Die Türkei versus Europa, oder: die orientalische Frage Das politische System und die Kultur- ein Hindernis zur europäischen Integration? von Alfred J. P. Wolfgruber 1 Verzeichnis Fokus ............................................................................................................................ 3 Die orientalische Frage ..................................................................................................... 5 Analyse ............................................................................................................................ 7 Die nationale Dimension: eine Kernfrage in der Integration in die EU ........................... 7 Wer bzw. was sind die Türken oder die türkische Identität als Motivationsmotor .......... 7 Das Politische System der Türkei................................................................................... 10 Das politisch-administrative System .............................................................................. 12 Neuformierung der Parteienlandschaft nach dem Militärputsch 1980 ........................... 19 Chronologie der Parteiengründung nach 1980 ............................................................... 20 Islam in der Politik.......................................................................................................... 24 Macht und Kontrolle im magischen Dreieck zwischen Präsident, Parlament und Armee27 Die Rolle der Armee in der türkischen Gesellschaft ...................................................... 31 Der Wandel in der türkischen Außenpolitik, oder: die Türkei will nicht im Hinterhof der EU warten ....................................................................................................................... 36 Die Position der Türkei nach 1990: ihre geopolitische Rolle......................................... 36 Die außenpolitischen Handlungsalternativen der Türkei ............................................... 39 Die türkischen Ambitionen auf dem Weg zum „regional und global player“................ 41 Orientalische Perspektiven ............................................................................................. 46 Integration: die Türkei wird Vollmitglied der EU .......................................................... 48 Auswirkung auf die internationale Dimension ............................................................... 49 Auswirkung auf die nationale Dimension ...................................................................... 50 Kooperation: Die Türkei wird nicht in die EU integriert ............................................... 51 Separation und Isolation: Die Türkei wendet Europa den Rücken zu............................ 52 Literaturverzeichnis ........................................................................................................ 54 2 Fokus Die Türkei ist aus der Sicht der EU als „Grenzland“ zu bezeichnen. Die Rolle und der Status der Türkei ergibt sich aus dem Grad der Integration sowie dem der Kooperationen und damit einhergehender Abhängigkeiten aber auch Einflussmöglichkeiten in einzelnen Institutionen, Organisationen und Regimen. Als Mitglied des Europarates, der OSZE, NATO und als assoziiertes Mitglied der WEU hat die Türkei letztendlich einen erheblichen Einfluss auf die Gestaltung der künftigen Sicherheitsordnung und Sicherheitspolitik im engeren Sinn (Kramer 1998, 47). Als assoziiertes Mitglied der WEU ist die Türkei ein mitbestimmender Faktor in der Sicherheitspolitik der WEU, was sich auf die GASP auswirken muss. Die Bedeutung der Türkei bekommt durch die Erweiterung der NATO und der EU nach Südosteuropa und dem Verhältnis zu Russland in Zentralasien und dem Kaukasus zusehends Gewicht1. Die Türkei hat sich, seit ihrem Beitritt zur NATO, zum verlässlichen Partner in der Verteidigung der westlichen Werte entwickelt. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR setzte sich diese Entwicklung insofern fort, als die Türkei ihre Position als Leader innerhalb der NATO im östlichen Mittelmeer ausweiten konnte, wenn auch die notwendige finanzielle Absicherung mangelhaft erscheint. Jurekovic Predag (1998) kommt zu Schluss, dass die Türkei für eine Stabilisierung der Lage im östlichen Mittelmeerraum unabdingbar ist und die Konfliktbereinigung am Balkan als auch in Zentralasien ohne die Türkei kaum umsetzbar ist. Die Frage der Energieversorgung für Europa und das Problem der Wasserversorgung im Nahen Osten erscheint ohne die Türkei ebenfalls kaum lösbar und die Zukunft der Kaukasusregion wird auch wesentlich von der Türkei geprägt werden (Jurekovic 1998, 3ff). Sie steht zwischen westlichen und östlichen Kulturen. Die Türkei ist zum einen als Mitglied der NATO und als assoziiertes Mitglied der WEU Teil des westlichen Sicherheitssystems und ist in die westlichen wirtschaftlichen und politischen Strukturen – wie EU und Europarat – eingebunden. Zum anderen kooperiert sie mit zehn islamischen Staaten im Rahmen der ECO und ist Mitglied der Islamischen Konferenz. Die Türkei ist das einzige Land unter den 53 Mitgliedern der Islamischen Konferenz, das zugleich enge Bindungen zu Europa unterhält und eine Integration in die EU anstrebt. Gleichzeitig ist die Türkei Initiator und 3 Mitglied der „Schwarzmeerkooperation“, die mit insgesamt elf Balkan-, Schwarzmeerund kaukasischen Staaten 1992 gegründet wurde. Bei allen Kooperationen, an denen die Türkei beteiligt ist, spielen außen- und sicherheitspolitische Überlegungen eine wichtige Rolle. Man kann bei einer Integration davon ausgehen, dass die Türkei sich nicht mit der Rolle eines gewöhnlichen Mitgliedes der EU zufrieden geben wird und sich für die EU die Frage der Machtordnung innerhalb der EU neu stellt. Nach wie vor steht die Türkei, auch wenn ihr der Status eines „Beitrittskandidaten“ von der EU eingeräumt wurde, im Vorhof der EU. Diese jüngste Maßnahme der EU ist zwar ein Einlenken nach den Luxemburger Gipfel, zeigt jedoch die Bedeutung der Türkei für die EU generell, denn ohne die Türkei ist der Zugang zu Zentralasien nicht gegeben und auch der Balkankonflikt kaum lösbar. Drei Optionen bestimmen den beiderseitigen Handlungsspielraum, wenn es um das Verhältnis zwischen der EU und der Türkei gehen soll. Integration, Kooperation oder Separation bzw. Isolation sind denkbar. Neben ökonomischen Überlegungen geht es dabei immer auch um Fragen der Sicherheit; die Beantwortung dieser Frage ist dabei insofern erschwert, als dass Europa selbst bisher nicht in der Lage war und ist, seine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik klar und substanziell zu definieren. Dazu stellt sich eben noch die Frage, welche Rolle die Türkei für die Sicherheit Europas mit Blick auf eine europäische Verteidigungsstruktur spielt bzw. spielen soll, sei es in Abhängigkeit von den USA oder als eigenständige regionale Großmacht ohne Einfluss der USA oder eben in einem Integrations- bzw. Kooperationsverhältnis zur EU. Die Türkei liegt am Schnittpunkt dreier Kontinente (Europa – Zentralasien – Naher- und Mittlerer Osten) sowie am Schnittpunkt dreier Religionen (Christentum – Orthodoxie – Islam). Sie steht zwischen westlichen und östlichen Kulturen. Für die Türkei selbst sind nach Stephen Larabee folgende Faktoren für die türkische Außenpolitik bestimmend: ⇒ Die Hauptbedrohung für die Türkei kommt aus dem Süden und Südosten, dem Irak, Syrien und dem Iran. ⇒ Das Ende des Kalten Krieges gab der Türkei neue Chancen in Zentralasien und im Kaukasus. ⇒ Die Türkei hat ein reges Interesse und ein aktives Teilnahmebedürfnis auf dem Balkan. 1 Kommuniqué des NATO Gipfels vom 3. 6. 1996 in Berlin (Dokument M-NAC-1(96)93 bzw. die Erklärung des WEU Ministerrates vom 14. 11. 1995 in Madrid („European Security: a Common Concept of the 27 WEU Countries“). 4 ⇒ Die Beziehungen der Türkei zu Europa sind weiterhin eher problematisch. Vor allem die südlichen Nachbarn verfügen mehr und mehr über Massenvernichtungswaffen was bedeutet, dass sich die Perzeption der Türkei ändert und die Bedrohung sich vom Norden (Russland) nach dem Mittleren Ostern verlagert hat (Bagci 2000, 21). Das bedeutet, dass eine Abkehr der Türkei von Europa immer zwingender wird, weil die EU der Türkei keine kurz- bis mittelfristige Perspektive bietet und zum anderen die EU diesem Bedrohungsszenarium noch kaum Bedeutung beimisst und eher ökonomische Interessen in die Beurteilung hervorhebt. Die orientalische Frage Das Interesse der USA und der EU ist es, den Frieden herzustellen, zu erhalten und zu sichern. Das Schlagwort heißt Kriegsverhinderung, da ein Krieg zum einen nicht zu gewinnen ist und zum anderen die Kosten eine Bedrohung der inneren Stabilität des Kriegführenden bedeuten (Schwarz 1999, 69ff), wie z.B. in der Bundesrepublik Jugoslawien im Kosovokonflikt. Ausgehend von dieser Prämisse und der Frage, welche Rolle die Türkei im Sinne der EU bzw. der USA in Europa einnehmen soll und ob die EU bereit ist, die Rolle, welche sich die Türkei selbst zuordnet und fordert, zu akzeptieren, ist zu klären, wo sich in der Interessenlage zwischen der EU, der Türkei und den USA der kleinste gemeinsame Nenner findet. Vor diesem Hintergrund ist die Frage der Integration der Türkei in die EU zu untersuchen, geht es doch für die Türkei um den Führungsanspruch im östlichen Mittelmeerraum und für die EU um den Zugang zu den Ressourcen. Dazu ist es erforderlich, die Türkei selbst, ihre Interessen und ihre Gesellschaft in die Diskussion mit einzubeziehen und nicht nur die christlich definierten Werte Europas der Türkei aufzupfropfen. Vielmehr muss sich dabei auch das christliche Europa seiner multikulturellen Mischung bewusst werden und hier scheint das Problem für die EU zu liegen. Der Widerstand der Europäer ist diffus und instinktiv. Zumindest gibt es von Seiten der Politik keine öffentlich zugänglichen Problemanalysen, auf denen der Widerstand basieren könnte. Das mag damit zu tun haben, dass die Akteure der internationalen Politik bei vielen Problemen von einer „Sprachhemmung“ befallen werden. Äußerungen, die gegen die internationale Moral (Charta der Vereinten Nationen oder Menschenrechtskonvention) verstoßen würden, werden ebenso unterdrückt wie jene, die als Handlungspläne zum Bruch des geltenden internationalen Rechtes aufgefasst werden könnten. 5 Die Frage der europäischen Sicherheit, unter Berücksichtigung eines weit gestreuten Bedrohungsbildes, muss um politische, ökonomische, kulturelle und militärische Aspekte aus der Perspektive der EU und der Türkei erweitert werden. Die zu diskutierenden Szenarien sind folgende: 1. Die Außenpolitik der Türkei ist darauf ausgerichtet, in absehbarer Zeit Mitglied der europäischen Union zu werden. In diesem Bestreben werden sie von den USA unterstützt. 2. Die EU will, aus welche Gründen auch immer, die Türkei in absehbarer Zeit nicht integrieren, strebt aber eine wirtschaftliche Kooperation mit dem Ziel an, Zugang zu den Ressourcen des Transkaukasus und Zentralasiens zu erlangen. 3. Die ablehnende Haltung der EU in Bezug auf die Aufnahme der Türkei als Vollmitglied zwingt diese, ihre außenpolitischen Ziele, vor allem gegenüber der EU, neu zu definieren, was zur Folge hat, dass sich die Türkei von Europa abwenden könnte. Ein Lösungsansatz aus europäischer Perspektive ist im Spannungsfeld zwischen Abweisung und Integration zu finden, sollen nicht zukünftig enorme Kosten anfallen, und zwar in ökonomischer Hinsicht im Hinblick auf den Zugang nach Zentralasien und dem Nahen Osten sowie in sicherheitspolitischer Hinsicht in Bezug auf die räumliche Abdeckung im östlichen Mittelmeer als Riegel gegenüber den nördlichen Nachbarn und als Brückenkopf und Bufferzone nach Osten und Süden. Das zögerliche Verhalten der EU ist nur eine der Ursachen, welche zu einer langsamen Entwestlichung der Türkei führen. Die Türkei selbst, wie auch der Rest der islamischen Welt, fühlt sich von der westlichen Wertegemeinschaft bedroht. Europa dient nicht so sehr als politisches, kulturelles und zivilisatorisches Vorbild für die Türkei. Die Wendung der Blickrichtung nach Osten und der Traum von der Vereinigung der Türkrepubliken, ein Raum mit 160 Millionen Menschen, die laut UNESCO die fünftverbreitetste Sprache der Welt sprechen, würde die Türkei die Rolle einer Regionalmacht einräumen, deren räumliche Ausdehnung ganz Zentralasien einschließen würde und von der Ägäis bis China reicht (Tibi 1998, 2f). Umso mehr sollte Europa an der Brückenfunktion der Türkei interessiert sein. Letztendlich bleibt die Frage offen, „Ist die EU reif für die Türkei“? 6 Analyse Die nationale Dimension: eine Kernfrage in der Integration in die EU Im Ringen um die Mitgliedschaft der Türkei in der EU kritisiert die EU unter anderem das politische System der Türkei, vor allem in Bezug auf die Umsetzung der Menschenrechte, demokratiepolitische Ungereimtheiten und in diesem Zusammenhang, die Position und den Einfluss der Armee im politischen Alltag sowie die Minderheitspolitik in der Kurdenfrage. In der Analyse ist der kulturelle Unterschied zwischen der Türkei und dem „christlichen“ Europa darzustellen. Man will die Türkei aus der EU draußen halten aber gleichzeitig für Europa Nutzen sicher stellen. Wer bzw. was sind die Türken oder die türkische Identität als Motivationsmotor Die Entwicklung der türkischen Identität in der Türkei beginnt mit dem Ende des Ersten Weltkrieges, bei dem die Türkei große Gebietsverluste hinnehmen musste, dem Ende des Osmanischen Reiches und der Gründung des Nationalstaates Türkei. Die Osmanen waren gezwungen, sich eine neue eigene Identität zu suchen. Die Frage der Westanpassung berührte die zivilisatorisch-kulturelle Identität der Osmanen und staatliche Identität und diese betraf die Legitimationsbasis des Staatswesens. Getragen wird die türkische Identität von drei „ideologischen“ Ausrichtungen, in der sich auch die „intellektuelle Diskussion“ in der Türkei bewegt: 1. Der Osmanismus; die beste Zeit der osmanischen Konstitutionalisten, die einen multiethnischen und multireligiösen Verfassungsstaat für die Lösung hielten, lag vor 1913, denn bis dahin bestand noch die Hoffnung auf einen Wiederaufbau des Osmanischen Reiches in den Grenzen von 1878. Das ITC2 vertrat diesen Osmanismus offiziell bis über 1993 hinaus, handelte aber zunehmend im Sinne eines muslimischen oder gar türkischen Nationalismus. 2. Der Turanismus oder Pantürkismus; der türkische Nationalismus entwickelte sich nach 1890 unter den Intellektuellen in Istanbul, die häufig aus „russifizierten“ Gebieten kamen, wie z.B. Hüseyinzade Ali (Turan), Agaoglu Ahmet aus Aserbaidschan und Yusuf Akcura aus dem tatarischen Kazan. In einer extremen Form des Turanismus verherrlicht er die Türkvölker und ihre zentralasiatische Heimat; er 2 Unionisten, Mitglieder des 1889 gegründeten, geheimen Komitees für Einheit und Fortschritt „Ittihat ve Terakki Cemiyeti“. Dabei handelt es sich um eine Gruppe rund um den Gründer Ahmet Riza, die zur Emigration nach Paris gezwungen war (Buhbe 1996, 15). 7 schuf sich 1911 mit der Organisation Türkenherd (Türk Ocagi) eine Plattform. Eine 1914 erschienene Schrift von Tekin Alp (Moise Cohen) mit großtürkischen Zielen wurde während des Weltkrieges berühmt, weil die europäischen Mächte daraus die Kriegsziele der Osmanen ableiteten. Tatsächlich war der Turanismus in dieser Zeit bedeutungslos. Anfang des Jahrhunderts entwickelte sich eine idealisierende Literatur über die türkische Bauernbevölkerung Anatoliens. Diese wurde vom ITC aufgegriffen und unter der Formel der Volksverbundenheit (Halkcilik) propagiert (Onur 1999, 244f). 3. Der Islamismus; dieser existiert als Panislamismus, als Rückbesinnung auf die goldene Zeit der Umma (Ümmet) oder als konstitutionelle Reformbewegung islamischer Modernisten wie Sait Halim Pasa und Mehmet Akif (Ersoy) und überschnitt sich mit anderen Weltanschauungen. Die Betonung liegt auf dem einigenden Band des Islam. Eine Seriat-Rechtsreform oder auch die Mobilisierung der Solidargemeinschaft der Umma sollte dem Osmanischen Reich zu alter Kraft verhelfen (Onur 1999, 245f). Diese unterschiedlichen ideologischen Ausrichtungen bildeten den Hintergrund einer neuen türkischen Identität. Sie stellen einen Überbau dar, aus dem in verschiedensten Kombinationen komplexe individuelle Weltsichten hervorgingen (Buhbe 1996, 19ff). Sie sind aber auch die Konfliktlinien innerhalb der türkischen Gesellschaft (Onur 1999, 291). Vor dem Hintergrund dieser ideologischen Ausrichtung, der Begründung der türkischen Identität, der Gründung des Nationalstaates Türkei und der Ausrichtung nach dem Westen, ist die Bildung des politischen Systems und damit die Bildung politischer Parteien im System zu betrachten. Die Entwicklung des gegenwärtigen politischen Systems der Türkei ist geprägt von einem kontinuierlichen Prozess, der mit der Gründung der Türkei seinen Anfang nimmt und sich chronologisch wie folgt darstellen lässt: ⇒ die Gründung der Republik Türkei, verbunden mit dem Charisma Kemal Atatürks; ⇒ die Etablierung politischer Parteien, die Abschaffung traditioneller Strukturen der osmanischen Überlieferung und die Ausschaltung jeglicher Opposition; ⇒ die Einparteienherrschaft der CHP unter Atatürk von 1925 bis 1938, dem Kemalismus; ⇒ die Entmachtung der Staatspartei CHP und der politische Wettbewerb mit anderen Parteien nach dem Zweiten Weltkrieg; ⇒ die Integration der Türkei in das westliche Bündnissystem und die Abhängigkeit von den USA; ⇒ der politische Einfluss des Militärs und die von ihm durchgeführten politischen Korrekturen 1960, 1970, 1980 und 1996/97; 8 ⇒ dem Wunsch nach Integration in die Europäische Union; ⇒ das Phänomen der Re-Islamisierung nach 1945 und ⇒ die Diktatur autokratisch geführter Parteien, welche die Entwicklung der Parteienlandschaft bis 1980 kennzeichnet; Paul B. Henze charakterisiert die türkische Gesellschaft folgendermaßen: Die Mehrheit der Türken will, dass der Modernisierungsprozess fortgesetzt wird. Die türkische Gesellschaft erkennt, dass ihre Ziele nur in einer offenen Gesellschaft und in einem demokratischen politischen System verwirklicht werden können. Daraus resultiert die Orientierung nach dem Westen, der Wunsch nach Integration in die EU und nach dem Ausbau der Beziehungen zu den USA. Sie sind Patrioten im Sinne eines türkischen Nationalismus auf der Grundlage der Prinzipien des Staatsgründers Kemal Atatürk. Sie wollen, dass ihr Land, seinem Status in den internationalen Beziehungen entsprechend, geachtet und respektiert wird. Türken sind Muslime und im selben Ausmaß, in dem die christlichen Religionen Europa und die USA in ihrer Kultur und Tradition beeinflussen, tut dies der Islam in der Türkei auch. Eine Tendenz zum fundamentalistischen Islam und zur Aushöhlung des derzeitigen politischen Systems ist nicht vorhanden (Henze 1993, 2ff). Der Status des Militärs in der Gesellschaft ist sehr hoch. In den Augen der Türken ist es der Garant für die türkische Republik. Obwohl einer institutionalisierten Kontrolle oder Einmischung durch die Armee vorgebaut worden ist, tritt das Militär als Akteur der Politik immer dann auf, wenn es nach eigener Einschätzung die Ordnung des Staates in Gefahr sieht. Es beruft sich auf das innere Statut der Armee, „das türkische Territorium und die türkische Republik, wie in der Verfassung festgelegt, zu schützen und zu verteidigen“. Die türkische Armee sieht sich als Korrektiv (Wächterregime) im Sinne kemalistischer Grundsätze und ist damit ein Faktor türkischer Politik (Steinbach 1989, 35f/Onur 1999, 231ff). So zeichnet sich eine Gesellschaft ab, die auf der einen Seite westlich orientiert und auf der anderen Seite in ihrer Tradition und Kultur vom Islam geprägt ist. Es hat den Anschein, als ob die Auseinandersetzung zwischen der Türkei und der EU eine Auseinandersetzung zwischen Islam und Christentum und damit eine der unterschiedlichen Kulturen ist. Obwohl Europa selbst als multikulturell bezeichnet werden muss, geht es scheinbar um den Führungsanspruch in Bezug auf den zugehörigen Kulturkreis. 9 Das Politische System der Türkei Das politische System der Türkei nach 1945 ist gekennzeichnet von der Hinwendung zu einem Mehrparteiensystem, geprägt von zwei grundsätzlichen Tendenzen: einer bewussten Tolerierung des Islam (politische Partei seit 1970) und der Forderung nach Einhaltung des Laizismus. Der Kemalismus bleibt dabei weiterhin der Prüfstein für die gesellschaftliche Entwicklung in der Türkei der Zukunft, wobei es mittlerweile zu einer Annäherung zwischen dem Staatsverständnis der Kemalisten und des Islam kam (Steinbach 1996, 319f). Die am 7. November 1982 durch ein Referendum angenommene Verfassung versucht, die Fehlentwicklungen der Vergangenheit, welche in den Augen der Generäle als Ursachen des Zusammenbruches der staatlichen Ordnung bezeichnet werden, zu korrigieren und weiteren Fehlern vorzubeugen. Sie sehen die Ursache dieser Fehlentwicklung darin, dass in der Verfassung von 1961 die Rechte und Freiheiten des Einzelnen erweitert wurden, ohne die Verantwortlichkeiten auszuweiten. Der Auseinandersetzung politischer und gesellschaftlicher Kräfte wurde breiter Raum eingerichtet, ohne zugleich dem „Staat“ Instrumente der Steuerung in die Hand zu geben (Steinbach 1989, 35). So war das Ziel des Putsches des Militärs vom 12. 11. 1980, unter der Führung von General Evren – der in der Folge bis 1989 Staatspräsident war – die nachhaltige Ruhe und Ordnung durch Restauration eines strikten Einheitsstaates gemäß der soldatisch interpretierten Prinzipien des Kemalismus herzustellen (Onur 1999, 267ff). Es wurde daher ein umfassender Umbau von Staat, Wirtschaft und Parteiensystem in Angriff genommen. Unter der Leitung des Militärs, angeführt von General Evren, überließ man die Tagespolitik einem Kabinett ziviler Experten. Die Beziehungen zu den USA wurden weiter normalisiert und die exportorientierte Wirtschaft mit Hilfe von Krediten des IWF wieder in Gang gesetzt. Trotz der folgenden Repressionen, Inhaftierungen von Politikern und des Verbotes politischer Parteien begrüßte die Bevölkerung den Putsch des Militärs mehrheitlich als Rettung aus der enttäuschenden Handlungsunfähigkeit der vorangegangenen Regierungen (Buhbe 1996, 108). Eine Abschaffung des Einflusses des Militärs auf die Politik, wie es von der EU gefordert wird, stößt in der türkischen Gesellschaft auf wenig Gegenliebe. General Evren bildete mit den Vertretern der Streitkräfte, dem Kommandeur des Heeres, dem Kommandeur der Luftwaffe, dem Kommandeur der Marine und dem Kommandeur 10 der Gendarmerie den „Nationalen Sicherheitsrat“ (MBK)3. Dieser wurde zur alleinigen Exekutive des Landes bestimmt. Die Militärjunta von 1980 war durch Homogenität gekennzeichnet und unterschied sich auch dadurch von den militärischen Interventionen von 1960 und 1970 (Buhbe 1996, 109; Steinbach 1989, 19f). Vierzig vom MGK und 120 von den Gebietskommandanten nominierte Männer und Frauen kamen am 23. Oktober 1981 als verfassungsgebende Versammlung zusammen und beauftragten eine Kommission unter Professor Orhan Aldikati mit der Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Die neue Verfassung wurde am 7. November 1982 mit dem Junktim, dass Kenen Evren ab sofort für sieben Jahre zum Präsidenten der Republik Türkei gewählt sei, zur Abstimmung vorgelegt. Sie wurde bei einer Wahlbeteiligung von 91 Prozent mit 91,4 Prozent angenommen. Der Staatsumbau erfolgte nach dem Muster der Gründung der „Zweiten Republik“ von 1961. Unter der Schirmherrschaft der Armee wurde eine Verfassung erarbeitet, in der die restaurativ –kemalistische Handschrift der Generäle klar erkennbar ist, diese wurde handverlesen und danach einer Volksabstimmung unterzogen. Gemeinschaftsgeist wurde demokratischer Streitkultur vorgezogen (Buhbe 1996, 113). Mit dem Erlass vom 20. Oktober 1982 wurden jene flankierenden Maßnahmen getroffen, welche die bestimmende Position der Armee in der politischen Entscheidungsarena absichern sollten. Demnach wurde Kritik an der Verfassung verboten und unter Strafe gestellt sowie Gegenkandidaten nicht zugelassen; wer nicht an der Abstimmung teilnahm, verlor das Wahlrecht für die folgenden fünf Jahre (Buhbe 1996, 113ff). Diese Entwicklung zeigt aus der Sicht der „Europäer“ einen Mangel an demokratischer politischer Kultur in der Gesellschaft der Türkei, welche sich durch die historische Entwicklung aus der Vergangenheit des osmanischen Reiches und in Verbindung mit dem islamischen Kulturkreis erklären lässt. Die Parteienlandschaft ist stark von partriachalen Familien- und Clanstrukturen beeinflusst, in der man eine Erblichkeit der Ämter erkennen kann. Demgegenüber steht die Armee als Wächter zur Einhaltung der Prinzipien Atatürks. Gerade im Verhältnis zwischen Armee und Gesellschaft liegt zum einen ein Defizit an demokratischer Kultur und zum anderen Konfliktstoff. 3 Milli Güvenlik Konseyi. Wurde als kontrollierende Institution (Interventionsrecht) in der Verfassung verankert. 11 Obwohl Verfassungen in ihrer Papierform als ideales Instrument der politischen Organisation eines Nationalstaates präsentiert werden und die reale Wirklichkeit oft weit von diesem Ideal abweicht, erscheint es zweckmäßig, das politische System der Türkei, vor allem in Bezug auf die Kritik der EU hin, zu analysieren. Das politisch-administrative System Die Verfassung der Türkei muss im Sinne der EU nach folgenden Gesichtspunkten hin untersucht werden. Das heißt, die Messlatte wird von der EU vorgegeben und wird von folgenden Punkten determiniert: ⇒ Welche grundlegenden Rechte und Pflichten sind in der Verfassung definiert, welcher Spielraum ergibt sich daraus und welches politisches System lässt sie zu? ⇒ Wie sind Macht und Kontrolle, das Verhältnis zwischen Parlament – Präsident – Gerichtsbarkeit und die Stellung des Militärs (Nationaler Sicherheitsrat) organisiert? ⇒ Wie steht es um die Grundfreiheiten im Vergleich zu den Forderungen der Europäischen Union? ⇒ Welches politisch-administrative System ergibt sich aus der Verfassung und wo sind demokratische Defizite sichtbar? Grundsätzlich scheitert zur Zeit der Integrationsversuch der Türkei in die EU an demokratischen Defiziten, sichtbar in der Frage der Menschenrechte, wie seitens der EU begründet wird. Es erscheint mir daher notwendig, bevor man die Problematik der Minderheiten und der Separationsbestrebungen einzelner Gruppierungen als Argumentationsgrundlage verwendet, die Verfassung im Hinblick auf die Kritik der EU zu untersuchen. So kritisiert die EU in der Agenda 2000 die Türkei wie folgt: „...politisch gesehen beruhen Regierung und Parlament in der Türkei auf einem Mehrparteiensystem und sind aus demokratischen Wahlen hervorgegangen; die Verwaltung ist in der Lage, Rechtsvorschriften zu erlassen und anzuwenden, die mit dem acquis communautaire vereinbar sind. Obwohl die Notwendigkeit von Verbesserungen anerkannt wird und in letzter Zeit bestimmte Rechtsvorschriften geändert wurden, bleibt die Türkei doch bislang bei der Wahrung der Persönlichkeitsrechte und des Rechts auf freie Meinungsäußerung deutlich hinter dem Standard der EU zurück“. Die parlamentarische Versammlung des Europarates in Straßburg setzte der Türkei am 26. April 1995 ein Ultimatum zur Änderung der Verfassung, mit der das Land den Normen der EU bezüglich der Achtung der Menschenrechte nachkommen müsse. Dabei wurde dem 12 Ministerkomitee empfohlen, die Mitgliedschaft der Türkei im Europarat aufzuheben, wenn sie innerhalb einer gesetzten Frist vier Bedingungen nicht erfüllen würde: 1. Rückzug seiner Truppen aus dem Irak, 2. Fortschritte um eine politische Lösung des Kurdenproblems, 3. Vorlage eines detaillierten Zeitplanes für Verfassungsänderungen sowie 4. Reform der Gesetzgebung (Hermann 1996, 143). Das stellt für die Türkei vor allem eine bedeutende Einmischung in ihre Souveränität dar. Allerdings ist die Frage zu stellen, ob es tatsächlich um die Defizite der Gesellschaftsordnung in der Türkei geht, oder ob es sich dabei nur um einen Vorwand handelt. Die Verfassung der Republik Türkei ist von folgenden charakteristischen Elementen gekennzeichnet, die auch Kritik von Seiten der westlichen Staaten, vor allem der EU, hervorrufen. Der unitäre Charakter des Staates wird stark betont. Staatszersetzende Äußerungen und Aktivitäten in Richtung einer Klassengesellschaft4 oder Separatismus5 wurden als Staatssicherheitsdelikte eingestuft. ARTICLE 14. None of the rights and freedoms embodied in the Constitution shall be exercised with the aim of violating the indivisible integrity of the State with its territory and nation, of endangering the existence of the Turkish State and Republic, of destroying fundamental rights and freedoms, of placing the government of the State under the control of an individual or a group of people, or establishing the hegemony of one social class over others, or creating discrimination on the basis of language, race, religion or sect, or of establishing by any other means a system of government based on these concepts and ideas. The sanctions to be applied against those who violate these prohibitions, and those who incite and provoke others to the same end shall be determined by law. No provision of this Constitution shall be interpreted in a manner that would grant the right of destroying the rights and freedoms embodied in the Constitution. Der Artikel 14 ist in der Verfassung die bestimmende Größe. Er bildet die Grenze des Handlungsspielraumes politischer Tätigkeiten und Entwicklungen. Die Position des Staatspräsidenten wurde massiv gestärkt, ohne allerdings eine Präsidialrepublik zu schaffen. ARTICLE 89. The President of the Republic shall promulgate the laws adopted by the Turkish Grand National Assembly within fifteen days. 4 5 Stichwort: Kommunismus. Stichwort: Kurdenfrage. 13 He shall, within the same period, refer to the Turkish Grand National Assembly for further consideration laws which he deems unsuitable for promulgation, together with a statement of his reasons. Budget laws shall not be subject to this provision. If the Turkish Grand National Assembly adopts in its unchanged form the law referred back, the President of the Republic shall promulgate it; if the Assembly amends the law which was referred back, the President of the Republic may again refer back the amended law to the Assembly. Provisions relating to Constitutional amendments are reserved. ARTICLE 116. In cases where the Council of Ministers fails to receive a vote of confidence under Article 110 or is compelled to resign by a vote of no-confidence under Articles 99 or 111, and if a new Council of Ministers cannot be formed within forty-five days or the new Council of Ministers fails to receive a vote of confidence, the President of the Republic, in consultation with the President of the Turkish Grand National Assembly, may call new elections. If a new Council of Ministers cannot be formed within forty-five days of the resignation of the Prime Minister without being defeated by a vote of confidence, or also within forty-five days of elections for the Bureau of the President of the Turkish Grand National Assembly of the newly elected Turkish Grand National Assembly, the President of the Republic may likewise, in consultation with the President of the Turkish Grand National Assembly, call new elections. The decision to call new elections shall be published in the Official Gazette and the election shall be held thereafter. Die schon in der Verfassung von 1961 verankerte Rolle des Nationalen Sicherheitsrates (MBK) wurde gestärkt. Im Artikel 118 wird die beratende Funktion des MBK um die Formulierung „seine Entscheidungen müssen von der Regierung vorrangig behandelt werden“ erweitert. ARTICLE 118. The National Security Council shall be composed of the Prime Minister, the Chief of the General Staff, the Ministers of National Defence, Internal Affairs, and Foreign Affairs, the Commanders of the Army, Navy, and the Air Force, and the General Commander of the Gendarmerie, under the chairmanship of the President of the Republic. Depending on the particulars of the agenda, Ministers and other persons concerned may be invited to meetings of the Council and their views be heard. The National Security Council shall submit to the Council of Ministers its views on taking decisions and ensuring necessary coordination with regard to the formulation, establishment, and implementation of the national security policy of the State. The Council of Ministers shall give priority consideration to the decisions of the National Security Council concerning the measures that it deems necessary for the preservation of the existence and independence of the State, the integrity and indivisibility of the country, and the peace and security of society. The agenda of the National Security Council shall be drawn up by the President of the Republic taking into account the proposals of the Prime Minister and the Chief of the General Staff. In the absence of the President of the Republic, the National Security Council shall meet under the chairmanship of the Prime Minister. The organization and duties of the General Secretariat of the National Security Council shall be regulated by law. Der Nationale Sicherheitsrat ist eine Organisation, die über keine demokratische Legitimation, jedoch über die Macht verfügt, demokratisch legitimierte Entscheidungen zu beein14 flussen oder zu verhindern. Auch wenn aus verfassungsrechtlicher Sicht die Entscheidungen des Sicherheitsrates nicht bindend sind, so haben die Vorschläge und Beschlüsse der MBK in der politischen Realität geradezu instruktiven Charakter (Sen et al. 1998, 65f). Das Zweikammernsystem wurde aufgegeben und die Legislaturperiode des Parlaments, sprich: der großen Nationalversammlung „Tyrkiye Büyük Millet Meclisi“ (TBMM), auf fünf Jahre festgelegt. Die Parteienlandschaft wurde durch ein Parteiengesetz neu geregelt und die politische Betätigung bestimmter Personengruppen wurde verboten. ARTICLE 68. Citizens have the right to form political parties, and to join and withdraw from them in accordance with the established procedure. To become a member of a party one must be over 21 years of age. Political parties are indispensable elements of the democratic political system. Political parties shall be founded without prior permission and shall pursue their activities in accordance with the provisions set forth in the Constitution and law. The statutes and program’s of political parties shall not be in conflict with the indivisible integrity of the State with its territory and nation, human rights, national sovereignty, and the principles of the democratic and secular Republic. Political parties whose aim is to support and to set up the domination of a class or group, or any kind of dictatorship, cannot be formed. Political parties shall not organize and function abroad, shall not form discriminative auxiliary bodies such as women‘s or youth branches, nor shall they establish foundations. Judges and prosecutors, members of higher judicial organs, members of the teaching staff at institutions of higher education, members of the Higher Education Council, civil servants in public organizations and corporations, and other public servants who are not considered to be laborers by virtue of the services they perform, students, and members of the Armed Forces, shall not become members of political parties. Der Handlungsspielraum der Gewerkschaften wurde (einschränkend) geregelt. Im Artikel 52 wird Gewerkschaften die aktive Teilnahme am politischen Alltag verwehrt. ARTICLE 52. Labour unions, in addition to being under the general restrictions set forth in Article 13, also shall not pursue a political cause, engage in political activity, receive support from political parties or give support to them, and shall not act jointly for these purposes with associations, public professional organizations, and foundations. The fact of engaging in labour union activities in a workplace shall not justify failure to perform one‘s work. The administrative and financial supervision of labour unions by the State, and their revenues and expenditures, and the method of payment of membership dues to the labour union, shall be regulated by law. Labour unions shall not use their revenues beyond the scope of their professional aims, and shall keep all their funds in State banks. 15 Grundsätzlich fehlt der Begriff von Minderheiten in der Verfassung. Es gibt nur Türken. Es folgt die Festschreibung eines von der Armee gewünschten Gemeinschaftscharakters des Staatsvolkes durch gesetzliche Regelungen, welche partikulare Interessen unter Strafe stellt. So konnte sich keine „Zivilgesellschaft“ europäischer Prägung entwickeln. Das Militär bevorzugte ein politisches System nach amerikanischen Vorbild. Dennoch setzte es sich gegenüber der „Gesellschaft“ nicht durch, welche sich nach jedem regulativen Eingreifen des Militärs zu einem pluralistischen Mehrparteiensystem europäischer Prägung mit großer demokratischer Streitkultur entwickelte hatte. Auf der intellektuellen Ebene bestimmt die Auseinandersetzung Säkularismus versus Islamismus die Diskussion (Onur 1999, 113ff). Grundlegende Rechte und Pflichten bzw. Definition des Rahmens der türkischen Gesellschaft Der zweite Teil der Verfassung bestimmt den Rahmen, in dem sich die politische Gesellschaft bewegen darf und es stellt sich darin auch die Frage nach einer zivilen Gesellschaft. Die Herausbildung einer „zivilen gesellschaftlichen Organisation“ in der Türkei erfuhr durch die militärischen Interventionen deutliche Zäsuren und wird durch die Verfassung eingeschränkt (Sen et al. 1998, 71ff). Im Vordergrund steht dabei die Sicherung der Integrität des Staates und seines Territoriums, die Unabhängigkeit der Republik, die nationale Sicherheit, die Erhaltung der öffentlichen Ordnung und des allgemeinen Friedens und die Sicherstellung der Umsetzung des öffentlichen Interesses, der Moral und Gesundheit. ARTICLE 13. Fundamental rights and freedoms may be restricted by law, in conformity with the letter and spirit of the Constitution, with the aim of safeguarding the indivisible integrity of the State with its territory and nation, national sovereignty, the Republic, national security, public order, general peace, the public interest, public morals and public health, and also for specific reasons set forth in the relevant articles of the Constitution. Dieser Artikel 13 ist an sich sehr allgemein gehalten; betrachtet man ihn im Zusammenhang mit dem Artikel 2, so wird die Definition der öffentlichen Ordnung, von Interessen, Moral und nationaler Sicherheit schon etwas konkreter. Diese Begriffe werden im Sinne des Kemalismus verstanden. ARTICLE 2. The Republic of Turkey is a democratic, secular and social State governed by the rule of law; bearing in mind the concepts of public peace, national solidarity and justice; respecting human rights; loyal to the nationalism of Ataturk, and based on the fundamental tenets set forth in the Preamble. 16 Somit ist es notwendig, die Grundzüge des Kemalismus in diesem Zusammenhang zu betrachten. Die Kernaussagen werden in sechs Prinzipien (Onur 1999, 190ff) definiert: ⇒ Republikanismus: Gründung eines politischen Systems auf der Basis einer Republik. Damit war das Bestreben verbunden, der Wiedereinführung einer Herrschaft des Sultans oder des Kalifen entgegenzuwirken. ⇒ Populismus: Gleichheit der Bürger ohne Ansehen von Volkszugehörigkeit, Sprache und Glauben. Zugleich war darin die Forderung artikuliert, den „Willen des Volkes“ als konstruktives Element der türkischen Republik anzuerkennen. Definiert als Nationale Unabhängigkeit und eine Gesellschaft ohne Klassen. ⇒ Nationalismus: Errichtung eines türkischen Nationalstaates. Im Sinne kemalistischer Definition wird die Kultur als politische Kultur verstanden. ⇒ Säkularisierung (Laizismus): Trennung von Staat und Religion. Dies bedeutete auch den Austritt der Türkei aus dem islamischen Vielvölkerverbund und die Abkehr von der islamischen Reichsidee. ⇒ Etatismus: Die bestimmende Rolle des Staates in der Wirtschaft wird bzw. wurde damit festgeschrieben. Aufgabe des Staates ist es, parallel zu den Reformen im sozialen und politischen Bereichen, auch im ökonomischen Bereichen die für die Republik notwendigen Institutionen zu schaffen. ⇒ Reformismus: Dieses Prinzip steht als Synonym für den permanenten dynamischen Prozess der Umformung von Staat und Gesellschaft Das öffentliche Interesse wird in allen Belangen auf die Prinzipien des Kemalismus eingeschworen. Das bedeutet eine Abgrenzung gegenüber Sozialismus, Faschismus oder Gesellschaftssystemen mit religiöser Einflussnahme in das politische Geschehen (Artikel 14). Das beweist die Formulierung des Amtseides des Präsidenten (Artikel 103) – ARTICLE 103. On assuming office, the President of the Republic shall take the following oath before the Turkish Grand National Assembly: „In my capacity as President of the Republic I swear upon my honor and integrity before the Turkish Grand National Assembly and before history to safeguard the existence and independence of the State, the indivisible integrity of the country and the nation and the absolute sovereignty of the nation, to abide by the Constitution, the rule of law, democracy, the principles and reforms of Ataturk and the principles of the secular Republic, not to deviate from the ideal according to which everyone is entitled to enjoy human rights and fundamental freedoms under conditions of national peace and prosperity and in a spirit of national solidarity and justice, and to do my utmost to preserve and exalt the glory and honor of the Republic of Turkey and perform without bias the functions that I have assumed.“ – und der Abgeordneten zur Großen Nationalversammlung (Artikel 81): ARTICLE 81. Members of the Turkish Grand National Assembly, on assuming office, shall take the following oath: „I swear upon my honor and integrity, before the great Turkish nation, to safeguard the existence and independence of the State, the indivisible integrity of the country and the Nation, and the absolute sovereignty of the Nation; to remain loyal to the supremacy of law, to the democ- 17 ratic and secular Republic, and to Ataturk‘s principles and reforms; not to deviate from the ideal according to which everyone is entitled to enjoy human rights and fundamental freedoms under peace and prosperity in society, national solidarity and justice, and loyalty to the Constitution.“ Erkennbar ist der bestimmende Charakter des Kemalismus. Es hat den Anschein, dass das Ziel der Verfassung die Verteidigung des Kemalismus in der Gesellschaft ist. Demgegenüber steht aber zum einen der Islam in seiner Gesamtheit und zum anderen die Entwicklung demokratischer politischer Parteien in ihrer Vielfalt und ihrem Pluralismus. Parteien, welche dem linken Spektrum zuzuordnen sind, und solche, die systemverändernd (religiöse Gruppierungen) wirken, können sich daher nur im Untergrund entwickeln. Der Staat nimmt gegenüber den Rechten und Freiheiten der einzelnen Bürger eine beherrschende Stellung ein. Der Staat tritt gegenüber dem Einzelnen als Herrscher und Beschützer auf. Im politischen Denken und Handeln des Türken ist das Kollektiv, sprich: der Staat, dem Einzelnen und seinen Rechten immer übergeordnet. Das Interesse Einzelner oder das von Gruppierungen wird daher den Staatsinteressen untergeordnet (Steinbach 1989, 33). Darin liegt auch die Problematik im Umgang mit den vorhandenen Minderheiten, weil die nationale Identität auf die türkische Identität reduziert wird (Artikel 66). Es herrscht eine Beziehung (nach Max Weber) zwischen Herrscher (Herrschenden) und Beherrschten (den Machtunterworfenen). Die Regierung des Volkes ist eine aus dem Volk hervorgegangene Elite; diese ist Resultat eines Konkurrenzkampfes um politische Ämter und Funktionen (Schmidt 1995, 118). Als Eliten anerkennt man zum einen die Armee und zum anderen charismatische Parteiführer. Der Staat als Herrscher nimmt eine dominierende Stellung gegenüber den Beherrschten ein. Die Einschränkungen des Artikel 14, wie eingangs schon erwähnt, erstrecken sich über alle gesellschaftlichen Bereiche und wirken so einschränkend auf die Entwicklung einer öffentlichen zivilen Gesellschaft. Er fördert die Entwicklung einer Opposition im Untergrund. Der Staat wird zum Bewahrer der demokratischen Gesellschaft kemalistischer Vorstellung. Er traut dem Volk nicht zu, dass es selbst in der Lage ist, die Demokratie zu sichern bzw. die Gesellschaft delegiert ihre politischen Verantwortung an den Staat. Ein Indiz dafür ist der schon erwähnte Nationale Sicherheitsrat (Artikel 118 – 121). Er hat die Funktion eines politischen Kontrollorgans, welches demokratietheoretisch zweifelhaft erscheinen muss, da diesem Instrument die demokratische Legitimation fehlt, es keiner demokratischen Kontrolle unterliegt und der Einfluss der Armee, welche eigentlich dem politisch18 administrativen System zuzuordnen und ein Teil der Verwaltung ist, auf politische Willensentscheidungen übermächtig wird. Wie schon eingangs erwähnt, stellt der Artikel 68 ein wesentliches demokratisches Defizit dar, insbesondere der letzte Absatz, in der es bestimmten Personengruppen verboten ist, Parteimitglied zu sein. Judges and prosecutors, members of higher judicial organs, members of the teaching staff at institutions of higher education, members of the Higher Education Council, civil servants in public organizations and corporations, and other public servants who are not considered to be labourers by virtue of the services they perform, students, and members of the Armed Forces, shall not become members of political parties. Diese Ausgrenzung verhindert die aktive Teilnahme am offiziellen politischen Leben und fördert die Hinwendung vor allem gebildeter Schichten (Intellektuellen), im Speziellen von Studenten an den Universitäten, zu oppositionellen Gruppierungen. Dadurch wird auch der Entwicklung einer Zivilgesellschaft nach europäischem Vorbild behindert. Neuformierung der Parteienlandschaft nach dem Militärputsch 1980 Mit der unter der Patronage des Militärs erarbeiteten neuen Verfassung und dem Parteiengesetz etablierten sich die politischen Parteien unter der Aufsicht des Nationalen Sicherheitsrates MGK. Dabei sind folgende Einschränkungen prägend: ⇒ Parteien, die eine Klassenherrschaft oder eine Diktatur anstreben, sind verboten. ⇒ Parteien dürfen weder Auslandsorganisationen haben, noch dürfen sie materielle und finanzielle Hilfe vom Ausland annehmen. ⇒ Die Parteien dürfen nicht Mitglied internationaler Organisationen sein, falls damit die Unabhängigkeit der Türkei gefährdet sein könnte. ⇒ Die Zusammenarbeit mit Gewerkschaften und anderen politischen und religiösen Organisationen ist grundsätzlich verboten. ⇒ Studenten, öffentlich Bedienstete, Richter Staatsanwälte, Lehrer an höheren Bildungseinrichtungen und Angehörige des Militärs dürfen nicht Parteimitglieder werden und sein. ⇒ Die Parteien dürfen keine Frauen- und Jugendorganisationen gründen. ⇒ Gewerkschaften dürfen sich nicht politisch betätigen. ⇒ Gewerkschaftsfunktionäre müssen zehn Jahre gearbeitet haben, bis sie eine Funktion in der Gewerkschaft ausüben dürfen. ⇒ Das Vermögen von Parteien und Gewerkschaften darf nur bei staatlichen Banken anlegt werden (Internationales Handbuch – Länder aktuell 1997, 5f). 19 Der Nationale Sicherheitsrat hatte, nachdem der Plan einer präsidialen Demokratie unter der Führung von Evrens verworfen wurde, die Absicht, eine eigene Partei zu gründen, der eine loyale Mitte-Links-Partei als Opposition gegenübergestellt werden sollte. Als Vorbild diente das politische System der USA. Der Kemalismus war die einzige akzeptierte „Ideologie“. Chronologie der Parteiengründung nach 1980 Am 16. Mai 1983 erfolgte die Gründung der „Milliyetci Demokrasi Partisi“6 (MDP) unter dem General i. R. Turgut Sunlap. Am 20. Mai 1983 erfolgte die Gründung der „Halkci Parti“7 (HP) unter Necdet Calp. In der Folge sah sich der Nationale Sicherheitsrat einer Flut von Anträgen gegenüber, die er jedoch nicht allesamt ablehnen konnte. Am 6. Juni 1983 erfolgte unter Prof. Erdal Inönü (Sohn von Ismet Inönü) die Gründung der „Sosyal Demokrat Parti“8 (SoDeP). In dieser Partei waren auffallend viel ehemalige Politiker der CHP vertreten. Die MGK reichte dagegen ein Veto ein und verhinderte die Teilnahme an den Wahlen im November. Am 20. Mai 1983 legte General i. R. Ali Fethi die Gründungsliste für die „Büyük Türkiye Partisi“9 (BTP), der Demirel vorstand. Der MGK wies die Liste zurück, inhaftierte die Propenenten und stellte sie in einem Militärcamp bis nach Anmeldeschluss unter Hausarrest. Auf dem Weg dorthin erlaubte er Demirel die Gründung der „Dogru Yol Partisi“10 (DYP). Sie wurde am 23. Juni 1983 eingetragen, konnte aber ebenfalls aufgrund des Vetos des MGK nicht an den Wahlen im November teilnehmen. Die Blockadepolitik betraf auch die übrigen Schattenparteien von Erbakan bis Türkes mit Ausnahme von Turgut Özal. Am 20. Mai 1983 gründete Turgut Özal die „Avnavatan Partisi“11 (AnaP). 6 Nationalistischen Partei Populistischen Partei 8 Sozialdemokratischen Partei 9 Große Türkenpartei 10 Partei des Rechten Weges 11 Mutterlandspartei 7 20 So traten bei den ersten Wahlen 1983 folgende Parteien zur Wahl in das Parlament, den TBMM, an: ⇒ MDP unter Turgut Sunlap ⇒ HP unter Necdet Calp ⇒ AnaP unter Turgut Özal Die Partei der Generäle (MDP) erlitt eine Niederlage. Das Comeback der alten Parteien konnte schon aufgrund der geringen Problemlösungskompetenz der Partei Turgut Özals, nicht verhindert werden (Buhbe 1996, 116ff). 1983 erfolgte eine Umbildung der Parteienlandschaft in der Türkei. Zu den Kommunalwahlen 1984 hatte Evren die Gründerlisten der meisten Parteien freigegeben und signalisierte damit die Hinwendung zu einer Form der Demokratie auf breiter Basis. So ergab sich bei den folgenden Kommunalwahlen ein Bild von Parteienvielfalt, welche die These der Vernetzung von Familienstrukturen und politischen Parteien unterstützte. AnaP unter Özal 41,5 Prozent, SoDeP unter Inönü 22,9 Prozent, DYP unter Demirel 13,7 Prozent, HP unter Calp 8,7 Prozent, MDP unter Sunlap 7,1 Prozent und RP unter Erbakan 4,5 Prozent. Die Folge war, dass die vom Militär etablierten politischen Parteien MDP und HP von der politischen Bühne verschwanden, sich auflösten oder in anderen Parteien aufgingen. So schloss sich die HP unter Prof. Aydin Güven Gürkan mit der SoDeP zur „Sosyaldemokrat Halkci Partisi“12 (SHP) unter Edal Inönü zusammen. Im Lager der CHP kam es zu einer Spaltung. Rashan Ecevit, die Ehefrau des unter Politikverbotes stehenden Bulent Ecevit gründete die Partei der „Demokrat Sol Parti“13 (DSP). Im Dezember 1985 wechselten 18 Abgeordnete der TBMM von SHP zur DSP (Buhbe 1996, 117ff). Obwohl die türkische Gesellschaft den Putsch von 1980 begrüßte, versagte sie der Armee die notwendige Unterstützung in der Umgestaltung der Parteienlandschaft. Die Gesell- 12 13 Sozialdemokratischen Populistischen bzw. Sozialdemokratischen Volkspartei Demokratischen Linken 21 schaft bevorzugte vielmehr eine Parteienvielfalt. Die Ursache liegt jedoch nicht im Hang zum Pluralismus oder der Partizipation moderner Demokratietheorien, sondern ist vielmehr auf die Vielzahl charismatischer Führer und auf die traditionellen Familienstrukturen zurückzuführen. Das beweist vor allem, dass die vorerst verbotenen Parteien in den darauffolgenden Jahren durch dieselben Personen wiedererstanden sind. Ein weiteres Indiz dafür erscheint auch die laufende Fluktuation von Abgeordneten zwischen den Parteien zu sein. Die Abgeordneten der MDP wechselten zur AnaP und die Partei löste sich im Mai 1986 auf. Mit der Volksabstimmung über die Aufhebung des Politikverbotes von 6. September 1987 wurde das Politikverbot mit 50,24 Prozent Ja- gegen 49,7 Prozent Nein- Stimmen aufgehoben. Damit konnten die, mit dem Politikverbot belegten Politiker wieder in ihre Positionen zurückkehren. Zu Beginn der 90er Jahre ergibt sich für die Türkei eine breit gefächerte Parteienlandschaft. Mit April 1996 sind 21 politische Parteien im Parteienregister eingetragen Partei Abk. gegründet Motherland Party AnaP 20. 05. 1983 True Path Party DYP 23. 06. 1983 National Action Party MCP 07. 07. 1983 Welfare Party RP 19. 07. 1983 Democratic Left Party DSP 14. 11. 1985 Greens Party 06. 06. 1988 Rep. Dem. Youth Party 04. 10 1988 Rebirth Party 26. 03. 1990 People’s Labor Party 07. 06. 1990 Socialist Unity Party 15. 01 1991 Anatolia Party 25. 01.1991 Worker’s Party IP 01. 03. 1992 Pep. People’s Party CHP 02. 03. 1992 Freedom and Democracy Party 19. 10 1992 Socialist Turkey Party 06. 11 1992 Nation Party MP 22. 11 1992 Revival Party YDP 23. 11 1992 Democrat Party 12. 12. 1992 Socialist Revolution Party 27. 12. 1992 Great Unity Party BBP 29. 01. 1992 Democratic Turkey Party 07. 07. 1996 Politics & Policy 1996, http://www.turkey.org/p_party.htm 22 Vorsitzender Messut Yilmaz Tansu Ciller Devlet Bahceli Necmettin Erbakan Bulent Ecevit Bilge Conteppe Gokhan Evliyaoglu Sezai Karakoc Ahmet Turk Sadrun Eren Zeki Celiker Dogu Perinek Deniz Baykal Mevlut Ilik Ali Onder Ondes Hasan Celal Edibali Hasan Celal Guzel Necati Turgut Cenan Bicakci Mushin Yazicioglu Husamettin Cindoruk Anm. MHP DTP ?? Am 24. Dezember 1997 traten folgende Parteien zur Wahl der „Großen Nationalversammlung“ TBMM an. Partei Motherland Party Republic People’s Party Democratic Left Party True Pat Party Peoples Democracy Party Labor Party Nation Party Nationalist Movement Party Welfare Party New Democracy Movement New Democracy Party New Party Wolfgruber 2000 Anavatan Partisi Cumhuriyet Halk Partisi Demokratik Sol Parti Dogru Yol Partisi Halkin Demokrasi Partisi Isci Partisi Millet Partisi Milliyetci Hareket Partisi Refah Partisi Yeni Demokrasi Hareket Yeni Demokrasi Partisi Yeni Parti Abk. AnaP CHP DSP DYP HADEP IP MP MHP RP YDH YDP YP Vorsitzender Messut Yilmaz Deniz Baykal Bulent Ecevit Tansu Ciller Muhrat Bozlak Dogu Perincek Aykut Edibal Alparslan Turkes Necmettin Erbakan Cem Boyner Hasan Celal Guzel Yusuf Bozkurt Ozal Mit dem Ausscheiden der RP kam es im Jänner 1998 zur Neugründung einer islamischen Gruppierung „Fazilit Partisi“14 (FP). Diese Partei kann als die Nachfolgepartei der RP angesehen werden. 60 Refah-Abgeordnete haben sich in die neue Tugend-Partei unter Recai Kutan einschreiben lassen. Die AnaP rechnete nach dem Verbot der RP mit einem Zuzug von etwa 20 bis 30 Mandaten aus der aufgelösten RP. Diese Beurteilung erwies sich als falsch. Alle Abgeordneten traten in der Folge der FP bei. Sie ist zur Zeit mit 142 Mandaten die stärkste Kraft in der Großen Nationalversammlung15. Zu Beginn der 90er Jahre ergibt sich eine relativ breit gefächerte Parteienlandschaft, welche klare Mehrheiten im TBMM verhindert und Koalitionen erfordert. Eine Zuordnung der Parteien auf einer Rechts – Links – Skala nach europäischen Vorstellungen muss als nicht zielführend betrachtet werden, weil linke Parteien verboten sind und ein ideologischer Überbau nach einer europäischen Wertevorstellung nicht vorhanden ist. Vielmehr ist der Einfluss des Islam in die Politik und damit die Nähe der Parteien zum Islam ebenso ausschlaggebend wie der türkische Nationalismus einer radikalen Rechten. 14 15 Tugend Partei SN vom 13. Mai 1998, 6: „Türkische Islamisten erhalten Konkurrenz von neuer Partei“. 23 Islam in der Politik Seit der Einführung des Parteienpluralismus 1945 gewann der Islam im Kampf um Wählerstimmen zusehends an Einfluss. Die CHP wurde gezwungen, ihre Säkularisierungspolitik zu lockern. Erste Zugeständnisse zugunsten der islamischen Bevölkerung waren, dass der Gebetsruf von den Minaretten wieder auf arabisch erfolgen durfte. In der Folge wurden in den 50er Jahren vermehrt Moscheen gebaut und religiöse Vorbeter- und Predigerschulen eröffnet. Am 23. 01. 1970 wurde die „Milli Nizam Partisi“16 (MNP) von Necmettin Erbakan gegründet. Sie wurde nasch kurzer Dauer 1971 verboten. Ihr folge am 11. 10. 1972, nach der Militärintervention von 1971, die „Milli Selamet Partisi“17 (MSP). Beim Militärputsch 1980 wird diese ebenfalls am 16. 10. 1981 verboten. Necmettin Erbakan gründet als Nachfolgeorganisation die „Refa Partisi“18. Am 16. 01. 1998 entscheidet der Verfassungsgerichtshof über das Verbot der RP. Ihr Vorsitzender und vier weitere führende Mitglieder werden mit einem Politikverbot in der Dauer von fünf Jahren belegt (Onur 1999, 302f). Als Nachfolgeorganisation etabliert unter Recai Kutan die „Fazilit Partisi“19 (FP). 2001 erfolgte die Auflösung der FP und eine Spaltung der islamische orientierten Partei in „Saadit Partisi“ (SP) mit Recai Kutan und der „Adalit Ve Kalkinm Partisi“ (AKP) unter Erdogan (Erbakan). Nach der militärischen Intervention 1980 wurde der Religion im öffentlichen Leben mehr Freiraum zugestanden. So wurde der Religionsunterricht als obligatorisch in der Verfassung von 1982 verankert, die Zahl der Moscheen und die Zahl der Koranschulen stiegen an (Sen et al. 1998, 179). Den islamisch-konservativen Bevölkerungsanteilen wurde die Möglichkeit gegeben, sich als Gegengewicht zu den politisch links und rechts orientierten Gruppierungen zu entwickeln. Dieser Umstand führte gegen Ende der 90er Jahre zum Konflikt zwischen der Regierung Erbakans und dem nationalen Sicherheitsrat. Der Islam war in den 80er Jahren zwar keine politisch bedeutende Kraft in der Türkei, stellte jedoch einen wichtigen Faktor in Verbindung mit den unterschiedlichen konservativen Ideologien dar, welche das türkische Parteienspektrum von nationalistisch bis liberal-konservativ prägen. Abgesehen vom politischen Erfolg der RP ist die Einfluss der islamischen Orden und 16 Nationale Ordnungspartei Nationale Heilspartei 18 Wohlfahrtspartei 19 Tugendpartei 17 24 Gruppierungen auf Politik und Gesellschaft hervorzuheben. Obwohl die Orden im Zuge der kemalistischen Reformen verboten waren, konnten sie ihre Existenz bis heute wahren und in den letzten Jahren sogar verstärkt entfalten. Vor dem Hintergrund der Binnenmigration und Arbeitmigration (Gastarbeitermigration ins Ausland) liegt ihre Bedeutung vor allem im Bedürfnis nach sozialer Einbindung und Identität. Ihre Betätigungsfeld ist insbesondere der Bildungssektor, das Erziehungs- und Stiftungswesen, die Förderung von Internaten und Koranschulen. In diesem Zusammenhang haben die Orden über die Türkei hinaus ein europaweites Netzwerk etabliert (Sen et al. 1998, 177ff). Ihre Hauptkritik richtet sich gegen das Prinzip des Laizismus, langfristiges Ziel ist ein islamischen Gottesstaat. Die Tradition und der Islam, sunnitischer oder alewitischer Ausprägung, dominiert vor allem das Leben der ärmeren Landbevölkerung. Insofern war das Verbot der muslimischen Orden und Bruderschaften (Tarikat) 1925 eine radikale Maßnahme, welche diese in den Untergrund trieben. Die Derwische, Wanderprediger des Volkes und andere Muslime gerieten in Konfrontation mit den Kemalisten. Die wichtigsten sind: ⇒ Nakschibendi Bruderschaft (Naksibendiye), ⇒ Bektasschi Bruderschaft (Bektasilik), ⇒ Orden der tanzenden Derwische (Mevlevilki), ⇒ Süleymanci Bruderschaft und ⇒ Nurculuk Bewegung (Jama´at un-Nur). Diese behielten jedoch ihre Wurzeln im Volk, wurden aber durch staatliche Pressionen politisiert und bildeten in den 50er und 60er Jahren den Kern des Umfeldes des politischen Islam in der Türkei. Verflochten mit der politischen Klasse lehnen die meisten Orden, zum Unterschied zur „RP“ Erbakans bzw. deren Nachfolgeorganisation, den Laizismus nicht ab, sondern haben sich darin eingerichtet. Das Islamische liegt in der Betonung von Arbeit, Aufrichtigkeit, Korrektheit und Gerechtigkeit. Damit stehen die „Bruderschaften“ im Konflikt mit der gesellschaftspolitisch radikalen Wohlfahrtspartei. Die Bruderschaften bilden für ihre Anhänger ein Beziehungsgeflecht, das in der – durch den raschen gesellschaftlichen Wandel entstandenen – Krise für viele Anhänger einen hohen Stellenwert hat (Steinbach 1996, 335). Die Ziele und auch die damit verbundene Rhetorik unterscheiden sich jedoch in Abhängigkeit davon, ob diese von Gruppierungen in der Türkei oder im Ausland formuliert werden. 25 Während die politischen islamischen Gruppierungen in der Türkei eher vorsichtig ihren Einfluss ausbauen und dabei ihre Ziel öffentlich abgeschwächt formulieren, artikuliert die islamische Gemeinschaft (Milli Görüs, IGMG) in der BRD ihre Ziele eindeutiger. ....unsere Intention besteht darin, weltweit die gerechte Ordnung an die Macht zu bringen. Dazu wird folgendes Feindbild definiert: ... so gibt es drei Feinde der Religion: der Kommunismus, der Kemalismus und die Demokratie. Diese drei Feinde werden von der gleichen Zentrale aus, also vom Zionismus, geleitet (Ümmet-i Muhammes, Nr. 115 vom 4. April 1993, 3f). Eine Verbindung zwischen den islamischen Bruderschaften im Inland und den im Ausland, vor allem in Europa, agierenden islamischen Organisationen ist nicht von der Hand zu weisen (siehe Kapitel II). Die im Folgenden behandelte islamische Diskussion in der Türkei spiegelt die abgeschwächte Form dieser Ziele wider. Zu beobachten ist, dass die islamischen Gruppierungen in ihrer Spielart das Spektrum vom nationalistischen bis zum fundamentalen Islamischen abdecken, jedoch kein linkes Spektrum aufweisen. Es ergibt sich ein Spektrum von der Weltherrschaft des Islam (...in der Demokratie wird die Herrschaft dem Volk übertragen, dabei liegt im Islam die Herrschaft einzig und allein uneingeschränkt bei Allah...) bis zum islamischen Traditionalismus osmanischer Prägung (Die Befreiung der Menschheit... und der Muslime ist nur durch die Versammlung unter einem Kalifenstaat... möglich), in dem als geistliches und weltliches Oberhaupt der Kalif dem Staat vorsteht (Verfassungsschutzbericht 1995, 231f). So ist das Hauptziel der AMGT20 die Ablösung der laizistischen Staatsordnung in der Türkei durch einen ausschließlich auf dem Koran und der Scharia basierenden, als „gerechte Ordnung“ umschriebenen „islamischen Gottesstaat“ (Verfassungsschutzbericht 1995, 232). Die Problematik der Erfassung der Gruppierungen liegt im häufigen Wechsel ihrer Bezeichnungen. Eine Zuordnung ist daher nur aufgrund ihrer langfristigen Ziele möglich. Dabei entstehen oft konkurrenzierende Gruppierungen. Die Vielfalt der religiösen Gruppen wird noch durch studentische Zirkel, die ab Mitte der 80er Jahre entstanden sind, ergänzt. 20 Vereinigung der Neuen Weltsicht in Europa; jetzt „Islamische Gemeinschaft“ (IGMG) in der BRD. 26 Macht und Kontrolle im magischen Dreieck zwischen Präsident, Parlament und Armee Die Verfassung unterscheidet grundsätzlich zwischen Legislative, Exekutive und Judikative. Offenbar entspricht diese Trennung dem traditionellen Verständnis einer demokratischen Gesellschaftsordnung. In Bezug auf die Inhalte ist jedoch zu untersuchen, über welchen Handlungsspielraum die einzelnen Elemente verfügen. So gesehen ergeben sich drei Ebenen der Machtausübung: Der Präsident. Er verkörpert als Staatsoberhaupt die Republik Türkei nach außen und nach innen. Er wird von der Großen Nationalversammlung (TBMM) für eine Legislaturperiode von sieben Jahren gewählt. Eine Wiederwahl ein und derselben Person ist ausgeschlossen. ARTICLE 104. The President of the Republic is the Head of the State. In this capacity he shall represent the Republic of Turkey and the unity of the Turkish Nation; he shall ensure the implementation of the Constitution, and the regular and harmonious functioning of the organs of State. To this end, the duties he shall perform, and the powers he shall exercise, in accordance with the conditions stipulated in the relevant articles of the Constitution are as follows: a) Those relating to legislation: ⇒ To deliver, if he deems it necessary, the opening address of the Turkish Grand National Assembly on the first day of the legislative year, ⇒ To summon the Turkish Grand National Assembly to meet, when necessary, ⇒ To promulgate laws, ⇒ To return laws to the Turkish Grand National Assembly to be reconsidered, ⇒ To submit to referendum, if he deems it necessary, legislation regarding the amendment of the Constitution, ⇒ To appeal to the Constitutional Court for the annulment in part or entirety of certain provisions of laws, decrees having force of law, and the Rules of Procedures of the Turkish Grand National Assembly on the grounds that they are unconstitutional in form or in content, To call new elections for the Turkish Grand National Assembly. b) Those relating to the executive functions: ⇒ To appoint the Prime Minister and to accept his resignation, ⇒ To appoint and dismiss ministers on the proposal of the Prime Minister, ⇒ To preside over the Council of Ministers or to call the Council of Ministers to meet under his chairmanship whenever he deems it necessary, ⇒ To accredit representatives of the Turkish State to foreign states and to receive the representatives of foreign states to the Republic of Turkey, ⇒ To ratify and promulgate international treaties, ⇒ To represent the Office of the Commander-in-Chief of the Turkish Armed Forces on behalf of the Turkish Grand National Assembly, ⇒ To appoint the Chief of the General Staff, ⇒ To call the National Security Council to meet, 27 ⇒ To preside over the National Security Council, ⇒ To proclaim martial law or state of emergency, and to issue decrees having force of law, in accordance with the decisions of the Council of Ministers under his chairmanship, ⇒ To sign decrees, ⇒ To remit, on grounds of chronic illness, disability, or old age, all or part of the sentences imposed on certain individuals, ⇒ To appoint the members and the chairman of the State Supervisory Council, ⇒ To instruct the State Supervisory Council to carry out enquiries, investigations, and inspections, ⇒ To appoint the members of the Higher Education Council, ⇒ To appoint rectors of universities. c) Those relating to the judiciary: ⇒ To appoint the members of the Constitutional Court, one-fourth of the members of the Council of State, the Chief Public Prosecutor and the Deputy Chief Public Prosecutor of the High Court of Appeals, the members of the Military High Court of Appeals, the members of the Supreme Military Administrative Court, and the members of the Supreme Council of Judges and Public Prosecutors. ⇒ The President of the Republic shall also exercise powers of election and appointment, and perform the other duties conferred on him by the Constitution and laws. Gegenüber der Großen Nationalversammlung herrscht zugunsten des Präsidenten ein Übergewicht an Macht. Das zeigt sich nicht nur durch die in der Verfassung vorgeschriebenen Agenden (Artikel 104), sondern er verfügt über zusätzliche Institutionen, welche zum einen Druck auf die große Nationalversammlung und zum anderen auf die Regierung ausüben können. Dazu gehört: Eine Staatsaufsichtbehörde „State Supervisory Council“ (Artikel 108), der im Zuge der Nationalen Sicherheit etablierte „Office of Commander in Chief of General Staff“ – ARTICLE 117. The Office of Commander-in-Chief is inseparable from the spiritual existence of the Turkish Grand National Assembly and is represented by the President of the Republic. The Council of Ministers shall be responsible to the Turkish Grand National Assembly for national security and for the preparation of the Armed Forces for the defence of the country. The Chief of the General Staff is the commander of the Armed Forces, and, in time of war exercises the duties of Commander-in-Chief on behalf of the President of the Republic. The Chief of the General Staff shall be appointed by the President of the Republic on the proposal of the Council of Ministers; his duties and powers shall be regulated by law. The Chief of the General Staff shall be responsible to the Prime Minister in the exercise of his duties and powers. The functional relations and the scope of jurisdiction of the Ministry of National Defence with regard to the Chief of the General Staff and the Commanders of the Armed Forces shall be regulated by law – und der „Nationale Sicherheitsrat“ (National Security Council): ARTICLE 118. The National Security Council shall be composed of the Prime Minister, the Chief of the General Staff, the Ministers of National Defence, Internal Affairs, and Foreign Affairs, the Commanders of the Army, Navy, and the Air Force, and the General Commander of the Gendarmerie, under the chairmanship of the President of the Republic. 28 Depending on the particulars of the agenda, Ministers and other persons concerned may be invited to meetings of the Council and their views may be heard. The National Security Council shall submit to the Council of Ministers its views on taking decisions and ensuring necessary coordination with regard to the formulation, establishment, and implementation of the national security policy of the State. The Council of Ministers shall give priority consideration to the decisions of the National Security Council concerning the measures that it deems necessary for the preservation of the existence and independence of the State, the integrity and indivisibility of the country, and the peace and security of society. The agenda of the National Security Council shall be drawn up by the President of the Republic taking into account the proposals of the Prime Minister and the Chief of the General Staff. In the absence of the President of the Republic, the National Security Council shall meet under the chairmanship of the Prime Minister. The organization and duties of the General Secretariat of the National Security Council shall be regulated by law. Spätestens hier zeigt sich der Einfluss des Militärs auf die Politik besonders. Die Große Nationalversammlung (TBMM) ist im landläufigen Sinne das Parlament der Türkei. Es handelt sich dabei um ein Einkammernparlament mit 550 (450) Abgeordneten, die für eine Dauer von fünf Jahren gewählt werden (Munzinger-Archiv 1997, 1). Ab dem Alter von 30 Jahren ist jeder Türke für ein Amt als Abgeordneter wählbar. Aber schon der Artikel 76 stellt eine Einschränkung des Handlungsspielraumes der Großen Nationalversammlung dar. ARTICLE 76. Every Turk over the age of 30 is eligible to be a deputy. Persons who have not completed their primary education, who have been deprived of legal capacity, who have failed to perform compulsory military service, who are banned from public service, who have been sentenced to a prison term totaling one year or more excluding involuntary offences, or to a heavy imprisonment; those who have been convicted for dishonorable offences such as embezzlement, corruption, bribery, theft, fraud, forgery, breach of trust, fraudulent bankruptcy; and persons convicted of smuggling, conspiracy in official bidding tender, or purchases, of offences related to the disclosure of State secrets, of involvement in ideological and anarchistic activities, and incitement and encouragement of such activities, shall not be elected deputies, even if they have been pardoned. Judges and prosecutors, members of the higher judicial organs, members of the teaching staff at institutions of higher education, members of the Higher Education Council, employees of public institutions and agencies who have the status of civil servants, other public employees not regarded as labourers on account of the duties they perform, and members of the Armed Forces shall not stand for election or be eligible to be a deputy unless they resign from office. 29 Der Ausschluss gemäß Absatz 2 des genannten Artikels ist zwar nicht so eng ausgelegt wie in Artikel 68, dennoch bedingt es im Zusammenhang mit dem Artikel 68 einen Ausschluss, da die Mitgliedschaft in einer Partei generell verboten ist. Im Absatz 1 des genannten Artikels wird ein ideologisches Bekenntnis als Gefährdung der Staatssicherheit definiert. Weitere Einschränkungen ergeben sich aus den Verboten, welche im Artikel 82 und 83 definiert werden. Sie stellen eine Schwächung der Position des einzelnen Abgeordneten und der politischen Parteien dar. Auf die Frage, über welche Macht das Parlament im politischen System verfügt, findet man die Antwort im Handlungsspielraum, welcher dem Parlament nach der Verfassung zugestanden wird. Dieser ist im Artikel 87 definiert. ARTICLE 87. The functions and powers of the Turkish Grand National Assembly comprise the enactment, amendment, and repeal of laws; the supervision of the Council of Ministers and the ministers; authorization of the Council of Ministers to issue governmental decrees having force of law on certain matters; debating and approval of the budget draft and the draft law of the final accounts; making decisions regarding printing of currency and declaration of war; ratifying international agreements, deciding on the proclamation of amnesties and pardons, excluding those who have been convicted for activities set out in Article 14 of the Constitution; confirming death sentences passed by the courts; and exercising the powers and executing the functions envisaged in the other articles of the Constitution. Obwohl die Armee im Prinzip von der Teilnahme am öffentlichen und damit politischen Leben ausgeschlossen ist, verfügt sie über ein Machtübergewicht gegenüber dem Parlament. Die Armee hat aufgrund ihrer Tradition einen hohen Stellenwert in der türkischen Gesellschaft. Dieser ergibt sich aus der Geschichte des osmanischen Reiches, in der die Staatskonzeption mit einer starken Armee untrennbar verbunden war. Überdies rekrutierten sich die politischen Eliten zu einem großen Teil aus der Armee (Steinbach 1989, 35). Wenn auch aufgrund von Mechanismen (Artikel 14, 68) in der Verfassung die unmittelbare politische Teilhabe ausgeschlossen ist, so ist die Armee als Korrektiv im Sinne des Kemalismus vorhanden und im „Nationalen Sicherheitsrat“ präsent. Das Militär hat immer dann eingegriffen, wenn es nach eigener Beurteilung die „Ordnung des Staates“ im Sinne der kemalistischen Grundsätze gefährdet sah. 30 Die Rolle der Armee in der türkischen Gesellschaft Historisch betrachtet genießt die Institution Armee im türkischen Staatsverständnis einen besonderen, wenn nicht gar übergeordneten Stellenwert. Sie ist seit jeher das tragende Element eines in der Tradition zentralistisch verwalteten türkischen Staates, die sich drei Prinzipen verpflichtet fühlt: 1. totale Identifikation mit dem Staat; 2. elitäres Bewusstsein, Andersartigkeit; 3. ultimative Hüterin der kemalistischen Grundlagen des Staates. Nach der Größe stellt die türkische Armee mit 820.000 Soldaten innerhalb der NATO die zweitgrößte Streitkraft nach den USA (Sen et al. 1998, 66f). Schon in der Politik des osmanischen Reiches war die Rolle des Militär wichtig. Die Staatskonzeption des Osmanischen Reiches, eines islamischen Imperiums war untrennbar mit der Existenz einer starken Armee verbunden. Die als Befreier gefeierten Offiziere des türkischen Befreiungskampfes nach dem Ersten Weltkrieg waren auch jene, welche die Republik Türkei gründeten. Sie übernahmen auch im Staat die führenden Positionen, obwohl ein Gesetz aus dem Jahre 1923 verlangt, dass, wenn Angehörige der Armee in die Politik gehen, diese ihre Funktion in der Armee zurücklegen. Dennoch besteht eine enge Bindung zwischen der Armee und dem politischen System in der Türkei. Obwohl einer institutionalisierten Kontrolle oder Einmischung durch die Armee vorgebaut worden ist, tritt das Militär als Akteur der Politik immer dann auf, wenn es nach eigener Einschätzung die Ordnung des Staates in Gefahr sieht. Sie beruft sich auf das innere Statut der Armee, „das türkische Territorium und die türkische Republik, wie in der Verfassung festgelegt, zu schützen und zu verteidigen“. Die türkische Armee sieht sich als Korrektiv im Sinne kemalistischer Grundsätze und damit ist sie ein Faktor türkischer Politik (Steinbach 1989, 35). Mit dem Putsch vom Mai 1960 wollten junge Offiziere die Modernisierung der gesellschaftlichen Entwicklung vorantreiben, sie wollten zum kemalistischen Reformismus von oben zurückkehren. Sie ließen eine neue Verfassung ausarbeiten, welche die Herrschaft einer einzelnen Partei in einer pluralistischen Gesellschaftsordnung erschweren sollte. Mit der Hinrichtung von Menderes und der Inhaftierung der führenden DP-Politiker sollte diese Partei von der politischen Bühne verbannt werden. Dennoch konnte sich, nach 31 se Partei von der politischen Bühne verbannt werden. Dennoch konnte sich, nach einer Übergangsphase unter Demirel, in der Gerechtigkeitspartei eine Nachfolgeorganisation der DP etablieren und erneut zur Mehrheitspartei avancieren. Oberst Alparslan Türkes verkündete in einer Radioansprache am 27. Mai 1960: „Die Streitkräfte hätten zur Beseitigung der abgrundtiefen Parteienzerstrittenheit eine überparteiliche Exekutive gebildet und würden so bald wie möglich Neuwahlen durchführen“. Zu diesem Zweck gründeten die Streitkräfte das „Komitee der Nationalen Einheit“ MBK (Milli Birlik Komitesi). In der neuen Verfassung erhielten die Streitkräfte ein Instrument der Macht, ein Beratungsgremium „Nationaler Sicherheitsrat“ MGK (Milli Güvenlik Kurulu). Dieser bestand aus den wichtigsten Kabinettsmitgliedern und der militärischen Führung. Damit wurde das Militär zu einem wichtigen Akteur in politischen Entscheidungsprozessen (Buhbe 1996, 77). 1971 provozierte der Generalstab mit einen Memorandum den Rücktritt von Premier Süleyman Demirel, ausgelöst durch gesellschaftlichen Stillstand und klassenkämpferische Unruhen in der Türkei. Das Memorandum umfasste folgende Punkte: 1. Die Regierung hätte bei der Aufgabe versagt, die Vorgaben Atatürks umzusetzen und die von der Verfassung verlangten Reformanstrengungen zu entfalten. 2. Die TBMM hätte für eine starke und vertrauenswürdige Regierung zu sorgen, die die Anarchie innerhalb demokratischer Spielregeln beendet und die fälligen Reformen einleitet. 3. Sollte es nicht schnellstens dazu kommen, wären die Streitkräfte zur Übernahme der Exekutive entschlossen (Onur 1999, 241). Das Memorandum selbst war ein Kompromiss zwischen drei Strömungen unter den Generälen: 1. Die Gegner eines liberalen demokratischen Systems; sie hielten nur eine dauerhafte Entwicklungsdiktatur für geeignet, um aus der Türkei ein unabhängiges, modernes und sozial ausgeglichenes Land zu machen. 2. Die Gegner der konservativen Parlamentsmehrheit, sie machten die AP- Politiker und die konservative Rechte für die zunehmenden sozialen Konflikte verantwortlich, weil sie statt Reformen nur „Law and Order“ im Kopf hätten. 3. Die Befürworter einer strikten Trennung in die militärische Aufgabe von Ordnung und Sicherheit und die politische Aufgabe der Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung. 32 Hier zeigte sich der starke Einfluss des MGK auf die folgende Regierung, in dem sie die Regierungsziele „Herstellung der Ruhe und Ordnung“ der Regierung aufzwang (Buhbe 1996, 95ff). In den Morgenstunden des 12. September 1980 übernahm das Militär zum dritten Mal die Macht im Staat. Das Ziel war einfacher und die Wirkung saß viel tiefer als bei den vorhergegangenen militärischen Interventionen. Ziel war die nachhaltige Herstellung von Ruhe und Ordnung durch Restauration eines strikten Einheitsstaates gemäß militärisch interpretierten Prinzipien des Kemalismus. Die Folge war ein umfassender Umbau des politischen Systems. Staat, Wirtschaft und Parteiensystem sollten klar geregelt werden. Die Generäle sahen es als Aufgabe an, die Demokratie vor den Politikern zu retten und das politische System entsprechend zu säubern. Dazu wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet, in der das Militär die Position des MGK ausbaute und festigte. Ein neues Wahlgesetz mit einer landesweiten 10-Prozent-Hürde sollte kleinen Splitterparteien den Zugang zum Parlament erschweren, und das Parteiengesetz sollte das Innenleben der Parteien genau definieren und regeln (Buhbe 1996, 113f). Seit dem Übergang zur Mehrparteien- Demokratie nach 1945 hat das Militär viermal entscheidend in die Politik eingegriffen: 1960, 1971, 1980 und das letzte Mal 1997. Das Militär hat aber immer nach einer relativ kurzen Übergangsfrist die Macht ohne Druck von außen wieder an die jeweils neuen (alten) politischen Eliten übergeben. Das unterscheidet es von anderen Militärs, die in der Folge eines Putsches die Macht nicht freiwillig wieder abgaben. Dieses Phänomen mag auf die historische Rolle und die Tradition der Armee in der türkischen Gesellschaft zurückzuführen sein. Zwar erzwingt ein Gesetz aus den Jahre 1923 eine klare Trennung von Militär und Politik, dennoch gehen auch nach 1945 etwa 20 Prozent der Parlamentarier aus der Armee hervor (Steinbach 1989, 35f). Das Militär griff immer dann ein, wenn es nach eigenen Erwägungen die Ordnung des Staates gefährdet sah. Sie sieht ihre Auftrag laut der Verfassung im Schutz des türkischen Territoriums, der Republik. Zum Zweck des Schutzes der Republik und der Verfassung wurde das „Komitee der Nationalen Einheit“ (MBK) durch das Militär gegründet. Die MBK stellt eine überparteiliche Kontrollinstanz dar. Eine weitere Kontrollinstanz ist der in der Verfassung von 1960 verankerte „Nationale Sicherheitsrat“ unter dem Vorsitz des Präsidenten der Republik. Der Nationale Sicherheitsrat hat gegenüber dem Kabinett überall dort eine beratende Funktion, wo die nationale Sicherheit berührt wird (Buhbe 1996, 81ff). 33 Obwohl das Militär einen starken Einfluss in politische Entscheidungen hat und viermal die legitimierte Regierung der Türkei durch Gewalt ausgeschaltet hat, ist die Türkei nicht mit lateinamerikanischen oder afrikanischen Militärdiktaturen vergleichbar. Die türkische Nation betrachtet die Armee als Führerin einer Bewegung zur Erreichung erhabener „Nationaler Ziele“, als Hüterin ihrer Ideale. Die Armee sieht ihre Aufgabe als Nachlassverwalter des Erbes Kemal Atatürks in der türkischen Gesellschaft. Zafer Mese, Mitarbeiter des deutsch-türkischen Forums Düsseldorf, definierte in einem Referat zum Thema „Militärdemokratie: Die Rolle der Armee in der türkischen Republik“, vor der Hans Seidl Stiftung im September 199821 die türkische Armee nach einem von Eric Nordlinger, Christopher Clapham und Georg Philipp entwickelten Modell, das nach Legitimationsgrundlage, Grad der Penetration, Länge der Herrschaft und Kontrolle der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen insgesamt drei Regimetypen unterscheidet: Veto-Regime. Die Armee übt Vetomacht über Regierungsentscheidungen aus, ohne eine Legislativfunktion zu übernehmen. Veto-Regime sind in der Regel konservativ und um die Aufrechterhaltung des Status quo bemüht. Wächter-Regime. Das Wächter-Regime zeichnet sich durch einen höheren Grad an Penetration und Kontrolle als das Veto-Regime aus. Es übernimmt die politische Macht in der Regel für zwei bis vier Jahre und gibt diese nach Schaffung konstitutioneller Voraussetzungen wieder ab. Herrscher-Regime. Das Militär strebt eine größere Kontrolle für einen längeren Zeitraum als bei den vorhergegangenen Modellen an. Dabei wird eine radikale Erneuerung bezweckt und zu diesem Zweck ein starkes autoritäres Regime unterhalten. Das Militär nimmt in der türkischen Gesellschaft eine dominante Rolle ein. In seiner Position übt es die Kontrolle über das gesamte politische System aus und ist der Kontrolle durch die Gesellschaft entzogen. Die Antwort auf die Frage nach der Legitimation für die Rolle der Armee als Teil des politisch-administrativen Systems in der Gesellschaft ist allein im Kemalismus zu finden (Riemer 1999, 523). Die Armee ist zwar der Garant für poli- 21 Expertentagung Dr. Hans-Seidl Stiftung Zum Thema „Türkei zwischen Europa und Islam“ von 28. – 30. Sept. 1998. Veranstalter Deutsch-türkisches Forum Düsseldorf. 34 tische Stabilität in der Türkei, aber auch Hemmnis für die Entwicklung einer breiten zivilen demokratischen Gesellschaft. Die vergangenen Jahre und die letzten Ereignisse im Zusammenhang mit der Festnahme des PKK Führer Özalan und den folgenden Parlamentswahlen zeigt, dass die Gesellschaft zwischen Nationalismus im Sinne des türkischen Nationalismus und islamischer Zuwendung als Problemlösungsstrategie pendelt. In dieser Bandbreite bewegt sich die Türkei, was wiederum den Umgang der EU mit der Türkei nicht gerade erleichtert. Hier liegt ein Unsicherheitsfaktor, der für die EU sehr wohl eine Bedrohung sein könnte, denn die westliche Orientierung, der Wille zur Demokratisierung und zur Anpassung an den Westen liegt zum größten Teil in den Händen der Armee und nicht in der Gesellschaft. Demokratiedefizite und eine andere Sicht im Bezug auf Menschenrechte prägen die türkische Gesellschaft und ihre innenpolitischen Handlungseinheiten. 35 Der Wandel in der türkischen Außenpolitik, oder: die Türkei will nicht im Hinterhof der EU warten Während des Kalten Krieges waren die Möglichkeiten der Türkei, sich als Führungsnation Geltung zu verschaffen, eng begrenzt. Die Türkei entwickelte sich in dieser Zeit zu einem braven Gefolgsmann des Westens. Das änderte sich schlagartig mit dem Zusammenbruch der UdSSR. Ihrer strategischen Position bewusst, erkannte die Türkei die Chance, vor allem in der Schwarzmeerregion, dem Kaukasus und Zentralasien eine aktive Außenpolitik zu betreiben. Die Intention war darauf ausgerichtet, die abnehmende Bedeutung der Türkei für die USA und die EU nach dem Kalten Krieg auszugleichen. Die Türkei als „lead nation“ zwischen Adria und China war das Ziel türkischer Außenpolitik (Sen et al. 1998, 87f). Die geopolitische Umgebung der Türkei veränderte sich so, dass sie ihren Einfluss nach allen Himmelsrichtungen geltend machen konnte: nach dem Nordwesten in Richtung Balkan, nach Norden über das Schwarze Meer in Richtung Ukraine und dem neuen Russland, nach Nordosten in Richtung Kaukasus, nach Osten in Richtung Zentralasien und nach dem Südosten zu den Staaten des Nahen Ostens (Fuller 1993, 37). Es war daher zu erwarten, dass die Türkei, die Gelegenheit nützend, aus dem Schatten des Westens herausbricht, eine eigenständige Außenpolitik versucht und so die Beziehungen zu seinen neuen Nachbarn neu ordnet. Drei Faktoren prägen diese Entwicklung: ⇒ Das Ende des Kalten Krieges. Die Türkei sah sich gezwungen, mehr aus dem Schatten der USA herauszutreten und ihre außenpolitischen Ziele selbst zu definieren. ⇒ Die abweisende Haltung der EU gegenüber der Türkei in Bezug auf die Integration. Die Türkei musste ihre Außenpolitik neu ausrichten und Alternativen für den Fall einer Nichtintegration suchen. ⇒ Die innenpolitischen Veränderungen der letzten 10 Jahre in der Türkei selbst. Die gegenwärtige Situation lässt sich anhand der nationalen und internationalen Dimension sowie anhand der von innen nach außen und der von außen nach innen wirkenden Faktoren darstellen. Die Position der Türkei nach 1990: ihre geopolitische Rolle Das Ende des Kalten Krieges führte auch in der Türkei zu einer neuen Beurteilung ihrer Außenpolitik. An der Nordgrenze der Türkei entstanden neue Nationalstaaten (Georgien, 36 Armenien, Aserbaidschan), im Osten und Süden der Türkei entwickelte sich eine gefährliche Mischung aus fundamentalen und autoritären Staaten (Iran, Saudi Arabien) sowie Militärdiktaturen (Irak) und im Westen befindet sich Griechenland, das sich gegen eine Aufnahme der Türkei in die EU ausspricht. Gerade die Hinhaltetaktik der EU gegenüber der Türkei zwingt diese, nach neuen Lösungen zu suchen. Der Botschafter Morton Abramowitz stellt im Vorwort zu „Turkey´s New Geopolitics“ von Fuller und Lesser die Frage, welche Rolle die Türkei in Bezug auf die politischen und ökonomischen Veränderungen einnimmt: Wird die Türkei regionale Führungsmacht außerhalb Europas oder sich stärker in den Westen integrieren? Er führt aus, dass sich die Türkei als islamischer Staat für viele moslemische Gemeinden, vor allem auf dem Balkan, aus historischer Tradition verantwortlich fühlt. Der Botschafter skizziert die türkische Politik der Zukunft wie folgt: ⇒ Die Außenpolitik wird in Zukunft den Räumen Zentralasien, Balkan und Naher Osten mehr Bedeutung beimessen. ⇒ Die Verstärkung der amerikanisch-türkischen Beziehungen werden verstärkt, wenn die Türkei von Europa ausgeschlossen wird. ⇒ Die Türkei muss der Herausforderung des kurdischen Nationalismus begegnen. ⇒ Die Türkei muss der allgemeinen Meinung entgegentreten, dass sie sich in einen islamisch fundamentalen Staat verwandeln werde. ⇒ Die Optionen, welche sich der Türkei in der gegenwärtigen Situation anbieten, reichen von der Integration in die EU bis zur „regionalen Großmacht“ in mittleren Osten vom Balkan bis nach China (Henze 1993, 2f). ⇒ Die Türkei als „regionale Großmacht“, die Frage der „lead nation“ Die Frage der „regionalen Großmacht“ ist eine Frage der Machtordnung in Bezug auf die Türkei und ihr Umfeld. Die Frage „lead nation“ ist eine Frage der Machtordnung innerhalb der EU und der NATO. Das bedeutet, dass bei einer „Aufnahme“ als auch bei einer „Nicht-Aufnahme“ der Türkei als Vollmitglied in die EU die Karten in Bezug auf die Machtordnung neu gemischt werden müssen. Die internationalen Beziehungen der Türkei ruhten seit dem Ende des zweiten Weltkrieges auf drei Säulen: 1. auf der nationalen Sicherheit, garantiert durch die NATO; 2. auf der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit dem Westen im Rahmen der OECD und EG/EU (Zollunion) und 37 3. auf dem Besterben nach endgültiger Integration des Landes in die westliche Zivilisation (Brill 1998, 113f). Im Vertrauen auf die westliche Orientierung und die westlichen Partner schien es für die Türkei nicht erforderlich, ein zukunftsorientiertes außenpolitisches Konzept zu entwickeln. Die Türkei wurde innerhalb des Bündnisses als Einflusssphäre der USA angesehen. Der Grund dafür lag im stärkeren Engagement der USA als militärische Supermacht im Vergleich zu den europäischen Partnern (Yilmaz 1995, 38). Mit dem Zerfall der UdSSR trat für die Türkei, wie auch für die westlichen Staaten, eine Situation ein, mit der sie nicht gerechnet hatten. Im Zuge des Verschwindens des gemeinsamen Feindes UdSSR rechnete man mit dem Abbau der auf Sicherheitsinteressen aufgebauten Beziehungen mit dem Westen. Die Türkei fürchtete auch, aus dem Integrationsprozess gedrängt zu werden – eine Befürchtung, die sich zwischenzeitlich ja auch erhärtet hat. Die Frage nach der strategischen Bedeutung der Türkei fasst Yilmaz Bari (1995) in drei Punkten zusammen: 1. Sowohl während des Golfkrieges als auch danach kooperierte die Türkei sehr eng mit den westlichen Alliierten. Sie stellte unter Beweis, wie wichtig ihre strategische Position bei den sich ausbreitenden Konflikten war. Eine mit dem Westen verbundene Türkei konnte offenbar sowohl zur Zuspitzung als auch zur Beilegung von Konflikten und Auseinandersetzungen in der Region wesentlich beitragen. 2. Unter der Führung der Türkei sollten in Zusammenarbeit mit den USA und mit Westeuropa die Verhältnisse in Transkaukasien und Zentralasien neu gestaltet werden. Nach einem „türkischen Modell“ sollten die „Türkrepubliken“ politisch und wirtschaftlich in den Westen eingegliedert werden. Hauptziele eines solchen Modells sind die Übertragung des Säkularismus auf die islamische Gesellschaft, Schaffung pluralistisch-demokratischer Systeme nach westlichem Muster und die Gestaltung der freien Markwirtschaft. 3. Die Türkei sollte als Stabilisierungsfaktor oder Pufferzone den Vormarsch des islamischen Fundamentalismus in der Region stoppen. Es scheint sich dabei um ein Wunschdenken zu handeln, denn aus heutiger Sicht ist die Rolle der Türkei im Konzert der internationalen Beziehungen bzw. in der Weltordnung noch nicht endgültig definiert. Dieser „Schwebezustand“ resultiert zum einen aus der ablehnenden Haltung der EU in der Frage der Integration und zum anderen aus dem Wunsch der USA, die Türkei als Mitglied der EU in Europa zu integrieren. Während der 90er Jahre hat sich die politische Landkarte Eurasiens radikal verändert. Zum einen war ein Zerfall, als auch ein Aufstieg von Nationalstaaten zu beobachten. So zerbra38 chen die Vielvölkerstaaten UdSSR, Tschechoslowakei und Jugoslawien, während zu den Aufsteigern Deutschland und die Türkei zählen. Die geostrategische Position der Türkei änderte sich von einer Position an der Peripherie der NATO zu der einer eurasischen Regionalmacht (Brill 1998, 113ff). Diese geographische Lage und die politischen Veränderungen der letzten Jahre sowie das Interesse der USA und der EU geben der Türkei die Chance, ihre Position im internationalen Kräftefeld neu zu bestimmen. Dabei liegt die Türkei aus heutiger Sicht an der Schnittstelle dreier geopolitischer Großräume, welcher jeder für sich von einer eigenen politischen, ökonomischen und kulturellen Dynamik geprägt ist. Es sind das: Europa, der östliche Mittelmeerraum und der Nahe Osten sowie Zentralasien. Die Position der Türkei im internationalen Konzert der Staaten liegt im Spannungsfeld zwischen USA ⇔ Europa ⇔ Russland, und es geht um den Einfluss in Zentralasien, im östlichen Mittelmeer und im Nahen Osten. Die außenpolitischen Handlungsalternativen der Türkei Mit den Aussagen beim EU-Gipfel von Luxemburg im Jahre 1997 war die Türkei gezwungen, sich außenpolitisch neu zu orientieren. Ismail Cem präzisierte die zukünftige Außenpolitik der Türkei in einem Interview am 19. Juli 1997 in den „Turkish Daily News“, wie folgt: ⇒ Die Bemühungen um die Verbesserung der Menschenrechte in der Türkei werden fortgesetzt; ⇒ Die Zusammenarbeit mit anderen Staaten im Kampf gegen den Terrorismus wird gesucht; ⇒ Die Türkei ist bestrebt, sich neue wirtschaftliche Räume zu erschließen; ⇒ Die Türkei strebt nach wie vor die volle Integration in die EU an; ⇒ Die Türkei arbeitet an der Verbesserung und Verfestigung der Beziehungen zu den USA; ⇒ Die Türkei betont ihre Rolle als gleichwertiger Partner auf der Bühne der Weltpolitik; ⇒ Die Türkei hebt hervor, dass gute Beziehungen zu den islamischen Staaten entwickelt werden sollen; ⇒ Das Verhältnis zu den Nachbarstaaten sollen auf der Basis gut nachbarschaftlicher Beziehungen basieren; ⇒ Die Türkei strebt die Entwicklung guter Beziehungen zu Russland, vor allem in ökonomischen Fragen, an; 39 ⇒ Die Türkei forciert eine Verbesserung der Beziehungen zu Griechenland; ⇒ Die Türkei betont, dass sie in den Beziehungen zum Nahen Osten eine entscheidendere Rolle einnehmen wird; ⇒ Die Türkei wird der Kooperation mit den Balkanstaaten mehr Bedeutung beimessen; ⇒ Die Türkei wird der Stabilität am Kaukasus mehr Bedeutung beimessen; ⇒ Die Sicherheit Zyperns ist ein wichtiges Anliegen der Türkei. Aus diesen zukünftigen außenpolitischen Zielen lassen sich grob drei Hauptanliegen herausfiltern, demzufolge geht es: 1. um die Integration in die EU, 2. um den Ausbau/Festigung der Türkei als „regional leader“ im östlichen Mittelmeer und letztendlich, 3. um die Stärkung der Position der Türkei als „international player“. Das bedeutet, dass neben dem Ziel der Integration in die EU andere Optionen zu erarbeiten sind. Diese Optionen sind geprägt von der Prämisse, dass die Türkei zur EU in Konkurrenz treten wird, wenn das Ziel der Integration in die EU nicht erreicht werden soll. Die Außenpolitik der Türkei hat daher unterschiedliche Stoßrichtungen: ⇒ Nach wie vor strebt die Türkei die Integration in die EU an, aber nicht mit allen Mitteln und nicht unter allen Bedingungen. ⇒ Mit Hilfe der USA forciert die Türkei den Status einer politischen wie ökonomischen Führungsnation im östlichen Mittelmeerraum an. ⇒ Die Aktivitäten der Türkei zielen auf eine gleichberechtigte Rolle in der Weltpolitik, und zwar durch Stärkung der türkischen Identität und im Bewusstsein seiner geopolitischen bzw. geostrategischen Position (Aaron 1962, 93f). Die außenpolitischen Handlungseinheiten sind nicht auf entweder „Europa“ oder „Asien“ ausgerichtet, sondern darauf, unter Ausnutzung ihrer strategischen Position Nutzen zu ziehen und ihre Bedeutung als Akteur zu steigern: Turkey become a globale state by the 21st century“ (Turkish Daily News v. 19.7.1997). Um diese Ziele zu erreichen, betont der türkische Außenminister Ismail Cem die Identität der Türkei auf der Basis der historischen Vergangenheit und eigenständigen kulturellen Entwicklung unter Berücksichtigung kemalistischer Prinzipien sowie das Ziel, einen modernen Staat nach westlichem Vorbild und als Teil Europas zu etablieren – Turkey is not an ordinary country, made by coincidence (in: Turkish Daily News v. 19.7.1997). Als solches hat die Türkei einen Anspruch, auch 40 wie ein Teil Europas behandelt zu werden. Daraus resultiert die Betonung der strategischen Lage der Türkei in ihrer historischen und kulturellen Vielfalt als Brücke zwischen Nord und Süd sowie West und Ost und die Betonung des Modellcharakters der Türkei als demokratischer Staat mit islamischer Tradition in der Verbreitung der Demokratie auf andere islamische Staaten, wobei die Türkei dem Konzept des islamischen Gottesstaates eine moderne und westliche Alternative entgegensetzt (Brzezinski 1997, 198). Als politische Handlungseinheiten betont der türkische Außenminister Ismail Cem: ⇒ die klassische Diplomatie; sie beinhaltet die verstärkte Einbindung der Türkei in die Weltpolitik mit einer aktiven Außenpolitik; ⇒ die ökonomische Diplomatie; sie beinhaltet die Förderung der türkischen Wirtschaft mit dem Ziel, diese an den Standard der westlichen Industriestaaten heranzuführen und eine gute Position im Welthandel zu erreichen; ⇒ die kulturelle Diplomatie; hier geht es um die Stärkung der türkischen Identität durch Förderung der türkischen Kultur. Betrachtet man das Konzept, welches der türkische Außenminister in seinem Interview darlegt, so erkennt man folgende Option, wenn eine Integration in die EU nicht stattfindet. Dann soll die Türkei aus dem Schatten der westlichen Industriestaaten herausgeführt und die Position der Türkei als Akteur im internationalen Gefüge gestärkt werden. Die türkischen Ambitionen auf dem Weg zum „regional und global player“ Die relative Modernität der türkischen Gesellschaft, die Sprachverwandtschaft und die wirtschaftliche Kompetenz sind die Faktoren, welche die Türkei in Anspruch nahm, nationale Führungsmacht in der Region zu sein. Die Türkei erkannte die Chance der eigenständigen regionalen Einflussnahme. Nationales Ziel war die wirtschaftliche und politische Vereinigung der Türk-Republiken, in Anbetracht der begrenzten politischen und militärischen Kompetenz konnten die Türken allerdings ohne Unterstützung keine beherrschende Position in der Region einnehmen. So sah sich die Türkei zum selbsternannten Führer einer losen türksprachigen Staatengemeinschaft deren Bedeutung im Lichte der Ereignisse vom 11. Sept. 2001 neu definiert werden müssen. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit im Zugang zu Zentralasien und den dortigen Energieressourcen, die bis zum Zusammenbruch der UdSSR von dieser allein beansprucht wurden. Der Wettlauf um den Zugang zu Zentralasien dokumentiert sich in der Frage der Pipelines. So soll die zentrale Ausrichtung der Energiekorridore der Vergangenheit aufgeweicht wer41 den und damit der Einfluss – wie auch die Kontrolle des Rohstofftransportes – durch Russland zurückgedrängt werden. Durch Duldung der USA hat sich die Türkei als quasi „ethnische Schutzmacht“ der Türkvölker Zentralasiens etablieren können. Auf dieser strategischen Zielsetzung aufbauend hat die Türkei ihre politische, wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit mit fast allen Staaten der Region – mit Ausnahme Armeniens – intensiviert. Damit hat die Türkei ihre Position als regionale Führungsnation gefestigt (Hermann 1999, 47). Allerdings konnte die Türkei ihre Rolle als unumstrittene Führungsnation bis heute nur bedingt verwirklichen, und zwar trotz erfolgreicher Investitionstätigkeit türkischer Firmen in den Zielländern. Dieser Umstand liegt darin, dass die Zielländer wissen, dass die Türkei weder in ökonomischer noch in sicherheitspolitischer Hinsicht über die notwendigen Ressourcen verfügt, um sie vor Russland zu schützen. Diese bemühen sich daher um vielfältige Beziehungen sowohl mit den westlichen Staaten als auch mit Russland, der Volksrepublik China, Saudi Arabien, Pakistan und dem Iran. Dennoch ist das Ziel, eine „gemeinsame Verteidigungsorganisation“ zu etablieren, nicht vom Tisch. Mehmet Gölhan sprach sich 1995 für den Aufbau einer gemeinsamen Verteidigungsorganisation mit den „neuen Staaten, mit denen wir unsere Beziehungen und Zusammenarbeit vertiefen“, aus (in: Dean 1996, 44). In der Erkenntnis der eigenen politischen und militärischen Kompetenz sowie in der Umsetzung der außenpolitischen Ziele der Türkei befinden sich die türkischen Streitkräfte (TAF) seit Mitte der 90er Jahre in einer Modernisierungsphase mit dem Ziel, Mobilität und Schlagkraft zu erhöhen (Dean 1996, 45). Die Konsequenz einer Ausgrenzung der Türkei durch die EU führt zwangsläufig dazu, dass sich die Türkei als regionale Führungsmacht im östlichen Mittelmeer, wenn auch mit Unterstützung der USA, etablieren muss und zur EU in ökonomischer Hinsicht in Konkurrenz tritt. Das bedingt allein schon seine strategische Position. In der Frage, den Zugang zu den Ressourcen Zentralasiens zu erlangen, ist die EU auf die Türkei angewiesen. In einer konkurrierenden Beziehung verfügt aber die EU auch nicht über die notwendigen politischen und ökonomischen Ressourcen, um gegenüber der Türkei Macht auszuüben (MachtRaum-Zeit-Kalkül). Bis jetzt gibt es an sich kein großes Problem für das Europa der EU, außer der ökonomischen Konkurrenz, solange die Türkei im engen Kontext mit den USA ein westlicher Verbündeter in Fragen der Sicherheit im Sinne der Interessen der USA bleibt. Das Problem 42 liegt vielmehr im Verlust der Einflussnahme der EU und in der Möglichkeit, dass die Türkei sich entweder aus der westlichen Kooperation mit der EU und den USA verabschiedet und sich verselbständigt, oder aber, sollte die europäische Idee eine Verteidigungsstrategie unter dem Ausschluss bzw. Zurückdrängung des Einflusses der USA und NATO entwickeln, die USA – unter Ausnützung der strategischen Lage der Türkei – ihre Interessen, ohne die EU zu berücksichtigen, umsetzen. In diesem Falle ist die Türkei nicht nur ein Riegel gegenüber Russland und der Ukraine auf dem Weg nach Süden, sondern vor allem auch einer gegenüber Europa auf dem Weg in den Nahen Osten und nach Zentralasien sowie teilweise zur europäischen Gegenküste im Mittelmeer. Primäres Ziel der Außenpolitik ist zwar die Vollmitgliedschaft der EU, dennoch bieten sich für die Türkei folgende Optionen an: ⇒ Die Türkei könnte ein Junktim anstreben, indem sie ihre Zustimmung zur Osterweiterung der NATO von der EU-Vollmitgliedschaft abhängig macht. Diese Forderung kommt einer Drohung gleich. ⇒ Sie könnte mit der Unterstützung der USA versuchen die Vollmitgliedschaft in der EU zu erreichen. ⇒ Sie könnte ihre Aktivitäten im Schwarzmeerkooperationsrat, in der islamischen Konferenz, in der D–8 Gruppe, in der islamischen Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit ECO und in der islamischen Konferenz als Alternative bzw. Ersatzlösung für eine Nichtmitgliedschaft in der EU verstärken (Brill 1998, 117ff). ⇒ Sie könnte in der türkischen Außen- und Sicherheitspolitik auf dem Balkan, dem Raum des Schwarzen Meeres und in Zentralasien stärke Einflusssphären aufzubauen bestrebt sein. Die dominante Position und die Aktivitäten der Türkei in der „South Eastern Europe Brigade“ (SEEBRIG) weisen sehr eindeutig in diese Richtung. Daraus ergeben sich als Interessengebiete der Kaukasus und die zentralasiatischen Türkrepubliken. Die auf Initiative der Türkei jährlich stattfindenden Gipfeltreffen der Staatspräsidenten der Türkrepubliken sollen nicht nur die Beziehungen zwischen diesen Staaten intensivieren, sondern auch gegenüber den USA und Russland dokumentieren, dass die Türkei einen neuen regionalen Machtfaktor darstellt. 43 Die Idee zum Aufbau einer Wirtschaftskooperation der „Black Sea Economic Cooperation“22 (BSEC) wurde vom türkischen Diplomaten Volkan Vural entwickelt und vom damaligen Staatspräsidenten Turgut Özal aufgegriffen. Sie wurde am 25. Juli 1992 konkret, als die Staatspräsidenten aller Schwarzmeeranrainerstaaten und weitere Staaten das Gründungsdokument unterzeichneten. Die Schwarzmeerkooperation umfasst neben der Türkei Albanien, Griechenland, Bulgarien, Moldawien, Rumänien, Russland, Georgien, die Ukraine, Armenien und Aserbaidschan als Mitgliedsstaaten. Ziel ist es, die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedsstaaten zu stärken. Die Mitglieder sollen in die Weltwirtschaft integriert und ihre Entwicklung und Wohlfahrtssteigerung beschleunigt werden (Schneider/Palmisano 1994, 71). Die „Economic Cooperation Organization“ (ECO) wurde bereits 1985 von der Türkei, dem Iran und Pakistan gegründet. 1992 traten Afghanistan, Tadschikistan und die fünf Türkrepubliken diesem Kooperationsverbund bei. Ziel dieser Organisation, welche fast deckungsgleich mit dem BSEC ist, ist es, die technische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten zu erweitern. Die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU sind hingegen davon gekennzeichnet, dass der Türkei von Seiten der EU keinerlei Beitrittsperspektive angeboten wird. Andrerseits versucht die EU, die Türkei an der Leine zu halten, indem sie ihre ablehnende Haltung von 1997 (Agenda 2000) 1999 relativiert und der Türkei den Status eines Beitrittskandidaten einräumt (Sen et al. 1998, 87ff). Den Grund für die ablehnende Haltung der EU gegenüber dem Beitrittswunsch der Türkei sehen die Türken nicht allein in den politischen und ökonomischen Überlegungen der EU, sondern viel mehr in den religiösen und kulturellen Vorbehalten gegenüber der Türkei (Sen et al. 1998, 105). Der Dialog im Zusammenhang mit der Integration der Türkei konzentrierte sich bisher jedoch auf andere Aspekte und erreichte mit der Aussage des Deutschen Außenministers Kinkel 1997 mit dem Zitat: Der Weg der Türkei nach Europa führt über Menschenrechte, die Kurdenfrage und die Lösung der Probleme mit Griechenland und Zypern (in: FAZ vom 28.10.1997, 6) seinen Höhepunkt. Die Türkei wurde zu einer Neuorientierung direkt aufgefordert, die Ministerpräsident Ecevit wie folgt formulierte: Selbst wenn die Türkei nicht Mitglied der EU wird, haben wir genug Kraft, auf eigenen 22 Schwarzmeer-Wirtschafts-Kooperation 44 Füßen zu stehen und unsere gute wirtschaftliche Entwicklung fortzusetzen (in: FAZ vom 28.10.1997, 6). Der türkische Außenminister formulierte die Absicht der Türkei für die nahe Zukunft schließlich noch deutlicher: To be a full member of the European Union (EU) is Turkey’s right, stemming from international agreements. We will make an effort from our side to obtain this right as soon as possible. We will closely follow the guidelines and carry out our responsibilities arising from agreements with the EU. We, as the Ministry of Foreign Affairs, are in a position to work very intensively for our membership in the EU, and we will continue our labors in that direction. But Turkey is not condemned to a long wait whose end and time frame are not clear. Without turning it into an obsession, we will continue our efforts for membership [Turkey was not included this week among the EU’s list of candidates for full membership] and will make sure that Turkey’s political and economic dynamics reach every part of the world23. Eine Änderung bzw. ein Einlenken von Seiten der EU ist erst ab Mitte 1999 zu erkennen. Die Ursache dürfte in der geopolitischen bzw. geostrategischen Position der Türkei, sprich: im Zugang nach Zentralasien zu suchen sein. Außerdem hat der Luxemburger Gipfel von 1997 dazu geführt, dass die Türkei zu einem neuen Selbstbewusstsein fand und das Diktat der EU nicht mehr hinnehmen will. Gerade im Fall des Zugangs zu Zentralasien stellt sich die Frage, inwieweit es sich um eine Interdependenz oder eine Dependenz handelt, in der die EU in die Abhängigkeit der Türkei geraten ist. Und in diesem Zusammenhang kann und sollte noch einmal auf folgenden Punkt hingewiesen werden: Die Planung und Umsetzung der Transeuropäischen Netzwerke (TEN) in den MOEL enden am Schwarzen Meer, der Ägäis und der Türkei und führen über Gebiete des ehemaligen Jugoslawien, Albaniens und Mazedoniens. Die Türkei verfügt in beiden Fällen, sowohl bei der Stabilisierung der Krise am Balkan als auch bei der Weiterführung der Transportschienen nach Zentralasien, über eine wichtige Position. Gerade diese Position zeigt die Abhängigkeit der EU von der Türkei. 23 In: http://www.mfa.gov.tr. 45 Orientalische Perspektiven Die orientalische Frage ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt von vier Kernthemen geprägt: 1. Wie beurteilt die EU die innenpolitischen Probleme der Türkei und welche Entwicklungen nimmt das politische System der Türkei und ihre Gesellschaft? Dabei geht es – aus der Sicht der EU – vor allem um die Akzeptanz und Umsetzung demokratischer Normen. 2. Welche Lösungsmöglichkeiten existieren für die Konflikte zwischen der Türkei und ihren Nachbarn, vor allem Griechenland und Zypern? Dabei steht der Konflikt in der Ägäis und Zypern im Vordergrund, aber auch das Verhältnis zu Armenien. 3. Welche Entwicklung nimmt die Beziehung zwischen der Türkei und der USA? Versuchen die USA mit ihren konkreten Interessen an einer EU-Integration der Türkei die EU unter Druck zu setzen? 4. Welche Optionen ergeben sich aus der Beziehung zwischen der Türkei, ihren Nachbarn und Israel für die Zukunft? Hier ergibt sich die Möglichkeit der Frage der Führungsnation unter der Schirmherrschaft der USA im östlichen Mittelmeerraum und im Nahen Osten (Yaphe 1999, Forum 155). Während erstere Fragen auf die EU bezogen zu betrachten sind, sind letztere sicherheitspolitisch und weltpolitisch bedeutend. Die internationale Dimension gliedert sich aufgrund ihrer Reichweite in eine europäische und eine globale Ebene. Die Beantwortung dieser Fragen mündet letztlich in mehrere Szenerien, die man in Bezug auf die EU als die „orientalische Perspektive“ zusammenfassen kann. Es stellt sich die Frage nach der Rolle der Türkei in der Welt. Die Salzburger Nachrichten berichten am 7.10.1999 unter dem Titel „Tür auf auch für die Türkei?“ über die laufende Diskussion zwischen dem europäischen Parlament und der EUKommission in Bezug auf die Aufnahme der Türkei in die EU. Dieser Dialog zeigt zum einen die Abhängigkeit der EU von der Türkei aufgrund der geostrategischen Lage der Türkei und gleichzeitig bzw. zum anderen die Sorge über die Folgen einer Integration. Der folgende Artikel aus den Salzburger Nachrichten veranschaulicht die Zerrissenheit der EU im Umgang mit dem Problemfall Türkei. Einerseits fühlt sich die EU überfordert und sieht eine Bedrohung ihrer ökonomischen Ziele, andererseits ist man auf der Suche nach einer Strategie, um die Türkei an Europa zu binden, vor allem in Bezug auf die Sicherheitspolitik und die Wohlstandssicherung in der EU. Die EU verlange seit Jahren immer wieder Schritte von der Türkei. „Was soll diese sich denken, wenn sie nun solche Schritte macht und wir das einfach ignorieren?“ so fragte 46 Swoboda. Sakellariou wies darauf hin, die EU müsse jetzt Farbe bekennen und könne sich nicht weiterhin hinter Griechenland verstecken, das bisher konstant eine stärkere Annäherung der Türkei an die EU blockierte. Verheugen betonte, die von der EU-Kommission befürwortete Zuerkennung eines Beitrittskandidaten-Status an die Türkei bedeute nicht, das Beitrittsverhandlungen mit diesem Land aufgenommen würden. Es bedeute nur, das geprüft werde, was in der Türkei an weiteren Fortschritten zur Verwirklichung der Menschen- und Minderheitenrecht oder zur Demokratie geschehen müsse, damit die Kopenhagener EU-Gipfelbeschlüsse zur Erweiterung erfüllt würden und darüber ein „präziser Dialog“ aufgenommen werde. Für die EU schlage jetzt „die Stunde der Wahrheit“. Eine klare und ehrliche Antwort an die Türkei sei nötig, sonst müsse die Verantwortung dafür übernommen werden, wenn die Türkische Republik nicht mehr den Weg in die „demokratische Familie“ suche. Verheugen kündigte an, die EU-Kommission werde in Kürze ihren „Fortschrittsbericht“ Türkei, zusammen mit den Berichten über den Stand der Beitrittsverhandlungen mit Polen, Ungarn, Tschechien, Slowenien, Estland und Lettland, vorlegen. Darin würden Fortschritte aufgeführt werden, die „vielversprechende Zeichen für die Zukunft“ abgäben. (SN, 7.10.1999, 7) Vor dem Hintergrund dieses Dialoges ergeben sich für die EU folgende Szenarien oder Handlungsalternativen, welche in Summe als orientalische Perspektive definierbar sind und berücksichtigt werden müssen: 1. Integration: Die Integration der Türkei als Vollmitglied der EU: Die EU integriert die Türkei und versucht selbst aktiv im Zuge der Integration auf die Türkei Einfluss zu nehmen. Die ökonomisch und politisch dominierte Debatte wird bei diesem Szenario betont. 2. Kooperation: Die Türkei als Mitglied der europäischen Sicherheitsarchitektur kooperiert mit der EU. Die Türkei wird nicht Mitglied in der EU, kooperiert aber in der Frage der europäischen Sicherheit weiterhin. Hier steht die politisch, militärisch und ökonomisch dominierte Debatte im Vordergrund. 3. Separation: Die Türkei wendet sich von der EU ab. Die Türkei will nicht mehr in die EU integriert werden und verweigert die Kooperation mit der EU als „regionale Großmacht“ im östlichen Mittelmeerraum. Auch hier stehen politische, ökonomische und militärische Aspekte im Vordergrund, allerdings unter anderen Vorzeichen als bei der Kooperationsdebatte. 4. Isolation: Die Türkei betont ihr Selbstverständnis als islamischer Gottesstaat: Die Türkei wird ein fundamentalistischer islamischer Staat. Hier geht es neben politi47 schen und militärischen vor allem auch um kulturelle Komponenten in der Diskussion. Ausgehend von diesen Optionen, die in sich noch Möglichkeiten offen lassen, versuche ich im Zuge eines Gedankenexperiments den einzelnen Szenarien detailliert nach zu gehen. Sie bilden die Basis von möglichen Sicherheitsarchitekturen für Europa in einem weiter gefassten Sicherheitsbegriff. Grundsätzlich gibt es zwei Szenarien, welche die vorhin angeführten umschließen. Die Türkei steht zur Europa entweder in einem Integrations- bzw. zumindest Kooperationsverhältnis oder die Türkei präsentiert sich als eigenständiger nationalstaatlicher Akteur in Konkurrenz zu Europa. Integration: die Türkei wird Vollmitglied der EU In diesem Szenario treffen vordergründig die kulturellen und politischen Gegensätze der Türkei und des westlichen Europa aufeinander. Dabei ist der mögliche Einfluss und die Mitgestaltungsmöglichkeit, welche die Türkei auf die Entscheidungsprozesse in der EU hat, zu untersuchen. Eine Integration der Türkei führt zwangsläufig zu einer Neugestaltung der Machtordnung innerhalb der EU. Nachdem man beim Luxemburger Gipfeltreffen 1997 die Türkei vor die Tür setzte, die Athener Zeitung berichtete von einem außenpolitischen Erfolg Griechenlands, musste auch die EU erkennen, dass diese Situation nicht so einfach zu lösen sei. Es scheint, dass der EU die Bedeutung der Türkei erst mit den ersten Schritten, sich von Europa abzuwenden, bewusst wurde. Denn schon 1998 begann in der EU das Werben um die Türkei. Die ökonomischen Zwänge der Zukunft, aber auch die Frage der Machtordnung in Europa dürften zur Erkenntnis geführt haben, dass ohne die Türkei Südosteuropa der EU entschwindet. ...Die Europäer müssten dann freilich die Verantwortung dafür tragen, wenn Ankara dem Betreiben einer Annäherung an die europäische Wertegemeinschaft den Rücken kehre“ – mit diesen Worten beschwor Günther Verheugen die Parlamentarier des EU Parlaments, ihren Widerstand gegen eine Integration der Türkei aufzugeben (in: Smonig 1999, Pressearchiv). So bemühte sich die EU, das angeschlagene Verhältnis zu Ankara zu reparieren und die Kommission beschloss 1998 – trotz der Abweisung der Türkei als Beitrittskandidat – eine intensive Zusammenarbeit mit der Türkei. Kooperiert werden soll bei der Telekommunikation, in Umwelt-, Energie- und Menschenrechtsfragen. Dennoch ist der Versuch zu hinterfragen, wenn man die Bilanz der Zollunion untersucht: 48 ⇒ Bisher hat von der Zusammenarbeit mit der Türkei vor allem die EU profitiert, die ihre Exporte in die Türkei steigern konnte; ⇒ Die Türkei hat für die Kooperation mit der EU den Preis in Form explodierender Handelsdefizite bezahlt und ⇒ Griechenland blockiert im Rat alle für die Türkei von der EU vorgesehenen Gelder durch sein Veto, welche die Auswirkungen der Importe auf die türkische Wirtschaft abfangen sollen (Kraus 1999, Pressearchiv). Aus dieser Position gab die Türkei das Warten im Vorhof der EU auf und machte sich langsam selbständig. Die einzige Möglichkeit, auf die Gestaltung des politischen Systems der Türkei Einfluss zu nehmen, besteht in der Integration der Türkei. Es war daher die Frage, wann es der EU gelingen wird, ihre Politik gegenüber der Türkei zu korrigieren. Den Anlass gab das Erdbeben in der Türkei. Im Zuge der Hilfsbereitschaft konnten die Mauern in den Köpfen abgetragen werden, und es bot sich für die EU die Möglichkeit, im Sinne einer Integrationspolitik zu handeln. Auswirkung auf die internationale Dimension Die bedeutendste Veränderung einer Aufnahme der Türkei in die EU zeigt sich, im Zusammenhang mit der Osterweiterung, geopolitisch in der Einkreisung Russlands und der Ukraine durch die EU. Es stellt sich die Frage: „Wie groß wird Europa?“ Die NATO- und EU Erweiterung sind in diesem Falle fast deckungsgleich und Europa bildet sicherheitspolitisch und ökonomisch eine geschlossenere Einheit. Eine wesentliche Veränderung der Machtordnung und der Militärordnung entsteht durch den Bedeutungszuwachs des Akteurs EU. Voraussetzung ist aber, dass Europa in außen- und sicherheitspolitischen Fragen als Nationalstaat agiert, was eine funktionierende GASP voraussetzt. Durch die Eingliederung der Türkei verfügt Europa über einen direkten Zugang zu Zentralasien und dem Nahen Osten, was zu einem direkten Interessenskonflikt mit Russland in Bezug auf Zentralasien führen kann. Die Machtordnung in Europa würde vom Auftreten weniger nationalstaatlicher Akteure gekennzeichnet sein. Ein erstarktes Europa, Russland, die Ukraine, China, Japan und die USA würden in Eurasien als Akteure in Erscheinung treten. Die EU würde in diesem Zusammenhang vor allem durch die israelisch-türkischen Beziehungen im Nahen - Osten an Kompetenz gewinnen (Dean 1999, 42ff). 49 Dieser Umstand zwingt aber auch die EU in Fragen der Nah-Ostpolitik zur Formulierung ihrer Ziele in diesem Raum, was sicherlich konfliktträchtig ist. Als wesentliche Kernfrage bleibt für die EU die Stabilisierung der Bundesrepublik Jugoslawien und der Krisengebiete am Balkan. In diesem Zusammenhang würde die Integration der Türkei der EU eine weitaus stärkere Konfliktlösungskompetenz, vor allem in den islamisch dominierten Gebieten, abverlangen. Auswirkung auf die nationale Dimension Die Veränderungen in Bezug auf die nationale Dimension umfassen ein weites Spektrum destabilisierender Risiken. Die wesentlichsten Risiken sind: Import von Konflikten; durch die Integration der Türkei werden die offenen Konflikte mit Griechenland und Zypern in die EU importiert. Dem widerspricht zwar, dass in der EU nationale Grenzen zunehmend in den Hintergrund treten, aber auf Zypern wird auf eine nationale Abgrenzung von Seiten der Türkei und der TRNC gedrängt. Destabilisierung; die Integration der Türkei bedingt die Niederlassungsfreiheit ihrer Bürger. Migrationbewegungen drücken auf den Arbeitsmarkt, was zu einer sozialen Destabilisierung und Gefährdung des Wohlstandgefüges Westeuropas führen könnte. Aber auch die Abwanderung von Produktionsstätten in die Türkei würde den selben Effekt erzielen. Eine weitere Determinante ist die kulturelle Auseinandersetzung, Islam versus Christentum, in den westeuropäischen Mitgliedsländern. Demokratiedefizit und politische Kultur; eine Integration der Türkei bedingt den Import der innenpolitischen Krisen ethnischer und religiöser Natur mangels fehlender demokratischer Prinzipien, vor allem in Bezug auf Minderheiten und Menschenrechte. Der Einfluss des Militärs auf die Politik kann zwar bis heute als Schutz demokratischer Prinzipien gesehen werden, ist aber dennoch zu hinterfragen, weil es sich dabei um kein demokratisch legitimiertes Kontrollorgan handelt. Daher ist die Rolle des Militärs in der türkischen Gesellschaft für die EU ein Problem. All diese Kriterien, welche die derzeitige türkische Gesellschaft prägen, sind für die EU Anlass, die Türkei aus der EU draußen zu halten. In der Agenda 2000 wurden die Aufnahmekriterien für die Türkei definiert und die EU erwartet sich von der Türkei die Erfüllung der Kriterien als Vorleistung für die Integration. Im „Regular Report From The 50 Commission on Turkey´s Progress Towards Accession 1999”, stellt die Kommission fest, dass bei den politischen Kriterien kaum Veränderungen zu beobachten waren, sieht man von den Parlamentswahlen ab. Die ökonomische Zwänge erfordern, dass die EU eine Lösung findet, welche beiden Interessen gerecht wird. Und in diesem Sinne beschloss die EU beim Gipfel von Helsinki am 12. Dezember 1999, der Türkei den Status eines „Beitrittskandidaten“ zuzuerkennen, dessen Absicht vorerst nur sein kann, die Türkei nicht ganz zu verlieren. Kooperation: Die Türkei wird nicht in die EU integriert Nicht in die EU integriert zu werden, das inkludiert aus der Sicht der Türkei zwei Szenarien. Es enthält jenes Szenarium, wonach die Türkei nicht in die EU integriert wird, aber als Mitglied der NATO und in dieser als „lead nation“ in Sicherheitsfragen mit Europa kooperiert; daneben existiert jenes Szenarium, wonach die Türkei als „regionale Großmacht“ im östlichen Mittelmeerraum seine geostrategische Lage ausnützend der EU den Rücken kehrt. In diesem Gedankenexperiment ist die Rolle der Türkei in der Weltordnung zu untersuchen. Die wesentliche Ausprägung gegenüber dem ersten Szenario dokumentiert sich auf der Ebene der Akteure. Wenn auch durch die Osterweiterung die EU an Gewicht zunimmt, ist die Türkei als Akteur in ökonomischen und sicherheitspolitischen Bereichen in Europa wichtig. Ihre Ressource ist ihre geopolitische und geostrategische Position zwischen Europa, Asien und dem Nahen Osten. Man kann sie als strategisches Schlüsselterritorium in der Region bezeichnen. Wichtigstes Ziel ist daher die Erhaltung der Türkei als Verbündete des Westens (Korkisch 1999, 139). In beiden Fällen entspricht dies dem alternativem Konzept des türkischen Außenministers Ismail Cem. Die Position der Türkei ist nicht mehr am Rande Europas, sondern im Zentrum der euroasiatischen Region (Bagci 2000, 4f). Kooperiert die Türkei mit der EU in Sicherheitsfragen, so ist die internationale Dimension dadurch geprägt, dass die EU auf die Türkei nur begrenzt Einfluss nehmen kann. Hingegen wird die Verbindung zwischen der Türkei, Israel und den USA an Bedeutung gewinnen. Das bedeutet, dass die EU nicht nur in ökonomischen Fragen im zentralasiatischen Raum an Einfluss verliert, sondern auch in Sicherheitsfragen in ihrer Handlungsfreiheit eingeschränkt ist. Das bedingt einen erheblichen Kostenaufwand für die EU in beiden Aspekten (Yilmaz 1995, 38f). 51 Die Bedeutung der Türkei in diesem Szenario wird gekennzeichnet sein von der Neugestaltung der Zusammenarbeit mit der USA und den anderen westlichen Staaten in Bezug auf Zentralasien und Transkaukasien. Die Türkrepubliken würden andere Wege suchen, politisch und ökonomisch in den Westen eingegliedert werden. In diesem Fall würde die Türkei in Konkurrenz zu den Interessen der EU stehen (Brzezinski 1997, 199). Die Türkei agiert als Stabilisierungs- oder Pufferzone, die den Vormarsch des islamische Fundamentalismus abfängt. Die Türkei würde bei der Umsetzung dieser Ziele den Status eines „regional player“ erringen. Zwangsläufig könnte ein Auseinanderdriften von Türkei und EU, wenn auch die Türkei in Fragen der westlichen Sicherheit mit Europa kooperiert, die Folge sein. Gleichzeitig führt die Kooperation in der westlichen Sicherheit durch die alleinige Mitgliedschaft der Türkei in der NATO zu einem erheblichen Zuwachs des Einflusses der USA in dieser Region, weil dann die Türkei nur ihre eigenen, nicht aber die Interessen der EU vertreten muss. Separation und Isolation: Die Türkei wendet Europa den Rücken zu Obwohl der Türkei beim Gipfel von Helsinki vom 11. Dezember 1999 der Status eines Beitrittskandidaten eingeräumt wurde, muss man bei diesem Szenarium in Erwägung ziehen, dass nur der Status an sich zuerkannt wurde, Beitrittsverhandlungen aber noch nicht in Sicht bzw. in weiter Ferne sind. Die Optionen der Türkei sind, sich einerseits an Russland, welches sich wieder als Supermacht zu etablieren versucht, dem arabischen Einflußbereich oder sich letzlich der Panturanbischen Welt zu nähern, welche in Zentralasien im Entstehen begriffen ist (Brill 1998, 119). Diese Optionen bergen Konfliktpotential in sich und werden vom Westen – allem voran von den USA – als Bedrohung empfunden. Obwohl diese Optionen zur Zeit unrealistisch erscheinen, zeigen sie die Bedeutung der Türkei im westlichen Sicherheitssystem. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs war die Türkei außenpolitisch von Abhängigkeit in ihrem Bestreben nach westlicher Integration geprägt. Während der Periode des Kalten Krieges übte sich die Türkei in vorauseilendem Gehorsam gegenüber dem Westen und vor allem der USA, in der Hoffnung dafür belohnt zu werden. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR verlor man in Europa relativ rasch das Interesse an der Türkei und sah in ihr eher eine Belastung für die ökonomischen Ziele der EU. Einzig die USA beurteilten die Situati52 on anders und sahen weiterhin in der Türkei einen wichtigen Partner, vor allem in Sicherheitsfragen. Die EU kehrte der Türkei den Rücken zu, als beim Luxemburger Gipfel 1997 der Türkei eine baldige Integration in die EU verweigert wurde. Durch den Zusammenbruch der UdSSR entstand ein geografischer Raum, in dem die Türkei eigenständig aktiv werden konnte. Seitdem ist der Transkaukasus und Zentralasien ein fester Bestandteil türkischer Außenpolitik mit den Ziel, ein neues geopolitisches Gewicht gegenüber der EU und den USA zu demonstrieren (Sen 1998, 50). Allein – es fehlen der Türkei die notwendigen Mittel, um ihr Ziel, die „regionale Großmacht“ der Türkvölker zu werden, zu erreichen. Das kann sich aber ändern, beispielsweise wenn die Türkei in einem Konflikt der USA gegen Europa, wie es sich in der gegenwärtigen Diskussion in Sicherheitsfragen abzeichnet, der verlässliche Partner der USA bleibt. Die Frage, „wie groß wird Europa“, ist damit beantwortet. Die Akteursbühne in der Weltpolitik würde um einige Facetten reicher. Die USA, die Türkei und Israel auf der einen, Russland, China und die Ukraine auf der anderen Seite und Europa am Rande, wobei es für alle um die Frage des Zugangs zu Zentralasien geht. Abgesehen davon verliert die EU an Gewicht und Einfluss in ihrer bisher ohnehin schwachen Außen- und Sicherheitspolitik. Die Gefahr, die sich dabei abzeichnet, besteht darin, dass ohne die Türkei eine Lösung des Balkankonfliktes, der Konflikte in Zentralasien und der Bekämpfung der „Internationalen Terrorismus“, für die EU weitaus schwieriger wird und die Türkei ihre Interessen am Balkan und in Zentralasien ohne Abstimmung mit der EU durchsetzen wird wollen. Sollte dabei noch die Verbindung zu den USA abbrechen, würde die Situation noch verschärft werden, handelt es sich doch bei der Region des gesamten Balkans bis zum Kaukasus um eine Region, in welcher der Westen mit militärischen Mitteln allein Frieden und Sicherheit nicht herstellen kann. Die USA bezeichnen dies als „pears theatre“, ein Territorium, in dem man trotz technischer Überlegenheit aufgrund der geografischen und sozioökonomischen Voraussetzungen eigentlich unterlegen ist. Ein weiteres Bedrohungspotential liegt in den Wasserressourcen, über welche die Türkei verfügen und durch die sie in der Lage ist, den gesamten Nahen Osten abhängig zu machen. Global lässt sich dieses Szenario so darstellen: Ganz egal, ob die Türkei ein islamischer Gottesstaat wird oder ein Verbündeter der USA, aufgrund seiner geostrategischen Lage 53 und der Verfügungsgewalt über die Ressource Wasser ist die Türkei eine „regionale Großmacht“ und damit ein bestimmender Faktor im östlichen Mittelmeer und Zentralasien. Literaturverzeichnis Agenda 2000 (1997). Band I: Eine Stärkere und Erweiterte Union. DOC/97/6. Brüssel. Aron, Raymond (1962A): Frieden und Krieg: Ein Theorie der Staatenwelt. Frankfurt a. Main. Bagci, Hüseyin (2000). Die „Grad Strategy“ der Türkei. In: Erich Reiter / Ernest König (Hg.). Studien und Berichte zur Sicherheitspolitik. Wien: LAVAK. Brill, Heinz (1998). Die geopolitische Lage der Türkei im Wandel: Von der Südostflanke zur eurasischen Regionalmacht?. 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