Sabine Mertel – Bildung im 21. Jahrhundert

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Sabine Mertel – Bildung im 21. Jahrhundert
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‚Bildung im 21. Jahrhundert im Spektrum gesellschaftlicher, professionspädagogischer und forschungsmethodischer Herausforderungen
Hintergrund
Im Herbst 2008 stellten die Autor/innen des 2. Bildungsberichts der Bundesregierung
fest, dass die Frühpädagogik in Deutschland als Profession und Disziplin unzulänglich
entwickelt sei. Somit bot sich im Rahmen der Regionalkonferenz aktuell die Chance, diesen Wissenschafts- und Professionssektor etwas genauer zu betrachten, im Besonderen
für das Bundesland Sachsen. Denn das gesamte Feld erfährt eine beträchtliche gesellschaftliche Aufmerksamkeit. Dabei sind vier Aspekte hervorzuheben:
1. Ausgelöst durch die Bildungsdebatte im Anschluss an TIMSS, PISA und IGLU stehen
Kitas unter Veränderungsdruck. Das zeigt sich in vielerlei Reformvorhaben auf Bundesund Landesebene, im Besonderen bei der Implementierung der länderspezifischen Bildungspläne. Denn diese unterstreichen die Bedeutung der frühkindlichen Bildung als individuellen sowie sozialen und gesellschaftlichen Entwicklungsprozess, womit neue Herausforderungen an Erziehung, Bildung und Betreuung gestellt werden. Somit sind komplexe
Bildungsarrangements gefragt, die Adressat/innen und Expert/innen gleichermaßen betreffen, geht es doch um die Ko-Konstruktion und die Ko-Produktion im frühpädagogischen Dienstleistungsbereich. Damit sind die zentralen Themen zur eigenaktiven Selbstbildung des Kindes sowie der Bildungs- und Lerndialog zwischen Kind, Eltern und professionellen Akteur/innen resp. Erzieher/innen angesprochen 1; gleichermaßen stellt sich die
Frage nach der gezielten Aneignung kognitiver Fähigkeiten und individueller sowie sozialer Kompetenzen, womit konkrete Vorschläge zur didaktischen Vermittlung dieser Bildungsaufgaben zu diskutieren sind2.
2. Unmittelbar sind damit auch die jüngsten Entwicklungen zu Professionalisierung bzw.
Akademisierung der zuständigen Fachkräfte verbunden, da sie die Bildungsangebote für
Kinder in öffentlich verantworteten Institutionen formulieren, realisieren und qualitativ
bewerten müssen. Insgesamt haben sich die Anforderungen an Expert/innen der Frühpädagogik gewandelt und sukzessiv erweitert, gerade weil die Bildungs-, wie Erziehungsund Betreuungsprozesse der Kinder in einer komplexen Gleichzeitigkeit auftreten. Somit
ist es erforderlich, die Ausbildungsstandards in diesem Humandienstleistungssektor anzupassen. Unumgänglich sind deshalb akademische Lehr-Lern-Arrangements, um bei den
Akteur/innen eine Balance zwischen Persönlichkeitsentwicklung sowie Wissens- und
Kompetenzerwerb zu ermöglichen3. Wechselwirkungen zwischen Biografizität, Qualifikation und Fachlichkeit sind bedeutsam, weil (berufs-)biographische Reflexion und biographische Ressourcen, persönliche und berufliche (Lern-)Erfahrungen und Identitätsentwürfe
1
Der Sächsische Bildungsplan (2006) sieht folgende Bildungsbereiche vor: Soziale, körperlich-leibliche, kommunikative, ästhetische und naturwissenschaftlich-mathematische Lern- und Bildungsaufgaben.
2
Siehe Beiträge in diesem Band (AG 12) von Bamler und Schenker.
3
Mertel 2002; 2004; 2005; 2006; 2008)
2
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das Handeln nachhaltig prägen.
3. Auch befindet sich das ‚Modell Familie’ hinsichtlich Familienstruktur, familialer Funktionen sowie im Innen- und Außenverhältnis in einem tiefgreifenden Wandel. Damit werden
neue Anforderungen an das Aufwachsen der Kinder im alltäglichen Austauschprozess zwischen den Generationen gestellt. Konstatiert wird eine Deinstitutionalisierung des modernen bürgerlichen Familienmusters, womit Veränderungen im Prozess der Familienbildung
auf den Ebenen Ehe/ Lebensgemeinschaft und Elternschaft, sozioökonomische Benachteiligungen von Familien und Kinderzahl, Ansprüche an die Elternrolle und Kindheitsverständnis sowie individuelle und geschlechterkonnotierte Gründe für Kinderwunsch gemeint sind (vgl. Peukert 2005; Grunert/ Krüger 2006; Ecarius 2007). Als Sozialisationsinstanzen geraten demzufolge die pädagogischen Institutionen der Kindheit (Krippe – Kindergarten – Hort - Schule) sowie zentrale soziale Netzwerke (Peergroup, Wohngemeinde,
Region) in den Blick, wobei eigens die Übergänge zwischen den pädagogischen Einrichtungen und die jeweiligen Interaktionsfelder zukünftig relevant werden (Schweppe/Sting
2006).
4. Schließlich bedeuten diese Veränderungen, Bildungsprozesse nachhaltig und durchlässig für Kinder, deren Bezugspersonen und für professionelle Akteur/innen zu systematisieren; diese sind stets unter den spezifischen gesellschaftlichen und regionalen Bedingungen zu bilanzieren, womit das Aufwachsen der Kinder unter den Gesichtspunkten sozialer Milieus, veränderter Familienstrukturen, Diversity und Bildungsdisparitäten in
Dienstleistungs-, Informations- und Wissens- bzw. Bildungsgesellschaften zu erörtern ist.
1. Bildung im Spektrum gesellschaftlicher und professionspädagogischer Entwicklungslinien
Da der Bildungsbegriff geradezu Konjunktur hat, zeichnet sich auch ein recht komplexes
Bildungsverständnis ab (Hornstein 2004; Lazarus/ Bosshard 2005). Deshalb ist es erforderlich, eine Gegenstandsbestimmung für den frühpädagogischen Bereich vorzunehmen,
und zentrale Bildungsdimensionen zu skizzieren. Greift man zunächst Bildungsprozesse
auf der Makroebene auf, so sind diese von Dynamik und Wandel, Globalisierung, europäischer Internationalisierung, Ökonomie und Märkte, Qualität von Bildungsgütern und innovativer Bildungsunternehmen sowie Bildungsbeteiligungen geprägt. Grundsätzlich sind
Bildungsprozesse im 21. Jahrhundert im Kontext von Sozialität, den Institutionen und
den individuellen Akteur/innen zu rekonstruieren. Bildung-in-Gesellschaft setzt somit folgende Kategorien voraus: a.) Verhältnis von Bildungs- und Beschäftigungssystem und
Bildungspolitik; b.) Verhältnis zwischen gesellschaftlicher und individueller Bedeutung
von Bildung (Zugänge, Nutzung, Anforderungen, Qualität), c.) Verhältnis zwischen Wissensvermittlung (Wissensformen), Erziehung (Sozialisation) und Betreuung (Fürsorge,
Bindung und Vertrauen) sowie d.) Verhältnis zwischen sozialer Partizipation und Integra-
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tion bzw. Exklusion der Akteur/innen (Bildung als Potenzial und Humanressource). Bedeutsam werden dabei formelle und informelle Bildungsprozesse, Konzepte des lebenslangen Lernens sowie der Kompetenzentwicklung (Kompetenzbiografie).
Geht man mit Stehr davon aus, dass Wissen ein hohes Integrationspotenzial in die bestehende Gesellschaft aufweist, bzw. die sich abzeichnende Gesellschaftsordnung auf
Wissen basiert (2000; 2006), somit Bildung einen zentralen Stellenwert für die Gesellschaftsmitglieder erfährt, dann ergeben sich neue Anforderungen an soziale und pädagogische Interventionen. Bereits in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts
sind die gesellschaftlichen Dynamiken und Strukturumbrüche mit dem Konzept der postindustriellen Gesellschaft erfasst, wobei besondere Aufmerksamkeit der Analyse von Bildungsexpansion und deren Folgen zukommt. Bildung zunächst verstanden als Wissenszugang und –nutzung, wird zu einem gesellschaftlichen Kernthema, weil unmittelbar mit
Bildungsgütern individuelle und gesellschaftliche Lebenschancen einhergehen (Bourdieu
1982; 1988; Kade/ Seiter 1998). Diese Modernisierungsdebatte setzt sich vor allem im
Zuge des gesellschaftlichen Wandels zur Dienstleistungs-, Informations- oder Wissensgesellschaft fort, wobei zu Beginn des 21. Jahrhunderts auch der Anspruch auf eine sogenannte Bildungsgesellschaft erhoben wird (Berger/ Konietzka 2001). Wie sehen diese
Entwürfe aus, bzw. in welcher Gesellschaft leben wir im 21. Jahrhundert?
1.1 Gesellschaftsmodelle
Zentrale Aussagen zur Dienstleistungsgesellschaft finden sich in den theoretischen Ausführungen von Fourastié (1954) und später bei Bell (1979). Beide Ansätze sind für gesellschaftliche Bildungsverständnisse relevant, da Fourastié die grundlegenden Entwicklungspfade in die Dienstleistungsgesellschaft aufzeigt, wohingegen Bell die nachindustrielle Gesellschaft neu adjustiert, indem spezifische Aspekte der Informationsgesellschaft
wie Kommunikation, Information und Bildung herausgestellt werden. Schließlich sind
Aussagen zur Wissensgesellschaft bedeutsam, da sowohl für Bell wie auch für Willke
(1997; 2001) Wissen zum entscheidenden Faktor der Ökonomie wie auch der sozialen
Polarisierung wird (Kraemer/ Bittlingmayer 2001:320).
Dienstleistungsgesellschaft
In der „Drei-Sektoren-Theorie“ von Fourastié4 wird bereits 1949 prognostiziert, dass sich - bedingt
durch den ökonomischen und technischen Wandel – die Beschäftigung vom primären über den
sekundären zum tertiären Sektor vollziehen wird. Das heißt, es findet eine maßgebliche Verschiebung der Erwerbsarbeit in der Landwirtschaft zum produzierenden Gewerbe und davon ausgehend
zu Dienstleistungstätigkeiten statt. Fourastié vermutete dabei einen Entwicklungstrend, der über
eine Zeitspanne von 200-300 Jahren andauert, bis die tertiäre Gesellschaft sich etabliert hat, wobei
dann 80% der Beschäftigten im Dienstleistungsgewerbe arbeiten und jeweils 10% im primären und
sekundären Sektor tätig sind (vgl. Häußermann/Siebel 1995).
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Die Drei-Sektoren finden sich bereits 1940 bei Clark in seiner Analyse der Bedingungen des wirtschaftlichen Fortschritts.
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Er unterscheidet in Anlehnung an Sauvy zwischen Dienstleistungen, die auf „Kapital und Maschinen“ angewiesen sind und den „reinen Dienstleistungen“, nämlich solchen, die von einer Person für
eine andere Person erbracht werden (Fourastié/Schneider1989:136).
Dabei ist von vielschichtigen Dienstleistungsarten im Tertiärsektor auszugehen, so dass letztlich
nicht von einem Bereich gesprochen werden kann, vielmehr sind Unterteilungen vorzunehmen (vgl.
ebd.). Im Mittelpunkt seiner Ausführungen steht die „Hoffnung“ auf eine Expansion der Beschäftigten, die konsumorientierte Dienstleistungen erbringen, diese nutzen und zu einer Melioration der
Dienstleistungsgesellschaft führen wird (vgl. Häußermann/Siebel 1995:14). Damit sind eine Lebensverbesserung der Gesellschaftsmitglieder, die Überwindung industrieller Machtstrukturen und
die Schaffung neuer Arbeitsqualitäten verbunden. Fourastié geht von einer zunehmenden Technisierung im sekundären Sektor aus, somit können Güter maschinell schneller gefertigt und distribuiert werden (Rationalisierungseffekte).
Dies hat zur Folge, dass zum einen eine Tertiärisierung des Sektors einsetzt, d.h. es werden anders
qualifizierte Arbeitskräfte für die sogenannten produktionsorientierten Dienstleistungen benötigt,
zum anderen wird ab einem bestimmten Sättigungsgrad des Güterkonsums der Bedarf zurückgehen. Die freigesetzten Arbeitskräfte finden im Programm Fourastiés Beschäftigung im tertiären
Sektor, denn die gesellschaftlichen Veränderungen bedingen auch, dass die Gesellschaftsmitglieder
anspruchsvollere Bedürfnisse „im individuellen Verbrauch und vor allem für die Aufrechterhaltung
der zivilisatorischen Einrichtungen“ entwickeln werden (Fourastié 1954:278). Zentrales Gut wird
die Bildung, und dies sowohl in der Generierung neuen Wissens (Aufgabe der Wissenschaften) als
auch in der Verteilung des Wissens (immaterielle Bedürfnisse der Gesellschaftsmitglieder).
Mittlerweile ist davon auszugehen, dass lediglich Beschäftigungsimpulse im Bereich der sekundären
Dienstleistungen (Forschen und Entwickeln, Organisation und Management sowie Betreuen, Beraten und Lehren) zu erwarten sind (IAB5). Damit verbunden sind Tätigkeiten, die einen hohen Qualifikationsbedarf aufweisen, was dazu führt, dass Ungelernte, bzw. Akteur/innen mit niedrigen Qualifikationspotential erschwerten Zugang zur Tätigkeitsstruktur von Dienstleitungs- und Bildungsgesellschaft finden werden, d.h. neue Ungleichheiten entstehen (Haunberger 2008:88).
Informationsgesellschaft
In seinen Ausführungen zu einer „nachindustriellen Gesellschaft“ stellt Bell unter Rekurs auf die
Transformationsprozesse von Industrie- zu Dienstleistungsgesellschaften wissensbezogene Dienstleistungen in den Mittelpunkt. In der postindustriellen Gesellschaft geht es nicht mehr um die Koordination von Menschen und Maschinen im Produktionsprozess von Gütern, sondern um Innovationen und Wissen, wodurch sich auch neue gesellschaftliche Klassen herausbilden. Zur wichtigsten
Berufsgruppe zählen die „technischen und akademischen Berufe sowie Wissenschaftler“ (Bell
1985:117), die sich als neue akademische (intellektuelle) Elite in der Gesellschaft positionieren.
Im Gegensatz zu vormals relevanten Größen wie der Gewinnung von Rohstoffen (vorindustriell)
und Energie (industriell) (vgl. Bell 1985), liegt die grundlegende Orientierung jetzt auf der Informationsbeschaffung, -nutzung und -verarbeitung. Bei diesem idealtypischen Konzept geht es um den
Wandel der Sozialstruktur, der sich in der „Gewinnung und Verwertung von Wissen“ (Bühl
1997:37) zeigt.
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IAB (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung)
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In diesem Zusammenhang wird auch eine Differenzierung des tertiären Sektors, der zunächst
sämtliche menschliche Dienstleistungen umfasst, eingeführt. Der quartäre Sektor steht dabei für
Geldhandel und Versicherungen, der quintäre Sektor besteht aus den Funktionsgruppen, die in
„Gesundheit, Ausbildung, Forschung und Verwaltung“ tätig sind (Bell 1985:33). Allerdings geraten
die ‘gemeinschaftsorientierten’ Dienstleistungstätigkeiten gegenüber den wissensbasierten, technischen Dienstleistungsformen ins Hintertreffen, obwohl dieses Segment nachweislich expandiert und
neue Berufe schafft (Bell 1954:151).
In den Ausführungen Bells wird den professionalisierten und technisch qualifizierten Berufen der
Vorrang gegeben; allerdings trennt er klar zwischen Wissenschaftlern, Technikern und Professionellen. Er skizziert anhand von fünf Dimensionen die Kriterien einer Wissensgesellschaft:
Zunächst ist die treibende Kraft der Wirtschaft das Erbringen und Konsumieren von Dienstleistungen (menschliche und akademische Dienstleistungen). Dabei dominieren wissenschaftliche und
technisch qualifizierte Berufe. Entscheidend ist nicht mehr der Erbringungsort der Dienstleistungen,
sondern „welche“ Tätigkeiten ausgeübt werden. Die Vorstellung der postindustriellen Gesellschaft
geht mit dem axialen Prinzip als Handlungslogik einher. Das bedeutet, dass im Zentrum das theoretische Wissen als Achse steht, „um die sich die neue Technologie, das Wirtschaftswachstum und
die Schichtung der Gesellschaft organisieren werden“ (Bell 1985:112). Das theoretische Wissen ist
der Ursprung für Erneuerungen und für die gesellschaftspolitische Entwicklung. Die Maxime für die
Zukunft liegt in der Steuerung und Bewertung von Technologie.
Die gesellschaftliche Entwicklung wird mit der Entscheidung zu einer „intellektuellen Technologie“
gleichgesetzt. Sie bezieht sich auf rationales Handeln, Analysefähigkeit und Computernutzung.
Dadurch können die Herausforderungen der „organisierten Komplexität“ (Weaver) bewältigt werden. Die „soziale Technologie“ bezieht sich dabei lediglich auf Bereiche wie die Organisation eines
Krankenhauses oder auf Wirtschaftsnetzwerke und dient dazu, manifeste Wissensbestände beizutragen (vgl. Bell 1985). Auf das Verhältnis dieser ‘Technologien’ zueinander im gesellschaftlichen
Kontext wird ebenso wenig eingegangen wie auf notwendige Kooperationsbedingungen, Qualitätsbestimmungen und Personen, die diese Dienstleistungen erbringen.
Während die Gesellschaftsprognose bei Fourastié unmittelbar mit einem ‘besseren Leben für alle’
gedeutet werden kann, entwirft Bell (1973)6 ein Modell, das nahezu totalitären und kapitalistischen
(Ritsert 1988) Vorstellungen einer neuen Wissensklasse folgt und den produktionsbezogenen
Dienstleistungen eine herausragende Stellung einräumt. Somit basieren die Aussagen auf der Logik
einer Industriegesellschaft und weniger im Horizont einer Dienstleistungs- oder Wissensgesellschaft. Die Determinanten Berufsgliederung und -struktur sowie Wissensformen und -arten sind
zentral für diese neue Gesellschaftsform, während Fourastié auf die Qualität der Tätigkeiten abhebt, somit über die sektorale Betrachtungsweise hinausgeht und eine funktionale Denkart vorschlägt (vgl. Huisinga 1990). Wird nämlich von der erbrachten Arbeit ausgegangen, dann ist auch
die Unterscheidung zwischen technischen Fortschritt und Technisierung nachvollziehbar. So bleibt
Wissen als reiner Produktionsfaktor bei Bell primär dem ökonomischen Gefüge verhaftet und bezieht sich vor allem auf die Erzeugung und Übermittlung von Information (Daten), ohne dass dabei
im kommunikationstheoretischen Sinne auch Bedeutungen ausschlaggebend sind (Shannon 1976).
Information ist mit „Kenntnisse über Sachverhalte bzw. Rohdaten“ gleichzusetzen, wohingegen
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Bells Abhandlung konzentriert sich lediglich auf einen zukünftigen Gestaltungsaspekt und ist besonders im
Kontext medialer Lebensgestaltung entscheidend, wobei interaktive Wissensformen sämtliche Bereiche des
gesellschaftlichen und beruflichen Lebens nachhaltig beeinflussen.
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Wissen nach Huisinga und Lisop (1999), als „bearbeitete Informationen oder begründete Kenntnisse“ betrachtet wird (ebd.: 10).
Bell folgt mit seiner Vision den technischen Neuerungen, während Fourastié die Technisierung bei
Tertiärisierungseffekten mit einem Gewinn von Humanvermögen im Sinne von Bildung, Wissen und
Autonomie gleichsetzt.
Wissensgesellschaft
Wissensgesellschaft ist nach Willke (2001) eine Gesellschaft, bei der „Strukturen und Prozesse der
materiellen und symbolischen Reproduktion einer Gesellschaft so von wissensabhängigen Operationen durchdrungen sind, dass Informationsverarbeitung, symbolische Analyse und Expertensysteme
gegenüber anderen Faktoren der Reproduktion vorrangig werden“ (ebd.:33ff). Wissen wird zum
Leitbegriff der ökonomischen Entwicklung, womit auch verbunden ist, dass die Akteur/innen in der
Gesellschaft mit verlängerten Ausbildungszeiten und permanenten Anforderungen an Weiterbildungen konfrontiert werden. Wissen, insbesondere das theoretische Wissen, bestimmt ausschlaggebend die Sozialstruktur und die Lebensoptionen des Einzelnen sowie sozialer Gruppen. Wissen wird
zum Schlüsselbegriff der neuen Gesellschaftsform. Das bedeutet, dass gesellschaftlicher Aufstieg
unmittelbar mit Schulbildung, Ausbildung und Hochschulbildung verknüpft ist, womit ein funktionaler Bildungsbegriff markiert ist. Denn insgesamt strukturiert das Bildungssystem (Zugang zu Bildung) den Arbeitsmarkt in Deutschland stärker als vor der Bildungsexpansion (Müller 1999). Die
Bildungsprozesse wandeln sich unter dem Druck der Wissensproduktion, indem „die Durchsetzung
von Wissenstypen, Inhalte der Bildungszertifikate, Strukturen der Ausbildung und Klient/innen der
Bildungsprozesse (Löw 2003:17) disponiert werden. Somit verfestigen sich Zugänge zu sozialen
Positionen und damit soziale Ungleichheiten, weil erneut individuelle Bildungsbeteiligungen und leistung ausschlaggebend werden (vgl. Haunberger 2008:87).
Paradoxerweise schafft die Wissensgesellschaft zwar eine höhere Bildungsbeteiligung (Bildungschancen absolut), aber weiterhin besteht eine Ungleichheit nach sozialer Schicht (Bildungschancen
relativ) (Vester 2006:195). Soweit Kinder des unteren Milieus in Hauptschulen verbleiben, setzt
sich der Teufelskreis zwischen geringerem Bildungsertrag, Ausbildung und Beruf fort (ebd.:199).
Denn es lässt sich ein Zusammenhang zwischen höheren Bildungsanforderungen und dem parallelen upgrading der Ausbildungen konstatieren; somit ändert sich an den Perspektiven der Hochschulabsolvent/innen wenig, während sich die Unterschiede zwischen Personen mit und ohne Hochschulabschluss verstärken (Haunberger 2008:89). Forschungsbefunde der Bildungs- und Berufsforschung (Bolder 2006; Bremer 2006) verweisen darauf, dass differenzierte Erklärungsmodelle für
milieuspezifische Ungleichheiten benötigt werden, um nachhaltig spezifische Bildungsstrukturen
und Bildungsziele einzubringen.
Auf der Grundlage der skizzierten Gesellschaftsmodelle zeigt sich, dass es unverzichtbar ist, die
ökonomischen, politischen, soziokulturellen und pädagogischen Komponenten für die zukünftige
Gestaltung der Gesellschaft resp. einer Bildungsgesellschaft zu vernetzen und zu konturieren. Das
heißt, neben der Rezeption derartiger Gesellschaftsentwürfe und Zeitdiagnosen, empirische Analysen zu Bildung als gesellschaftlicher Größe vermehrt vorzunehmen, um sich dem komplexen
Epochenumbruch anzunähern.
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1. 2 Pädagogische Professionalisierung
Besonders ist die Aufmerksamkeit auf bildungspolitische Veränderungen wie die Flexibilisierung von Bildungsprozessen und die Durchlässigkeit von Bildungsinstitutionen sowie
neuen Adressat/innengruppen (Erzieher/innen) zu lenken. Darunter ist im Hinblick auf
Internationalisierung zum einen die Anerkennung von Bildungsabschlüssen, Modularisierung und globale interaktive Lernarrangements zu verstehen. Zum anderen werden eine
Pluralisierung von Lernorten und die Aufhebung tradierter Lernmethoden erwartet (vgl.
Dohmen 1999). Ein wesentliches Moment ist dabei die Vermittlung differenzierter Kompetenzen, die sowohl bei der Aneignung von Allgemeinwissen als auch für gezielte Wissensformen der Aus-, Fort- und Weiterbildung entscheidend werden. Für die Aneignung
dieser Kompetenzen, die bspw. Kulturtechniken, Selbstbewusstsein und soziale Verantwortung einschließen (vgl. Wilhelmi 1999) werden neue Formen der Kooperation von
Lernenden und Lehrenden erforderlich. Seitens der Lernenden ist Eigeninitiative und
Selbststeuerung, auf der Seite der Lehrenden sind Fähigkeiten zur Moderation und Beratung gefragt (vgl. Kuwan/Waschbüsch 1999; Funiok 2000; Friese 2001). Bildungsbeteiligungen sind zu inszenieren als gleichzeitig ablaufende, Institutionen übergreifende und
für verschiedene Bevölkerungsgruppen zugängliche Prozesse.
Für den vorliegenden frühpädagogischen Bereich heißt das auch, eine Weiterqualifizierung der Fachkräfte kontinuierlich zu gestalten, bzw. einen qualitativen Ausbau an Studiengängen der Frühpädagogik zu befördern, denn bislang waren bundesweit lediglich ca.
2,6 % Akademiker/innen in Kindertageseinrichtungen tätig7. Betrachtet man die Zielstellung der nunmehr angebotenen Studiengänge, so sollen die Akteur/innen befähigt werden, interaktive Prozesse zu gestalten, um Kinder als aktiv Handelnde in der konkreten
Alltagspraxen zu begreifen. Auf der Grundlage inhaltlich-fachwissenschaftlicher Kenntnisse sind Sozialisations-, Bildungs- und Erziehungsprozesse zu realisieren, die edukative,
kompensatorische und präventive Interventionen für die Lebensaltersgruppe umfassen.
Die Auseinandersetzung mit pädagogischen Grundfragen zu Entwicklung, Bildung und
Integration von Kindern basiert auf einem sozialdidaktischen Prinzip der Verknüpfung
interdisziplinärer Wissensbestände, einem adäquaten Theorie-Praxis-Verhältnis sowie der
Vermittlung beruflicher Handlungskompetenzen, um eine „Kultur des Auswachsens“
(Krappmann) zu gewährleisten. Geht man mit Löw davon aus, dass sich Bildungsprozesse in einem Spannungsverhältnis zwischen „Selbstreflexivität und ökonomischer Funktionalität, zwischen Urteilsfähigkeit und staatlicher Beeinflussung, zwischen Gleichheit und
Hierarchie“ (2003:21) befinden, dann ist es ausschlaggebend, auch bei den Studierenden
7
Fachkräfte in Kindertagesstätten: a. Personal gesamt im Gruppendienst: Erzieher/innen ca. 72 % - 243.408;
Kinderpfleger/innen ca. 14 % - 47.857; Sozialpäd. Akademiker/-innen ca. 2,6 % - 8.665. b. Personal gesamt in Leitungsfunktion: Erzieher/innen ca. 77 % - 10.480 Sozialpäd. Akademiker/-innen ca. 29,6 % - 2.645
Andere Ausbildungen ca. 2,6 % - 355. Bildungszugänge - Hochschule: Studiengänge gesamt: ca. 24 BA-Studiengänge; 4 MAStudiengänge/ Quelle: Statistisches Bundesamt 2006; DJI 2006/ akjstat Uni Dortmund.
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auf die Aneignung gegenwartsdiagnostischer Befunde zu setzen, damit die gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen sichtbar gemacht werden, die Bildung und Kompetenzerlangung ermöglichen (Böhnisch/Schröer/Thiersch 2005). Schließlich sind Prozesse der
sozialen und kulturellen Raumaneignung (Bourdieu 1985) zu fördern, womit der Umgang
mit spezifischen Wissensformen und Handlungsschemata in Organisationen und Institutionen gemeint ist.
Die Lehrprofile8 richten sich entsprechend auf die Lösung biographischer, sozialer und
bildungsrelevanter Probleme im Bereich der Pädagogik der Frühen Kindheit, beziehen
fächerübergreifende Erklärungsansätze ein und vermitteln die Verwendung grundlegender wissenschaftlicher Methoden und Arbeitsweisen sowie die Einschätzung ihrer Leistungsfähigkeit und Grenzen. Neben erziehungswissenschaftlichen, sozialpädagogischen,
human- und sozialwissenschaftlichen Grundlagen werden Grundlagen der Rechts- und
Verwaltungswissenschaften relevant. Als Schwerpunkte sind die Erarbeitung systematischer und empirischer Aussagen zur Lebensphase Kindheit, Theorien und Konzepte kindlicher Weltaneignung sowie Kindheit und Kinderleben als Gegenstand der Erziehungswissenschaft unter den Gesichtspunkten Geschlecht, Selbstsinn, Körper, Lebensphasen und
Sozialraum vorgesehen.
Bildungstheoretisch bedeutet das, ein „neues Bildungsverständnis“ aufzunehmen und
pädagogische Verantwortung für Gesellschaft zu übernehmen, nicht nur auf Veränderungen zu reagieren; dadurch lassen sich dann Lebens- und Entwicklungsmöglichkeiten mit
gestalten (Klafki 1998a:148). Allerdings bleibt zu berücksichtigen, dass die ‚Verwissenschaftlichung’ lediglich eine, wenngleich erhebliche Dimension von Professionalisierung
ausmacht, denn notwendig wird auch die gezielte „Praxisentwicklung“ sowie eine „Normalisierung“ des Berufs (Rabe-Kleberg 2004:144). Darunter ist einerseits zu verstehen,
zukünftig durchlässige Ausbildungswege zu gestalten, indem praktizierende Erzieherinnen
in entsprechende Weiterbildungs- und Qualifizierungsmodelle integriert werden, so dass
kooperative Ausbildungsgänge mit der Praxis entstehen, die auch in geregelte Aufstiegswege führen; außerdem geht es um die gesellschaftliche Position und Positionierung von
Erzieherinnen (Bourdieu) in einem tradierten Frauenberuf wie auch um die Akzeptanz
dieser pädagogischen Profession im praktischen und wissenschaftlichen Feld von Sozialund Erziehungsberufen. Andererseits hängt der jeweilige Professionalisierungsgrad entscheidend mit den Handlungsorten und den darin stattfindenden Interaktionen zusammen (Kindertageseinrichtung). Dabei erfahren pädagogische Inszenierung, Dokumentation und Reflexion institutioneller Handlungsprozesse auf der Grundlage jüngster ErgebnisDurch den Bologna-Prozess (1999) ist eine umfassende Hochschul- und Studienreformdiskussion ausgelöst worden, die für die
zukünftige Qualifizierung von Erzieherinnen wichtig wird, denn mit der Einführung gestufter Studienabschlüsse (Bachelor/Master-Studienstruktur) sowie des internationalen Leistungspunktesystems (ECTS) gewinnt die Flexibilisierung von Bildungsprozessen generell an Bedeutung. Gleichermaßen führen bildungspolitische Forderungen als Resultat der Schulleistungsstudien (PISA 2000; PISA-E) ebenfalls dazu, die Funktionsbestimmung und Aufgabengestaltung der Berufsgruppe der Erzieherinnen neu zu konturieren. Aufgrund der beiden parallel laufenden Entwicklungen ergibt sich die Chance, die Dynamiken im
Bildungssektor aufzunehmen, um eine akademische Ausbildung anzuschließen. Damit wird eine Angleichung an das europäische
Ausbildungsniveau erreicht.6
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Sabine Mertel – Bildung im 21. Jahrhundert
se der Kindheitsforschung hohe Aufmerksamkeit.
Schließlich bedeutet Professionalisierung auch – am Bildungsort Kindertageseinrichtung
oder an Fachschulen sowie Hochschulen – Bildungsprozesse im Rahmen der Wissensgesellschaft – wie eingangs skizziert - zu betrachten. Denn gerade die Eigenschaften von
Bildung und Lernen verändern sich darin immens, weil es nicht mehr um die Vermittlung
fester Wissensgüter geht, sondern um die individuelle Wissensproduktion, die sich auch
unter der Überschrift des ‚lebenslangen Lernens’ wieder findet (Alheit/Dausien 2002). Für
die Erziehungspraxis bedeutet dies, spezifische Formen der Wissensaneignung und deren
„Verwandlung“ (Beck/Bonß 1989) gezielt zu steuern.
Wird das Potential dieser Entwicklungen für das Bildungssystem nutzbar gemacht, so
stehen umfassende Erneuerungen in der curricularen und didaktischen Diskussion, in der
organisatorischen und institutionellen Gestaltung von Lernprozessen sowie im Hinblick
auf die Selbsteinschätzung von Lehrenden und Lernenden an (vgl. ebd.2000). Besonders
im Feld der Pädagogik der frühen Kindheit bedeutet das für professionelle Akteur/innen,
systematische Dauerbeobachtungen pädagogischer Handlungen und Reflexionen der pädagogischen Praxis zu realisieren, um eine kontinuierliche Einschätzung und Qualitätssicherung pädagogischer Entwicklungsprozesse vornehmen zu können 9. Hohe Bedeutung
erfahren individuelle Förderungen im frühkindlichen Bereich sowie die Vorbereitung und
Begleitung von Übergängen zwischen den einzelnen pädagogischen Einrichtungen.
1.3. Frühpädagogische Bildung
Aus den bisherigen Ausführungen folgt ein spezifisches Bildungsverständnis, das Kinder
als Subjekte ihrer eigenen Biografie ansieht, die veränderte Zeitlichkeit des Lebensabschnitts anerkennt und die Kindheitsphase in der individuellen Ausdifferenzierung berücksichtigt. Pädagogische Bildungsprozesse lassen sich deshalb als „Aneignung von Welt“,
als „Anregung und Entfaltung aller Kräfte“ und als „Entwicklung der Persönlichkeit“ bzw.
als „Selbsttätigkeit“ (Humboldt 1960 [1903]) verstehen. Anschlussfähig daran ist das
pädagogisch anthropologische Grundmodell von Heinrich Roth, das die gelingende
menschliche Entwicklung darin sieht, den Sach-, Sozial- und Selbstkompetenzerwerb zu
fördern. Darunter ist zu verstehen, dass Menschen in der Lage sind, sich die natürliche
und kulturell objektivierte Welt anzueignen; über Fähigkeiten zur Gestaltung sozialer Beziehungen verfügen, sowie Kompetenzen zum reflektierten Umgang mit sich selbst erwerben können (vgl. Roth 1971). Bildung ist somit als subjektiver Prozess mit einem biographie- und identitätstheoretischen Bezug zu verorten. Gleichermaßen betont auch Jürgen Habermas die genannten Bildungsziele, differenziert diese allerdings auf individueller
und gesellschaftlicher Ebene aus: Es geht ihm um die kulturelle Reproduktion, indem die
Weitergabe des kulturellen Erbes von Generation zu Generation zu sichern ist; b. um die
materielle Reproduktion, indem Kinder befähigt werden, Kompetenz zur dinglichen Le-
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bensführung zu entwickeln, was nicht nur die reine Existenzsicherung umfasst, sondern
Lebensgestaltung und Lebensbewältigung einschließt; c. um die Aneignung sozialer Integrationsfähigkeit, d.h. Mündigkeit, Kritikfähigkeit, Verstehen von gesellschaftlichen,
politischen Zusammenhängen, Formen der Partizipation, Mitsprache, Gerechtigkeit und
Einmischung; und schließlich versteht er unter Bildung den Prozess der Sozialisation als
Identitätsbildung, der sowohl das soziale kommunikative Lernen (Fähigkeiten der Auseinandersetzung und des Dialogs, sich auf das Gegenüber einzulassen und Verantwortung
zu übernehmen), als auch das selbstreflexive und subjektive Lernen (mit sich selbst in
Beziehung zu treten, sich kritisch zu spiegeln, und Kompetenz zu erlangen), einbezieht
(Habermas 1981). Diese Bildungskonzepte humanistischer Prägung stellen Selbstbildung,
Individualität, Menschlichkeit und Gerechtigkeit in den Mittelpunkt. Somit weist der Gegenstand ‚Bildung’ in diesen Lesarten stets dichotome Aspekte auf, nämlich einerseits die
Betonung auf Selbstentfaltung, anderseits die Unabdingbarkeit der gesellschaftlichen
Kräfte, die den Bildungsprozess konstituieren.
Als „Kernmerkmale von Bildung“ im Kontext der Moderne gelten deshalb zunehmend Reflexivität und Biographizität, weil mannigfaltige gesellschaftliche Veränderungen mit permanenten Anforderungen an Bildung einhergehen (Marotzki 2002:8). Bildung ist also
zunächst eine Erweiterung der „subjektiven Selbst- und Welt (an)sicht (Bock 2004:99),
ein „individueller Bestand, ein individuelles Vermögen und individueller Prozess sowie
eine individuelle Selbstüberschreitung und Höherbildung der Gattung, schließlich eine
Aktivität bildender Institutionen oder Personen“ (Lenzen 1997:125;).
Dabei kommt die Gestaltung der Bildung im Lebenslauf verstärkt unter familien- und bildungspolitischen Aspekten in den Blick10. Besonders im Anschluss an die PISA Studien ist
der Faktor der disparaten Wissensverteilung11 (vgl. Wirth 1997) im Gesellschaftssystem
relevant und führt zu weiteren Herausforderungen, sowohl für die konkrete Dienstleistungserbringung (Bildungssystem als ‘Frühwarnsystem’ zur Herstellung von Partizipationsmöglichkeiten; Bildungstransparenz; Vermittlung von Kompetenzen zum Wissenserwerb), als auch im Weiterbildungssektor für Expert/ innen resp. Erzieher/innen und der
daran geknüpften Beteiligung an einer Wissens- und Bildungsgesellschaft (Wissen als
„Fähigkeit zum sozialen Handeln“ (Stehr 1994:208)) 12.
10
Siehe Bildungsbericht 2008:4
‘Knowledge gap’ in der Gesellschaft bedeutet, das Verhältnis zwischen wissensnahen und wissensfernen gesellschaftlichen
Gruppen langfristig zu beheben.
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Für den wissenschaftlichen Diskurs sowie den Praxistransfer erfährt die Rekonstruktion aktueller Wissensbestände und Wissensnutzung an Bedeutung. Bereits 1998 wird in den Delphistudien die „Dualität von ganzheitlichem Allgemeinwissen und
Spezialwissen“ als Grundlage zukünftiger Bildungsprozesse prognostiziert („Wissens-Delphi“12) (Wolff 1999:17). Die Realisierung dieser Wissensformen erfordert dabei eine Vernetzung von „inhaltlichen Basiswissen, methodischer Kompetenz, personaler
Kompetenz und sozialer Kompetenz“ (ebd.). Im Rahmen des „Bildungs-Delphi“ sind dann bildungstheoretische Perspektiven
und die damit einhergehenden Herausforderungen an das Bildungssystem allgemein und der Notwendigkeit neuer Vermittlungsformen von Wissen thematisiert worden. Dabei weisen die Experten auf die Gefahr eines ‚knowledge gap’ hin, also eine Kluft
zwischen wissensnahen und wissensfernen Gruppen in der Gesellschaft. Erforderlich werden Analysen zu dem, was „Wissen
selbst“ ist, sowohl hinsichtlich des Wachstums von Wissen und der Selektion von Wissen; ebenso ist der „Zugang zu Wissen“
(Kuwan/ Waschbüsch 1999:22) zu thematisieren. Schließlich sind globale Wissensformen im Hinblick auf gesellschaftspolitische
und soziale Fragen zu prüfen und die Initiierung neuer Lernformen sowie Programme zur Wissensdistribution zu befördern 12.
11
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Sabine Mertel – Bildung im 21. Jahrhundert
Abschließend soll mit Bourdieu (1983; 1991) Lernen und Bildung im Spannungsfeld von
Subjekt und Gesellschaft, von biographischem Eigensinn, Kompetenzerwerb und Institutionen mit den Begriffen Habitus und kulturellem Kapital erfasst werden. Das Konzept
des kulturellen Kapitals lässt sich unter strukturellen und funktionalen Gesichtspunkten
betrachten. Der strukturelle Aspekt zeigt sich vor allem in formalen Bildungspatenten,
Besuch prestigereicher Einrichtungen sowie im Nachweis einer privilegierten Bildungsgeschichte, die den Sozialstatus markiert. In funktionaler Perspektive des kulturellen Kapitals sind es die Wertorientierungen, Einstellungen, Haltungen und Kompetenzen, die die
Teilhabe an der Kultur sichern (vgl. Baumert u.a. 2003). Dieser Habitus (Dispositionen)
als Produkt inkorporierter Strukturen und als Erzeugungsprinzip von Lern- und Bildungsprozessen eignet sich als Interpretationsfolie im doppelten Sinne: zum einen werden soziale Habitusformen als Hintergrundstrukturen im Verhältnis zum sozialen Feld (Positionen) rekonstruierbar, zum anderen können über die Funktionsweise des Habitus auch
Lernprozesse erschlossen werden, indem Habituserwerb und Veränderungsmöglichkeiten
des Habitus offen gelegt werden (Krais/ Gebauer 2002; Herzberg 2004;2005).
Somit kann die Frage nach Bildung und sozialer Ungleichheit auch als Frage des Habitus
und der Sozialisation (kulturelles Kapital) der Akteur/innen entworfen werden. Das heißt,
das Habituskonzept lässt sich auch als Bildungskonstrukt betrachten, wobei neben dem
kulturellen Kapital auch das soziale und ökonomische Kapital relevant wird, da es unmittelbar mit Bildungszugängen in Einklang steht.
Dabei ist das ‚Soziale Kapital’ als ein dauerhaftes Netzwerk von Beziehungen anzusehen,
das auch die Chancen auf ökonomisches und kulturelles Kapital erhöht. Es handelt sich
um Ressourcen, die auf Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen und auch die Position
und Positionierung im Sozialen Raum (Gesellschaft) maßgeblich prägen. Das ‚Ökonomische Kapital’ wiederum umfasst alle Elemente, die sich einerseits in materiellen Gütern
(Geld) ausdrücken, andererseits alle anderen Formen des sozialen Austausches als uneigennützige und eigennützige Beziehungen erklären lassen. Das ökonomische Kapital ist
ein grundlegendes Medium zur sozialen Welt und entscheidend dafür, wie die Akteur/innen sich in sozialen Feldern etablieren. Damit ist die Teilhabe an verschiedenen
Feldern in hoch differenzierten Gesellschaften zunehmend über die Ausstattung mit kulturellem, somit Bildungskapital geregelt (Bourdieu 1991).
In bildungssoziologischer, biografietheoretischer und pädagogischer Sichtweise ist demnach die lebensgeschichtliche Entwicklung der Akteur/innen von Interesse, weil damit die
Genese habitueller Bildungsformen und Kapitalausstattung sowie deren Transformationen
nachvollzogen werden. Das Augenmerk richtet sich demnach bei Bildungsprozessen sowohl bei Kindern, als auch bei professionellen Akteur/innen auf die Besonderheiten des
Lernens, die zwischen Vermittlung und Aneignung rangieren. Das bedeutet Vermittlungs-
12
Sabine Mertel – Bildung im 21. Jahrhundert
leistungen der Institutionen (soziales Feld) im sozialen Raum, wie auch die subjektiven
Verarbeitungsaktivitäten und Aneignungsprozesse der Akteur/innen (Habitus) in der je
spezifischen Wechselseitigkeit zu rekonstruieren (Kade/ Nittel 1999:24ff). Als Kriterien
sind situative Lernerfahrungen, lebensgeschichtliche Schlüsselerfahrungen, biographische
Eigentheorie und Selbstverhältnis, also die Fähigkeit, zu sich selbst Stellung zu nehmen,
als Bestandteil des Habitus (Gebauer 2003) von großer Bedeutung. Diese Erfahrungen
sind allerdings hinsichtlich struktureller Rahmenbedingungen der organisierten Bildungsprozesse zu balancieren. Greift man auf das Konzept der ‚biographischen Lernprozesse’
von Alheit und Dausien zurück, so geht es genau um die „häufig sensiblen Synchronisationsversuche des Außen- und Innenaspekts (ebd. 1993:389).
Zusammenfassend lassen sich frühpädagogische Bildungsprozesse für Kinder
und professionelle Akteur/innen wie folgt darstellen:
13
Sabine Mertel – Bildung im 21. Jahrhundert
Kinderleben und Kindheit
Expert/innen in Krippe und Kindergarten
(Sozialisationsagenturen)
Biografieverläufe und Persönlichkeitsentwicklung des Kindes

Pädagogische Qualifizierung und Professionalität
Selbstkonzeptentwicklung des Kindes

Pädagogisches Selbstkonzept und berufsbiografisches Wissen

Pädagogische Wissensformen und Kompetenzen

Biographie und Eigensinn

Geschlechter- und Körperkonstruktionen

Soziale Positionierung und professionelle
Position

Habitus (Wahrnehmungs-, Denk- und
Handlungsmuster/ Handlungsdispositionen)

Passungsverhältnis von Biografie/ Profession)

Work-Life-Balance und Lebenslanges Lernen

Vermittlungsfähigkeiten und Motivation

Lernarrangements und Evaluation
Individuelle Selbstbildungspotentiale
Körper-Leib –Kognition – und Sprachentwicklung des Kindes
Geschlechterkonstruktionen

Interaktionen und Gleichaltrigenkultur

Performanz und Bewegung

Soziale Beziehungsfähigkeit/ Belastung/
Resilienz

Lebensqualität/ Wohlfühlen/ Gesundheit

Alltagsorganisation in Raum und Zeit

Pädagogische Institutionen und Räume
Biografieverläufe und Bildungskonzepte der
Bezugspersonen

Familie – Generationenbeziehungen - soziales
Umfeld
Bildungs- und Kompetenzzirkel in der Frühpädagogik (Mertel 2009)
14
Sabine Mertel – Bildung im 21. Jahrhundert
2. Bildung im Spektrum forschungsmethodischer Entwicklungslinien
An die aufgezeigten wechselseitigen Bildungsprozesse zwischen Kindern und Bezugspersonen sowie professionellen Akteur/innen schließen sich unmittelbar Herausforderungen
an Forschungen in der Frühpädagogik an. Betrachtet man die Forschungsbefunde in diesem Sektor, so ergibt sich folgendes Bild: Erziehungs- und sozialwissenschaftliche Studien im Bereich Kindheit liegen aktuell zu den Themen Lebenslage und Lebensräume vor,
im Besonderen zu Kinderarmut, abweichendes Verhalten, kindliche Entwicklung, mediale
Sozialisation, Migration, Geschlecht sowie Gesundheit (z.B. Kelle/ Tervooren 2008; Zander 2008; Hackauf/ Jungbauer-Gans 2008; Gehres/ Hildenbrand 2008; Kinderreport
Deutschland 2007; Aluffer/Röllecke 2007; Bilden/ Dausien 2006; Stickelmann/Frühauf
2003 sowie Sozialberichterstattungen auf Bundes- und Landesebene). Als Forschungsschwerpunkte der Kindheitsforschung nennen Grunert und Krüger zusammenfassend die
Biografieverläufe von Kindern, das Familien- und Alltagsleben, die Gleichaltrigenkultur
und relevante pädagogische Institutionen (2006:34ff). Ebenso sind empirische und theoretische Arbeiten zur Reform der Erzieherinnenausbildung (z.B. Diller/ Rauschenbach
2006; Mertel 2002; 2006;) sowie zu Entwicklungsfeldern der Frühpädagogik zugänglich
(z. B. Fröhlich-Gildhoff/ Nentwig-Gesemann 2007; Fried/ Diepelhofer-Stiem/ Honig
2003).
Allerdings lassen sich für dieses Feld durchaus auch erhebliche Forschungsdesiderate
ausmachen. Denn die Untersuchungen verdeutlichen das Erfordernis, frühpädagogische
Forschung in Institutionen, besonders unter regionalen Gesichtspunkten (im vorliegenden
Kontext für das Bundesland Sachsen) kontinuierlich aufzunehmen, eine adäquate Methodenentwicklung voranzutreiben sowie den interdisziplinären Wissenstransfer zu Kindheit,
kindlicher Entwicklung und Kinderleben zu fördern. Von großem Interesse sind dabei
auch Genese und Rekonstruktion sozialer Interaktionen im Kontext von Bildung (Ressourcen/ Aneignungsprozesse/ Interdependenzen) im institutionellen Bereich (Krippe/
Kita/ Hort) und im Elternhaus bzw. im unmittelbaren sozialen Bezugsfeld des Kindes.
1
Dabei ist es auch brisant, frühpädagogische Bildungsangebote in Kindergarten und Krippe
zu beleuchten sowie auch Wechselwirkungen von Bildungsofferten zwischen Institutionen
und Familie in den Blick zu nehmen. Ebenso besteht Forschungsbedarf nach pädagogisch
ausgerichteten Studien zu Körper und Geschlecht von kleinen Kindern in Institutionen
und Familie, um gehaltvolle Aussagen zu Körperinteraktionen zu erhalten (allgemeine
Erkenntnisse). Ein umfassendes Bildungsverständnis zielt neben der Aneignung kognitiver, sozialer und emotionaler Fähigkeiten auch auf körperbezogene, auch motorische
Kompetenzen, womit spezifische Prozesse der Identitätsentwicklung des Kindes verbunden sind. Es geht um die Wahrnehmung eigener Gefühle, individueller Körpererfahrungen
und Dispositionen, die sich demnach im sozialen Handeln als zeitlichem, räumlichem und
Sabine Mertel – Bildung im 21. Jahrhundert
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körperlichem Handeln (Performativität) zeigen (Homfeld; Hurrelmann 2007) 1. Gezielt
wird auf Untersuchungen zu Kinderkörper im Kontext von Inszenierungen, Spiel sowie
Raumaneignung (Bockrath 2004; Löw 2005; Althans 2008); Mimesis als Prozess der
Nachahmung und des Lernens sowie der Nachvollzug von Gebärden und Ritualen (Gebauer/ Wulf 1998; Klein 2004; Schroer 2005).
2.1 Forschungszugänge und Analyserahmen
Für den Bereich der Pädagogik der frühen Kindheit sind nachfolgende Forschungsbereiche13 aufzugreifen und systematisch für die Disziplin, Profession und unterschiedliche
soziale Praxen auszuwerten.

Rekonstruktion des Forschungstandes zu Bildung und Erziehung in der frühen Kindheit in
Deutschland und im europäischen Ländervergleich

Rekonstruktion von Konzeptionen/ Modellen und Programmen (Bildungsplänen) von Krippen und Kindertageseinrichtungen in den alten und neuen Bundesländern sowie im internen Vergleich im Besonderen im Bundesland Sachsen

Rekonstruktion der praktischen Realisierung aktueller Konzepte/ Modelle und Programme
im Bundesländervergleich

Rekonstruktionen des ‚Bildes vom Kind’ bei Erzieher/innen und Bezugspersonen des Kindes
unter den Aspekten
a.
Eigenständigkeit und Selbstbildung
b. Kreativität und Ästhetik
c.
Körperausdruck und Kommunikation
d. Selbstreflexion und Konstruktion

Rekonstruktionen exemplarischer Bildungsprozesse im Kontext von Betreuung und Erziehung (Verhältnismäßigkeiten) in Kindertagesstätten unter den Gesichtspunkten
a.
Lernaufgaben anregen - Wahrnehmung und Neugier fördern
b. Lernprozesse erproben - Sicherheiten herstellen und Leistungsfähigkeit entwickeln
– Lerninhalte modifizieren
c.
Handlungs- und Lösungsmuster (Wissen und Fertigkeiten) verfestigen und bewerten

Rekonstruktionen exemplarischer Entwicklungsprozesse der Kinder im familiären Umfeld im besonderen von Lern- und Bildungsprozessen – sowie deren Wechselwirkungen mit pädagogischen Einrichtungen und spezieller Austauschprozesse der beteiligten Akteur/innen

Rekonstruktionen exemplarischer Interaktions- und Kommunikationsprozesse der Kinder in
Bezug auf sich selbst, in Bezug auf andere Kinder, in Bezug auf professionelle Akteur/innen
und in Bezug auf die Bezugspersonen

Rekonstruktionen exemplarischer Körperprozesse/ kognitiver und ästhetischer Bildungsprozesse der Kinder im institutionellem Kontext und in der Interaktion mit Kindern (unterschiedliche Altersgruppen) sowie pädagogischen Expert/innen

Rekonstruktion exemplarischer Körperprozesse/ kognitiver und ästhetischer Bildungsprozesse der Kinder im familiären Umfeld und in der Interaktion mit Kindern und Erwachsenen
– besonders unter den Gesichtspunkten Kapital, Raum, Bewegung und Gesundheitsförderung bzw. Prävention
Diese Forschungsthemen zielen auf Befunde zu allgemeinen Aussagen im Kontext von
Bildung und Erlangung personaler, motivationaler, kognitiver, physischer, körperlicher
13
Die vorgelegten Themen sind zu erweitern entsprechend regionaler, institutioneller, inhaltlicher, personaler Besonderheiten
der jeweiligen Untersuchungsgruppen bzw. spezifischer Forschungsfragen.
16
Sabine Mertel – Bildung im 21. Jahrhundert
und sozialer Kompetenzen; Bildungsofferten in den Einrichtungen, Familien und sozialen
Räumen sowie auf Ergebnisse, die Handlungen der Erzieher/innen (Expert/innen) offenlegen und den interaktionalen Gehalt bei diesen Prozessen nachvollziehen. Hierfür erforderlich wird der unmittelbare Einbezug ausgewählter Institutionen und Familien, die Zugang zu institutionellen Bildungsprozessen sowie zum Alltagsleben gewähren. Auf der
Basis dieser Forschungsbefunde gezielter Einzelerhebungen sind auch Langzeitstudien
erforderlich, um Dauerbeobachtungen in ausgewählten Einrichtungen und Familien sowie
bei pädagogischen Bildungssettings anschließen, damit im Zeitverlauf (Prozesshaftigkeit),
die Anregung und Aneignung von Bildungsinhalten beobachtbar und beschreibbar werden.
Somit ist vorstellbar, Untersuchungen im nachfolgenden Spektrum landes- und bundesweit zu initiieren bzw. kontinuierlich fortzuentwickeln: a. quantitative Ersterhebungen in
pädagogischen Institutionen der Region (Vollerhebungen), um Strukturdaten zu systematisieren (analog gängiger Sozialberichterstattung); b. qualitative Erhebungen in exemplarischen Kindertagesstätten/ Krippen und Hort zu Kinderalltag, Bildungsprozessen und
Interaktionsordnungen (offenes Setting) und qualitative Untersuchungen zu Biografie und
Habitus sowie professioneller Handlungen der Akteur/innen; c. Beobachtungen, Videound Bilderhebungen und Dokumentation in ausgewählten Institutionen und Familien zu
spezifischen Interaktionen mit Schwerpunktsetzungen (z.B. Körper, Bewegung, Gesundheit, Geschlechterkonstruktionen, Sprachverhalten, Spielverhalten) und zu exemplarischen Entwicklungs- und Bildungsprozessen; d. Analyse von Bildungsansprüchen sowie
Realisierung von Bildungsofferten unter veränderten gesellschaftlichen Voraussetzungen
von Expert/innen vor Ort, von Kindern sowie deren Eltern und Bezugspersonen; e. Rekonstruktionen von neuen Anforderungen an Bildung, Erziehung und Betreuung in Krippe
und Kindertagesstätten aus der Sicht der Akteur/innen besonders unter den Aspekten
Qualifizierung (Ausbildungsstandards/ Professionalisierung), Sozialisationsbedingungen
der Kinder (soziale Ungleichheiten) und pädagogischer Bedarf.
2.2 Forschungsgegenstände und Forschungsmethodik
Zum jetzigen Zeitpunkt lassen sich folgende Forschungsgegenstände ausmachen, die
sowohl Einzelstudien erfordern, als auch Forschungsschwerpunkte notwendig machen
und Grundlagenforschung sowie angewandte Forschung bedingen. Folgt man dabei dem
Verhaltenskanon bzw. dem Forschungsstil der ‚Grounded Theory (Strauss 1970), dann ist
für die Datenanalyse die Komplexität des Untersuchungsgegenstandes und das Kontextwissen ausschlaggebend. Dazu zählen der „unvoreingenommene Blick und das Gestalten
von Wirklichkeit“ (Strauss 1994:13) sowie eine „radikal naive Haltung einzunehmen und
das Offensichtliche zum Problematischen zu machen“ (Knorr-Cetina 1991:49), indem das
Alltagswissen und das Erfahrungswissen systematisch genutzt werden, weil von einer
Sabine Mertel – Bildung im 21. Jahrhundert
17
Kontinuität von wissenschaftlichem und alltagsweltlichem Denken ausgegangen wird.
Der Forschungsprozess als Entdeckungsstrategie ist als zirkuläre Bewegung zu verstehen,
d.h. reflektierte Forschungsarbeit folgt Leitlinien, aber „auf keinen Fall starren Regeln“
(Strauss 1994:32). Je nach Erfordernissen und Herausforderungen der Forschungssituation sind Spielräume und Modifikationen maßgeblich, obgleich dieses Vorgehen systematisches und methodisch-kontrolliertes Arbeiten bedingt.
Bei der Offenheit sozialwissenschaftlicher Begriffsbildung steht die Prozesshaftigkeit von
Sozialität im Zentrum (Strauss 1994). Dabei wird das kreative Konstruieren von Theorien, Begriffen und Konzepten in den Mittelpunkt gestellt, die fortlaufend an den Daten
kontrolliert werden. Datensammlung, Analyse und Theorie stehen in einer wechselseitigen Beziehung zueinander (Strauss/Corbin 1998)14.
Anschlussfähig an diese Forschungshaltung, somit auch Lehr- und Lernhaltung, sind
Denkwerkzeuge, die relationale Denkprozesse fordern, stets den Rückbezug auf Soziale
Felder notwendig machen, indem keine Bewertungsschemata losgelöst von sozialer Praxis allgemeingültig sind und wissenschaftliche Reflexivität als unerlässlich angesehen
wird, worunter zu verstehen ist, dass nicht lediglich das Forschungsfeld und die Forschungspraxis überdacht werden, sondern auch das Wissenschafts- und Ausbildungsfeld
(Rehbein 2006; Bourdieu 1992;1993).
Dazu zählen:
-
-
-
Forschungen im Bereich frühpädagogischer Bildung, mit dem Ziel, eine ganzheitliche Kompetenzsystematik (Vermittlung und Aneignung zentraler Kompetenzen und Fähigkeiten) zu
erstellen, die auf Interaktionen der Akteur/innen fokussieren
Angewandte Forschungen auch Praxisforschungen im Sinne eines Theorie-PraxisVerhältnisses, das eine unmittelbare Ergebnissicherung und kommunikative Validierung vor
Ort mit den Akteur/innen zu Betreuungs-, Erziehungs- und Bildungsprozessen vorsieht. Interprofessionelle und interdisziplinäre Entwicklung von Interventionskonzepten (Manual)
sowie Fort- und Weiterbildungsangeboten in der Region und Kooperationen im Bundesland
Sachsen sind zu realisieren.
Evaluationsforschungen - Implementierung von Begleitforschungen in ausgewählten Krippen und Kindertagesstätten mit dem Ziel, die pädagogische Planung, Realisierung, Dokumentation und Bewertung kindlicher Interaktionen in ausgewählten Bildungsverläufen
sichtbar zu machen; gleichermaßen sollten diese Prozesse mit dem professionellen Knowhow der Fachkräfte und institutionellen Anforderungen balanciert werden sowie eine Rückkopplung in Ausbildungs- und Weiterbildungseinrichtungen erfolgen (Bildungs- und Kompetenzzirkel) (Mertel 2009).
Projekt- und Praxisentwicklungen - Erarbeitung spezifischer Beratungs- und Bildungsangebote für Eltern/ Interaktionspartner/innen (Elternberatung/ Elternbildung/Familienbildung).
Aufbau von regionalen Kompetenzzentren zur ‚Frühpädagogik’ für Forschungs- und Praxistransfer sowie die Errichtung von Modellkindertagesstätten und Krippen für längerfristige
Beobachtungs- und Entwicklungsvorhaben.
Für die Erhebungs- und Auswertungsphasen bieten sich folgende Forschungsmethoden
14
„A set of assumptions lies behind our approach to qualitative analysis: 1. Very diverse material (interviews, transcripts of
meetings, court proceedings; field observations; other documents such as diaries and letters; questionnaire answers; census
statistics, etc.) provide indispensable data for social research. 2. the methods for qualitatively analyzing materials are rudimentary: they need to be developes and transmitted widely and explicitly throughout the social science community. 3. There is
need for effective theory – at various levels of generality – based on the qualitative analysis of data. 4. Without grounding in
data, that theory will be speculative, hence ineffective (Strauss 1984: 8)
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Sabine Mertel – Bildung im 21. Jahrhundert
und qualitative Methodologien an, die allerdings einer ständigen Überprüfung im Sinne
einer diskursiven Validierung (Mertel 2002) sowie Weiterentwicklung der Methoden unterliegen, um den sensiblen Forschungsgegenstand gerecht zu werden:
a. Befragung/ teilstandardisierte Interviewverfahren
Interviews zur Erhebung von Erfahrungsberichten, Verarbeitungsweisen zu Kindheit und Kinderleben; berufsbiografischer Aspekte, Expertisen; ‚Kooperative Rollenkonfigurationen’ anhand
von Rollenwechsel A-B, Rollentausch, indem ein inhaltlicher Austausch im Anschluss an die Interviews erfolgt (soziale Perspektivübernahme) wie auch Einbezug der Beobachter/innen zur
Reflexion des gesamten Interviewsettings hinsichtlich Methode, Technik und Inhalt. Aufgrund
des generell experimentellen Designs (Glaser/ Strauss 1998) sind Videoaufzeichnungen als
technikgestützte Form der Beobachtung einzusetzen (Objektivierung des Beobachtungsverfahrens/ Schlüsselszenen/ nonverbale Kommunikation im Besonderen Körperpräsentation).
Dimensionen: Reflexion von Lebensphasen (Biographizität) und professionellen Handlungen
(bzw. päd. Handlungsformen und Erziehungsverständnis der Eltern) unter den Gesichtspunkten
von eigener (Lern-Geschichte, Erinnerungen, subjektiven Selbstverständnisses, Selbstbilder/
Selbstsinn und Alltagswelten, Soziale Praktiken/ Alltagswissen/ ‚second-hand-Erfahrungen’
[Soeffner 1989] und Alltagstheorien).
b. Beobachtung/ nichtstandardisierte-teilnehmende Beobachtungsverfahren in pädagogischen
Einrichtungen/ Elternhaus: Vorbereitung des Feldzugangs – Sensibilisierung für Feldforschung/ethnographische Ansätze/ Beobachtungsfokus. Erstellen von Feldprotokollen und Feldtagebüchern (Memos) sowie Erprobung des Feldeinstiegs (Gatekeeper) und Feldausstiegs. Im
Rahmen einer „Quasi-Teilnehmerschaft“ (Kelle/Breidenstein 1999) geht es um die Frage, wie
sich der Alltag vor Ort gestaltet, konkret: Was geht hier vor? Somit ist der Balanceakt zwischen
Offenheit und Fremdheit zu gestalten, um Flexibilität und Alltagsnähe zu realisieren, damit Kinder (kindliche Entwicklungs- und Handlungsprozesse) in ihrer Komplexität, Fragilität und Plastizität beschreibbar werden, zumal sich die Perspektiven von Kindern und Erwachsenen in den
Denk- und Verhaltensformen unterscheiden. Wichtig ist dabei, eine unstrukturierte Erhebungstechnik anzuwenden, weil die Verschiedenheit alltäglicher Lebenswelt erfahrbar gemacht werden kann und eine permanente Rückbindung an den untersuchten Gegenstand vorgenommen
wird (Mey 2003). Es geht gezielt darum, wahrzunehmen, zu beobachten und zu beschreiben,
wie erwachsene Verstehensmuster zurückgenommen werden können, um das ‚Fremde’ zu erkennen und zu interpretieren (Reflexion des Eigenen/Interviewresultate; Reflexion des Vorverständnisses und Vorwissens [Mayring]; Reflexion der Situation und Akteur/innen, bevorzugt
Kinder). Ebenfalls richtet sich die offene Beobachtung auf den professionellen Alltag, indem pädagogische Arrangements, Ausstattung der Einrichtung sowie die Handlungsmuster der päd.
Akteur/innen in den Blick kommen. Diese Beobachtung des Interaktionsraums thematisiert einerseits die Ko-Konstruktion von Kind und Pädagog/innen (Ausschnitte erzieherischer Wirklichkeit im Spektrum von Situation und Kontext, Kognition und Emotion etc.), andererseits das
professionelle Handeln in der Logik der Ko-Produktion dieser speziellen Dienstleistung (auch im
Fokus von Inititation – Reply - Evaluation von päd. Prozessen nach Mehan 1979). Die Erhebungs- und Auswertungssituation ist derart zu gestalten, dass dabei die „zeitliche Genese von
Handeln, Denken und Fühlen“ (Mey 2003:714) der Akteur/innen unter entwicklungspsychologischen Bezug dokumentiert werden kann.
Dimensionen: Reflexion unbewusster Alltagsroutinen und Aufdeckung von Handlungs- und Deutungsmustern (pädagogisches Verständnis/ Verstehen, pädagogische Performanz und Theoriebezug) sowie Aneignung von Wahrnehmungs-, Beschreibungs- und Interpretationskompetenz.
Exploration einzelner Beobachtungssequenzen und deren Deutung unter den Aspekten von Einzelfallbezogenheit, spezifischer Bezugs- und Handlungsrahmen der beobachteten Akteur/innen,
personenorientierte Interaktionsgeschehnisse sowie die Aktualisierung habitualisierter Handlungsmuster.
c. Videografie und Foto- Bildanalyse als Erhebungs- und Auswertungsmethode in Institutionen
und Elternhaus. Besonders für die Rekonstruktion von komplexen Körperprozessen der Kinder
und erwachsenen Interaktionspartner/innen ist es notwendig, das Material um eine ‚Ikonografie
des Pädagogischen’ (Wünsche; Mollenhauer) zu ergänzen, d.h. der pädagogische Blick wird
stringent auf Video (bewegtes Bild) und Foto- bzw. Bildmaterial gerichtet, damit soziale Wirklichkeitskonstruktionen in dieser Dimension der Existenz des Kindes nachvollziehbar werden
(Körperkulturen). Dabei sollen Video und Fotografie in der Erhebung ausgewählter pädagogischer Prozesse eingesetzt werden, wie auch als Medien der Inszenierung im Erziehungsgeschehen, indem Kinder Video-, Foto- und Bildmaterialien produzieren. Diese Bildungs- und Lerngeschichten (Leu 2007) sind für die pädagogische Arbeit, im Besonderen bei Körperarbeit zu nutzen, bzw. in einer Rekonstruktion forschungsmethodisch zu erfassen (zirkuläre Forschungsan-
19
Sabine Mertel – Bildung im 21. Jahrhundert
ordnung) (Mertel 2009). Die Auswertung erfolgt dabei zunächst entweder als ikonologischikonografische Interpretation (Panofsky) ausgewählter, repräsentativer Foto- und Bildmaterialien, wobei der inhaltliche Aspekt des Bildes sowie der formale Aufbau erfasst werden (Imdahl
1996); die Interpretation kann aber auch dem seriell-ikonografischen Ansatz folgen, wobei
ganze Fotobestände und Fotoserien zugrunde gelegt werden und auch vergleichend analysiert
werden können (Mietzner 2004) Daran sind dann präzisierte Bildinterpretationen auf der methodologischen Basis der dokumentarischen Methode nach Mannheim vorzunehmen (Bohnsack
2007).
d. Triangulation
Pädagogische Situationen zeichnen sich durch Vielschichtigkeit aus und sind somit als
Phänomenbereich mehrperspektivisch zu erschließen:
Datentriangulation – Sammlung von Material unterschiedlicher Herkunft sowie ggf. Anregung,
in den päd. Einrichtungen gezielt Daten zu erstellen, wie bspw. Tagebuchaufzeichnungen, Fotographien, Videomitschnitte besonders zu präverbalen Ausdrucksformen, Gesten und Spiel, Kinderzeichnungen usw.
Methodentriangulation – Kombination von Interviewverfahren zur Selbstthematisierung und
Beobachtungsverfahren zur Rekonstruktion pädagogischer Alltagswelten in Institutionen und
Familien. Des Weiteren lassen sich Gruppendiskussionsverfahren, Expert/inneninterviews, ‚Lifeevent’- Fragebögen, Inventarerhebungen (Institutionen/ Familie) ergänzen (geplante Langzeitstudie).
Beobachter/innen-Triangulation – Einsatz mehrerer Beobachter/innen, um Sichtweisen zu relativieren und zu erweitern sowie eine Perspektivenvielfalt auf die Untersuchungsgegenstände zu
gewährleisten. Vorgesehen wird eine ‚Tandem’-Konstruktion, so dass ein kontinuierlicher Austauschprozess über das Forschungsfeld sowie eine mögliche Überprüfung eigener Verhaltensweisen zweier Personen im Feld stattfindet.
Im Rahmen der skizzierten Theoriebildung und aktueller Forschungsbefunde besteht sowohl die Chance, wie auch die Notwendigkeit, das Feld der frühpädagogischen Bildung,
Erziehung und Betreuung weiterführend auszubauen und eine adäquate Professionalisierung voranzutreiben. Bedeutsam werden Kooperationen und Interaktionen auf der Ebene
der pädagogischen Handlungen mit Kindern (Feld – Kultur – Konstruktion); auf der Ebene
der pädagogischen Institutionen intern und extern (Übergänge und Wechsel); auf der
Ebene professioneller Akteur/innen und Bezugspersonen der Kinder (Beratung und Coaching) und auf der gesellschaftlichen Ebene hinsichtlich des Verhältnisses öffentlicher und
familialer Bildung sowie Anerkennungsstrukturen professioneller Akteur/innen und Qualitätsansprüche.
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