III: (psychodynamische) Konflikt(e) Achse IV: (Persönlichkeits-) Struktur Achse V: Psychische und Psychosomatische Störungen ……………………………………………………………………………………………….……… …. Zur Vertiefung: Prof.Dr.med. Gerd Rudolf, Ärztlicher Direktor der Psychosomatischen Universitätsklinik, Heidelberg Vortrag am 22. April 2002 bei den 52. Lindauer Psychotherapiewochen: „Vorteile und Risiken der Klassifikation“ (Auszug, Volltext siehe: http://www.lptw.de) „ …………. Ich diskutiere abschließend das Fallbeispiel einer 25-jährigen Patientin. Auf der OPD SymptomAchse hat sie die ICD-10 Diagnose Bulimie, depressive Episode. Kommentar: Die Patientin wirkt depressiv-starr, aber um Freundlichkeit bemüht, sie hat die Kontrolle über die Ess-Brechanfälle, die mehrmals wöchentlich auftreten, schon lange verloren. Sie hat gelegentlich dissoziative Symptome, deren Schweregrad aber nicht für die Diagnose einer dissoziativen Störung ausreichend Gelegentliche Erregungsspannungen, Missstimmung und Impulse, sich die Haut zu ritzen, sind vorhanden, aber auch nicht so ausgeprägt, dass die Diagnose einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung Borderline Typus gerechtfertigt wäre. Diese ICD-10 –Zuordnung zeigt eine Störung im Bereich des Verhaltens und psychischen Erlebens von einem mittleren Schweregrad. Die diagnostische Entscheidung, die Patientin als noch nicht Borderline und noch nicht dissoziativ einzuschätzen ist teils beruhigend, teils bedrohlich (vielleicht steckt doch mehr dahinter). Es ist schwer, allein aus diesen Fakten eine spezifische Therapieplanung im psychodynamischen Sinne abzuleiten. Für einen Therapeuten, der eine Weile in der Klinik gearbeitet hat, wird es fraglich erscheinen, ob die Bearbeitung von zugrunde liegenden Konflikten (die bis jetzt noch nicht genannt sind) ausreichen, um das entgleiste Essverhalten zu strukturieren. Er oder sie wird in seinen Behandlungsplan wahrscheinlich symptombezogene Interventionen einbauen. Die Symptomdiagnose Bulimie legt die symptombezogene Therapieplanung einer Bulimietherapie nahe. Wenden wir uns nun den psychodynamischen Achsen zu und beginnen mit OPD-Beziehung Die Beziehungsdiagnostik nach OPD zeigt folgendes dysfunktionales Beziehungsmuster: Die Patientin erlebt andere immer wieder so, dass diese sie ausbeuten oder im Stich lassen, während sie selbst sich besonderes bemüht und engagiert. Zugleich wird erkennbar, dass die Patientin in Beziehungen überraschend resigniert, sich unzugänglich macht und ihr Gegenüber zurückstößt. Kommentar: Ein solches Beziehungsmuster bedeutet ein großes Risiko für eine therapeutische Beziehung, weil die sehr bedürftige Patientin zunächst an ihr Gegenüber appelliert, ihm aber, wenn es sich annähert, zurückweist oder es ins Leere laufen lässt. Diese Muster diagnostisch zu erfassen, eröffnet die therapeutische Chance, es frühzeitig zu bearbeiten, anstatt dass es im Behandlungsverlauf allmählich seine destruktive Kraft entfaltet und die Beziehung scheitern lässt. Auf die therapeutische Technik in der Bearbeitung des Beziehungskonflikts will ich jetzt nicht näher eingehen. OPD-Konflikt Seite 23 von 33 Sigmund Freud PrivatUniversität B. Sindelar: Psychodiagnostik für Psychotherapeuten Im Vordergrund wird ein Autarkie-Versorgungskonflikt, dahinter ein Selbstwertkonflikt registriert. Diese Konfliktbeschreibung gibt gewissermaßen die Interpretation für das Beziehungsverhalten. Es geht um den unbewussten Wunsch, autark zu sein und nicht versorgt werden zu müssen bei gleichzeitig andrängendem starkem Objekthunger. Dieses frühe Thema der Versorgung ist verknüpft mit einer ausgeprägten Selbstwertproblematik. Nicht vorhanden sind dagegen reifere Konflikte auf einer ödipal-sexuellen Ebene oder im Umgang mit Schuld und Aggressivität. Ebenfalls nicht im Vordergrund steht der basale Autonomie-Abhängigkeitskonflikt mit seiner existentiellen Infragestellung. Kommentar: Für die Patientin ist klar, dass es sie selbst gibt und dass es wichtige Objekte gibt; Konflikthaft unklar ist für sie, wer auf wessen Versorgung angewiesen ist und wie der Selbstwert auf diese Abhängigkeiten reagiert. Diese neurotische Thematik wurde für sie aktualisiert, als sie sich aus der Elternfamilie heraus verselbständigen und an einen Partner binden wollte. An dieser Stelle wurden die Versorgungsdefizite durch die alkoholkranken Eltern und auch Defizite des emotionalkommunikativen Austauschs psychodynamisch akzentuiert. Auch diese diagnostische Feststellung hat therapeutische Konsequenzen. Die Bearbeitung eines Autarkie- und Selbstwertkonflikts stellt andere therapeutische Aufgaben als etwa die von ödipalen oder Schuldkonflikten. Als dritten, ergänzenden Aspekt beleuchten wir die OPD-Struktur Die Patientin verfügt über wenig introspektive Möglichkeiten für eigene Affekte und Konflikte und ebenso über wenig Möglichkeiten, sich anderen Menschen emotional mitzuteilen, sie hat wenig emotionalen Kontakt zu einem lebendigen Körperselbst. Durchbruchshaft kommt es bei ihr zu Kontrollverlusten und Selbstschädigungstendenzen. Das strukturelle Thema ist die Nichtverfügbarkeit der eigenen Emotionalität sowohl psychisch wie körperlich als auch interaktionell. So kommt es für sie überraschend zu Impulshandlungen von oralaggressiver und autoaggressiver Qualität. Kommentar: Zunächst ist es für die Therapieplanung hilfreich festzustellen, welche strukturellen Störungen die Patientin nicht hat. Sie verfügt über Selbst-Objektdifferenzierung, d. h. sie kann sich gegenüber den Objekten abgrenzen; sie ist empathisch genug, um andere verstehen zu können und sie besitzt ausreichende Objektinternalisierung, d.h. sie kann wichtige Objekte in sich emotional besetzen und festhalten. Angesichts ihres oralen Beziehungsmodus kann sie Objekte nicht loslassen. Trennungen und Abschiede sind für sie unerträglich belastend, ihre strukturellen Auffälligkeiten verweisen auf Schwierigkeiten des emotionalen Umgangs mit sich und den Objekten. Ihre Bewältigungsversuche führen dazu, sich zu übersteuern, sich tot zu stellen, mit der Folge von Impulsdurchbrüchen oder Dissoziationen, wenn die Emotionsabwehr nicht mehr gelingt. Diese begründete Hypothese über das, was die Patientin strukturell kann und nicht kann, liefert wichtige Anregungen für strukturbezogene therapeutische Interventionen. Sie liegen in der Aufmerksamkeit für die Differenzierung der eigenen Affektwahrnehmung und des Affektausdrucks, in der Ermutigung für einen emotionalen Umgang mit den anderen, mit sich selbst und der eigenen Körperlichkeit. Dabei muss vor allem die Angst vor eigenen aggressiven Impulsen und vor Beschämungserfahrungen aufgefangen werden. Ich habe kürzlich versucht, diesen spezifischen Aspekt der strukturellen Vulnerabilität zu differenzieren und darauf ausgerichtet, Vorgehensweisen einer strukturbezogenen Psychotherapie zu systematisieren (Rudolf 2002a, 2002b, Horn und Rudolf 2002) Synopsis Die bulimisch-depressive Symptomatik, wie sie in ICD-10 Diagnose ausgedrückt ist, können wir als Krisensignal, als einen Hinweis auf innere Spannungszustände und das Scheitern von Regulationsversuchen verstehen. Seite 24 von 33 Sigmund Freud PrivatUniversität B. Sindelar: Psychodiagnostik für Psychotherapeuten Die OPD-Beziehungsebene beschreibt, auf welche Weise die Patientin Interaktionen zum Scheitern bringt. Im Laufe des therapeutischen Prozesses wird der biographische Hintergrund dieses Musters sichtbar werden. Das Muster einer bedürftig gebliebenen Person, die gleichzeitig die Angebote des Anderen ängstlich zurückstoßen muss. Die OPD-Konfliktebene lässt erkennen, auf welcher entwicklungspsychologischen Tiefe die zentrale Problematik verankert ist. Es ist in diesem Falle die Ebene ungelöster Versorgungsproblematik mit beschämenden Folgen für den Selbstwert. Die OPD-Strukturebene macht deutlich, welche Elemente des psychischen Systems in ihrer Funktionsfähigkeit am deutlichsten beeinträchtigt sind. Im vorliegenden Falle ist es die starke Zurücknahme eigener Emotionen, die ihr fremd bleiben, gelegentlich hereinbrechen oder abdissoziiert werden müssen. Natürlich ist diese Interpretation, wie jede Art von Diagnostik nie ein sicheres Wissen, sondern immer ein begründetes Vermuten. Es ist aber ein Sich-Entscheiden für eine Hypothese: Ich entscheide mich für die Annahme, dass die zentralen Schwierigkeiten der Patientin in diesem Bereich liegen und dass andere – dann möglicherweise als Ressourcen – zur Verfügung stehen. Ausgestattet mit diesen Annahmen kann der Therapeut zusammen mit seiner bulimischen Patientin deren aktuelle und biographische Lebenswirklichkeit untersuchen. Vor welchen aktuellen Entwicklungsaufgaben steht sie und schreckt sie zurück, welche Belastungen und Einschränkungen hat sie aus ihrer familiären Geschichte mit sich getragen, aber auch welche Fähigkeiten, Begabungen und Hoffnungen und Pläne hat sie bisher nur ansatzweise entwickelt und nicht genutzt. Für den Therapieerfolg mitentscheidend sind dabei zwei Punkte, deren Bedeutung in der psychodynamischen Welt leicht unterschätzt wird. Erster Punkt: Die Frage nach den strukturellen Fähigkeiten, bzw. Einschränkungen, d. h. nach dem Strukturniveau der Patientin. Dort, wo strukturelle Defizite erkennbar sind, muss die Therapie strukturbezogen geführt werden. Der Versuch einer konsequenten deutenden Konfliktaufdeckung, ohne Beachtung der Strukturdefizite bleibt ohne therapeutischen Erfolg oder führt ins Desaster. Zweiter Punkt: Die Frage nach der Verselbständigung der Symptomatik. Wenn eine Symptomatik wie Bulimie oder Körperschmerz lange genug bestanden hat, wird sie sinnleer, d. h. es bestehen wenig Chance, dass die Symptomatik einfach wegfällt, wenn der Konflikt bearbeitet wurde. Es muss also auch symptombezogen interveniert werden. Die diagnostische Klassifikation im OPD System leistet also das, was bei der ICD vermisst wurde: Sie leitet nahtlos über zur Formulierung von Therapiezielen und zur Entwicklung von Handlungsplänen. In der OPD arbeiten wir zur Zeit an der Weiterentwicklung in diese klinischtherapeutische Richtung. Die strukturellen Einschränkungen aufzuheben, die dysfunktionalen Beziehungen zu verändern, die Konflikte bewusst zu machen, ist für psychodynamische Therapeuten das Therapieziel. Die Aufhebung der bulimisch-depressiven Symptomatik als Therapieziel soll darüber nicht vergessen sein. Wenn es aber darum geht, die Güte des Behandlungsergebnisses einzuschätzen, dann lässt sich dieses auf den OPD-Ebenen deutlich sichtbar machen: Dass emotionales Erleben im Psychischen, im Zwischenmenschlichen und im Körperlichen verlebendigt wurde; dass eine destruktive Beziehungsgestaltung reflektiert werden konnte und dass ein zentraler Konflikt seine unbewusste Sprengkraft verloren hat. Wir beschreiben damit Annäherungen an das zentrale Behandlungsziel, nämlich die Umstrukturierung der Persönlichkeit. …….. Denn ohne gute Diagnostik ist eine therapeutische Zielsetzung und Planung nicht möglich, es bleibt bei Versuch und Irrtum. Die Begriffe der diagnostischen Klassifikation z.B. ICD-10 spiegeln keine Wahrheiten, sondern den aktuellen Konsens von berufspolitischen und wissenschaftlichen Gruppierungen wider. Der aktuelle Konsens stammt aus der amerikanischen Psychiatrie. Doch kann auch ein psychiatrielastiges System wie DSM oder ICD durch ergänzende psychodynamische Seite 25 von 33 Sigmund Freud PrivatUniversität B. Sindelar: Psychodiagnostik für Psychotherapeuten Dimensionen wie OPD für Psychotherapien nutzbar gemacht werden. Eine solche Diagnostik erlaubt dann nicht nur störungsspezifische, sondern auch strukturspezifische Gestaltungen des Behandlungsplanes und markiert vorab jene Konflikt- und Beziehungsmuster, die es therapeutisch zu bearbeiten gilt. Diagnostische Klassifikation unter Einbeziehung psychodynamischer Aspekte ist eine wichtige Voraussetzung, um die Arbeit von Psychotherapeuten professioneller und wirksamer zu gestalten…..“ ....................................................................................................... 6 DER PSYCHOLOGISCHE BEFUND IN DER STÖRUNGSBEZOGENEN DIAGNOSTIK 6.1 .Richtlinien der psychologischen Befunderstellung Richtlinien für die Erstellung eines psychologischen Befundes, an die sich der Psychologe zu halten hat: Aus den Richtlinien für die Erstellung Psychologischer Gutachten (Berufsverband Deutscher Psychologen, 1988) - sinngemäß auch enthalten in den 1999 vom sog. "Psychologenbeirat" (des österreichischen BM für Arbeit, Gesundheit und Soziales) verabschiedeten Richtlinien für Psychologische Gutachten: "Ein ... psychologisches Gutachten ist eine wissenschaftliche Leistung, die darin besteht, aufgrund wissenschaftlich anerkannter Methoden und Kriterien nach feststehenden Regeln der Gewinnung und Interpretation von Daten zu konkreten Fragestellungen Aussagen zu machen. Es handelt sich um die Antwort eines Experten, des Diplom-Psychologen, auf Fragen, zu denen er aufgrund seines Fachwissens, des aktuellen Forschungsstandes und seiner Erfahrung Stellung nimmt." (S.3). "Es liegt ... in der Verantwortung des jeweiligen Gutachters, welche Verfahren er aufgrund des aktuellen Forschungsstandes in der wissenschaftlichen Psychologie auswählt, welchen Umfang der Datenerhebung er für angemessen hält, was aus der Sicht der Fragestellung als mitteilensnotwendig gilt und was zum Schutz der Persönlichkeit des Begutachteten nicht mitzuteilen ist." (S.3). "Seine Arbeit muß gekennzeichnet sein durch Bemühen um Objektivität. Er muß die Freiwilligkeit einer Teilnahme an psychologischer Begutachtung respektieren, soweit dem nicht ein Gesetz oder eine andere förmliche Norm entgegensteht, und er muß Sorge tragen für hinreichenden Datenschutz der von ihm gewonnenen Informationen." (S.2). Psychologischer Befund und psychologisches Gutachten: Befund und Gutachten sind laut (österreichischer) Zivilprozeßordnung (§ 362 Abs. 1 ZPO) zwei unterschiedliche Gesetzesbegriffe: Ein psychologischer Befund ist die Feststellung und Beschreibung von psychologischen Tatsachen, die der Psychologe ermittelt hat, das heißt: die rein deskriptiv abgefassten Ergebnisse von Anamneseerhebung, Exploration, psychologischen Tests und gegebenenfalls von biographischem Inventar stellen den Befund dar. Ein psychologisches Gutachten zieht Schlussfolgerungen aus den ermittelten Tatsachen durch Anwendung des Fachwissens, indem es die Untersuchungsergebnisse interpretiert und darauf basierend Maßnahmen vorschlägt Im Sprachgebrauch wird häufig das Wort "Befund" auch im weiteren Sinn als Gesamtheit von Befund und Gutachten verwendet. Seite 26 von 33 Sigmund Freud PrivatUniversität 6.2 B. Sindelar: Psychodiagnostik für Psychotherapeuten Aufbau eines psychologischen Befundes Aus dem oben Ausgeführten folgt der Aufbau eines psychologischen Befundes: - Eckdaten der Befunderhebung: Untersuchung durchgeführt? - In wessen Auftrag (zum Beispiel: Zuweisung durch Arzt, Empfehlung durch Schule, Selbstvorstellung) und zur Klärung welcher Fragestellung wurde der Befund erhoben? - Anamnese der für die Fragestellung relevanten Inhalte, wobei die Informationsquelle angegeben werden muss (zum Beispiel: „nach Bericht der Eltern…“) - Biographische Anamnese - Exploration und Verhaltensbeobachtung - Durchgeführte Testverfahren (müssen namentlich angeführt werden) - Deskription der Testergebnisse - Interpretation der Testergebnisse - Empfehlungen an wem wurde wann die psychologische Bei der Formulierung hat der untersuchende Psychologe folgende Kriterien zu berücksichtigen: Befunde müssen für den Adressaten nachvollziehbar sein. Daher ist die sprachliche Ausdrucksweise so zu wählen, dass zu erwarten ist, dass der Befundempfänger diese Inhalte auch verstehen kann. Psychologische Fachtermini sind, sofern sie im Befund angeführt sind, zu erklären (zum Beispiel: statistische Kennzahlen wie etwa Prozentränge). Wird ein Bericht an psychologische Laien weitergegeben, so sollten darin Fachtermini vermieden werden (Besonders problematisch sind Begriffe, die aus der akademischen Psychologie stammen und Eingang in die Umgangssprache gefunden haben, wie zum Beispiel: Narzissmus). Der Befund ist unbedingt mündlich mit dem Patienten zu besprechen, bevor er einen schriftlichen Befund ausgehändigt bekommt, um Fehlinterpretationen durch den Patienten zu vermeiden. Der Untersuchte sollte prinzipiell über die Ergebnisse seiner Untersuchung informiert werden. Dies gilt auch - vielleicht sogar: insbesondere - für Kinder, bei denen man fälschlicherweise häufig meint, man könne Resultate aus Untersuchungen nicht mit ihnen direkt besprechen, sondern müsse quasi 'über ihren Kopf hinweg' mit den Eltern verhandeln. Bei der Abfassung des Befundes ist darauf Bedacht zu nehmen, wer diesen Befund bekommt und was dieser Empfänger aus dem Befund herauslesen könnte, welche Schlussfolgerungen er ziehen könnte. Dementsprechend sind nicht immer alle Informationen, die sich im Rahmen der psychologischen Untersuchung ergeben haben, in einem Befund auch anzuführen (zum Beispiel: Zahl eines Intelligenzquotienten oder innerfamiliäre Beziehungskonflikte in einen Befund an die Schule) Seite 27 von 33 Sigmund Freud PrivatUniversität 6.2.1 B. Sindelar: Psychodiagnostik für Psychotherapeuten Beispiel eines psychologischen Befundes KLINISCH-PSYCHOLOGISCHER BEFUND (Anmerkung: der Befund wurde selbstverständlich anonymisiert) Betrifft: Birgit XXXX geb.: XX.XX.1987 Untersuchungsdatum: XX.XX.2004 Vorstellungsgrund und Fragestellung: Birgit wird von ihren Eltern und auf eigenen Wunsch wegen trauriger Gestimmheit, Appetitverlust, Lernschwierigkeiten, besonders in den Gegenständen Deutsch, Englisch und Mathematik zur klinisch-psychologischen Untersuchung vorgestellt. Die klinisch-psychologische Untersuchung soll abklären, inwieweit eine depressive Symptomatik die Leistungsfähigkeit des Mädchens beeinträchtigt oder ob andere Bedingungen vorliegen, die Birgit in ihrer emotionalen Gesundheit und in ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit blockieren, insbesondere inwieweit Birgit durch die Leistungsanforderungen der AHS überfordert ist. Aus der Anamnese: Birgit wiederholt derzeit fünfte Klasse der allgemein bildenden höheren Schule. Das vorangegangene Schuljahr konnte sie wegen nicht-genügender Leistungen in Deutsch, Englisch und Mathematik nicht positiv abschließen. Intensive Lernnachhilfe während des gesamten letzten Schuljahres zeigte laut Bericht der Eltern und Birgits keinen Effekt. Die Eltern berichten weiters, dass Birgit besonders im Laufe des letzten halben Jahres zunehmend traurig gestimmt sei, den Kontakt zu ihren Freunden einschränke, sich auch innerhalb der Familie zurück ziehe. Außerdem sei den Eltern aufgefallen, dass vor allem in den letzten Wochen zunehmend appetitlos sei, sie habe etwa 5 Kilogramm im letzten Monat abgenommen. Weiters berichten die Eltern, dass Birgit schon seit der zweiten Volksschulklasse mit Schulschwierigkeiten kämpfe: gegen Ende der zweiten Klasse Volksschule sei aufgefallen, dass Birgit noch keine sichere Buchstabenkenntnis hatte und das Lesen noch nicht erlernt hatte (was die Klassenlehrerin, die aus Gründen ihrer xxxxxxxxx häufig abwesend war, noch nicht bemerkt hatte) Die Mutter übte daraufhin intensiv mit Birgit, sodass sie den Anschluss an das Klassenniveau finden konnte. Dieses intensive häusliche Üben fand während der gesamten Volksschulzeit statt. Die Mutter berichtet, dass Birgit dabei immer sehr geduldig und ausdauernd mitgearbeitet hätte. Ebenso berichten die Eltern, dass Birgit bis vor etwa einem halben Jahr ein besonders sonniges Wesen und hohe soziale Kompetenz besitze. Seite 28 von 33 Sigmund Freud PrivatUniversität B. Sindelar: Psychodiagnostik für Psychotherapeuten Biographische Anamnese: Grav.: oB, Part.: spontan zum Termin, 3300g, 52 cm, keinerlei Komplikationen. Birgit wurde sechs Wochen lang gestillt, ist nach einer Krabbelphase mit elf Monaten gelaufen, sauber war sie mit eineinhalb Jahren, die Sprachentwicklung war unauffällig. Birgit besuchte von drei bis sechs Jahren den Kindergarten, vorher wurde sie von der Mutter betreut, mit sechs Jahren trat sie in die Volksschule ein. Danach besuchte sie das Gymnasium. Bisherige Erkrankungen: Pfeiffersches Drüsenfieber, Windpocken, häufig Otitiden, mit 9 Jahren Commotio nach einem Sturz mit dem Fahrrad, keine Hospitalisierung. Voruntersuchungen: im Alter von neun Jahren kinderpsychologische Untersuchung an der Kinderklinik in xxxx, die laut Bericht der Eltern eine gut durchschnittliche Intelligenz und eine legasthene Symptomatik aufwies. Behandlung wurde keine vorgeschlagen. Vor zwei Monaten sei Birgit internistisch komplett durchuntersucht worden, die Untersuchung blieb ohne medizinischen Befund. Augen- und ohrenärztlich sei sie ebenfalls abgeklärt worden. Bis auf eine leichte, nicht korrekturbedürftige Kurzsichtigkeit seien keinerlei Auffälligkeiten festgestellt worden. Familienanamnese: Mutter 4X Jahre, arbeitet in der Praxis des Vaters im organisatorischen und administrativen Bereich mit, Vater 5X Jahre, Arzt und Psychotherapeut in freier Praxis, ein Bruder mit 19 Jahren absolviert nach der Matura seinen Wehrdienst, eine Schwester mit 12 Jahren besuche mit gutem Erfolg das Gymnasium. Die Familie lebt in xxxx (Kleinstadt) in xxxx. Keinerlei familiäre Erkrankungen. Exploration: Birgit berichtet, dass sie sich große Sorgen um ihre Zukunft mache, da sie die Schule nicht schaffen werde. Ihr Traumberuf (Anm.: ein sozialer Beruf mit akademischer Ausbildung) sei ein unerfüllbarer Traum. Sie schlafe in letzter Zeit schlecht, könne erst nach Stunden einschlafen. Ihre früheren Hobbies machen ihr keine Freude mehr, auch ihre Freunde möchte sie nicht mehr so oft sehen, weil sie es nicht ertrage, dass es allen außer ihr in der Schule so gut gehe. Und sie müsse, auch außerhalb der Schule, dauernd ans Lernen denken. Vor Schularbeiten und Prüfungen sei sie sehr nervös und leide unter Übelkeit und Bauchschmerzen. Mit den Eltern verstehe sie sich gut, nur ginge ihr die „Mitleidstour“ ihrer Mutter zunehmend auf die Nerven und auch, dass die Mutter dauernd etwas koche, nur damit sie mehr esse. Die Geschwister seien, wie Geschwister so eben sind, manchmal „nervig“, manchmal lieb. Ihren Bruder, der das Gymnasium bereits abgeschlossen habe, beneide sie darum, dass er immer so leicht gelernt habe. Sie habe jeden Tag Nachhilfe von insgesamt drei verschiedenen Lehrern, die Kosten machen ihr ein schlechtes Gewissen. Die Lehrer seien ja ganz in Ordnung und bemühen sich auch, aber sie selbst sei halt einfach zu dumm für die Schule – sie könne ja nicht einmal in anderen Fächern als den Problemfächern ordentlich mitschreiben, mache dauernd Fehler, die ihr gar Seite 29 von 33 Sigmund Freud PrivatUniversität B. Sindelar: Psychodiagnostik für Psychotherapeuten nicht auffallen, nur könne sie nachher das Geschriebene fast nicht lesen. Buchstaben seien überhaupt eine unnötige Sache. Was bei der psychologischen Untersuchung rauskomme, wisse sie ohnehin jetzt schon: am Ende werde sie erfahren, dass sie fürs Gymnasium zu dumm sei und es aufgeben solle. Während der Exploration, die in Abwesenheit der Eltern geführt wurde, beginnt Birgit immer wieder zu weinen, bleibt aber gesprächsbereit und antwortet geordnet und kohärent auf Fragen. Birgit ist ein auffallend hübsches Mädchen, erscheint schlank, aber nicht untergewichtig. Testverhalten: Birgit ist in der Untersuchungssituation kooperativ, affektiv zugewendet, kontaktbereit, arbeitet konzentriert und ausdauernd in guter Leistungsmotivation. Sie schreibt und hantiert rechtshändig. Die Grobmotorik ist ruhig, die Feinmotorik geschickt. Sie spricht in deutlicher und differenzierter Spontansprache. Der Antrieb ist angemessen aktiv, die Stimmungslage gedrückt. Untersuchungsergebnisse: PSB 6-13 nach Horn, Verfahren zur Erfassung von Teilleistungsschwächen nach Sindelar, Rorschach-Test Beck´sches Depressionsinventar (BDI) Leistungstests: Im Leistungsprüfsystem nach HORN erreicht Birgit ein dysharmonisches Profil: Durchschnittliche Werte erzielt sie im Schriftwortschatz, im Erkennen von Gesetzmäßigkeiten und Serien, in der visuellen Wahrnehmung und in der Genauigkeit und Konzentrationsfähigkeit. Unter dem Durchschnitt liegen die Werte in der schriftsprachlichen Gewandtheit, in der Hypothesenbildung bei schriftsprachlichem Material sowie in der Konzentrationsfähigkeit bei rein mechanischen Rechenaufgaben. Überdurchschnittlich sind die Leistungen in der abstrakt-sprachlichen Logik, und im räumlichlogischen Denken. Damit zeigt das Profil eine Ausprägung, wie sie gehäuft bei Legasthenikern im Jugendlichenalter zu finden ist. In der Untersuchung der kognitiven Grundfunktionen lassen sich Teilleistungsschwächen in der visuellen Merkfähigkeit und in der Fähigkeit zur intermodalen Kodierung feststellen. Diese Teilleistungsschwächen bewirken: Birgit kann durch die Teilleistungsschwäche in der visuellen Merkfähigkeit Wortbilder nur ungenau speichern, durch die Teilleistungsschwäche in der intermodalen Kodierung Verbindungen zwischen Gehörtem und Gesehenem, also zum Beispiel zwischen dem gesprochenen Wort und dem geschriebenen Wort, nicht ihrem allgemeinen Entwicklungsniveau entsprechend herstellen. Dies erklärt sowohl die Diskrepanzen im Leistungsprofil als auch die Lernschwierigkeiten. Persönlichkeitstests: Im durchgeführten projektiven Testverfahren zeigt sich ein emotional sehr kontrolliertes, in der Fähigkeit zum tiefergehenden zwischenmenschlichen Du-Kontakt differenziertes und reifes Persönlichkeitsbild. Die affektive Ansprechbarkeit ist gegeben. Birgit ist allerdings in ihrem Selbstwertgefühl durch ihre Schulschwierigkeiten massiv verunsichert, die Beziehung zur Leistungssituation ist durch Aggression einerseits, durch Schuldgefühle andrerseits belastet. Autoaggressive Tendenzen zeichnen sich ab. Da Birgit an sich ein qualitätsehrgeiziges Mädchen ist, ihr auch bezüglich ihrer Position in der Gruppe der Seite 30 von 33 Sigmund Freud PrivatUniversität B. Sindelar: Psychodiagnostik für Psychotherapeuten Gleichaltrigen ihre Leistungsfähigkeit besonders wichtig ist, ist sie in der Folge ihrer legasthenen Symptomatik sekundär neurotisiert und somit auch in ihrer Zukunftserwartung verunsichert. In der Beziehung zur Mutter dominiert das Gefühl der Besorgtheit um die Mutter bis zur Angst um die Mutter, auch in der Beziehung zum Vater steht die Sorge um ihn im Vordergrund. Die Beziehung zu den Geschwistern ist unauffällig. Im BDI (Fragebogen zur Messung des Schweregrades einer Depression) ergibt sich die deskriptive Diagnose einer mittelgradigen bis schweren Depression. Dagegen sind im Rorschachtest, der die unbewusste Gefühlswelt sowie die affektive Struktur erfasst, keine depressiven Indikatoren zu finden. Zusammenfassung, Interpretation und Empfehlung: Birgits Schulschwierigkeiten stehen im Zusammenhang mit Teilleistungsschwächen in der visuellen Merkfähigkeit und in der Intermodalität, die in einer legasthenen Symptomatik resultieren und in der Folge nicht nur die schulischen Leistungen beeinträchtigen, sondern auch die Entfaltung des gesamten Leistungsprofils, wie mittels des PSB erhoben, partiell blockieren. Im Sinne der sekundären Neurotisierung zeigt sich eine massive Verunsicherung des Selbstwertgefühls, eine gespannte Beziehung zur Leistung und Unsicherheit in der Zukunftserwartung. Diskrepant sind die Ergebnisse zwischen dem Fragebogentest und dem projektiven Test: im Fragebogentest ergibt sich das Bild einer mittelgradigen bis schweren Depression, die im projektiven Test nicht feststellbar ist. Diese Diskrepanz ist wie folgt zu interpretieren: Birgit ist in Folge ihrer massiven Misserfolgserlebnisse und der chronischen schulischen Stresssituation, bedingt durch die Legasthenie, belastet und emotional erschöpft, was sich in einer depressiven Symptomatik auswirkt. Ätiologisch ist somit die Legasthenie das Grundproblem, das sich auf die seelische Befindlichkeit und Gesundheit auswirkt. Daher ist die Behandlung des Grundproblems die erste Indikation, die durch begleitende ich-stützende und ermutigende Hilfestellung, vor allem seitens der Familie und der Schule, geleistet werden sollte. Eine Behandlung der depressiven Symptomatik kann als Begleitmaßnahme sinnvoll sein, wird jedoch, solange das verursachende Moment der Legasthenie nicht behoben ist, keinen langfristigen Erfolg zeigen, da eine Fortsetzung der Frustration durch Misserfolg wahrscheinlich ist. Das Untersuchungsergebnis wurde mit Birgit und ihren Eltern besprochen, Birgit reagierte auf die Befundbesprechung mit enormer Erleichterung. Besonders die Erklärung ihres Leistungsprofils sowie die Besprechung der legasthenen Symptomatik und der diesbezüglichen Behandlungsmöglichkeiten hoben ihre Stimmung. Ein spezifisches funktionell-therapeutisches Trainingsprogramm wurde vorgeschlagen und erstellt, das Birgit in der Computerspielversion zu Hause durchführen wird. Dieses Programm wird in weiteren klinisch-psychologischen Behandlungen im Laufe des Trainings in seiner Effizienz kontrolliert und dem Fortschritt Birgits angepasst werden. Dr. Brigitte Sindelar Wien, am XXXXXXXX Seite 31 von 33 Sigmund Freud PrivatUniversität 6.2.2 B. Sindelar: Psychodiagnostik für Psychotherapeuten Adressatenspezifische Adaptation des Befundes: Auf Wunsch der Eltern und der Jugendlichen wurde ein Befundbericht für die Schule erstellt. Dabei ist, wie ausgeführt, zu berücksichtigen, welche Informationen für die Schule relevant sind und wie diese zu formulieren sind, damit der Adressat, in diesem Fall die Lehrer des Mädchens, diese Informationen auch versteht. Weiters ist darauf Bedacht zu nehmen, dass nur die für die Lehrer relevanten Informationen in diesem Befund berichtet werden, also die Privatsphäre der Patientin und deren Familie gewahrt bleibt und keine Verletzung der Schweigepflicht geschieht. Aus eben diesem Grund wird der Befund auch an die Familie und nicht an die Schule direkt geschickt. So können die Eltern immer noch entscheiden, ob sie den Befund an die Schule weitergeben wollen und damit ihr Einverständnis handhaben: KLINISCH-PSYCHOLOGISCHER BEFUND zur Vorlage in der Schule (Anmerkung: der Befund wurde selbstverständlich anonymisiert) Betrifft: Birgit XXXX geb.: XX.XX.1987 Untersuchungsdatum: XX.XX.2004 Vorstellungsgrund: Birgit wird von ihren Eltern und auf eigenen Wunsch wegen Lernschwierigkeiten, besonders in den Gegenständen Deutsch, Englisch und Mathematik zur klinisch-psychologischen Untersuchung vorgestellt. Birgit wiederholt derzeit fünfte Klasse der allgemein bildenden höheren Schule. Das vorangegangene Schuljahr konnte sie wegen nicht-genügender Leistungen in Deutsch, Englisch und Mathematik nicht positiv abschließen. Intensive Lernnachhilfe während des gesamten letzten Schuljahres zeigte laut Bericht der Eltern und Birgits keinen Effekt. Testverhalten: Birgit ist in der Untersuchungssituation kooperativ, affektiv zugewendet, kontaktbereit, arbeitet konzentriert und ausdauernd in guter Leistungsmotivation. Sie schreibt und hantiert rechtshändig. Die Grobmotorik ist ruhig, die Feinmotorik geschickt. Sie spricht in deutlicher und differenzierter Spontansprache. Untersuchungsergebnisse: Leistungstests: Im Leistungsprüfsystem nach HORN erreicht Birgit ein dysharmonisches Profil: Durchschnittliche Werte erzielt sie im Schriftwortschatz, im Erkennen von Gesetzmäßigkeiten und Serien, in der visuellen Wahrnehmung und in der Genauigkeit und Konzentrationsfähigkeit. Seite 32 von 33 Sigmund Freud PrivatUniversität B. Sindelar: Psychodiagnostik für Psychotherapeuten Unter dem Durchschnitt liegen die Werte in der schriftsprachlichen Gewandtheit, in der Hypothesenbildung bei schriftsprachlichem Material sowie in der Konzentrationsfähigkeit bei rein mechanischen Rechenaufgaben. Überdurchschnittlich sind die Leistungen in der abstrakt-sprachlichen Logik, und im räumlichlogischen Denken. Damit zeigt das Profil eine Ausprägung, wie sie gehäuft bei Legasthenikern im Jugendlichenalter zu finden ist. In der Untersuchung der kognitiven Grundfunktionen lassen sich Teilleistungsschwächen in der visuellen Merkfähigkeit und in der Fähigkeit zur intermodalen Kodierung feststellen. Diese Teilleistungsschwächen bewirken: Birgit kann durch die Teilleistungsschwäche in der visuellen Merkfähigkeit Wortbilder nur ungenau speichern, durch die Teilleistungsschwäche in der intermodalen Kodierung Verbindungen zwischen Gehörtem und Gesehenem, also zum Beispiel zwischen dem gesprochenen Wort und dem geschriebenen Wort, nicht ihrem allgemeinen Entwicklungsniveau entsprechend herstellen. Dies erklärt sowohl die Diskrepanzen im Leistungsprofil als auch die Lernschwierigkeiten. Zusammenfassung und Empfehlung: Birgits Schulschwierigkeiten stehen im Zusammenhang mit Teilleistungsschwächen in der visuellen Merkfähigkeit und in der Intermodalität, die in einer legasthenen Symptomatik resultieren und in der Folge nicht nur die schulischen Leistungen beeinträchtigen, sondern auch die Entfaltung des gesamten Leistungsprofils, wie mittels des PSB erhoben, partiell blockieren. In der Folge zeigt sich eine massive Verunsicherung des Selbstwertgefühls, eine gespannte Beziehung zur Leistung und Unsicherheit in der Zukunftserwartung. Das Untersuchungsergebnis wurde mit Birgit und ihren Eltern besprochen. Ein spezifisches funktionell-therapeutisches Trainingsprogramm wurde vorgeschlagen und erstellt, das Birgit in der Computerspielversion zu Hause durchführen wird. Dieses Programm wird in weiteren klinisch-psychologischen Behandlungen im Laufe des Trainings in seiner Effizienz kontrolliert und dem Fortschritt Birgits angepasst werden. Dr. Brigitte Sindelar Wien, am xxxxxxx Literaturempfehlung: Stieglitz,Rolf-Dieter; Baumann, Urs; Freyberger Harald J.: Psychodiagnostik in Klinischer Psychologie, Psychiatrie, Psychotherapie; Thieme, 2001 Seite 33 von 33