Wahlrecht, Wahlergebnisse und Wählerverhalten bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg Oscar W. Gabriel und Jürgen Bauknecht I n föderativen Staaten sind die Aufgaben der Gesetzgebung, der Ausführung von Gesetzen und der Rechtsprechung auf das nationale politische System und die Gliedstaaten verteilt. In Bundesstaaten existiert nicht nur ein nationales Parlament, sondern die Bevölkerung wählt darüber hinaus in den Gliedstaaten in freien, gleichen, allgemeinen, geheimen und unmittelbaren Wahlen ihre Vertretung. Sie nimmt damit Einfluss auf die Regierungsbildung und Gesetzgebung. Die Wahl der Länderparlamente hat dann eine große politische Bedeutung, wenn den Landtagen umfassende Rechte in der Gesetzgebung zugewiesen sind oder wenn der Ausgang einer Landtagswahl die Gestaltung der nationalen Politik beeinflusst. In Deutschland verfügen die Länder nur über wenige originäre, ausschließliche Gesetzgebungskompetenzen. Allerdings gehört mit der Bildungspolitik ein wichtiges und zukunftsträchtiges Thema zu den Zuständigkeiten der Länder. In anderen Bereichen, insbesondere in der Wirtschafts-, Sozial- und Infrastrukturpolitik, liegt die Befugnis zur Gesetzgebung zwar schwerpunktmäßig beim Bund, dennoch wirken die Länderparlamente und -regierungen an der Gestaltung dieser Politikfelder mit. In Deutschland haben Landtagswahlen also nicht nur eine landespolitische Bedeutung. Da die Landesregierungen im Bundesrat die Bundespolitik mitgestalten, beeinflussen die Entscheidungen der Wähler in den Ländern auch die Chancen der Bundesregierung, ihre politischen Ziele zu verwirklichen. Neben diesem direkten Effekt unterstellen viele Beobachter den Landtagswahlen zudem eine mittelbare bundespolitische Wirkung, die darin bestehe, dass die Wählerschaft der Bundesregierung und der sie tragenden Parlamentsmehrheit ein Signal über die Akzeptanz ihrer Politik gebe.1 1 Kerstin Völkl: Reine Landtagswahlen oder Bundestagswahlen? Eine Untersuchung des Abstimmungsverhaltens bei Landtagswahlen 1990–2006, Baden-Baden 2009. 118 Frech-Weber-Wehling_AK.indd 118 13.01.2011 10:32:55 Uhr Wahlrecht, Wahlergebnisse und Wählerverhalten bei den Landtagswahlen In Landtagswahlen übertragen die Wähler den Abgeordneten die Aufgabe, eine Landesregierung zu wählen, diese zu unterstützen und zu kontrollieren, die Interessen der Bevölkerung in den politischen Entscheidungsprozess einzubringen, gemeinsam mit der Regierung die Landespolitik zu gestalten und die Bundespolitik zu beeinflussen. Durch ihre Stimmabgabe bei den Landtagswahlen können die Wähler alle diese Vorgänge beeinflussen. Es macht deshalb einen Unterschied für die Qualität der Demokratie, ob die Wähler diese Rechte wahrnehmen oder nicht. Von Interesse ist natürlich auch, von welchen Motiven sie sich bei ihren Entscheidungen leiten lassen. In diesem Beitrag beschäftigen wir uns mit dem Wahlrecht und dem Wählerverhalten bei Landtagswahlen in Baden-Württemberg. Auf Grund seiner Größe und Wirtschaftskraft hat Baden-Württemberg in der deutschen Politik ein besonderes Gewicht. Die Untersuchung des Wählerverhaltens bei den baden-württembergischen Landtagswahlen ist nicht nur unter dem Gesichtspunkt der bundespolitischen Bedeutung dieses Landes von Interesse, sondern auch deshalb, weil die CDU zwar seit dem Jahr 1953 ununterbrochen an der Landesregierung beteiligt ist und den Ministerpräsidenten stellt, obgleich die Sozialstruktur das Land nicht zu einer CDU-Hochburg prädestiniert. Dies wirft die Frage auf, welche Faktoren die langjährige Dominanz der CDU im Südwesten begründen. Zunächst wird das Wahlrecht des Landes sowie seine jüngste Reform vorgestellt, bevor wir auf die Entwicklung der Wahlbeteiligung und die Stimmenanteile der Parteien seit den Landtagswahlen des Jahres 1952 eingehen. Anschließend stellen wir die in der Politikwissenschaft gebräuchlichen Modelle zur Erklärung des Wählerverhaltens und deren Bedeutung für die Wählerentscheidung bei Landtagswahlen vor. Schließlich wird gezeigt, welche Rolle diese Faktoren bei den letzten baden-württembergischen Landtagswahlen faktisch gespielt haben. Wahlrecht und Wahlrechtsreform Wie die Wahl des Bundestages ist die Bestellung der Landtage gesetzlich geregelt, wobei die Wahlgesetze der Länder neben manchen Ähnlichkeiten 119 Frech-Weber-Wehling_AK.indd 119 13.01.2011 10:32:55 Uhr Oscar W. Gabriel und Jürgen Bauknecht auch mehr oder weniger große Unterschiede enthalten.2 Gemeinsam ist allen deutschen Ländern außer Hamburg und Bremen, dass die Legislaturperiode des Landesparlaments fünf Jahre dauert. Somit endet die Wahlperiode des 14. Landtags von Baden-Württemberg am 30. April 2011. Die Wahl zum 15. Landtag muss vor diesem Datum stattfinden, wobei die Landesregierung den Wahltermin festlegt (§ 19 Landtagswahlgesetz LWG BadenWürttemberg). Im Jahr 2011 findet die Wahl am letztmöglichen Termin, dem 27. März, statt. Wie in den anderen Bundesländern sind alle Deutschen wahlberechtigt, die am Wahltag das 18. Lebensjahr vollendet haben, zum Wahltermin seit drei Monaten in Baden-Württemberg ihren (Haupt-)Wohnsitz haben und nicht vom Wahlrecht ausgeschlossen sind (z. B. durch Richterspruch; § 7,2 LWG). Im Gegensatz zu Kommunal- und Europawahlen sind EU-Ausländer bei den Landtagswahlen nicht wahlberechtigt. Das Landtagswahlsystem Baden-Württembergs gilt als Sonderfall, der „deutlich vom bundespolitischen Muster abweicht“. Mehr noch: „Gerade das Wahlsystem Baden-Württembergs stellt eine auch international einzigartige Ausnahme dar“, weil jeder Wähler nur eine Stimme hat. Mit dieser entscheidet er gleichzeitig über den Gewinner des Wahlkreises, die Zusammensetzung des Landtags und die Verteilung der Zweitmandate.3 Auf Basis der Wahlkreisergebnisse werden zunächst die 70 Direktmandate vergeben. Danach erfolgt die Verteilung von 50 Zweitmandaten an die Parteien, die mehr als fünf Prozent der Stimmen4 erhalten haben. Parteien, die bereits durch ihre Direktmandate die ihrem Stimmenanteil entsprechende Zahl von Landtagsmandaten erreichen oder überschreiten, bleiben bei der Vergabe der Zweitmandate unberücksichtigt. Ist eine Partei aufgrund ihrer Direktmandate nach der Zuteilung der 50 Zweitmandate immer noch stärker im Landtag repräsentiert als es ihrem Stimmenanteil entspricht, erhalten die anderen Parteien so viele Ausgleichsmandate, bis sich das landesweite Wahlergebnis in der Zusammensetzung des Landtags widerspiegelt. 2 Markus Freitag/Adrian Vatter: Die Demokratien der deutschen Bundesländer. Politische Institutionen im Vergleich, Opladen/Farmington Hills 2008, S. 33 ff. 3 Matthias Trefs: Die Wahlsysteme der Länder, in: Achim Hildebrandt/Frieder Wolf (Hrsg.): Die Politik der Bundesländer. Staatstätigkeit im Vergleich, Wiesbaden 2008, S. 331–344, Zitate S. 337 f. 4 Anders als bei der Bundestagswahl kann die Fünfprozenthürde bei der Landtagswahl nicht durch drei gewonnene Direktmandate umgangen werden. 120 Frech-Weber-Wehling_AK.indd 120 13.01.2011 10:32:55 Uhr Wahlrecht, Wahlergebnisse und Wählerverhalten bei den Landtagswahlen Die Zweitmandate einer Partei werden in den folgenden Schritten vergeben: Zunächst werden sie proportional auf die vier Regierungsbezirke im Land aufgeteilt, wobei auch im Regierungsbezirk die Zahl der gewonnenen Direktmandate berücksichtigt wird. Anschließend erhalten die Parteien die ihnen im Regierungsbezirk zustehenden Zweitmandate. Hat eine Partei in einem Regierungsbezirk mehr Direktmandate erhalten als ihr nach ihrem Stimmenanteil zustehen, werden diese Überhangmandate in demselben Regierungsbezirk durch zusätzliche Sitze für andere Parteien ausgeglichen (Ausgleichsmandate), damit die Mandatsverteilung im Landtag nicht vom Wahlergebnis abweicht und dieses verzerrt. Durch den Gewinn von Überhang- und die Vergabe von Ausgleichsmandaten kann die Zahl der Landtagsmandate die vorgesehene Zahl von 120 Sitzen übersteigen. In aller Regel tut sie dies auch.5 Bis 2006 wurden die Zweitmandate in der Reihenfolge der erhaltenen absoluten Stimmenzahl an die unterlegenen Wahlkreiskandidaten vergeben. Ab der Wahl 2011 wird der Prozentanteil der für die Wahlkreiskandidaten abgegebenen Stimmen für die Zuweisung der Mandate maßgeblich sein. Ausschlaggebend für diese Veränderung war eine nach der Landtagswahl 2006 intensiv geführte Debatte über die Chancengerechtigkeit des bisherigen Wahlrechts, da dieses unterlegene Bewerber aus bevölkerungsreichen Wahlkreisen bevorzugte.6 Die neuen Bestimmungen wirken sich nicht auf die Sitzverteilung zwischen den Parteien, wohl aber auf die innerparteiliche Mandatsverteilung aus. Ein zweites Novum bei der Wahl am 27. März 2011 ist der Neuzuschnitt der Wahlkreise mit dem Ziel, die bislang bestehenden Unterschiede in der Zahl der Wähler in den Wahlkreisen zu verringern. Künftig darf die Zahl der Wähler in einem Wahlkreis nicht mehr als zehn bis 15 Prozent von der durchschnittlichen Wahlkreisgröße abweichen. Den Anstoß zu dieser Neuregelung gab ein Urteil des Staatsgerichtshofs Baden-Württemberg aus dem Jahre 2007, das Abweichungen von mehr als 25 Prozent von der durchschnitt- 5 Informationen des Innenministeriums Baden-Württemberg zu den Landtagswahlen. http://im.baden-wuerttemberg.de/de/Landtagswahlen/83214.html. Eine anschauliche Darstellung des Mandatszuteilungsverfahrens findet sich auch unter www.landtagswahl-bw.de/wahlsystem0.html. 6 Landtagsspiegel 2009/10, hrsg. vom Präsidenten des Landtags von Baden-Württemberg, Stuttgart 2009, S. 6. 121 Frech-Weber-Wehling_AK.indd 121 13.01.2011 10:32:55 Uhr Oscar W. Gabriel und Jürgen Bauknecht lichen Zahl der Wähler in den Wahlkreisen als nicht verfassungsgemäß erklärte. Dieser Neuzuschnitt, der vor allem wegen des veränderten Verfahrens der Zuteilung der Zweitmandate notwendig wurde, betrifft etwa die Hälfte der Wahlkreise im Land. Er soll verhindern, dass nunmehr bevölkerungsschwache Wahlkreise bei der Vergabe der Zweitmandate auf Kosten bevölkerungsstarker Wahlkreise bevorzugt werden. Tab. 1: Effekte der Neuregelung 2011 auf Basis der Ergebnisse von 2006 SPD FDP/DVP Grüne Regierungsbezirk I (Stuttgart) notwendige Stimmenzahl 2006 notwendiger Anteil nach Regel von 2011 anders vergebene Landtagssitze 15 286 8 334 8 347 25,9 12,2 12,6 6 (von 15) 1 (von 6) 1 (von 6) 12 651 6 778 9 119 Regierungsbezirk II (Karlsruhe) notwendige Stimmenzahl 2006 notwendiger Anteil nach Regel von 2011 anders vergebene Landtagssitze 27,4 11,8 14,6 4 (von 9) 1 (von 4) 1 (von 4) 12 685 6 943 9 119 22,9 13,4 14,1 3 (von 8) 1 (von 3) 0 (von 4) 14 046 8 376 10 498 Regierungsbezirk III (Freiburg) notwendige Stimmenzahl 2006 notwendiger Anteil nach Regel von 2011 anders vergebene Landtagssitze Regierungsbezirk IV (Tübingen) notwendige Stimmenzahl 2006 notwendiger Anteil nach Regel von 2011 anders vergebene Landtagssitze 22,0 11,6 16,7 0 (von 5) 0 (von 2) 0 (von 3) 13 (von 37) 3 (von 15) 2 (von 17) Baden-Württemberg anders vergebene Landtagssitze anders vergebene Landtagssitze 18 (von 139) Quellen: Eigene Berechnung. Notwendige Stimmenanzahl 2006: Stimmenanzahl des Kandidaten mit Zweitmandat mit niedrigster Stimmenanzahl. Notwendiger Anteil nach Regel von 2011: Stimmenanteil des prozentual ermittelten Kandidaten, der nach der Regelung von 2011 ein Zweitmandat errungen hätte. Anders vergebene Landtagssitze: Anzahl der Zweitmandate, die nach der neuen Regelung ein anderer Kandidat der Partei bekommen hätte. 122 Frech-Weber-Wehling_AK.indd 122 13.01.2011 10:32:55 Uhr Wahlrecht, Wahlergebnisse und Wählerverhalten bei den Landtagswahlen Tabelle 1 zeigt, wie sich die Zusammensetzung des Landtags verändert hätte, wenn die Mandate bereits 2006 auf der Basis der Stimmanteile anstatt der absoluten Stimmenzahl vergeben worden wären. Zwar wäre die Kräfteverteilung zwischen den Parteien unverändert geblieben, jedoch hätten andere Kandidaten ein Zweitmandat errungen. Da die CDU sämtliche Mandate direkt gewonnen hatte und bei der Verteilung der Zweitmandate unberücksichtigt blieb, wären bei ihr keine personellen Änderungen eingetreten. Von den derzeit im Landtag vertretenen Abgeordneten der SPD, auf die lediglich ein Erstmandat (Wahlkreis Mannheim I), aber 37 Zweitmandate entfielen, wären 13 Abgeordnete nicht in den Landtag eingezogen, während ebenso viele nicht gewählte Kandidaten aus anderen Wahlkreisen bei der Mandatsverteilung zum Zuge gekommen wären. Wesentlich geringere personelle Veränderungen wären bei der FDP/DVP und den Grünen eingetreten. Ein konkretes Beispiel bietet Tabelle 2, in der zwei Wahlkreise aus dem Regierungsbezirk I (Stuttgart) verglichen werden. Bei der Landtagswahl 2006 benötigten SPD-Kandidaten 15 286 Stimmen, um in den Landtag einzuziehen (vgl. Tab. 1). Auf Grund dieser Regelung erhielt die Kandidatin für den Wahlkreis Kirchheim/Teck ein Mandat, während der prozentual erfolgreichere Kandidat für den Wahlkreis Heilbronn leer ausging. Nach der Regelung von 2011 hätte demnach der Kandidat aus Heilbronn mit einem Stimmenanteil von 31,6 Prozent an Stelle der Kandidatin aus Kirchheim/Teck, die lediglich 25,4 Prozent der Stimmen erzielt hatte, ein Zweitmandat erhalten. Tab. 2: Vergabe der Zweitmandate in zwei ausgewählten Wahlkreisen Wahlkreis Wahlberechtigte 08 (Kirchheim/ Teck) 111 202 18 (Heilbronn) 81 073 gültige Stimmen 65 648 (59,0 %)* 39 962 (49,3 %)* Stimmen für die SPD 16 668 12 621 Stimmenanteil für die SPD 25,4% 31,6% Mandat 2006 Ja Nein Mandat nach neuer Regelung Nein Ja * Die Prozentzahl hinter den gültigen Stimmen weicht von der Wahlbeteiligung leicht ab, da zur Wahlbeteiligung auch ungültig abgegebene Stimmen gezählt werden. 123 Frech-Weber-Wehling_AK.indd 123 13.01.2011 10:32:55 Uhr Oscar W. Gabriel und Jürgen Bauknecht Eine Folge der Änderung besteht darin, dass Kandidaten mit einer starken innerparteilichen Stellung nicht länger eine Kandidatur in Wahlkreisen mit vielen Wahlberechtigten, sondern in den „Hochburgen“ ihrer Parteien anstreben. Die künftige Regelung schafft mehr Gleichheit zwischen Kandidaten innerhalb desselben Regierungsbezirks, es bleiben jedoch erhebliche Unterschiede zwischen den Regierungsbezirken bestehen. Anhand der Ergebnisse von 2006 hätten für einen SPD-Kandidaten im Regierungsbezirk Tübingen 22 Prozent der abgegebenen Stimmen im Wahlkreis für den Einzug in den Landtag genügt, während SPD-Kandidaten im Regierungsbezirk Karlsruhe über 27 Prozent benötigt hätten. Ähnlich verhält es sich bei den Grünen: Kandidaten aus dem Regierungsbezirk Stuttgart hätten knapp 13 Prozent der abgegebenen Stimmen benötigt. Diejenigen aus dem Regierungsbezirk Tübingen fast 17 Prozent. Zwar werden zur Wahl 2011 auch die Wahlkreise neu zugeschnitten, jedoch nicht die Regierungsbezirke, so dass diese Ungleichgewichte bestehen bleiben werden. Jedoch: Die Kritik, das baden-württembergische Wahlsystem sei „eines der intransparentesten der Republik“, fußt auf der Vergabe der Zweitmandate in den Regierungsbezirken statt auf der Landesebene und auf der sehr unterschiedlichen Zahl der Wähler in den Wahlkreisen. Aus diesen Gründen ist es dem Wähler „unmöglich, die Folge seiner Stimme für die Vergabe der Zweitmandate einzuschätzen“.7 Die erfolgte Umstellung macht das System für die Bürger ein klein wenig transparenter. Neben den beiden genannten Änderungen wird das Auszählverfahren nach d’Hondt durch das Verfahren von Sainte Laguë und Schepers ersetzt. Das d’Hondt’sche Verfahren bevorzugt große Parteien leicht,8 während das Sainte Laguë/Schepers-Verfahren am ehesten Proportionalität in der Sitzverteilung schafft.9 Tabelle 3 verdeutlicht dies am Beispiel des Ergebnisses der Landtagswahl von 2006. 7 Matthias Trefs: Die Wahlsysteme der Länder, in: Achim Hildebrandt/Frieder Wolf (Hrsg.): Die Politik der Bundesländer. Staatstätigkeit im Vergleich, Wiesbaden 2008, S. 331–344, hier S. 338. 8 Ulrich Eith: Das Parteiensystem Baden-Württembergs, in: Uwe Jun/Melanie Haas/Oskar Niedermayer (Hrsg.): Parteien und Parteiensysteme in den deutschen Ländern, Wiesbaden 2008, S. 103–123. 9 Daniel Bochsler/Pascal Sciarini: Neue Indikatoren zur Bestimmung der arithmetischen Regierungskonkordanz, in: Swiss Political Science Review, Heft 12, 2006, S. 105–122. 124 Frech-Weber-Wehling_AK.indd 124 13.01.2011 10:32:55 Uhr Wahlrecht, Wahlergebnisse und Wählerverhalten bei den Landtagswahlen Tab. 3: Vergleich von d’Hondt und Sainte Laguë/Schepers CDU Stimmenanteil* SPD Grüne FDP/DVP 48,1 % 27,5 % 12,7 % 11,7 % Sitze im Landtag 69 38 17 15 Sitzanteil im Landtag 49,6 % 27,3 % 12,2 % 10,8 % 1,5 % –0,2 % –0,5 % –0,9 % nach d’Hondt 2006 Abweichung Sitze/Stimmen nach Sainte Laguë/Schepers (wird ab 2011 verwendet) Sitze im Landtag 69 39 18 17 Sitzanteil im Landtag 48,3 % 27,3 % 12,6 % 11,9 % –0,2 –0,1 Abweichung Sitze/Stimmen 0,2 0,2 * Stimmenanteil unter den Landtagsparteien. Quelle: eigene Berechnung Wie Tabelle 3 zeigt, wäre 2006 die Über- und Unterrepräsentation der Parteien im Landtag nach dem neuen Auszählverfahren geringer ausgefallen. Jedoch wäre der Landtag um vier Abgeordnete größer gewesen (jeweils zwei für die Regierung und die Opposition). Das überrascht nicht: Da das Verfahren nach d’Hondt große Parteien begünstigt, gleicht es die gewonnenen Direktmandate nicht so stark aus als das stärker proportional ausgerichtete System nach Sainte Laguë/Scheepers und begrenzt so die Zahl der Landtagsmandate. Wahlbeteiligung und Stimmenanteile der politischen Parteien 1952–2006 Die Bedeutung der Wahlbeteiligung für das Funktionieren und für die Legitimität einer Demokratie, aber auch der in demokratischen Wahlen bestellten Regierung ist immer wieder kontrovers debattiert worden. Manche Beobachter deuten einen Rückgang der Wahlbeteiligung, wie er in den letzten Jahrzehnten in fast allen europäischen Demokratien festzustellen war, als Anzeichen einer Krise der repräsentativen Demokratie. Für andere 125 Frech-Weber-Wehling_AK.indd 125 13.01.2011 10:32:55 Uhr Oscar W. Gabriel und Jürgen Bauknecht hingegen gehört zur Demokratie nicht nur das verbürgte Recht zur politischen Beteiligung, sondern auch die Freiheit, von diesem Recht keinen Gebrauch zu machen.10 Wie Abbildung 1 zeigt, liegt die Beteiligung an Landtagswahlen immer unter dem Niveau der Bundestagswahlen. Die einzigen Ausnahmen von diesem Muster sind dann zu beobachten, wenn Landtags- und Bundestagswahlen am gleichen Tag stattfinden. Darüber hinaus weist Baden-Württemberg durchweg eine im Vergleich mit den alten Bundesländern unterdurchschnittliche Beteiligung an Landtagswahlen auf. Sie ging von einem Höchststand von 80 Prozent bei der Wahl 1972 in zwei Phasen zurück: Zunächst sank sie bis 1980 auf 72 Prozent. Bei den folgenden Wahlen blieb sie stabil und fiel erst mit den Wahlen von 2001 (62,6 %) und 2006 (53,4 %) wieder merklich ab. Mit solch niedrigen Beteiligungsquoten wie zuletzt sind zwei Probleme verbunden: Zunächst deuten sie auf eine schwache Verankerung der Parteien in der Wählerschaft und auf eine schmale politische Basis der Regierung hin. So konnte sich die nach der Landtagswahl 2006 gebildete CDU/FDP-Koalition lediglich auf das Mandat von 28,9 Prozent der Wahlberechtigten stützen (CDU: 23,3 %; FDP/DVP 5,6 %).11 Selbst eine Große Koalition hätte nur die Unterstützung von 36,6 Prozent der Wahlberechtigten gehabt. Ein zweites Problem besteht darin, dass Personen mit einem niedrigen sozialen Status unter den Nichtwählern überdurchschnittlich stark vertreten sind, so dass die unterschiedliche Ausübung des Stimmrechts bei Wahlen, auch wenn sie auf einer freien Entscheidung beruht, dem Grundsatz einer gleichen Beteiligung der Bürger an politischen Entscheidungen widerspricht. 10 Pippa Norris: Democratic Phoenix. Reinventing Political Activism, Cambridge 2002. 11 Oscar W. Gabriel/Kerstin Völkl: Wählerverhalten bei der Landtagswahl 2006 in BadenWürttemberg, in: Josef Schmid/Udo Zolleis (Hrsg.): Wahlkampf im Südwesten. Parteien, Kampagnen und Landtagswahlen 2006 in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, Münster 2006, S. 219–238. 126 Frech-Weber-Wehling_AK.indd 126 13.01.2011 10:32:55 Uhr Wahlrecht, Wahlergebnisse und Wählerverhalten bei den Landtagswahlen Abb. 1: Entwicklung der Wahlbeteiligung 1952–2006 95 90 85 Bundestagswahlen 80 Bundestagswahlen BW 75 LtW Westdeutschland Bundestagswahlen BW 70 Bundestagswahlen 65 LtW Baden-Württemberg 60 LtW Westdeutschland 55 LtW Baden-Württemberg 50 1952 1956 1960 1964 1968 1972 1976 1980 1984 1988 1992 1996 2001 2006 2009 Datengrundlage Bundesdurchschnitt Landtagswahlbeteiligung: eigene Berechnungen auf Basis von Daten des Bundeswahlleiters (ab 1960 inklusive Saarland). Werte an einem Punkt stellen die Beteiligung in diesem Jahr und den Vorjahren dar. So steht z. B. der Wert für 1980 für die Periode 1977 bis 1980. Datengrundlage Bundestagswahlbeteiligung: Bundeswahlleiter. Die für die Stimmenthaltung bei Wahlen im Allgemeinen und bei Landtagswahlen im Besonderen maßgeblichen Faktoren sind recht gut erforscht. Vor allem Personen mit einem niedrigen Bildungsniveau, schwachem politischen Interesse und Kompetenzbewusstsein sowie einer schwachen Parteiidentifikation beteiligen sich nur unterdurchschnittlich an Wahlen. Frauen sind unter den Nichtwählern leicht stärker vertreten als Männer, und schließlich gehen die mittleren Altersgruppen eher zur Wahl als junge und alte Menschen. Diese Einflüsse machen sich bei sogenannten „Nebenwahlen“, die die Wähler als relativ unwichtig einstufen, verstärkt geltend. Sie können allerdings nicht erklären, aus welchen Gründen die Wahlbeteiligung seit der Mitte der 1970er Jahre zurückgeht und aus welchen Gründen sie in Baden-Württemberg besonders niedrig ist. 127 Frech-Weber-Wehling_AK.indd 127 13.01.2011 10:32:55 Uhr Oscar W. Gabriel und Jürgen Bauknecht In der Bundesrepublik Deutschland entwickelte sich das heute existierende Parteiensystem seit der ersten Wahl des Deutschen Bundestags in mehreren Schritten. Es ist durch einen Wettbewerb von CDU/CSU und SPD um die Position der führenden Regierungspartei charakterisiert, die in der Regel gemeinsam mit einer der kleineren Parteien, der FDP/DVP bzw. den Grünen die Regierung bilden. Die Linkspartei war bisher auf der Bundesebene kein möglicher Regierungspartner. Abb. 2: Stimmenanteile der vier großen politischen Parteien bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg 1952–2006 60 50 40 30 CDU SPD 20 FDP Grüne 10 FDP Grüne 0 1952 1956 1960 1964 1968 1972 1976 1980 1984 1988 1992 1996 2001 2006 Datengrundlage: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg In den Ländern entwickelten sich zwar ähnliche Strukturen des Parteienwettbewerbs wie im Bund, jedoch weichen die Kräfteverhältnisse in ihnen mehr oder weniger stark von denen der Bundesebene ab. Baden-Württemberg gilt beispielsweise als Stammland der CDU. Wie Abbildung 2 zeigt, war die CDU seit der Landesgründung bei Landtagswahlen immer die stärkste Partei, wobei der SPD als ihrer stärksten Konkurrentin eine „relative Chancenlosigkeit“12 bescheinigt wurde. Die Stärke der CDU resultiert einer- 12 Michael Eilfort: Die Parteienlandschaften in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, in: Josef Schmid/Udo Zolleis (Hrsg.): Wahlkampf im Südwesten. Parteien, Kampagnen und Landtagswahlen 2006 in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, Münster 2006, S. 32–65. 128 Frech-Weber-Wehling_AK.indd 128 13.01.2011 10:32:55 Uhr Wahlrecht, Wahlergebnisse und Wählerverhalten bei den Landtagswahlen seits aus ihrer starken Verankerung in den katholischen und ländlichen Landesteilen, andererseits aus der sozialstrukturell bedingten Schwäche der SPD. Der Aufstieg der CDU von 36 Prozent bei der ersten Landtagswahl zu absoluten Mehrheiten in den 1970er und 1980er Jahren ging zugleich mit dem 1972 beginnenden Abstieg der FDP/DVP einher. Ministerpräsident Hans Karl Filbinger gelang es, über das Thema Ostpolitik und mit der Gegenüberstellung von Freiheit und Sozialismus „das politisch konservativ ausgerichtete altliberale Erbe“ der FDP/DVP-Wähler aus protestantischen Schichten zur CDU-Wahl zu bewegen.13 1972 wurde die 20 Jahre dauernde Ära der CDU-Alleinherrschaft eingeläutet. Erst bei der Landtagswahl 1992 verlor die CDU ihre absolute Mehrheit wieder und muss seither Koalitionen bilden. Seit dieser Wahl hat sich die CDU in der Wählergunst wieder etwas erholt, erreichte aber nicht mehr die Ergebnisse aus der Zeit der Ministerpräsidenten Filbinger und Späth. Nach einem schwachen Beginn 1952 konnte sich die SPD bis 1972 kontinuierlich steigern. Die einzige Ausnahme bildete die Wahl im Jahr 1968, in der beide Volksparteien Stimmenanteile verloren. Der Grund für die Schwäche beider Volksparteien hatte vor allem mit der von 1966 bis 1969 bestehenden Großen Koalition im Bund zu tun. Diese Konstellation brachte der FDP/DVP einen einmaligen starken Stimmanteil und stärkte die NPD, der für eine Legislaturperiode der Einzug in den Landtag gelang. Seit 1972 unterliegt die SPD einem langfristigen Abwärtstrend, in dem die Wahl 2001 die einzige Abweichung bildet. Seit 1952 gelang es der Partei nur drei Mal, mehr als 35 Prozent der Stimmen auf sich zu vereinigen. Da die CDU bei der Wahl 1992, ein gutes Jahr nach dem Rücktritt des Ministerpräsidenten Lothar Späth, fast zehn Prozent verlor und gleichzeitig den Republikanern der Einzug in den Landtag gelang, konnte die SPD in den folgenden vier Jahren als Juniorpartner in einer Großen Koalition mitregie- 13 Ulrich Eith: Das Parteiensystem Baden-Württembergs, in: Uwe Jun/Melanie Haas/Oskar Niedermayer (Hrsg.): Parteien und Parteiensysteme in den deutschen Ländern, Wiesbaden 2008, S. 103–123, hier S. 113. Vgl. auch Reinhold Weber: Politische Kultur, Parteiensystem, Wählertraditionen im deutschen Südwesten, in: Reinhold Weber/HansGeorg Wehling (Hrsg.): Baden-Württemberg. Gesellschaft, Geschichte, Politik, Stuttgart 2006, S. 56–89 sowie Reinhold Weber: Baden-Württemberg – „Stammland des Liberalismus“ und Hochburg der CDU, in: Andreas Kost/Werner Rellecke/Reinhold Weber (Hrsg.): Parteien in den deutschen Ländern. Geschichte und Gegenwart, München 2010, S. 103–126. 129 Frech-Weber-Wehling_AK.indd 129 13.01.2011 10:32:56 Uhr Oscar W. Gabriel und Jürgen Bauknecht ren. Aus dieser Regierungsbeteiligung konnte sie bei der folgenden Landtagswahl jedoch keinen Nutzen ziehen. Im Gegenteil: 1996 musste sie das bis heute schlechteste Wahlergebnis in der Geschichte des Landes hinnehmen. Ein wichtiger Grund der dauerhaften Schwäche der SPD liegt sicherlich im weitgehenden Fehlen einer klassischen Industriearbeiterschaft und eines proletarischen Klassenbewusstseins – zwei Faktoren, die aus der Dominanz einer dörflichen und kleinstädtischen Lebensweise im Lande resultieren.14 Die Hochburgen der Partei lagen und liegen in den industriellen und protestantischen Gebieten. In den 1980er Jahren geriet die SPD durch den Aufstieg der Grünen in den Spagat zwischen ihrer traditionellen Arbeiterklientel einerseits und gut gebildeten Postmaterialisten (Lehrer, Akademiker usw.) andererseits. Letztere wandten sich verstärkt den Grünen zu, erstere hatten aus den genannten Gründen bereits vor dem Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft eine zu schmale Basis für dauerhafte Wahlerfolge gebildet. Tatsächlich verhalten sich die Stimmenanteile von SPD und Grünen „fast wie kommunizierende Röhren“.15 Zusammen liegen sie ständig bei ungefähr 35 bis 40 Prozent, wobei sich das Gewicht langsam zugunsten der Grünen verschiebt. Die FDP/DVP weist eine wechselvolle Geschichte auf. Zwischen 1952 und 1972 verlor sie mehr als die Hälfte ihres Wähleranteils. Zwischen 1952 und 1964 vollzog sich dieser Rückgang in kleinen Schritten. Nach dem 1969 erfolgten Eintritt in die sozialliberale Koalition auf Bundesebene erlitt die Partei dramatische Stimmenverluste und büßte für längere Zeit ihre Rolle als Regierungspartner in einer bürgerlichen Koalition ein. Erst 30 Jahre später trat sie wieder in eine CDU-geführte Landesregierung ein. Die in den 1950er und 1960er Jahren üblichen zweistelligen Ergebnisse erzielte die FDP/DVP gar erst knapp 40 Jahre nach der Bildung der sozialliberalen Koalition in Bonn. Die Grünen zogen im März 1980, schon ein halbes Jahr nach der Gründung des Landesverbandes, in den Landtag ein. Sie waren damit zum ersten Mal im Parlament eines deutschen Flächenlandes vertreten und sind dies 14 Ulrich Eith: Das Parteiensystem Baden-Württembergs, in: Uwe Jun/Melanie Haas/Oskar Niedermayer (Hrsg.): Parteien und Parteiensysteme in den deutschen Ländern, Wiesbaden 2008, S. 103–123, hier S. 106. 15 Ebd., S. 121. 130 Frech-Weber-Wehling_AK.indd 130 13.01.2011 10:32:56 Uhr Wahlrecht, Wahlergebnisse und Wählerverhalten bei den Landtagswahlen ununterbrochen seit 30 Jahren und mit tendenziell wachsender Mandatszahl. An der Regierung waren sie aber noch nicht beteiligt. 1992 hätte die CDU durch eine Beteiligung der Grünen an der Regierung eine Große Koalition verhindern können, jedoch entschied sich Ministerpräsident Erwin Teufel für die SPD. Bei der Landtagswahl 2006 lagen die Hochburgen der Grünen in den baden-württembergischen Universitätsstädten Freiburg, Heidelberg und Tübingen, wo sie die Zwanzigprozentschwelle überschreiten konnten. Erklärungsmodelle des Wählerverhaltens Bei einem Rückblick auf alle seit 1952 in Baden-Württemberg durchgeführten Landtagswahlen weisen die Ergebnisse im Land die folgenden Charakteristika auf: Verglichen mit dem Bundesdurchschnitt fällt die Wahlbeteiligung in Baden-Württemberg immer niedriger aus. Die CDU, die FDP und die Grünen erzielen fast regelmäßig überdurchschnittliche Ergebnisse. Die Ergebnisse der SPD fallen hingegen fast ebenso regelmäßig unterdurchschnittlich aus. Die Wahlverhaltensforschung unterscheidet zwischen langfristig und kurzfristig wirksamen Bestimmungsfaktoren des Wahlentscheids. Die langfristig wirksamen Größen verleihen dem Wahlverhalten und den aus diesem hervorgehenden Parteienwettbewerbsstrukturen ihre Stabilität, während die kurzfristig variablen Einstellungen die Änderungen des Wählerverhaltens bewirken. In der internationalen Wahlforschung haben sich zwei Modelle durchgesetzt, die diese beiden Faktorenbündel in jeweils unterschiedlicher Kombination zusammenfassen und die als soziologisches bzw. sozialpsychologisches Erklärungsmodell des Wählerverhaltens bezeichnet werden.16 Nach den Annahmen des soziologischen Erklärungsmodells des Wählerverhaltens begründen die Zugehörigkeit der Wähler zu bestimmten gesell16 Harald Schoen: Soziologische Ansätze in der empirischen Wahlforschung, in: Jürgen W. Falter/Harald Schoen (Hrsg.): Handbuch Wahlforschung, Wiesbaden 2005, S. 135– 185; Harald Schoen/Cornelia Weins: Der sozialpsychologische Ansatz zur Erklärung des Wählerverhaltens, in: Jürgen W. Falter/Harald Schoen (Hrsg.): Handbuch Wahlforschung. Wiesbaden 2005, S. 187–242. 131 Frech-Weber-Wehling_AK.indd 131 13.01.2011 10:32:56 Uhr Oscar W. Gabriel und Jürgen Bauknecht schaftlichen Gruppen und ihre Abgrenzung von anderen sozialen Gruppen dauerhafte parteipolitische Bindungen. Diese Gruppenkonflikte (cleavages) und die aus ihnen hervorgegangenen Allianzen zwischen gesellschaftlichen Großgruppen und politischen Parteien entstanden im Modernisierungsprozess der europäischen Staaten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und sind bis heute wirksam geblieben (z. B. Konflikt zwischen Stadt und Land oder zwischen Zentrum und Peripherie). In Deutschland entfalteten, nach den Annahmen des soziologischen Erklärungsmodells, zwei Arten sozialer Gegensätze eine besondere Prägekraft für das Wählerverhalten: Der sozioökonomische Verteilungskonflikt zwischen dem Bürgertum („Kapital“) und der Arbeiterschaft („Arbeit“) sowie der soziokulturelle Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten bzw. religiös gebundenen und laizistischen Bevölkerungsgruppen. Die in allen Demokratien regelmäßig auftretenden kurzfristigen Veränderungen der parteipolitischen Kräfteverteilung lassen sich durch den soziologischen Ansatz nicht erklären. Das unabhängig von der soziologischen Forschungstradition entwickelte sozialpsychologische Modell führt die Entscheidung der Wähler auf das Zusammenspiel der langfristig stabilen Parteiidentifikation mit den kurzfristig entstehenden und sich ändernden Einstellungen der Wähler zu politischen Sachfragen und zu den Spitzenkandidaten der Parteien zurück. Mit diesen Einstellungen reagieren die Wähler auf die bei einer bestimmten Wahl gegebenen Bedingungen, zum Beispiel auf die Leistungen der Regierung und der Opposition in der vorangegangenen Wahlperiode, auf die Parteiprogramme und Problemlösungsangebote der Parteien oder auf die von ihnen nominierten Kandidaten für das Amt des Regierungschefs. Während die Parteiidentifikation als Verbindungsglied zum soziologischen Modell die stabile Komponente des Wählerverhaltens repräsentiert, resultieren Veränderungen der Wahlentscheidung zwischen zwei aufeinanderfolgenden Wahlen aus den Einstellungen zu den Kandidaten und zu den politischen Sachfragen. Dieser Erklärungsansatz (auch als „Michigan-“ oder „Ann Arbor“-Modell bezeichnet) spielt in der empirischen Wahlforschung seit Jahren die führende Rolle und wurde seit seiner Einführung mehrfach verfeinert. Seine Grundannahmen über die Bestimmungsfaktoren des individuellen Wählerverhaltens wurden jedoch beibehalten. Lassen sich die im sozialpsychologischen Modell enthaltenen Faktoren auf die Entscheidungsbildung der Wähler bei Landtagswahlen anwenden? 132 Frech-Weber-Wehling_AK.indd 132 13.01.2011 10:32:56 Uhr Wahlrecht, Wahlergebnisse und Wählerverhalten bei den Landtagswahlen Und wie müssen sie interpretiert sowie gegebenenfalls modifiziert werden?17 Da Wahlen auch auf der Landesebene Parteiwahlen sind, scheint es unproblematisch, das Konzept der Parteiidentifikation als Erklärungsfaktor des Verhaltens bei Landtagswahlen heranzuziehen. Selbst wenn diese Einstellung eine etwas unklare Mischung bundes- und landespolitischer Faktoren repräsentiert, treffen doch viele Wähler ihre Auswahl zwischen den zu einer Landtagswahl antretenden Parteien ausschließlich auf der Grundlage ihrer langfristigen Bindung an eine dieser Parteien. Eine von der Parteiidentifikation abweichende Wahlentscheidung ist zwar nicht ausgeschlossen, sie tritt aber in der Regel nur dann auf, wenn ein Wähler schwerwiegende Zweifel an der Problemlösungskompetenz der von ihm favorisierten Partei oder Vorbehalte gegen die von ihr nominierten Kandidaten hat. Wegen des relativ großen Einflusses der Landtage auf die Gestaltung wichtiger Politikfelder können auch die Einstellungen der Wähler zu landespolitischen Fragen variieren und insofern die Wählerentscheidung beeinflussen. Diese Einstellungen können sich auf mehrere Sachverhalte beziehen. Viele Wähler machen sich nicht die Mühe, die programmatischen Positionen und Problemlösungsangebote der Parteien im Detail zu bewerten. Sie stützen ihr Urteil über die Parteien auf eine allgemeine Bewertung der Regierungsarbeit der vorausgegangenen Legislaturperiode. Fällt die Bilanz der Regierungsarbeit positiv aus, neigen die Wähler dazu, die Regierungsparteien in ihrer Position zu bestätigen. Bei einer negativen Einschätzung der Regierungsarbeit steigt die Wahrscheinlichkeit der Wahl der Oppositionsparteien oder der Stimmenthaltung. Andere Wählergruppen entscheiden auf der Grundlage ihrer Übereinstimmung mit den programmatischen Positionen der Partei, beispielsweise in der Bildungspolitik. Wieder andere bilden sich ein Urteil über die wichtigsten politischen Probleme und votieren für die Partei, der sie die größte Kompetenz zur Lösung dieser Probleme zutrauen. Dieses Abwägen kann bei parteigebundenen Wählern anders ausfallen als bei Personen ohne Parteiidentifikation. Mit der Parteiidentifikation übereinstimmende Einstel17 Ausführlich: Oscar W. Gabriel/Everhard Holtmann: Ober sticht Unter? Zum Einfluss der Bundespolitik auf Landtagswahlen: Kontext, theoretischer Rahmen und Analysemodelle. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Heft 4, 2007, S. 443–460; Kerstin Völkl: Reine Landtagswahlen oder Bundestagswahlen? Eine Untersuchung des Abstimmungsverhaltens bei Landtagswahlen 1990–2006, Baden-Baden 2009; sowie: Kerstin Völkl/ Kai-Uwe Schnapp/Everhard Holtmann/Oscar W. Gabriel (Hrsg.): Wähler und Landtagswahlen in der Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 2008. 133 Frech-Weber-Wehling_AK.indd 133 13.01.2011 10:32:56 Uhr Oscar W. Gabriel und Jürgen Bauknecht lungen zur Problemlösungskompetenz der Parteien und die Übereinstimmung mit den von den Parteien vertretenen programmatischen Positionen stabilisieren die Bindung der Parteien nahestehenden Personen und verstärken ihre Tendenz zur Wahl ihrer Identifikationspartei. Bei parteifernen Wählern spielen Sachfragenorientierungen oft die wahlentscheidende Rolle. Die zweite kurzfristig veränderliche Bestimmungsgröße des Wählerverhaltens bezieht sich auf die von den Parteien nominierten Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten. Unter der Voraussetzung, dass sie den Wählern bekannt sind, bewerten diese die Persönlichkeitscharakteristika und die politische Kompetenz der Spitzenkandidaten oder bilden sich ohne nähere Abwägung einzelner Faktoren ein Urteil über sie. Diese Urteile bilden die Grundlage für die Kandidatenpräferenz. Funktional spielt die Kandidatenorientierung die gleiche Rolle wie die Einstellung zu Sachfragen. Sie stabilisiert oder verstärkt die Parteipräferenz der parteigebundenen Wähler und dient den Parteifernen gemeinsam mit der Einstellung zu Sachfragen als Grundlage für die Bildung einer Parteipräferenz. Neben den Einstellungen zur Landespolitik bzw. den personellen und programmatischen Angeboten der Landesparteien spielen unter Umständen auch bundespolitische Überlegungen eine Rolle als Bestimmungsfaktoren der Entscheidung bei Landtagswahlen.18 Prinzipiell kann man diesen Einfluss dadurch erfassen, dass man zusätzlich zu den Einstellungen zu den Spitzenkandidaten bei Landtagswahlen und den Einstellungen der Wähler zu landespolitischen Sachfragen die gleichen bundespolitischen Einstellungen in die Erklärung des Verhaltens bei Landtagswahlen einbezieht. Die meisten Studien unterstellen allerdings ein einfacheres Wählerkalkül, indem sie die bundespolitische Komponente der Stimmabgabe bei Landtagswahlen auf die Zufriedenheit mit den Leistungen der Bundesregierung beziehen. Nach dieser Annahme belohnen oder bestrafen die Wähler die amtierende Bundesregierung bei ihrem Votum über die Landespolitik.19 Verstärkt wird diese Neigung der Wähler, wenn die gleiche Partei im Bund und im Land regiert.20 18 Vgl. Kerstin Völkl: Reine Landtagswahlen oder Bundestagswahlen? Eine Untersuchung des Abstimmungsverhaltens bei Landtagswahlen 1990–2006, Baden-Baden 2009. 19 Ebd., S. 24 ff. 20 Thomas Gschwend: Abgeordnetenhauswahlen sind keine Bundestagswahlen. Oder doch? Erfahrungsbericht aus Berlin, in: Kerstin Völkl/Kai-Uwe Schnapp/Everhard Holtmann/Oscar W. Gabriel (Hrsg.): Wähler und Landtagswahlen in der Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 2008, S. 93–120. 134 Frech-Weber-Wehling_AK.indd 134 13.01.2011 10:32:56 Uhr Wahlrecht, Wahlergebnisse und Wählerverhalten bei den Landtagswahlen Diese Überlegungen kann man durch die Aufnahme der generalisierten Zufriedenheit mit der Bundesregierung bzw. mit ihren Leistungen in ein Modell zur Erklärung des Wahlentscheides bei Landtagswahlen einbeziehen. Das Erklärungsmodell umfasst somit die folgenden Größen: Die Entscheidung der Wähler für eine bestimmte Partei als das zu erklärende Verhalten sowie die Parteiidentifikation, die Einstellung zu den Sachfragen, zu den Spitzenkandidaten der Parteien und die Zufriedenheit mit der Bundesregierung als die erklärenden Größen. Den Einfluss der Sozialstruktur auf die Parteipräferenz lassen wir unberücksichtigt, weil dieser mittelbar über die Parteiidentifikation wirkt. Welche Faktoren beeinflussen das Wählerverhalten in Baden-Württemberg? Lässt sich die dauerhafte Dominanz der CDU im Südwesten durch das Zusammenspiel von Parteiidentifikation, Kandidatenorientierung, der Einstellung zu landespolitischen Sachfragen und durch die Zufriedenheit mit der Bundesregierung zufriedenstellend erklären? Zumindest seit dem Beginn der 1990er Jahre erlauben es die verfügbaren Umfragedaten, diese Frage zu beantworten. Die aktuellste und umfassendste Analyse der individuellen Bestimmungsfaktoren des Wählerverhaltens bei den baden-württembergischen Landtagswahlen 1968 bis 2006 stammt von Isabell Thaidigsmann.21 In getrennten Schätzungen für den Parteien nahe- und fernstehenden Wählern benutzte sie die Einstellung zu den Kandidaten der CDU und der SPD für das Amt des Ministerpräsidenten sowie – als allgemeine Indikatoren des Einflusses der Einstellungen zur Bundes- und zur Landespolitik – den Unterschied zwischen der Sympathieeinschätzung von CDU und SPD im Bund und im Land als Erklärungsfaktoren der Präferenz für eine der beiden Parteien. Bei den parteinahen Wählern berücksichtigte sie zusätzlich die Parteiidentifi- 21 Isabell Thaidigsmann: Wir können alles. Außer auf einen CDU-Ministerpräsidenten verzichten. Ergebnisse der baden-württembergischen Landtagswahlen 1968 bis 2006, in: Kerstin Völkl/Kai-Uwe Schnapp/Everhard Holtmann/Oscar W. Gabriel (Hrsg.): Wähler und Landtagswahlen in der Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 2008, S. 39–62. 135 Frech-Weber-Wehling_AK.indd 135 13.01.2011 10:32:56 Uhr Oscar W. Gabriel und Jürgen Bauknecht kation als möglichen Einflussfaktor. Beide Erklärungsmodelle erbrachten sehr gute Resultate und lieferten die folgenden Ergebnisse über die Bedeutung der genannten Faktoren für die Wahlentscheidung: In den Jahren 1988 bis 2001 wurde die Entscheidung für die CDU bzw. die SPD am stärksten durch die Einstellung zu den Spitzenkandidaten dieser beiden Parteien beeinflusst. Im Jahr 2006 kam der Parteisympathie ein etwas größeres Gewicht zu als der Kandidatenorientierung. Außer in den Jahren 1992 und 1996 spielten bundespolitische Faktoren bei allen Wahlen die geringste Rolle. Ihre Bedeutung war aber dennoch nicht vernachlässigbar. Erwartungsgemäß war für die Parteien nahestehenden Wähler die langfristige Parteibindung der weitaus wichtigste Grund, sich für eine Partei zu entscheiden. In fast allen Wahljahren außer 2001 folgte mit weitem Abstand die Einstellung zu den Spitzenkandidaten der beiden Parteien. Die relative Bedeutung bundes- und landespolitischer Faktoren für die Entscheidung der Parteien nahestehenden Wähler stellte sich 1992 und 1996 anders dar als 2001 und 2006. In den beiden ersten Wahlen waren bundespolitische Faktoren wichtiger als landespolitische, in den beiden letzten Wahlen verhielt es sich umgekehrt. Da die Untersuchung von Isabell Thaidigsmann aufgrund der spezifischen Fragestellung des Beitrages nicht mit dem am Beginn dieses Abschnittes vorgestellten Erklärungsmodell arbeitet, möchten wir im folgenden Teil des Beitrages prüfen, wie die im sozialpsychologischen Modell enthaltenen Faktoren, die Parteiidentifikation, die Kandidatenorientierung und die Einstellungen der Wähler zur Problemlösungskompetenz der Parteien, die Parteipräferenz der baden-württembergischen Wähler bei Landtagswahlen beeinflussen. Da die Einstellungen zu den landespolitischen Sachfragen in den neueren Umfragen stets in unterschiedlicher Form erhoben wurden, ist deren Vergleich über die Jahre hinweg nur auf der Grundlage der Zufriedenheit mit den Leistungen der Landesregierung möglich. Wie zahlreiche empirische Untersuchungen belegen, ist die Wahlentscheidung der meisten Wähler ein Produkt ihrer langfristigen Parteiidentifikation. Dieser Sachverhalt erklärt den deutlichen Vorsprung, den die CDU bei allen baden-württembergischen Landtagswahlen vor der SPD erzielen konnte. Von den ungefähr zwei Dritteln der Bürger Baden-Württembergs, die sich bei allen hier untersuchten Wahlen mit einer der im Landtag vertretenen Parteien identifizierten, entfiel jeder Zweite auf die CDU. Der Anteil der SPD-Sympathisanten lag durchweg um mindestens zehn Prozent unter 136 Frech-Weber-Wehling_AK.indd 136 13.01.2011 10:32:56 Uhr Wahlrecht, Wahlergebnisse und Wählerverhalten bei den Landtagswahlen dem für die CDU gemessenen Wert. Bemerkenswert ist auch, dass die badenwürttembergischen Grünen – anders als die FDP/DVP – bei allen seit 1992 durchgeführten Wahlen dazu in der Lage waren, allein durch die Mobilisierung ihrer Kernanhängerschaft den Einzug in den Landtag zu sichern. Wie Tabelle 4 zeigt, zeichnete sich die Verteilung der parteigebundenen Wähler in Baden-Württemberg in den Jahren 1992 bis 2006 durch eine große Stabilität aus. Insbesondere der Anteil der Kernwählerschaft der CDU wies im untersuchten Zeitraum nur geringfügige Schwankungen auf. Tab. 4: Parteiidentifikation der Wähler in Baden-Württemberg 1992–2006 1992 1996 2001 2006 CDU/CSU 31,6 % 33,7 % 32,5 % 33,0 % SPD 23,6 % 18,3 % 21,7 % 19,9 % FDP 3,8 % 2,3 % 3,4 % 4,0 % Grüne 5,2 % 9,0 % 6,8 % 8,1 % keine 33,9 % 34,4 % 34,9 % 30,6 % 1,9 % 2,3 % 0,7 % 4,5 % andere, k. A. Quellen: DFG-Projekt „Einfluss der Bundespolitik auf Landtagswahlen“ sowie für 2006 die Vorwahlstudie der Forschungsgruppe Wahlen. Auswertungen durch die Verfasser. Anzahl der befragten Wähler: 1992: 1 017; 1996: 919; 2001: 902; 2006: 1 453. In allen bisher durchgeführten Untersuchungen des Wählerverhaltens bei baden-württembergischen Landtagswahlen erwies sich die Parteiidentifikation, auch bei einer Kontrolle der Kandidaten- und Themenorientierungen, als der mit weitem Abstand wichtigste Bestimmungsfaktor der Wahlentscheidung.22 Hiervon profitiert die CDU in doppelter Weise: Sie weist nicht 22 Oscar W. Gabriel: Die baden-württembergische Landtagswahl vom 25. März 2001: Fehlschlag einer „Teufelsaustreibung“, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Heft 1, 2002, S. 10–27; Oscar W. Gabriel/Kerstin Völkl: Die baden-württembergische Landtagswahl vom 26. März 2006: Schwarzes Land mit bunten Tupfern, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Heft 1, 2007, S. 16–33. Isabell Thaidigsmann: Wir können alles. Außer auf einen CDU-Ministerpräsidenten verzichten. Ergebnisse der baden-württembergischen Landtagswahlen 1968 bis 2006, in: Kerstin Völkl/Kai-Uwe Schnapp/Everhard Holtmann/Oscar W. Gabriel (Hrsg.): Wähler und Landtagswahlen in der Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 2008, S. 39–62. 137 Frech-Weber-Wehling_AK.indd 137 13.01.2011 10:32:56 Uhr Oscar W. Gabriel und Jürgen Bauknecht nur den höchsten Anteil an Parteien nahestehende Wähler auf, sondern es kommt hinzu, dass der Identifikation mit der CDU für die Wahl dieser Partei ein etwas größeres Gewicht zukommt als es bei der Entscheidung zu Gunsten der SPD der Fall ist. Die Verteilung der kurzfristig wirksamen Bestimmungsfaktoren des Wählerverhaltens verstärkt die in den langfristig stabilen Parteibindungen angelegte Vorherrschaft der CDU im Südwesten. Bei sämtlichen Landtagswahlen seit 1992 gaben die Wähler dem von der CDU aufgestellten Spitzenkandidaten den Vorzug vor seinem Mitbewerber bzw. seiner Mitbewerberin von der SPD (vgl. Tab. 5). Zwar lag zwischen den Spitzenkandidaten der beiden großen Parteien 2006 und vor allem 1996 ein größerer Abstand als 1992 und 2001, doch bei keiner dieser Wahlen bedeutete die Unterstützung des Spitzenkandidaten der SPD eine ernsthafte Herausforderung der amtierenden CDU-Ministerpräsidenten. Die CDU bezieht ihre Vorteile aus dem regelmäßig recht großen Popularitätsvorsprung ihrer Spitzenkandidaten gegenüber demjenigen der SPD. Allerdings beeinflusst die Kandidatenpräferenz die Entscheidung für die CDU nicht stärker als es im Lager der SPD der Fall ist. Tab. 5: Kandidatenpräferenz der Wähler in Baden-Württemberg 1992–2006 1992 1996 2001 2006 CDU-Kandidat 45,0 % 49,1 % 42,4 % 46,5 % SPD-Kandidat 40,7 % 33,2 % 38,1 % 36,5 % keinen unbekannt keine Angabe 7,1 % 6,5 % 4,3 % 6,7 % nicht erhoben 6,4 % 11,4 % 6,7 % 7,2 % 4,7 % 3,8 % 3,7 % Quellen: DFG-Projekt „Einfluss der Bundespolitik auf Landtagswahlen“ sowie für 2006 die Vorwahlstudie der Forschungsgruppe Wahlen. Auswertungen durch die Verfasser. Anzahl der befragten Wähler: 1992: 1 017; 1996: 919; 2001: 902; 2006: 1 453. Die Bewertung der Arbeit der Bundes- und der Landesregierung bringt der CDU weitere Vorteile. Bei keiner der hier untersuchten Wahlen bekundete eine Mehrheit der Befragten eine negative Einstellung zur Arbeit der Landesregierung (vgl. Tab. 6). Insbesondere bei den letzten beiden Wahlen er138 Frech-Weber-Wehling_AK.indd 138 13.01.2011 10:32:56 Uhr Wahlrecht, Wahlergebnisse und Wählerverhalten bei den Landtagswahlen zielte die Stuttgarter Regierung überaus positive Werte. Dies bestätigt der Vergleich zwischen der Bewertung der Bundes- und der Landesregierung. In zwei von drei Jahren, für die entsprechende Daten zur Verfügung stehen, schätzen die Wähler die Arbeit der Landesregierung positiver ein als die der Bundesregierung. Die einzige Ausnahme betrifft das Jahr 2006, in dem in Berlin eine Koalition aus CDU/CSU und SPD regierte, was erwartungsgemäß viele SPD-Wähler dazu veranlasste, der Bundesregierung ein positives Zeugnis auszustellen. Im Vergleich mit der Parteiidentifikation und den Kandidatenorientierungen erweisen sich die Bewertungen der Leistungen der Bundes- und der Landesregierung durch die Wähler als die schwächsten Antriebskräfte der Entscheidung für die Wahl einer der beiden Volksparteien. Dennoch sind beide Größen nicht ohne Bedeutung für den Wahlentscheid. Die CDU bezieht durchgängig Vorteile aus einer positiven Bewertung der Arbeit der Landesregierung, bei der SPD fällt der Zusammenhang erwartungsgemäß negativ aus, da die Landesregierung immer von der CDU geführt wurde. Die Effekte der Bewertung der Regierungsarbeit in Berlin stellen sich ebenfalls wie erwartet dar. Während der Amtszeit der Großen Koalition bewerteten die baden-württembergischen Wähler die Leistungen der Bundesregierung nicht nur überdurchschnittlich positiv. Die Regierung in Berlin schnitt im Urteil der Wähler auch besser ab als die Landesregierung, was weder 1992 noch 2001 der Fall war. Die Leistungsbewertung der Regierung stärkt auch hier die CDU, während die SPD beim Wähler keinen Nutzen daraus zieht, wenn sie in Berlin führende Regierungspartei ist. Tab. 6: Zufriedenheit der Wähler in Baden-Württemberg mit der Landes- und der Bundesregierung 1992–2006 1992 1996 2001 2006 Landesregierung 6,95 6,82 7,36 7,31 Bundesregierung 6,11 nicht erhoben 6,98 7,50 Quellen: DFG-Projekt „Einfluss der Bundespolitik auf Landtagswahlen“ sowie für 2006 die Vorwahlstudie der Forschungsgruppe Wahlen. Auswertungen durch die Verfasser. Anzahl der befragten Wähler: 1992: 1 017; 1996: 919; 2001: 902; 2006: 1 453. 139 Frech-Weber-Wehling_AK.indd 139 13.01.2011 10:32:56 Uhr Oscar W. Gabriel und Jürgen Bauknecht Zusammenfassung Bereits bei der ersten Landtagswahl in Baden-Württemberg im Jahr 1952 pendelte sich eine parteipolitische Kräfteverteilung ein, die seither in ihren Grundzügen Bestand hat. Die CDU etablierte sich als weitaus stärkste politische Kraft, die überwiegend gemeinsam mit der FDP oder mit absoluter Mehrheit regierte. Zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte des Landes vermochte es die SPD, die dominierende Stellung der CDU zu gefährden. Mitte der 1960er Jahre waren die anfänglich noch erfolgreichen Splitterparteien aus dem Landtag verschwunden: die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) und die Vertriebenenpartei Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE). Seither konnten sich nur die Grünen dauerhaft als neue politische Kraft etablieren. CDU, FDP und Grüne erzielten bei den meisten Landtagswahlen bessere Ergebnisse als im Bundesdurchschnitt, die SPD schneidet schlechter ab als auf der Bundesebene. Die sozialpsychologische Theorie des Wählerverhaltens liefert die maßgeblichen Erklärungen für die parteipolitische Konstellation im Südwesten. Auch wenn sich die entsprechenden Zusammenhänge erst seit den 1990er Jahren empirisch belegen lassen, dürften sich die betreffenden Strukturmuster bereits deutlich früher herausgebildet haben. Die langfristige Dominanz der CDU hat ihre wichtigste Ursache in der Verteilung der den Parteien nahestehenden Wähler. Die CDU kann nicht nur mehr Wähler dauerhaft an sich binden als die anderen Parteien. Die CDU-Anhänger setzen ihre Bindung auch stärker ins Wählerverhalten um als es die der SPD tun. Zu den Effekten der Parteiidentifikation kommen die kurzfristig wirksamen Faktoren, insbesondere die Einstellungen zu den Spitzenkandidaten hinzu. Auch sie wirken zu Gunsten der Union und konnten bisher die langfristige Führungsrolle der Partei absichern. Über die Dauerhaftigkeit und die zukünftige Entwicklung dieser Verhaltensmuster und ihre Bedeutung für den Parteienwettbewerb kann man nur spekulieren. Wie die Europa- und Bundestagswahlen zeigten, gibt es selbst im CDU-dominierten Baden-Württemberg keine garantierten Regierungsmehrheiten. Die Wechselhaftigkeit der Wähler brachte der CDU und der SPD die schlechtesten Ergebnisse in der Geschichte des Landes. FDP/DVP und Grüne erlebten einen Höhenflug und die Linkspartei nahm klar die 140 Frech-Weber-Wehling_AK.indd 140 13.01.2011 10:32:56 Uhr Wahlrecht, Wahlergebnisse und Wählerverhalten bei den Landtagswahlen Fünfprozenthürde. Für die Landtagswahl 2011 lassen sich hieraus keine Schlussfolgerungen ableiten. Alles scheint möglich. Literaturhinweise Bovermann, Rainer: Wahlen zu den Landesparlamenten: Testwahlen für Berlin?, in: Politische Bildung, Heft 3, 2000, S. 57–75. Eilfort, Michael: Parteien in Baden-Württemberg, Stuttgart 2004. Eith, Ulrich: Das Parteiensystem Baden-Württembergs, in: Uwe Jun/Melanie Haas/Oskar Niedermayer (Hrsg.): Parteien und Parteiensysteme in den deutschen Ländern, Wiesbaden 2008, S. 103–123. Jürgen W. Falter/Harald Schoen (Hrsg.): Handbuch Wahlforschung, Wiesbaden 2005. Freitag, Markus/VatterAdrian: Die Demokratien der deutschen Bundesländer. Politische Institutionen im Vergleich, Opladen/Farmington Hills 2008. Gabriel, Oscar W.: Die baden-württembergische Landtagswahl vom 25. März 2001: Fehlschlag einer „Teufelsaustreibung“, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Heft 1, 2002, S. 10–27. Gabriel, Oscar W./Holtmann, Everhard: Ober sticht Unter? Zum Einfluss der Bundespolitik auf Landtagswahlen: Kontext, theoretischer Rahmen und Analysemodelle, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Heft 4, 2007, S. 443–460. Gabriel, Oscar W./Völkl, Kerstin: Die baden-württembergische Landtagswahl vom 26. März 2006: Schwarzes Land mit bunten Tupfern, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Heft 1, 2007, S. 16–33. Hildebrandt, Achim/Wolf, Frieder (Hrsg.): Die Politik der Bundesländer. Staatstätigkeit im Vergleich, Wiesbaden 2008. Kost, Andreas/Rellecke, Werner/Weber, Reinhold (Hrsg.): Parteien in den deutschen Ländern. Geschichte und Gegenwart, München 2010. Schmid, Josef/Griese, Honza (Hrsg.): Wahlkampf in Baden-Württemberg. Organisationsformen, Strategien und Ergebnisse der Landtagswahl vom 25. März 2001, Opladen 2002. Schmid, Josef/Zolleis, Udo (Hrsg.): Wahlkampf im Südwesten. Parteien, Kampagnen und Landtagswahlen 2006 in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, Münster 2006. Schnapp, Kai Uwe: Landtagswahlen und Bundespolitik. Immer noch eine offene Frage? Neue Antworten im Ländervergleich auf Aggregatdatenebene, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Heft 4, 2007, S. 463–480. Völkl, Kerstin: Der Einfluss der Bundespolitik auf die Stimmabgabe der Bürger bei Landtagswahlen unter besonderer Berücksichtigung der Stärke der Parteiidentifikation, in: Gabriel, Oscar W./Wessels, Bernhard/Falter, Jürgen W. (Hrsg.): Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 2005, Wiesbaden 2009, S. 421–456. Völkl, Kerstin/Schnapp, Kai-Uwe/Holtmann, Everhard/Gabriel, Oscar W. (Hrsg.): Wähler und Landtagswahlen in der Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 2008. Völkl, Kerstin: Reine Landtagswahlen oder Bundestagswahlen? Eine Untersuchung des Abstimmungsverhaltens bei Landtagswahlen 1990–2006, Baden-Baden 2009. Weber, Reinhold: Politische Kultur, Parteiensystem und Wählertraditionen im deutschen Südwesten, in: Reinhold Weber/Hans-Georg Wehling (Hrsg.): Baden-Württemberg. Gesellschaft, Geschichte, Politik, Stuttgart 2006, S. 56–89. 141 Frech-Weber-Wehling_AK.indd 141 13.01.2011 10:32:56 Uhr