Adam Zamoyski 1815 -Napoleons Sturz und der Wiener Kongreß Aus dem Englischen von Ruth Keen und Erhard Stölting C.H.Beck Zum Buch Selten in der Geschichte gab es an einem Ort so viel Scharfsinn und Intrigen, so viel Gier, Bestechung, Spionage, Sex und Pracht wie auf dem Wiener Kongress. Während die mächtigsten Männer Europas neue Grenzlinien über die Karte des Kontinents ziehen und Entscheidungen von epochaler Tragweite treffen, wird auf dem großen Welttheater die menschliche Komödie aufgeführt. Doch dann kehrt Napoleon zurück… Nach dem grandiosen Bestseller „1812“ entfaltet Adam Zamoyski in „1815“ erneut ein fulminantes historisches Panorama. Mit seltener Erzählkunst führt er uns in das Zeitalter Napoleons, Metternichs und Talleyrands, als wäre es gestern gewesen. „Ein exquisites Beispiel für erzählende Geschichte. “ Christopher Clark, Literary Review Über die Autoren und Herausgeber Adam Zamoyski, geboren 1949 in New York, wuchs in England auf und studierte Geschichte und Sprachen in Oxford. Seine adlige Familie floh 1939 nach der deutschen und sowjetischen Invasion aus Polen. Er lebt als freier Autor und Historiker in London. Sein Buch „1812“ und seine Biographie über Frédéric Chopin wurden in acht Sprachen übersetzt. Adam Zamoyski ist Fellow der Society of Antiquaries, der Royal Society of Arts und der Royal Society of Literature. Er ist mit der Malerin Emma Sergeant verheiratet. Titel der englischen Originalausgabe «Rites of Peace. The Fall of Napoleon and the Congress of Vienna» erschienen bei HarperCollinsPublishers 2007 © 2007 Adam Zamoyski Mit 47 Abbildungen und 28 Karten (© Peter Palm, Berlin) 1. Auflage. 2014 © Verlag C.H.Beck oHG, München 2014 Umschlaggestaltung: Geviert/Grafik & Typografie, Conny Hepting Umschlagabbildung: Die Schlacht von Waterloo, Gemälde von Denis Dighton, The Royal Collection © 2014 Her Majesty Queen Elizabeth II, Bridgeman Images ISBN Buch 978 3 406 67123 4 ISBN eBook 978 3 406 67124 1 Die gedruckte Ausgabe dieses Titels erhalten Sie im Buchhandel sowie versandkostenfrei auf unserer Website www.chbeck.de. Dort finden Sie auch unser gesamtes Programm und viele weitere Informationen. Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . 1. Der aufgeschreckte Löwe . . 2. Der Retter Europas . . . . . 3. Die Friedensstifter . . . . . 4. Ein Krieg für den Frieden . . 5. Diskrete Verhandlungen . . 6. Farce in Prag . . . . . . . . 7. Das Spiel um Deutschland . 8. Die ersten Walzertakte . . . 9. Ein Stück vom Kuchen . . . 10. Diplomatie des Schlachtfelds 11. Triumph in Paris . . . . . . . 12. Frieden. . . . . . . . . . . . 13. Die Londoner Runde. . . . . 14. Gerechte Vereinbarungen . . 15. Die Bühne wird gerichtet . . 16. Punkte auf der Tagesordnung 17. Noten und Bälle . . . . . . . 18. Ferienzeiten für die Fürsten . 19. Ein Friedensfest . . . . . . . 20. Guerre de plume . . . . . . . 21. Ein politisches Karussell. . . 22. Diplomatische Explosionen . 23. Kriegstanz . . . . . . . . . . 24. Krieg und Frieden . . . . . . 25. Der sächsische Handel. . . . 26. Unerledigte Punkte . . . . . 27. Der Flug des Adlers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 15 30 52 69 87 107 123 146 167 182 200 218 238 253 274 299 322 339 359 374 387 405 419 434 455 473 496 28. 29. 30. 31. 32. 33. 34. Die Hundert Tage . . . . . Der Weg nach Waterloo . . Wellingtons Sieg . . . . . . Die Bestrafung Frankreichs Letzte Riten . . . . . . . . Disharmonisches Konzert . Der Stillstand Europas. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 525 542 554 571 587 607 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 631 669 693 695 Anhang Anmerkungen . Literatur . . . . Bildnachweis . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung 1815 Einleitung Die Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongreß ist wahrscheinlich der folgenreichste Vorgang der modernen Geschichte. Nicht nur zeichnete der Kongreß die Landkarte völlig neu. Er entschied, welche Nationen über die nächsten hundert Jahre politisch existieren würden und welche nicht. Er verordnete dem ganzen Kontinent eine Ideologie, die sich aus den Interessen der vier Großmächte ableitete. Sein Versuch, die Vereinbarungen dieser Mächte in Stein zu meißeln, führte dazu, daß sich ihre expansionistischen Bestrebungen auf Afrika und Südasien richteten. Er veränderte die Gestaltung der internationalen Politik von Grund auf. Zu den Folgen des Kongresses gehört damit alles, was seit seinem Ende in Europa geschehen ist, auch der aggressive Nationalismus, der Bolschewismus, der Faschismus, die beiden Weltkriege und letztlich die Europäische Union. Die Akteure dieses dramatischen Schauspiels mit all seinen vielen Schicksalswendungen zählen zu den faszinierendsten Gestalten der europäischen Geschichte. Im Zentrum des Geschehens stand Napoleon, der verzweifelt um seinen Thron kämpfte und doch mit jedem neuen Schritt seine Chancen untergrub und das Unheil offenbar hemmungslos auf sich zog. Auf der anderen Seite stand Zar Alexander von Rußland, der inzwischen überzeugt war, von Gott zur Erlösung der Welt berufen zu sein, ohne zu sehen, daß er in den Augen aller anderen eine Bedrohung dieser Welt darstellte. Der begnadete Strippenzieher Metternich übertraf sich selbst darin, schmeichelnd und beeinflussend die Ereignisse seiner eigenen Vision von einer sicheren Welt anzupassen. In seinem besessenen Bemühen, aus den Trümmern des napoleonischen Reiches für Frankreich – und für sich – zu retten, was zu retten war, knüpfte der listige Talleyrand immer wieder seine Netze. Der ungemein liebenswürdige Castlereagh, in jeder Hin- 8 1815 sicht ein grundanständiger Mensch, mußte feststellen, daß er ebenso rücksichtslos Nationen zerlegte und Tauschgeschäfte mit Seelen trieb wie jeder andere Realpolitiker. Viele andere Charaktere nahmen zu gegebener Zeit ihre Plätze in diesem großen Karneval ein, einschließlich des Herzogs von Wellington, der sich als ebenso guter Staatsmann erwies wie als General. Und es gab ein faszinierendes Aufgebot von Frauen, die sich die Leidenschaften und enttäuschten Ambitionen der großen Männer Europas zunutze machten, was immer wieder Augenblicke großer Tragödien und kleiner Farcen schuf. Vom blutgetränkten Schlachtfeld und den armseligen Hütten am Wegesrand bis zu den vergoldeten Boudoirs und Ballsälen Wiens entsprach die Szenerie in allem der Erhabenheit und Erbärmlichkeit dieses Schauspiels. Die Geschichte hat bei den meisten Gebildeten allerdings ein Bild höfischer Eleganz und walzerseligen Leichtsinns hinterlassen. Als ich im Katalog der British Library die Wörter «Wiener Kongreß» eingab, wurde mir eine Liste von Büchern angeboten über: den Ersten Internationalen Meteorologenkongreß, den Kongreß zu ökologischen Problemen von Lipiden, den Kongreß der Europäischen Vereinigung für Regionalwissenschaften, Literatur zu statistischen, sexuellen und philatelistischen Kongressen, zu Kongressen für angewandte Chemie, der Bibliophilen, für Dermatologie, für genealogische und heraldische Wissenschaften, Krampfadern, Exfoliativzytologie, Geburtsfehler, Hepatitis B, Elektroenzephalographie, Klinische Neurophysiologie und viele, viele andere, die alle während des vergangenen Jahrhunderts in Wien veranstaltet worden waren. Zwischen diesen verführerischen Titeln versteckten sich nicht mehr als ein halbes Dutzend, die sich auf die Ereignisse von 1814 / 15 bezogen. Weitere Nachforschungen ergaben, daß die Literatur zu diesem Gegenstand tatsächlich schwer faßbar ist. Die umfangreichen und kompakten deutschen Untersuchungen, die überwiegend während des Prozesses der deutschen Einigung im 19. Jahrhundert und dann in der Zeit des Nationalsozialismus entstanden, spiegeln die speziellen Anforderungen der jeweiligen Epoche wider. Ein jüngerer französischer Beitrag, «Le Congrès de Vienne. L’Europe contre la France», enthält bereits im Titel eine Sichtweise, die charakteristisch für einen großen Teil der Einleitung 9 französischen Literatur zum Thema ist. Britische Studien zeichnen sich durch eine unglaubliche Überheblichkeit aus, die sich einer Unkenntnis der europäischen Bedingungen und der Überzeugung verdankt, daß Großbritannien keine Eigeninteressen verfolgte und seine Beteiligung daher unparteiisch und wohlwollend war. Wo immer sie auch geschrieben wurden, die meisten vorhandenen Bücher über den Kongreß sind ihrer Art nach oberflächlich, und die besten sind paradoxerweise jene, die sich redlicherweise nur auf die sozialen und auf die erotischen Aspekte des Ganzen beschränken. Kurzum, es gibt keine zufriedenstellende umfassende Untersuchung dieses Ereignisses, und folglich wissen die meisten Leute wenig darüber, außer daß auf diesem Kongreß viel getanzt wurde. Die Gründe dafür wurden mir klar, als ich mich den Komplexitäten des Gegenstandes zuwandte. Es fängt damit an, daß der Wiener Kongreß in einem formellen Sinn niemals wirklich stattgefunden hat. Ähnlich wie «Jalta» für Verhandlungen und Abkommen zwischen 1943 und 1945 und sogar danach steht, umschreibt «Wiener Kongreß» pauschal einen Prozeß, der im Sommer 1812 begann und erst zehn Jahre später zu Ende ging. Wie so oft bei einem sich lange hinziehenden Prozeß sind es die scheinbar nebensächlichen Details, deren Lösung in frühen Phasen der Verhandlungen vertagt wurde, die dann aber in der entscheidenden Schlußphase die Verhandlungen beherrschen und verzerren. Es läßt sich daher unmöglich ein umfassender und verständlicher Bericht dieses Ereignisses schreiben, ohne eine sehr lange Zeitspanne in den Blick zu nehmen, und das verlangt viel Arbeit und erzwingt einen komplexeren Text, als ihn sich manch ein Historiker vornehmen möchte. Ebenso wichtig ist es für jeden, der sich dieses Gegenstandes annehmen will, so viele europäische Sprachen wie möglich hinreichend zu kennen. Die Verhandlungen, die zwischen 1812 und 1815 geführt wurden, lassen sich mit einem Pokerspiel vergleichen, dessen Verlauf nur verständlich wird, wenn man sieht, welche Karten jeder Spieler auf der Hand hat und wie er sie ausspielt. Darüber hinaus ist etwas erforderlich, mit dem Historiker, die ihr Handwerk zu anderen Zeiten gelernt haben, besonders schwer umgehen können: eine Empathie mit den Wünschen und Ängsten jedes Mitspielers aufbringen zu können, weil sonst deren Entscheidungen und Reaktionen unverständlich bleiben. 10 1815 Der Grund dafür, daß es während des Wiener Kongresses mehrfach fast zum Krieg kam, war nicht die unprovozierte Aggressivität Preußens, nicht die Widerborstigkeit Rußlands oder die Doppelzüngigkeit Österreichs, er lag bei allen in der Furcht davor, von den anderen über den Tisch gezogen zu werden. Als ich dieses Buch schrieb, beabsichtigte ich, die Verhandlungen, die zu dem Friedensabkommen führten, so vollständig wie möglich darzustellen, denn ich hoffte, daß die Abfolge der Ereignisse sich schließlich zu einer Erklärung dessen verdichten würde, wie dieses Ergebnis erreicht wurde. Ich habe mich bemüht, die Hoffnungen und die Befürchtungen jeder Seite so distanziert und zugleich so mitfühlend wie möglich zu schildern, wobei ich der festen Überzeugung war, daß es in diesem Spiel weder «gute» noch «böse» Akteure gab, sondern ausschließlich angstvolle. Der Umfang der Untersuchung, den ich vorgesehen hatte, gestattete mir nicht, so ausführlich auf die Politik der bourbonischen Restaurationen einzugehen, wie ich es mir gewünscht hätte; das gleiche gilt für die verschlungenen Kräfteverhältnisse, in denen das italienische Problem einer Lösung zugeführt wurde, und erst recht für die Komplexitäten der deutschen Frage. Einer der wichtigsten, wenn nicht gar der wichtigste Gegenstand in dem, was wir als Wiener Kongreß bezeichnen, ist die territoriale und staatsrechtliche Neuordnung Deutschlands. Ich habe ihr sicherlich nicht so viel Raum gegeben, wie sie verdient hätte, und doch entschuldige ich mich hier dafür nicht. Es handelt sich bei ihr um einen so vielschichtigen und verwickelten Prozeß, daß nur ein erfahrener Spezialist für deutsche Geschichte ihn adäquat erfassen könnte, und dem dazu entstehenden Bericht könnte auch nur jemand folgen, der kaum weniger in diesem Thema versiert wäre. Für ein verständliches Gesamtbild der wesentlichen Aspekte des Kongresses ist es unvermeidlich, viele zusätzliche Zusammenhänge unberücksichtigt zu lassen, so faszinierend sie auch sein mögen. Ich habe mich außerdem, im Sinne einer leichteren Lesbarkeit meiner Darstellung, auf die Hauptakteure konzentriert und es vermieden, viele ihrer zusätzlichen Mitarbeiter und Gegner zu erwähnen. Die Zahl derer, die sich an diesem großen Gerangel um Land, Macht und Einfluß beteiligten, war so groß, daß manch spannender Nebenschauplatz dieser Geschichte unerwähnt bleiben mußte. Einleitung 11 Zwar sind gute Bücher über den Kongreß rar, es herrscht aber kein Mangel an publizierten Zeugnissen erster Hand, die ein Eintauchen in Archivmaterialien praktisch überflüssig machen. Nicht nur die Gesetzestexte und Verträge, auch die Memoranden, Verbalnoten, Proklamationen, Demarchen und andere Spuren der Verhandlungen liegen gedruckt vor, wie auch die Korrespondenz der Hauptakteure, ihre Tagebücher und Memoiren. Ebensolche Zeugnisse anderer Teilnehmer und Zuschauer sind publiziert worden, und etliche Berichte der österreichischen Geheimpolizei. Dennoch habe ich einige Archivquellen verwendet – zum guten Teil aus dem Wunsch heraus, die Arbeitsprozesse des Kongresses genauer zu durchdringen. Will man verstehen, wie eine Beziehung oder eine Verhandlung konkret verlief, läßt sich ein Originaldokument, das man in der Hand hält, durch nichts ersetzen. Als ich die Archive durchforstete, wurde mir klar, daß einige der gedruckten Primärquellen nicht so zuverlässig waren, wie man es sich gewünscht hätte, und daß die auf einer Sitzung getroffenen Entscheidungen nicht immer von allen Beteiligten in gleicher Weise notiert wurden. Für einige der entscheidenderen Momente der Verhandlungen griff ich daher auf Archivquellen zurück. Was das leidige Problem der Toponyme betrifft, so ist es angesichts des weiten Gebiets, in dem die geschilderten Ereignisse spielen, schwer, Konsistenz zu erreichen. Ich habe daher eher die damals gängigen Bezeichungen verwendet und ihnen bei ihrer ersten Erwähnung im Text, falls erforderlich, ihren heutigen Namen in Klammern hinzugefügt. So habe ich mich beispielsweise an allgegenwärtige deutsche Bezeichnungen gehalten, wie etwa, wenn es um den Vertrag von Kalisch ging, obwohl die Stadt damals formal im Großherzogtum Warschau lag und daher als Kalisz bekannt war. Im Falle der Hauptstädte und größerer Städte habe ich jedoch die heute übliche Form verwendet. Um der Lesbarkeit willen habe ich mehrere Quellen pro Absatz in einer einzigen Endnote gebündelt; sie werden im Anmerkungsverzeichnis in der Reihenfolge der erwähnten Fakten oder Zitate im Text aufgeführt. Ich möchte Aleksandr Sapožnikov von der Handschriftenabteilung der Russischen Nationalbibliothek dafür danken, daß er mir bei der Ein- 12 1815 sicht in die Tagebücher von Michajlovskij-Danilevskij behilflich war, und Galina Babkova, die mir half, Kopien anderer Dokumente und Artikel in Rußland zu besorgen. In dankbarer Schuld stehe ich bei Ole Villumsen Krog, dem Direktor der Königlichen Silberkammer von Schloß Christiansborg in Kopenhagen, für seine Hilfe und Liebenswürdigkeit, mit denen er mir seine unschätzbare Arbeit zum Wiener Kongreß zugänglich machte, und bei meiner Rechercheurin in dänischen Dingen, Marie-Louise Møller Lange. Dank geht auch an Barbara Prout von der Bibliothèque Publique et Universitaire de Genève, die mir Kopien von dortigen Manuskripten zuschickte, und an Jennifer Irwin, die im Public Record Office Nordirlands recherchierte. Angelica von Hase war außerordentlich hilfreich beim Eindringen in die deutsche Literatur zum Kongreß und mit Übersetzungen einiger Quellen. Ich stehe in der Schuld von Barbara de Nicolay, die mich durch die Komplexitäten des Streits um das Herzogtum Bouillon geleitet hat. Dankbar bin ich auch Professor Isabel de Madariaga, Emmanuel de Waresquiel und Dr. Philip Mausel für ihren hilfreichen Rat, Shervie Price dafür, daß sie das Manuskript las, und Richard Foreman für seine überaus wertvolle Beratung zu den Kapitelüberschriften. Sehr zu danken habe ich Richard Johnson für die ermutigende Unterstützung und seine Nachsichtigkeit bei den Abgabeterminen. Robert Lacey war ein mustergültiger Lektor, der mich einmal mehr davor bewahrte, mich zum Narren zu machen. Der vielleicht bemerkenswerteste Beitrag kam von Sophie-Caroline de Margerie, die mir das Thema überhaupt vorschlug. Und auch dieses Mal hat meine Frau Emma mich daran gehindert, verrückt zu werden, und mir das Leben durch und durch lebenswert gemacht. Adam Zamoyski London, im Januar 2007 Hinweis der Übersetzer: Wir haben, wo möglich, alle Zitate aus ihren Originalsprachen übersetzt. Lingua franca der Diplomatie und der europäischen Höfe war damals das Französische, hinzu kamen auch russische und andere Quellen. Die zuweilen altertümliche Diktion und Orthographie der Einleitung 13 deutschen Zitate entsprechen der Zeit ihres Entstehens bzw. ihrer Veröffentlichung. Für das Aufspüren der Originalzitate danken wir Jan Dreßler und Tino Jacobs sehr herzlich. Unser Dank geht auch an den Deutschen Übersetzerfonds, der diese Arbeit großzügig unterstützt hat. 1 Der aufgeschreckte Löwe der aufgeschreckte 1815 löwe Die Uhr des Tuilerien-Palastes hatte gerade zum letzten Viertel vor Mitternacht geschlagen, als eine schlammbespritzte, von vier ermüdeten Pferden im Galopp gezogene Kutsche von jener einfachen Art, die als chaise de poste bekannt war, auf den Paradeplatz vor dem Schloß einbog. In Unkenntnis der Hofetikette fuhr der Kutscher durch den dort befindlichen mittleren Bogen des Arc de Triomphe du Carrousel, der ausschließlich dem Kaiser vorbehalten war, noch bevor die schlaftrunkenen Wachen reagieren und sich ihm in den Weg stellen konnten. «Das ist ein gutes Vorzeichen!», rief einer der beiden Männer, die in der Kutsche saßen, ein molliger Mann in einem dicken, gefütterten Mantel, dessen Gesicht von einer Pelzmütze weitgehend verdeckt wurde. Das Gefährt hielt am Haupteingang, unter der Uhr, und die Passagiere kletterten hinaus. Der erste und größere von beiden hatte seinen Militärmantel aufgeknöpft, so daß seine goldbesetzte Brust sichtbar wurde und die Wachen ihn und seinen Begleiter unbehelligt passieren ließen, da sie annahmen, es handele sich um hohe Offi ziere, die eilige Depeschen brachten. Die beiden Männer gingen rasch den Gewölbegang hinunter und klopften an dessen Ende an ein hohes Portal. Nach einer Weile erschien der Kastellan im Nachthemd mit einer Laterne. Der größere der beiden gab sich als Kaiserlicher Großstallmeister zu erkennen, aber es dauerte einige Zeit, bis der Kastellan und seine schlaftrunkene Frau, die sich zu ihm gesellt hatte, überzeugt waren, daß der Mann, der vor ihnen stand, tatsächlich General de Caulaincourt war. Er trug zwar die passende Uniform, aber mit seinen langen und zerzausten Haaren, dem wettergegerbten Gesicht und den etwa zwei Wochen alten Bartstoppeln glich er eher einem Räuber auf der Bühne als einem hohen Würdenträger des kaiserlichen Hofes. 16 1815 Diese Zeichnung von AnneLouis Girodet-Trioson, entstanden im März 1812, kurz bevor der Kaiser zu seinem Rußlandfeldzug aufbrach, zeigt einen alternden Napoleon, der sich lieber der Konsolidierung seiner Herrschaft gewidmet hätte, als wieder in den Krieg zu ziehen. Seine Friedenssehnsucht hatte sich zwölf Monate später noch verstärkt; auf seine Macht wollte er aber auf keinen Fall verzichten. Nicht jedoch er, sondern seine Feinde entschieden über die zukünftige Gestalt Europas. Die Frau des Kastellans öffnete das Tor und sagte, die Kaiserin habe sich soeben zur Nacht zurückgezogen; derweil ging ihr Mann die diensthabenden Diener holen, die die Neuankömmlinge hineinbegleiten sollten. Die Frau wandte sich, noch gähnend und sich die Augen reibend, nun dem anderen Mann zu. Obwohl das flackernde Licht nur einen Teil seines Gesichts erleuchtete, meinte sie, zwischen dem hohen Kragen des Mantels und der in die Stirn gezogenen Pelzmütze den Kaiser zu erkennen. Aber das schien ihr unmöglich zu sein. Erst vor zwei Tagen hatten die Einwohner von Paris aus dem neunundzwanzigsten Bulletin de la Grande Armée zu ihrer Bestürzung erfahren, daß er sich mit seinem bedrängten Heer durch den russischen Schnee kämpfte. Die beiden Männer wurden einen Säulengang hinabgeführt, der sich rechts zu den Gärten hin öffnete, und gingen nach links in die Gemächer der Kaiserin – gerade als ihre Kammerzofen, die sie beim Schlafengehen bedient hatten, aus ihrem Privatgemach traten. Beim Anblick des bärtigen Mannes in dem verdreckten Militärmantel schreckten die Damen ängstlich zurück, aber als er ihnen erklärte, er bringe Nachricht vom Kaiser, erkannten sie Caulaincourt, und eine kehrte zur Kaiserin zurück, um den Großstallmeister anzukündigen. der aufgeschreckte löwe 17 Als Napoleons Gesandter in Rußland von 1807 bis 1811 hatte General Armand de Caulaincourt alles in seiner Macht Stehende getan, um die beiden Imperien vor einem Konflikt zu bewahren und Napoleon dazu zu bringen, Frieden zu schließen, solange das möglich war. Zeichnung von Jacques-Louis David. Voller Ungeduld drängte sich der kleinere der beiden Männer an seinem Begleiter vorbei auf die Tür des Gemachs zu. Sein Mantel hatte sich geöffnet, unter dem die Uniform eines Grenadiers der Alten Garde zum Vorschein kam, und als er jetzt zielstrebig den Raum durchquerte, bestand kein Zweifel mehr daran, daß dies Kaiser Napoleon war. «Gute Nacht, Caulaincourt!», sagte er und warf einen Blick zurück. «Sie haben auch Ihre Ruhe verdient.»1 Das war ziemlich untertrieben. Der General hatte seit über acht Wochen nicht mehr in einem Bett geschlafen und sich während der letzten beiden kaum einmal ausstrecken können; er hatte unter unsäglichen Bedingungen, oft unter Feuer, den weiten, mehr als 3000 Kilometer langen Weg von Moskau aus zurückgelegt. Zuvor hatte er an dem zermürbenden Vormarsch teilgenommen, in dessen Verlauf die beste Armee in Europa dezimiert worden war, und er hatte zuschauen müssen, wie sein geliebter jüngerer Bruder in der Schlacht von Borodino umkam. Er hatte Moskau brennen sehen. Er hatte die Entbehrungen und Greuel des katastrophalen Rückzugs miterlebt, dem über eine halbe Million französischer und verbündeter Soldaten zum Opfer gefallen waren. 18 1815 Vielleicht war es für den neununddreißigjährigen General Armand de Caulaincourt, Herzog von Vicenza, einen fähigen Soldaten und Diplomaten, am schwersten zu ertragen gewesen, daß er mitansehen mußte, wie sich seine schlimmsten Prophezeiungen eine nach der anderen erfüllten. Zwischen 1807 und 1811 hatte er als Napoleons Botschafter in Rußland alles getan, was in seiner Macht stand, um einen Konflikt zwischen den beiden Großmächten abzuwenden. Mehrfach hatte er Napoleon beschworen, nicht gegen Rußland in den Krieg zu ziehen, und ihn gewarnt, daß man gegen diesen Gegner unmöglich gewinnen könne. Noch als sie quer durch Europa reisten, um beim Truppenaufmarsch gegen Rußland dabeizusein, hatte er ihn umzustimmen versucht. Nachdem der Feldzug begonnen hatte, versuchte er ein ums andere Mal, Napoleon zu einer Schadensbegrenzung zu überreden – Caulaincourts Loyalität zu seinem Kaiser war unerschütterlich, aber er scheute sich nie, seine Meinung offen zu sagen. Es war alles vergebens. Während sich die Reste seiner Armee noch auf dem letzten Abschnitt ihres Rückzugs durchkämpften, hatte Napoleon am 5. Dezember 1812 beschlossen, seine Armee zu verlassen und nach Paris zurückzueilen. Das Kommando übertrug er seinem Schwager Joachim Murat, dem König von Neapel, unter der strikten Anweisung, die Grande Armée im litauischen Wilna (Vilnius) zu sammeln, das mit Vorräten und Verstärkungstruppen gut bestückt war, und es um jeden Preis zu halten. Er war mit Caulaincourt in seinem Reise-Coupé aufgebrochen, dem zwei weitere Kutschen mit drei Generälen und einigen Dienern folgten. Sie wurden von einer Schwadron Gardejäger sowie einer der polnischen Chevaulegers der Alten Garde begleitet, vorübergehend auch von etwas neapolitanischer Kavallerie. Einmal wäre der Konvoi um ein Haar von marodierenden Kosaken abgefangen worden. Napoleon hatte zwei geladene Pistolen in sein Coupé legen lassen und für den Fall seiner Gefangennahme seine Begleiter angewiesen, ihn zu töten, sollte er dazu nicht mehr selber in der Lage sein.2 Caulaincourt wich nicht von seiner Seite, selbst dann nicht, als sie ihre Eskorte und Gefährten zurückließen, wobei sie von der Kutsche in einen behelfsmäßigen Schlitten, von diesem auf eine Kutsche und dann wieder auf einen Schlitten wechselten usw., und immer wieder die Achsen brachen und ein halbes Dutzend Fahrzeuge verschlissen wurde, während sie von Wilna über Warschau, Dresden, Leipzig, Weimar, Er- der aufgeschreckte löwe 19 furt und Mainz schließlich bis nach Paris flohen, wo sie in den letzten Minuten des 18. Dezember eintrafen. Aber bevor er daheim zu Bett gehen konnte, mußte Caulaincourt noch einer letzten Pflicht nachkommen. Er begab sich zum Haus des Erzkanzlers Jean-Jacques de Cambacérès, und nachdem er diesen mit der erstaunlichen Nachricht von der Rückkehr des Kaisers geweckt hatte, wies er ihn an, die nötigen Arrangements zu treffen, damit das ordnungsgemäße kaiserliche lever am nächsten Morgen stattfinden könne. Napoleon wünschte eine sofortige Wiederaufnahme der normalen Alltagsroutinen. Auf seinen Feldzügen ließ Napoleon in regelmäßigen Abständen Bulletins de la Grande Armée veröffentlichen, um seine Untertanen über sein Tun auf dem laufenden zu halten und sich dabei in einem heldenhaften Licht zu präsentieren. Im neunundzwanzigsten Bulletin vom 16. Dezember hatten sie zum ersten Mal Nachrichten vorgefunden, die wenig glorreich waren. Sie lasen jetzt, daß er Moskau gezwungenermaßen hatte verlassen müssen und seine Armee infolge des Winters schreckliche Verluste erlitten hatte. Wer zwischen den Zeilen las, konnte auf eine ungeheure Katastrophe schließen. Aber das Bulletin endete mit den Worten: «Die Gesundheit Sr. Majestät war nie besser.» Damit bezweckte er, daß die Bürger Frankreichs zwei Tage, nachdem sie das Schlimmste erfahren hatten, wieder zuversichtlich sein könnten, im Wissen, daß ihr Kaiser wiedergekehrt und Herr der Lage sei. Vor allem aus einem Grund hatte Napoleon seine Armee verlassen und war nach Paris zurückgekommen: Er wollte frische Truppen ausheben und im Frühjahr mit ihnen ausrücken, um seine Armee zu verstärken. Aber es gab auch andere Erwägungen. Zum einen war es ihm lieber, wenn er seine durchaus nicht zuverlässigen Verbündeten Österreich und Deutschland vor sich hatte, und nicht im Rücken. Als noch wichtiger und drängender empfand er es, seine Autorität im eigenen Land wieder zu stärken. Mehr als sieben Monate lang war er der Hauptstadt ferngeblieben und hatte während dieser Zeit die Staatsangelegenheiten von seinem Hauptquartier aus geführt. Das hatte erstaunlich gut funktioniert, und von der Außenpolitik bis hin zum Spielplan der Pariser Bühnen hatte er von dort aus weiterhin alles beaufsichtigt und befehligt. Aber in der Nacht des 23. Oktober, um die Zeit, als er seinen Rückzug aus Moskau begann, hatte ein unbedeutender General namens Malet 20 1815 mit einer Handvoll anderer Offiziere versucht, die Macht in Paris zu ergreifen, mit der Behauptung, der Kaiser sei tot. Sie wären beinahe erfolgreich gewesen, und obgleich man Malet und seine Komplizen vor Gericht stellte und erschoß, bevor noch Napoleon von dem Putschversuch erfuhr, verstörte ihn die Sache zutiefst, als ihm davon berichtet wurde. Sie führte ihm vor Augen, auf welch unsicherem Fundament sein Thron stand, und das gab ihm zu denken. Am Morgen des 19. Dezember feuerte die Kanone vor dem Invalidendom einen Salut, der den verblüfften Bürgern von Paris verkündete, daß ihr Kaiser wieder in der Hauptstadt weile. Sie waren noch immer fassungslos angesichts der Nachricht seines Scheiterns in Rußland; sie brannten darauf, Näheres zu erfahren, und hofften auf irgendeine Erklärung. Diese gespannte Erwartung beherrschte vor allem jene Beamten und Höflinge, die zum lever eilten. Aber sie wurden enttäuscht: Der Kaiser war einsilbig und abweisend und verschwand nach kurzer Zeit in seinem Arbeitszimmer, wohin er seine wichtigsten Minister bestellte. Er war nicht in der Stimmung, Erklärungen abzugeben, sondern, im Gegenteil, welche einzufordern, und das bekamen die Vertreter der gesetzgebenden Institutionen und der Verwaltungen zu spüren, als sie ihm am nächsten Tag ihre Aufwartung machten. Um sie als schwach, feige und unfähig hinzustellen, brachte er die Verschwörung Malets zur Sprache. Besonders empfindlich hatte ihn getroffen, daß jene, die der von Malet in Umlauf gebrachten Nachricht von seinem Tod in Rußland aufgesessen waren, einen Regimewechsel erwogen, statt seinen Sohn, den König von Rom, zum Thronfolger auszurufen. «Unserer Väter Losungswort war: Le roi est mort, vive le roi!», hielt er ihnen vor, und fügte hinzu: «Diese wenigen Worte enthalten die Hauptvorteile der Monarchie.» Daß der Ruf am 23. Oktober nicht erschollen war, machte ihm bewußt, daß die Monarchie, die er geschaffen hatte, trotz aller äußerlichen Riten und Symbole auf tönernen Füßen stand. Nach wie vor war er nur ein General, der die Macht ergriffen hatte, ein parvenu ohne einen Herrschaftsanspruch, der auf mehr als seiner Fähigkeit beruhte, an ihm festzuhalten. Diesen Rückschlag empfand er als persönliche Kränkung, und die Unsicherheit, die er bei ihm auslöste, sollte sich stark auf sein Verhalten während der nächsten beiden Jahre auswirken. Sie machte ihn aggressiver und weniger zugänglich, und führte unaufhaltsam in seinen Untergang.3 der aufgeschreckte löwe 21 Bevor er im Sommer 1812 zu seinem verhängnisvollen Feldzug gegen Rußland aufbrach, war Napoleon der unumstrittene Herrscher über Europa gewesen und mächtiger als irgendein römischer Kaiser. Das französische Kaiserreich und die von ihm unmittelbar abhängigen Gebiete umfaßten ganz Belgien, Holland und die Nordseeküste bis hinauf nach Hamburg, das Rheinland, die gesamte Schweiz, Piemont und Ligurien, die Toskana, den Kirchenstaat, Illyrien (das heutige Slowenien und Kroatien) und Katalonien und dazu auch das heutige Frankreich. Alle kleineren deutschen Staaten, darunter die Königreiche Sachsen, Bayern und Württemberg, waren im Rheinbund vereinigt, einem gänzlich abhängigen und unterworfenen Verbündeten Frankreichs; das waren auch das Großherzogtum Warschau, das Königreich Italien und die Königreiche Neapel und Spanien. Mehrere dieser Monarchien wurden von Geschwistern oder Verwandten Napoleons regiert oder waren mit ihm durch dynastische Eheschließungen verbunden. Dänemark und Rußland saßen in einer mehr oder weniger permanenten Allianz mit Frankreich fest, Österreich und Preußen waren ziemlich fragile Verbündete und in Kontinentaleuropa blieb nur Schweden außerhalb des napoleonischen Systems. Viele haßten den Würgegriff Frankreichs, aber es gab auch andere, die ihn begrüßten oder zumindest akzeptierten. Der einzige Herausforderer Napoleons war Großbritannien; aber auch wenn es die Meere beherrschte, auf dem europäischen Festland hatte es nur in Spanien Fuß fassen können, wo die Armee des Generals Wellington neben regulären spanischen Truppen und Guerillaeinheiten operierte, die die Herrschaft von Napoleons Bruder Joseph bekämpften. Die Briten waren jedoch zugleich in einen schwierigen und kostspieligen Krieg mit den Vereinigten Staaten von Amerika verwickelt, was ihrem militärischen Potential Grenzen setzte. Der verheerende Rußlandfeldzug hatte all das verändert, jedoch nicht so tiefgreifend, wie man vermuten könnte. Obwohl er nun mit Rußland Krieg führte und bei dem Versuch, es in die Knie zu zwingen, eine Armee verloren hatte, hatte sich Napoleons Position insgesamt nicht verändert. Sein System und seine Bündnisse waren nach wie vor intakt, und die Lage in Spanien hatte sich sogar verbessert, nachdem die Rückschläge des Sommers überwunden und die britischen und spanischen Truppen unter Wellington abgewehrt worden waren. 22 1815 Die einzige Gefährdung für sein System hätte zum damaligen Zeitpunkt durch Deutschland gedroht, dessen viele Herrscher, angefangen mit Friedrich Wilhelm III. von Preußen, das Bündnis mit ihm zunehmend als lästig empfanden, und dessen Untertanen eine heftige Abneigung gegen ihre französischen Verbündeten hegten. Aber Preußen war durch Frankreich erheblich verkleinert und wirtschaftlich ausgeblutet worden, während die anderen Monarchen zu schwach waren und einander zu sehr mißtrauten, um eine ernsthafte Bedrohung darzustellen; und Österreich war nach seiner verheerenden Niederlage von 1809 nicht imstande, Krieg zu führen. Wer immer noch davon träumte, das französische Joch abzuschütteln, mußte die Überreste der Grande Armée in Polen und eine Kette von Festungen mit französischen Garnisonen überall in Deutschland mitbedenken. Napoleons Selbstbewußtsein war durch die Ereignisse von 1812 nicht ernstlich erschüttert worden. Er hatte grobe politische und militärische Fehler begangen, und er hatte eine ausgezeichnete Armee verloren. Aber er wußte – ebenso wie es, trotz der russischen Propaganda, die meisten erfahrenen Feldherren Europas wußten –, daß er auf dem Schlachtfeld immer siegreich gewesen war. «Meine Verluste waren beträchtlich, aber dessen darf sich der Feind nicht rühmen», schrieb er in einem Brief an den König von Dänemark. Und er konnte jederzeit eine neue Armee aufstellen.4 Frankreich war nach wie vor der mächtigste Staat auf dem europäischen Kontinent. Rußland besaß keine vergleichbaren Reserven an Macht und Reichtum, und es hatte im Vorjahr stark unter den Verwüstungen des Krieges gelitten. Im nachhinein wissen wir, daß Napoleons Ruf und die Grundlagen seiner Macht unheilbar beschädigt waren, aber damals war allen klar, daß seine Position unangreifbar blieb, solange er einen kühlen Kopf behielt und seine Ressourcen konsolidierte. Und dies zu tun, schickte er sich nun an. Auf seinem Rückweg nach Paris hatte er gerade lange genug in Warschau Halt gemacht, um die polnischen Minister zu versichern, er habe alles im Griff und werde im Frühjahr mit einer neuen Armee zurückkehren. Einige Tage später redete er beruhigend auf seinen Verbündeten, den König von Sachsen, ein und drängte ihn, weitere Truppen auszuheben. Ebenfalls in Dresden schrieb er seinem Schwiegervater, dem Kaiser von Österreich, er habe alles unter Kontrolle, und bat ihn, das der aufgeschreckte löwe 23 Kontingent österreichischer Soldaten, die gemeinsam mit der Grande Armée kämpften, auf 60 000 zu verdoppeln. Zusätzlich bat er ihn, einen Botschafter nach Paris zu entsenden, damit sie leichter miteinander kommunizieren könnten.5 Nach seiner Rückkehr nach Paris machte er sich daran, seine Truppen wieder aufzubauen. Noch vor seiner Abreise hatte er Befehl zur Einberufung der Altersgruppe gegeben, die im Jahr 1814 an der Reihe gewesen wäre, was ihm 140 000 junge Männer beschert hatte, die bereits in den Sammelstellen gedrillt wurden. Zusätzlich standen ihm 100 000 Mann der Nationalgarde zur Verfügung, die er für die Landesverteidigung aufgestellt hatte, bevor er nach Rußland aufbrach. Angesichts der politischen Lage in Frankreich schuf er nun eine neue Streitmacht, die Gardes d’Honneur, die sich aus Sprößlingen von Adelsfamilien und solchen zusammensetzte, die seine Herrschaft ablehnten und die man mitten aus den royalistischsten Provinzen zusammengeholt hatte. Die Besserung der Lage in Spanien ermöglichte es ihm, vier Garderegimenter, die berittene Gendarmerie und einige polnische Kavallerieeinheiten von der Iberischen Halbinsel abzuziehen. Und er wies seine anderen Verbündeten in Deutschland an, zu seiner Unterstützung mehr Truppen auszuheben. Nach seinen Berechnungen hatte er immer noch 150 000 Soldaten, die die Ostgrenze seines Imperiums absicherten, davon mindestens 60 000 Mann unter Murat in Wilna, 25 000 unter Macdonald im Norden, 30 000 österreichische Bündnissoldaten im Süden unter Schwarzenberg, Poniatowskis polnisches Korps und die Reste des sächsischen Kontingents unter Reynier, die Warschau schützten, sowie mehr als 25 000 Männer in Reservedepots oder Festungen von Danzig an der Ostsee bis hinunter nach Zamotd. Er war daher zuversichtlich, daß er im Frühjahr mit etwa 350 000 Mann in Deutschland losmarschieren könne.6 Aber nicht einmal eine Woche nach seiner Rückkehr nach Paris erreichten ihn am Weihnachtsabend schlechte Nachrichten aus Litauen. Als die versprengten Reste der Grande Armée nach und nach in Wilna eintrafen, in dem sie einen rettenden Hafen wähnten, war die Durchhaltekraft der Soldaten einem großen Ruhebedürfnis gewichen. Murat hatte versäumt, eine angemessene Verteidigung auf die Beine zu stellen, so daß die vorrückenden russischen Truppen die Stadt mühelos überrennen konnten. Verwirrung und Panik hatten eine geord- 26 1815 Franz. Garnisonen Franz. Truppen Russische Truppen Mitteleuropa zu Beginn des Jahres 1813 Kopenhagen KGR. DÄNEMARK Nordsee Schwed.Pommern Hamburg Stettin Elb i We Krakau Brünn na u RUSSLAND Kiew Zamosc ´´ Galizien Lemberg Tarnopol KAISERTUM ÖSTERREICH Salzburg Wien Dn Preßburg Ofen Genf Genua t ipe Do el chs er Od Prag Basel Turin Minsk Schwarzenberg Poniatowski Breslau Böhmen München SCHWEIZ Grodno G H Z M . WA R S C H A U Dresden Stuttgart Wilna Pr Rhein Straßburg Murat KGR. PREUSSEN Leipzig RHEINBUND Königsberg Thorn Modlin Posen Glogau Warschau Kassel Frankfurt Danzig Berlin Magdeburg Mainz Macdonald Rep. Danzig Küstrin e Köln Memel Ostsee jes tr Pest Ungarn Mailand Venedig KGR. I TA L I E N Illyrische Provinzen Adria Agram Kaiserreich Frankreich Satellitenstaaten Frankreichs Verbündete Frankreichs nete vakuierung selbst durch solche Einheiten verhindert, die noch kampffähig gewesen wären, und einige Tage später überquerten kaum mehr als 10 000 Mann den Njemen und verließen Rußland. Napoleon war durch diese Nachricht am Boden zerstört. Er bereute bitterlich, Murat das Kommando übertragen zu haben, und ihm grauste davor, wie dieses Ereignis gegen ihn propagandistisch ausgeschlachtet werden würde. Aber nach ein, zwei Tagen versicherte er Caulaincourt bereits, es sei ein unwesentlicher Rückschlag gewesen; er hatte es offenbar verwunden.7 Er würde sich dadurch bestimmt nicht von seinen Plänen abbringen lassen oder erlauben, daß sein Selbstvertrauen Schaden nähme. Der angeforderte Botschafter des Kaisers Franz von Österreich war in Paris eingetroffen. Es handelte sich um General Ferdinand Graf von Bubna und Littitz, einen hervorragenden Soldaten, den Napoleon gut kannte und mochte. Im Verlauf ihrer ersten Unterredung am Abend des 31. Dezember überbrachte Bubna das Angebot Österreichs, beim Aushandeln der aufgeschreckte löwe 27 eines Friedens zwischen Frankreich und Rußland behilflich zu sein. Napoleon schlug es aus. Sicherlich wünschte er Frieden, wahrscheinlich sehnlicher als alle seine Feinde. Er war jetzt dreiundvierzig Jahre alt. «Ich werde schwerfällig und zu beleibt, um nicht meine Ruhe zu lieben, um nicht das Hin und Her, die ständige Anspannung, die der Krieg verlangt, als große Strapaze zu empfinden», gestand er Caulaincourt. Er habe den Krieg von 1812 gegen Rußland nur deshalb geführt, um Zar Alexander zu zwingen, eine Blockade durchzuführen, von der er sich versprach, daß sie Großbritannien an den Verhandlungstisch bringen würde.8 Während ihrer langen Fahrt von Litauen nach Paris hatte sich der zur Untätigkeit verdammte Napoleon ausgiebig und hartnäckig seinen Gedanken hingegeben, wobei er gelegentlich seinen Reisebegleiter in die Wange kniff oder ihn am Ohr zog, wie es seine Art war. Zum Glück für die Nachwelt hörte Caulaincourt aufmerksam zu und hielt diese Ergüsse schriftlich fest, wann immer der Kaiser einnickte oder sie anhielten, um die Pferde zu wechseln. Napoleon beteuerte wieder und wieder, daß er sich nur nach Frieden und Stabilität für Europa sehnte und die anderen Mächte auf dem Kontinent mit Blindheit geschlagen seien, wenn sie nicht erkannten, daß ihr wahrer Feind Großbritannien war, mit seiner Monopolstellung als See- und Handelsmacht. Jeder Frieden, der Großbritannien nicht einbeziehe, sei wertlos. Aber Großbritannien sei nicht bereit, einen Frieden zu solchen Bedingungen zu erwägen, die für Frankreich annehmbar wären. Die Briten müßten zum Kompromiß gezwungen werden. Drei Tage, nachdem er das österreichische Vermittlungsangebot ausgeschlagen hatte, besprach sich Napoleon mit seinen wichtigsten Beratern in auswärtigen Angelegenheiten. Dabei ging es hauptsächlich um die Frage, ob es besser sei, sich direkt um eine Einigung mit Rußland zu bemühen – über die Köpfe von Österreich und Preußen hinweg und möglicherweise zu deren Lasten –, oder auf Österreich als wichtigsten Verbündeten und möglichen Verhandlungsführer zu setzen. Erzkanzler Cambacérès, der ehemalige Außenminister Talleyrand und Caulaincourt rieten zur ersteren Vorgehensweise, der amtierende Außenminister Maret und die anderen zur zweiten. Wie stets bei derartigen Beratungen hörte Napoleon zu, ohne sich in der einen oder der anderen Richtung festzulegen. Für eine Entscheidung bliebe ihm noch reichlich 28 1815 Zeit, denn er hatte nicht vor, anders als aus einer Position der Stärke zu verhandeln. Sie wäre gegeben, wenn er an der Spitze einer frischen Armee wieder in Deutschland auftauchte, und bis dahin mußte er sich darauf konzentrieren, eine aufzustellen.9 Darin kam er gut voran. «Alles ist hier in Bewegung», schrieb er seinem Stabschef, Marschall Berthier, am 9. Januar 1813. «Es fehlt an nichts, weder an Soldaten, noch an Geld, noch an gutem Willen.» Das einzige, woran es mangele, gestand er, seien Offi ziere und ein Grundstock an bewährten Soldaten, aber er war zuversichtlich, daß er diese unter den Resten der Grande Armée finden würde, da es im allgemeinen Offiziere und Unteroffi ziere waren, die die Mehrzahl der Überlebenden ausmachten. Aber als er noch am selben Abend von einer Vorstellung im Théâtre Français zurückkehrte, erwarteten ihn unerfreuliche Neuigkeiten, in denen sich alarmierende Folgen abzeichneten.10 Preußen war in das Bündnis mit Frankreich gezwungen worden und hatte zur Invasion Rußlands ein Armeekorps beigesteuert. Aber in der Bevölkerung herrschten starke Ressentiments gegen Frankreich, besonders in den nördlichen und östlichen Teilen des Landes, und auch in der Armee waren sie stark. Am 30. Dezember 1812 trennte General Yorck von Wartenburg, Befehlshaber des preußischen Korps in der Grande Armée, dieses von den französischen Einheiten ab und unterschrieb seinen eigenen Bündnisvertrag mit Rußland. Nicht nur machte das den Franzosen unmöglich, ihre bisherige Verteidigungsstrategie aufrechtzuerhalten und zwang sie, sich zur Weichsel zurückzuziehen; es weckte auch Zweifel an der Loyalität Preußens. Kurze Zeit nach Erhalt dieser Nachricht folgte die Versicherung, daß der preußische König, Friedrich Wilhelm III., diese Tat verurteilt und befohlen habe, Yorck seines Kommandos zu entheben. Napoleons Botschafter in Berlin, der Graf von Saint-Marsan, schickte beschwichtigende Berichte über Preußens Loyalität und meldete am 12. Januar, daß Friedrich Wilhelm mit dem Gedanken spiele, seinen Sohn, den Kronprinzen, mit einer Prinzessin der Familie Bonaparte zu vermählen, um das Bündnis zwischen den beiden Höfen zu festigen. Wenige Tage später traf Friedrich Wilhelms Sondergesandter, Fürst von Hatzfeldt, in Paris ein.11 Aus Wien erhielt Napoleon ähnlich ermutigende Berichte. Er zweifelte keine Sekunde daran, daß sein Schwiegervater, Kaiser Franz, ihm der aufgeschreckte löwe 29 bis zuletzt beistehen würde: Napoleon war so vernarrt in seine Gattin Marie-Louise und seinen Sohn, den König von Rom, daß er Franz dieselben Gefühle für Tochter und Enkel unterstellte. Aber Franz folgte keiner eigenen politischen Linie. «Unsere Allianz mit Frankreich … ist so nothwendig, daß, wenn Sie dieselbe heute brechen, wir uns morgen bemühen werden, sie mit Ihnen durchaus auf dieselben Bedingungen wiederherzustellen», hatte der österreichische Außenminister Metternich zu Napoleons Gesandten in Wien, Graf Louis-Guillaume Otto, gesagt. Napoleon blieb dennoch auf der Hut und beschloß, Otto durch jemanden zu ersetzen, der einen frischen Blick auf die Lage in Wien werfen könnte. Für diese Aufgabe wählte er den Grafen Louis Marie de Narbonne-Lara.12 Während seine Rekruten in Uniformen gesteckt und ausgebildet wurden, widmete sich Napoleon den täglichen Amtsgeschäften und entspannte sich bei der Jagd in Fontainebleau. Er ergriff die Gelegenheit, Papst Pius VII. zu besuchen, der dort seit 1809, nachdem die Franzosen den Kirchenstaat besetzt hatten, als Gefangener lebte. Nach kurzen Verhandlungen unterzeichnete Napoleon mit ihm ein neues Konkordat. Dies war ratsam, da er mit seiner Behandlung des Papstes nicht nur die Katholiken Frankreichs, sondern auch solche, die in den Gebieten seiner süddeutschen und österreichischen Verbündeten lebten, unnötig gegen sich aufgebracht hatte. Die Bedingungen des Abkommens waren aber so demütigend, daß sich die Gemüter nicht beruhigten. Am 14. Oktober nahm Napoleon an der Eröffnung der gesetzgebenden Versammlung teil und hielt eine Rede, in der er seinen leidenschaftlichen Wunsch nach Frieden ausdrückte. Er würde alles tun, ihn zu fördern; gleichzeitig betonte er, daß er nie einen Vertrag unterschreiben werde, der Frankreich entehre. Er malte ein beruhigendes Bild der internationalen Lage und behauptete, daß die Dynastie der Bonaparte in Spanien sicher sei und die Lage in Deutschland keinen Anlaß zu Befürchtungen gebe. «Ich bin mit dem Betragen aller meiner Alliirten vollkommen zufrieden. Ich werde keinen von ihnen im Stiche lassen, und die Integrität ihrer Staaten zu handhaben wissen. Die Russen werden nach ihrem abscheulichen Klima zurückkehren.»13 2 Der Retter Europas der retter europas «Meine Herren, Sie haben nicht nur Rußland, Sie haben auch Europa gerettet», hatte Zar Alexander seinen Generälen am 12. Dezember 1812 in Wilna versichert, kurz nachdem die letzten französischen Nachzügler die Stadt verlassen hatten. Ob beide Behauptungen stimmten, ist zweifelhaft, aber das war unwichtig. Der sympathische und ritterliche Alexander galt mit seinen vierunddreißig Jahren vielen als die Verkörperung des monarchischen beau idéal. Daß er sich von Napoleon nicht einschüchtern ließ und sein Land entschlossen verteidigte, hatte überall Respekt geweckt. Mochte er auch fast völlig deutsch sein, die merkwürdige Mischung aus Exotik und Spiritualität, die in Europa nahezu allem, was hier als russisch galt, zugeschrieben wurde, verlieh ihm eine Aura von Kühnheit und Aufrichtigkeit. So wurde er zum Idol aller, die glaubten, Europa müsse gerettet werden.1 Aber wenn er auch den brennenden Wunsch hegte, sie nicht zu enttäuschen, er wußte nicht so recht, wie diese Rettung Europas bewerkstelligt werden sollte. Seine Absichten waren gewiß löblich. «Er wollte, daß alle Menschen einander brüderlich lieben und sich in ihren wechselseitigen Bedürfnissen beistünden, und daß ein freier Handel zum einigenden Band der Gesellschaft werde» – das gab eine junge Dame weiter, der er sich zu diesem kritischen Zeitpunkt anvertraute. Aber er war nicht hinreichend überzeugt und entschlossen. «Manchmal möchte ich meinen Kopf gegen die Wand schlagen», sagte er zu ihr, «und wenn ich meinen Stand auf ehrenhafte Weise wechseln könnte, würde ich es gerne tun, denn kein Stand ist schwieriger als der meine, und ich bin für den Thron in keiner Weise berufen.»2 Darin steckte viel Wahres. Obgleich Alexander von Natur aus freundlich und großzügig war, neigte er dazu, sich rasch auch verstimmen zu lassen. Er war zugleich charakterschwach und stur – leicht zu der retter europas 31 Zar Alexander I. von Rußland, nach eigener Überzeugung von Gott dazu berufen, die Welt zu retten, wurde anfangs allseits als Befreier gefeiert. Aber schließlich galt er wegen seiner autoritären Haltung als Bedrohung des Friedens: zugleich spottete man über seine vielen Liebschaften. Porträt von Sir Thomas Lawrence, 1817. beeinflussen, aber schwer zu handhaben. Der fortschrittliche Geist, in dem er erzogen worden war, hatte sein Selbstvertrauen zerstört, insofern dieser seiner tragischen Bestimmung, absoluter Monarch der theokratischsten und tradionalistischsten Macht Europas zu werden, diametral widersprach. Das führte dazu, daß er sich auf geradezu klägliche Weise bemühte, anderen zu gefallen, und sich doch zugleich als entschlossene und starke Herrscherpersönlichkeit beweisen wollte. «Er hätte von ganzem Herzen allen die Freiheit geschenkt, solange sie sich alle von ganzem Herzen seinem Willen untergeordnet hätten», wie es ein enger Freund ausdrückte. Alexander hatte sich den Ideen der Aufklärung verschrieben und wollte gern als Wohltäter der Menschheit gesehen werden, aber diese Neigung entwickelte sich im Laufe der Zeit zu einer Art spirituellem Schicksalsglauben, der ihn von diesen Idealen 32 1815 Alexanders Freund und Berater in internationalen Angelegenheiten, der polnische Prinz Adam Czartoryski. Während der Russische Hof ihn als potentiellen Feind wahrnahm, sahen die anderen Mächte in ihm den gefährlichsten der russischen Unterhändler. Porträt von Józef Oleszkiewicz, ca. 1806. weit abführen würde. «Mehr denn je», schrieb er im Januar 1813 seinem Freund Aleksandr Golizyn, als er über die Rettung Europas nachdachte, «füge ich mich dem Willen Gottes und unterwerfe mich blind Seinen Geboten.»3 Alexander hatte 1801, nach der Ermordung seines Vaters, Pauls I., in die er erheblich verwickelt gewesen war, im Alter von dreiundzwanzig Jahren den Thron bestiegen. Sofort hatte er ein «Geheimkomitee» gebildet, das aus engen und gleichgesinnten Freunden bestand und ihn bei der Planung grundlegender Reformen des russischen Staates unterstützen sollte. Mit der Außenpolitik betraute er Fürst Adam Czartoryski, der Alexanders utopische Phantasien in einem hochfliegenden Projekt eines zukünftigen «Systems» sammelte, das alle internationale Beziehungen regulieren würde. Wie einige andere europäische Staatsmänner war auch Czartoryski davon überzeugt, daß die überkommenen diplomatischen Spielregeln, nach denen immer wieder Paritäten angestrebt wurden, die sich ihrerseits auf instabile und schwer faßbare Machtbalancen stützten, ebenso unsinnig wie moralisch inakzeptabel seien. Im Gegenzug schlug er ein der retter europas 33 übernationales Sicherheitssystem vor, das aus Bündnissen kleinerer Staaten bestünde, die sich nach sprachlicher oder kultureller Nähe zusammenfänden. Ihnen wären Eroberungswünsche fremd, und sie würden auch nicht über den für Kriege notwendigen Zusammenhalt verfügen – es sei denn zur Selbstverteidigung. Alexander war von dieser Vision sehr angetan, die einen tief verwurzelten russischen Wunsch zu rechtfertigen schien, die Herrschaft über alle von Slawen bewohnten Lande auszudehnen.4 Weder Alexander noch seine Berater sahen Rußlands Bestimmung in einer Expansion nach Europa – sie blickten nach Konstantinopel und nach Osten. Aber durch seinen kometenhaften Aufstieg zur Großmacht in den letzten hundert Jahren war Rußland jetzt gezwungen, Europa zu beachten, und sei es nur aus Gründen der Selbstverteidigung. Die Mächte, die es im Auge behalten mußte, waren vor allem Großbritannien, dessen Überlegenheit zur See und östliche Herrschaftsgebiete als unbezweifelbare Herausforderung galten; Frankreich, dessen traditionell enge Beziehungen zur osmanischen Türkei und dessen Interesse an Ägypten und weiter östlich gelegenen Gebieten Anlaß zu Unbehagen gaben, und, weniger gewichtig, Österreich, dessen Besitzungen auf dem Balkan zumindest lästig waren. In den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts war Rußland in einen Krieg mit Frankreich hineingeraten, aber in diesem Konflikt hatte das Zarenreich keine starken Interessen, sieht man von der aussichtslosen Hoffnung ab, einen Marinestützpunkt im westlichen Mittelmeer errichten zu können. Alexanders Sicht auf Napoleon war zwiespältig. Er kam nicht umhin, seine Begabung und Energie zu bewundern, und er neidete dem Ersten Konsul seine Leistungen als tatkräftiger und erfolgreicher moderner Staatsmann, der viele Ideale der Aufklärung verwirklicht hatte. Aber Napoleons willkürliche Grausamkeit entrüstete ihn, und seine Abneigung gegen den französischen Emporkömmling schlug in kalte Abscheu um, als dieser sich im Dezember 1804 zum Kaiser der Franzosen krönen ließ. Im Oktober desselben Jahres, als Großbritannien und andere Mächte einen Krieg gegen Frankreich erwogen, hatte Alexander den Grafen Nikolaj Nowosilzow mit einem von Czartoryski ausgearbeiteten Vorschlag nach London entsandt, der seine Vision einer neuen europäischen Ordnung auf der Basis liberaler Grundsätze und «den heiligen Rechten der Menschlichkeit» enthielt. Wie nicht anders zu erwarten 34 1815 war, blieb der britische Premierminister William Pitt skeptisch, aber in seiner Antwort erschien er sehr interessiert. Er lobte Alexanders «weise, würdige und großzügige Politik» und hob aus dem Koalitionsvorschlag gegen Frankreich dreierlei als wichtigste Ziele hervor: Frankreich sollte seine Eroberungen zurückgeben und sich auf seine vorherigen Grenzen zurückziehen; diese restituierten Gebiete wären so zu sichern, daß sie nie wieder einer französischen Aggression zum Opfer fallen könnten; und, was das Wichtigste war, es sei «bei der Wiederherstellung des Friedens eine allgemeine Vereinbarung und Garantie zum gegenseitigen Schutz und zur gegenseitigen Sicherheit der verschiedenen Mächte zu erzielen, sowie die Wiedereinführung eines allgemeinen Systems des öffentlichen Rechts in Europa.»5 Es blieb bei der Vision, denn die Koalition, die dieses neue Zeitalter einläuten sollte, wurde auf den Schlachtfeldern von Austerlitz, Jena und Friedland zerrieben. Czartoryski wurde 1806 von Alexander, wenn auch widerwillig, entlassen. Aufgrund seiner wortkargen und reservierten Art hatte er bei Hof wenig Freunde und zog wegen seines Einflusses auf den Zaren die Feindseligkeit und den Neid vieler auf sich. Zudem war er Pole. 1792 hatte er in Verteidigung seines Vaterlands gegen Rußland gekämpft und war als Geisel, die das Wohlverhalten seiner Familie garantieren sollte, nach Sankt Petersburg gelangt. Das Königreich Polen war 1775 auf der Grundlage einer Reihe von Abkommen zwischen Rußland, Preußen und Österreich von der Landkarte gefegt worden. Den Löwenanteil des Landes hatte sich Alexanders Großmutter, Katharina die Große, angeeignet; sie war auch die treibende Kraft gewesen. Im Einklang mit den meisten Aufklärern verurteilte Alexander diese Aufteilung eines der ältesten Staaten Europas und empfand daran auch eine gewisse persönliche Mitschuld. Diese Gefühle wurden durch seine Freundschaft mit Czartoryski noch verstärkt, dem er geschworen hatte, Polen seine Freiheit zurückzugeben, wenn er Zar werde. Als es soweit war, war er damit konfrontiert, daß er unmöglich etwas tun konnte, was angeblich wesentlichen russischen Interessen widersprach. Niemals aber gab er seinen Traum auf, dieses Versprechen eines Tages einzulösen. Dieses polnische Dilemma ist ein typisches Beispiel für Alexanders inneren Konflikt zwischen seinen persönlichen Idealen und der russischen Staatsraison, die auf den verschiedensten Ebenen kollidierten. der retter europas 35 Wie viele polnische Patrioten war sich Czartoryski darüber im klaren, daß sein Land kurzfristig die Unabhängigkeit nicht zurückgewinnen könne. Im besten Fall konnte er auf eine Wiedervereinigung der auseinandergerissenen Teile hoffen. Ihm schwebte ein mehr oder weniger autonomes Polen als Provinz, vielleicht sogar Königreich, innerhalb des russischen Reiches vor, und diesem Reich diente er rückhaltlos. Dennoch konnte er nie das Mißtrauen des Hofes und der russischen Gesellschaft insgesamt zerstreuen, die in ihm nur einen potentiellen Feind sahen. Seine Lage wurde nicht leichter dadurch, daß er der Liebhaber von Alexanders Gemahlin Elisabeth gewesen war, die ein Kind von ihm bekommen hatte. Er war eine Belastung und mußte gehen. Czartoryskis Sturz veränderte die außenpolitischen Ansichten des Zaren nicht. Anders als die patriotischen russischen Gegenspieler des entlassenen Ministers gehofft hatten, hielt er auch daran fest, was sie als beklagenswerte Besessenheit mit Polen ansahen. Aber seine Haltung gegenüber Großbritannien änderte sich. Czartoryski hielt die Briten zwar für unzuverlässig und selbstsüchtig, aber auch für unverzichtbar als Verbündete im Kampf gegen Frankreich. Alexander indes hatte seine Zweifel. Besonders verärgerte ihn Großbritanniens Beharren auf der absoluten und ausschließlichen Qualität seiner angeblichen «Rechte zur See», nämlich jedes Schiff nach Belieben durchsuchen und die Weltmeere überwachen zu dürfen. 1805 hatte Alexander Großbritannien als notwendigen Verbündeten akzeptiert, fühlte sich aber 1806 / 07 schmerzlich von ihm im Stich gelassen, als es versäumte, ein Expeditionskorps in die Ostsee zu entsenden, und er Napoleon allein gegenüberstand. Angesichts der Notwendigkeit, mit Napoleon zu verhandeln, schloß Alexander nicht nur Frieden: Er bot dem Kaiser der Franzosen auch eine Partnerschaft derselben Art an, wie er sie Pitt drei Jahre zuvor vorgeschlagen hatte. Er bildete sich ein, er könne dank der so entstehenden Allianz, die im Verlauf ihrer Verhandlungen bei Tilsit im Sommer 1807 besiegelt wurde, sein Reich erneuern und durch die Eingliederung Konstantinopels und anderer Teile des Nahen Ostens erweitern, und zugleich gemeinsam mit Napoleon eine aufgeklärte und segensreiche Schirmherrschaft über den Kontinent ausüben, den sie beide beherrschten. Das Debakel von Austerlitz im Dezember 1805, wo Alexander gehofft hatte, als Held zu glänzen und statt dessen vom Schlachtfeld fliehen 36 1815 mußte, während seine Armee sich auflöste, und, ein gutes Jahr darauf, seine endgültige Niederlage bei Friedland, waren persönliche Demütigungen gewesen. Sie hatten auch seine politische Position geschwächt. Zwar liebte ihn sein Volk noch immer, es gab aber viele, die ihn für schwach hielten und bei denen seine Reformtendenzen Befürchtungen weckten. Sie betrachteten Minister wie Czartoryski und den reformfreudigen Speranskij als Überträger französischer / freimaurerischer / polnischer / jüdischer Einflüsse, die die Reinheit Rußlands besudelten, und Alexander sah sich gezwungen, sie zu entlassen und auch Programme aufzugeben, die ihm am Herzen lagen. Er war einer sich zunehmend artikulierenden öffentlichen Meinung ausgesetzt, die er nicht ignorieren durfte. Als Zar Rußlands regierte er zwar theoretisch als Selbstherrscher mit grenzenloser Macht, die Mehrheit der gebildeten Russen konzentrierte sich aber in der Armee, der Verwaltung und am Hof in Sankt Petersburg und Moskau. Nur durch sie konnte der Staat funktionieren, und ohne ihre willige Mitarbeit war der Autokrat buchstäblich machtlos.6 Auch wenn sich das Bündnis mit Napoleon für Alexander zwischen 1807 und 1812 als vielfach unbequem und demütigend erwies, ermöglichte es ihm, in Finnland einzudringen, es zu annektieren und sich darüber hinaus noch zusätzlich einige Streifen polnischen Bodens zu sichern. Er hoffte, sich noch weitere Gebiete aneignen und auf den Balkan vordringen zu können. Aber all das reichte nicht aus. Rußlands Selbstachtung verlangte von ihm eine unnachgiebigere, wenn nicht gar provokative Haltung gegenüber Frankreich. Dies hatte unaufhaltsam zu Napoleons schlechtberatener Invasion geführt, und als die russische Armee in den letzten Tagen des Jahres 1812 den geschlagenen Überresten der Grande Armée nachsetzte und dabei Rußland selbst verließ, war auch den naivsten Gemütern klar, daß sich die russische Herrschaft weiter in westliche Richtung ausdehnen würde. Das Großherzogtum Warschau bot sich für eine Besetzung an; so hätte Alexander die Möglichkeit gehabt, seine Bringschuld gegenüber den Polen einzulösen und ihr Königreich wiederherzustellen. Aber die Wiederherstellung eines unabhängigen polnischen Staates hätte den Weg Rußlands zu weiteren territorialen Zugewinnen im Westen versperrt. Schlimmer noch, Rußland hätte dann wahrscheinlich polnische Provinzen zurückgeben müssen, die es in der Vergangenheit annektiert hatte. Für Alexander kam daher ein polnisches König- der retter europas 37 reich nur innerhalb des russischen Reichs in Frage, und mit ihm selbst als König. Dies könnte, wie er hoffte, die Befürchtungen der russischen Öffentlichkeit dämpfen. Aber weil sich damit auch die Grenzen seines Reichs weit nach Westen hin verschöben, bedeutete dies auch, daß er bei der Neuordnung Deutschlands ein Wort mitzusprechen hätte. Deutschland war von der Französischen Revolution und den darauffolgenden Eingriffen Napoleons stärker in Mitleidenschaft gezogen als jeder andere Teil Europas. 1789 hatten die deutschen Länder zum Heiligen Römischen Reich gehört, einem unübersichtlichen Flickwerk aus etwa dreihundert unabhängigen, souveränen Staaten und Tausenden von weltlichen und geistlichen Herrschaftsgebieten, deren politische Formen von der absolutistischen Alleinherrschaft über das geistliche Regiment der Kirche bis hin zu republikanischen Stadtverfassungen alles umfaßte. Diese chaotische Vielfalt war 1792 im Zuge des französischen Ausgreifens ins Rheinland bereinigt worden, und zwischen 1801 und 1809 unterwarf Napoleon ganz Deutschland einer gründlichen Neuordnung. Sein Ziel war es, Österreich zu verkleinern und zu isolieren, Preußen, das er gern im französischen Lager halten wollte, zu vergrößern und eine Reihe von weiteren Staaten wie Bayern, Baden und Württemberg auszubauen, deren aufgewertete Herrscher dann zu treuen Verbündeten würden. Aufgrund des Reichsdeputationshauptschlusses von 1803 waren jene, die durch den Anschluß der linksrheinischen Gebiete an Frankreich ihre Territorien verloren hatten, im rechtsrheinischen Rest des Reiches zu entschädigen, wo nun Schritt für Schritt im Zuge der Mediatisierung bisher souveräne Herrschaftseinheiten anderen und größeren zugeordnet wurden. Was an souveränen Gebilden übrigblieb, wurde 1806 im Rheinbund zusammengefaßt, zu dessen Beschützer Napoleon sich erklärte. Er hatte diesem Staatenbund zwar die Form gegeben, aber seine Macht über ihn beruhte darauf, daß er die Mitgliedsstaaten gegeneinander ausspielte und sie in einem Zustand der Abhängigkeit hielt. Zudem war keiner von ihnen ganz Herr im eigenen Haus, da Napoleon eine Reihe von «mediatisierten» Grafen und Rittern («Standesherren») innerhalb ihrer Herrschaftsgebiete belassen hatte, die nicht ihren neuen Herren, sondern ihm, Napoleon, unterstanden. Gewinner all dieser Veränderungen waren nicht nur die Kurfürsten von Bayern, Württemberg und Sachsen, die zu Königen wurden, oder 38 1815 Aufstieg und Fall Preußens, 1700 Ostsee Königsberg PREUSSEN Nordsee Danzig Hamburg Elb e W ese Stettin r MINDEN RAVENSBERG KLEVE BRANDENBURG Hannover Berlin POLEN Warthe Warschau MARK Kassel Köln Breslau Dresden Erfurt O El de be Prag ein Mainz sel ich r We Krakau Rh Nürnberg Do na u Aufstieg und Fall Preußens, 1750 Ostsee Königsberg Nordsee PREUSSEN Danzig OSTFRIESLAND Hamburg Elb e W ese Stettin r MINDEN GELDERN KLEVE Köln MARK BRANDENBURG Hannover Berlin RAVENSBERG Kassel Dresden be Prag Mainz ein Warschau Breslau Erfurt El Rh POLEN Warthe Nürnberg Do na u SCHLESIEN O de r sel ich We Krakau 39 der retter europas Aufstieg und Fall Preußens, 1805 Ostsee Königsberg Nordsee Danzig OSTFRIESLAND Elb e W ese Stettin r MINDEN KLEVE PREUSSEN Hamburg BRANDENBURG Hannover Berlin Warschau Warthe RAVENSBERG MARK Kassel Köln Breslau SCHLESIEN Dresden O El ANSBACHBAYREUTH de be r Prag sel ich We Krakau Nürnberg Rh ein Mainz Erfurt Do na u Aufstieg und Fall Preußens, 1807 Ostsee Königsberg Nordsee Danzig PREUSSEN Hamburg Elb e W ese Stettin r BRANDENBURG Berlin Hannover Köln Kassel Dresden be Prag Mainz ein Warschau Breslau Erfurt El Rh Warthe Nürnberg Do na u SCHLESIEN O de r sel ich We Krakau 40 1815 die anderen Regenten, die eine Standeserhöhung erfuhren, sondern auch die Kaufleute, die von archaischen und einengenden Vorschriften befreit wurden, die Handwerker, die sich vom Zunftzwang erlösten, die Juden, die dank eines Emanzipationsedikts ihre Ghettos verlassen durften und preußische Staatsbürger wurden, und zahllose andere. Verlierer waren die vielen hundert Herzöge, Fürsten, Pfalzgrafen, Bischöfe, Markgrafen, Burggrafen, Landgrafen, Äbte, Äbtissinnen, Großmeister und Reichsritter, die Territorien und Vorrechte verloren, ebenso wie die Freien Reichsstädte, deren Unabhängigkeit im Verlauf der Umgestaltung beseitigt wurde. Unter den deutschen Staaten hatte Preußen am meisten gewonnen. Als es 1795 mit den Franzosen gegen die anderen deutschen Staaten zusammenging, erwarb es wertvolle Gebiete im Rheinland, die es später gegen ausgedehntere in Mitteldeutschland eintauschte. Für die Unterstützung Napoleons gegen Österreich holte es sich 1805 Hannover. Aber im Jahr darauf wechselte Preußen die Seite, und nachdem Napoleon es 1806 bei Jena und Auerstedt vernichtend geschlagen hatte, erwog er, den preußischen Staat vollständig abzuschaffen. Das Königreich Preußen hatte erst seit 1701 bestanden, als sich der Kurfürst von Brandenburg eigenmächtig den Titel «König in Preußen» zulegte. 1750, mit der Eroberung Schlesiens, war sein Gebiet um mehr als fünfzig Prozent angewachsen; bis 1805 hatte es seine Größe ein weiteres Mal verdoppeln können und war zu einer Großmacht aufgestiegen. Aber es war erstaunlich zerbrechlich. Friedrich II., sein bedeutendster Herrscher, pflegte zu sagen, zum Wappen Preußens tauge nicht der schwarze Adler, sondern ein Affe, da sich Preußen einzig darin auszeichne, die Großmächte nachzuäffen. Im Verhältnis zu seiner Bevölkerung hatte es sechsmal so viele Soldaten wie Österreich, und der größte Teil seiner Ressourcen wurde von dieser riesigen Armee verschlungen, dem einzigen Fundament seiner Macht.7 Schließlich schaffte Napoleon Preußen nicht ab; er nahm ihm nur die meisten seiner polnischen Provinzen, die es in den letzten Jahrzehnten erworben hatte, und schuf aus ihnen unter dem Namen Großherzogtum Warschau einen französischen Satellitenstaat. Dadurch verminderte er die preußische Bevölkerungszahl von fast neun auf weniger als fünf Millionen. Was von Preußen übrigblieb, mußte französische Truppen beherbergen, deren Verwaltungsbeamte Geld und Futter er- der retter europas 41 preßten und jede Gelegenheit wahrnahmen, die Preußen zu erniedrigen, während sie ihr Land ausplünderten. Angesichts der allgemein bekannten Verachtung des Kaisers für die Preußen blieb die Existenz des Staates fraglich. Die preußische Armee war auf kümmerliche 42 000 Soldaten verringert worden, von denen im Jahr 1812 fast 30 000 an Napoleons Rußlandfeldzug teilnehmen mußten. Die Gegenreaktionen setzten ein, nachdem der Schock über die Niederlage von 1806 abgeklungen war. Die in großer Zahl entlassenen preußischen Offi ziere ergaben sich gemeinsam mit den patriotischen Intellektuellen ihrer mürrischen Abneigung gegen alles Französische. Viele Offi ziere traten in den Dienst der Armeen Österreichs oder Rußlands, während die Patrioten von einem nationalen Wiederaufstieg und von Rache träumten und sich dabei vom Beispiel der guerilleros in Spanien inspirieren ließen. Dichter wie Ernst Moritz Arndt, Heinrich von Kleist und Theodor Körner förderten diese Stimmung mit patriotischen Versen und nationalistischen «Katechismen»; Philosophen und Journalisten stritten darum, welche Regierungsform Deutschland in einer idealen Welt annehmen sollte. Junge Männer schlossen sich im Tugendbund zusammen, um zu diskutieren und sich auf das Kommende vorzubereiten; andere folgten dem «Turnvater» Friedrich Jahn und stählten ihre Körper für den bevorstehenden Krieg. Eine Reihe hoher Offiziere diente der Sache auf handfestere Art. Gerhard Johann von Scharnhorst, Gebhard Leberecht von Blücher, Hermann von Boyen und August Neidhardt von Gneisenau widmeten sich dem Auf- und Umbau der Armee und bemühten sich, der Bevölkerung militärische Tugenden nahezubringen. Andere, zum Beispiel Wilhelm von Humboldt, kümmerten sich um das Bildungssystem oder bemühten sich darum, den Staat überhaupt zu reformieren. Besonders wichtig unter ihnen war ein Staatsdiener namens Heinrich Friedrich Karl vom Stein, der wie viele der übrigen Reformer gar kein richtiger Preuße war. Stein war in Cappenberg bei Lünen in Westfalen als Freiherr und Reichsritter des Heiligen Römischen Reichs geboren worden. Nichts in seiner Herkunft oder seinem Stand prädestinierte ihn zum deutschen Patrioten. Nach dem Jurastudium an der Universität Göttingen trat er in preußische Dienste, zunächst beim Bergwerks- und Hüttendeparte- 42 1815 Der strenge deutsche Patriot Heinrich Friedrich Karl Freiherr vom und zum Stein, der auf die vollkommene Vernichtung Napoleons drängte, und dessen Reformen in Preußen die Grundlage für die spätere Einigung Deutschlands schufen. Porträt von Johann Christoph Rincklake, ca. 1804. ment im Generaldirektorium, wo er sich einen Namen als tatkräftiger Verwaltungsfachmann machte, der Straßen baute und Kanäle anlegte. Stein war ein Mann von strenger Moral und festen Grundsätzen, der alle Exzesse mißbilligte, seien sie politisch, wie im Fall der Französischen Revolution, oder moralisch, wie im Fall sexueller Freizügigkeit, die er bei anderen beklagte. Allerdings zeigte er sich im politischen Handeln etwas flexibler. Obwohl ihn die hinterhältige Art zutiefst erschütterte, mit der Preußen im Basler Frieden von 1795 neue Gebiete am Rhein erwarb, widmete er sich eifrig ihrer Einverleibung in den preußischen Staat. Was er immer auch an moralischen Skrupeln gehabt haben mag, sie traten hinter seinen alles beherrschenden Willen zurück, Ordnung in das ererbte mittelalterliche Durcheinander zu bringen und Deutschland als Ganzes zu einem rationalen und funktionsfähigen Staat umzubilden. Wie viele andere Patrioten überall in Deutschland war er zu der Einsicht gelangt, daß das Land und seine Kultur nur dann vor den Eingriffen Frankreichs oder anderer Mächte bewahrt werden könne, wenn man einen geeinten deutschen Staat schuf, der stark genug wäre, äußere Einflüsse zu verhindern und militärischer Aggression zu widerstehen. der retter europas 43 Der Philosoph Johann Gottlieb Fichte verkündete, daß die Nation zugleich als geistige und physische Einheit existiere, in der sich etwas Höherwertiges verkörpere als die Bindung an irgendeinen Staat oder König; und es gab viele, besonders an den Universitäten, die sich die Entstehung einer deutschen Republik wünschten. So sehr Patrioten wie Stein, Gneisenau und Humboldt auch mit solchen Ansichten sympathisieren mochten, ihnen war klar, daß ein vereintes Deutschland nicht aus dem Nichts erschaffen werden könne. Darum dienten sie dem einen deutschen Staat, dem sie zutrauten, die anderen nach und nach zu absorbieren und so zum selben Ziel zu gelangen – Preußen. 1804 wurde Stein auf eine Führungsposition nach Berlin berufen. Er war entsetzt von der Korruption und Ineffizienz, die er dort vorfand, und verzweifelte schier über die Mittelmäßigkeit des Monarchen, dem er diente. Heftig mißbilligte er Friedrich Wilhelms Ausrichtung auf Frankreich im Jahr 1805 und seinen daraus folgenden Erwerb Hannovers. Gemeinsam mit anderen überredete er den zaudernden Friedrich Wilhelm, zur Koalition gegen Napoleon überzutreten, und als dies zur Katastrophe von Jena und Auerstedt führte, wurde er, unter einem Schwall von Verwünschungen seitens des Königs, im Januar 1807 entlassen. Um so ärgerlicher war es für den unglückseligen Friedrich Wilhelm, als Napoleon, der Preußen klein, ohnmächtig und abhängig gemacht hatte, den König wenige Monate später anwies, Stein zum Staatsminister zu ernennen. Der Kaiser hatte zwar gehört, daß Stein ein guter Verwaltungsfachmann, aber nicht, daß er deutscher Patriot sei. Stein ergriff die Gelegenheit, die ihm seine neue Stellung bot, um sofort Maßnahmen einzuleiten, die Preußen von einer feudalen Monarchie in einen modernen Staat umgestalteten. Das Oktoberedikt von 1807 hob die Leibeigenschaft und die Untertänigkeit der Bauern auf. Ihm folgten Reformen in der Gemeindeverfassung und in der Staatsverwaltung, später auch Militärreformen. Knapp ein Jahr später offenbarte ein von der französischen Polizei abgefangener Brief das ganze Ausmaß des Steinschen Franzosenhasses, woraufhin ihn Napoleon entlassen, seine Güter konfiszieren und ihn selbst als vogelfrei erklären ließ. Der von einem Tag auf den anderen mittellos gewordene Stein nahm Zuflucht in Prag, das damals zu Österreich gehörte. 1812 rief Zar Alexander Stein nach Rußland. Die beiden hatten sich 1805 in Berlin kennengelernt und waren einander aufgrund ihrer hohen 44 1815 Ideale – und sicherlich auch ihrer Selbstgefälligkeit – sympathisch gewesen. Als die Grande Armée in Rußland einmarschierte und Zweifel über die Kompetenz Alexanders und seiner Generäle aufkamen, durchlebte der Zar gelegentliche Anflüge von Selbstzweifeln und angespannter Gefühlslagen. In dieser Situation war ihm Stein, der unerschütterlich an ihn glaubte und in ihm den Vorkämpfer des allgemeinen antifranzösischen Kampfes sah, eine unschätzbare und tröstliche Stütze. Entsprechend wuchs sein Einfluß auf den Zaren. Stein regte bei Alexander die Einrichtung eines deutschen Komitees an, das überall in Deutschland eine prorussische Stimmung verbreiten sollte. Er übernahm den Vorsitz des Komitees und nutzte es als Instrument für seine eigenen Ziele. Am 18. September 1812, wenige Tage, nachdem Napoleon bei Borodino vor Moskau den letzten russischen Widerstand zerschmettert hatte, legte Stein eine Denkschrift vor, in der er seinen Plan zur Gründung eines vereinten deutschen Staates skizzierte. Er war überzeugt, daß Rußland am Ende die Oberhand behalten werde, und setzte sich dafür ein, daß Rußland nach seinem Sieg über Frankreich den Krieg nach Deutschland hineintragen und Europa von seinem Joch befreien solle. Als sich drei Monate später die versprengten Überreste der Grande Armée über die Grenze zurückzogen, sprachen sich der russische Oberbefehlshaber, Feldmarschall Kutusow, und die meisten seiner Offi ziere dagegen aus, die Franzosen weiter zu verfolgen. Immer wieder bat Kutusow den Zaren, Frieden zu schließen und die Armee zu demobilisieren. Bis zu seinem Tod in Bunzlau am 28. April 1813 riet er ihm davon ab, die Elbe zu überqueren. Selbst die glühendsten russischen Patrioten wie der Innenminister Admiral Schischkow und der Archimandrit Filaret waren gegen die von Alexander angestrebte Befreiung Europas. Es bestand Einigkeit darüber, daß Rußland sich Ostpreußen und einen großen Teil Polens nehmen solle, um sich bei etwas territorialem Zugewinn eine Westgrenze zu verschaffen, die sich verteidigen ließ; und dabei sollte es bleiben. Aber Alexander ignorierte sie.8 Als die russischen Truppen schließlich vordrangen, beauftragte Alexander Stein mit der Verwaltung der eingenommenen deutschen Gebiete, und dieser machte sich daran, nicht nur kommunale Verwaltungsstrukturen, sondern auch Repräsentativorgane einzurichten. Er warb Freiwillige an, berief Reservisten ein, stellte eine neue Miliz, die der retter europas 45 «Landwehr» auf, die von lokalen Schutztruppen, dem «Landsturm», unterstützt werden sollte – und das alles im Namen des Königs von Preußen, der nichts davon wußte, geschweige denn, seine Einwilligung dazu gegeben hätte. Obwohl sich Stein durch Alexanders Verhalten in seinem Glauben bestärkt fühlte, daß er seinen Traum von einem vereinten Deutschland verwirklichen könne, ging der Zar nicht so weit, ihn zu übernehmen. Sicherlich hätte er gern sowohl den Deutschen wie den Polen, ja allen Bewohnern des Kontinents, die Heilung von alten Übeln und das Glück gebracht. Aber obwohl er sich in der Rolle des ersehnten Retters gefiel, fehlte ihm ein genaues Programm. Überdies mußte er seine Optionen offenhalten. Dennoch vermehrten die Hoffnungen, die er geweckt hatte, eine ohnehin instabile Situation durch weitere unberechenbare Faktoren. Der erste, der sich mit ihnen auseinandersetzen mußte, war König Friedrich Wilhelm von Preußen, den in diesen ersten Monaten des Jahres 1813 viele Sorgen plagten. «Verwenden Sie die Autorität, die Gott Ihnen gab, um die Ketten Ihres Volkes zu lösen!» hatte ihn Stein Ende Dezember 1812 von Sankt Petersburg aus ermahnt. «Möge dessen Blut nicht mehr für den Feind der Menschheit fließen, möge es sich den siegreichen Fahnen des Kais. Alex. anschließen, die jene der Ehre und der Unabhängigkeit der Nationen sind.» Aber der preußische König war kein geborener Held.9 Seine Charakterschwäche überschattete die Vorzüge eines ansonsten gütigen und gottesfürchtigen Wesens und bewirkte, daß er mißtrauisch an der Macht festhielt, während seine Furcht zu versagen einen übertriebenen Stolz und eine Neigung zu kleinlicher Bosheit begünstigten. Zehn Jahre nach seinem Regierungsantritt hatte er sein halbes Königreich abtreten und sich von Napoleon grundlos demütigen lassen müssen. Das Bewußtsein, daß ihn jeder an seinem berühmten Vorgänger maß, seinem Großonkel Friedrich dem Großen, verstärkte ihn nur im Gefühl seiner Unzulänglichkeit. Sein einziges Lebensglück war seine Königin, die schöne und allseits bewunderte Luise gewesen, der er in wahrer und gegenseitiger Liebe verbunden war. Aber sie war 1810 verstorben. Er klammerte sich an die Reste seines Königreichs und sah in der engen Verbindung zu Napoleon die einzige Überlebensmöglichkeit. General Yorcks Übertritt von der französischen zur russischen Seite in Tauroggen weckte schreckliche Befürchtungen vor französischen Ver- 46 1815 Der preußische König Friedrich Wilhelm III. hatte im Kampf gegen Napoleon eine vernichtende Niederlage erlitten und zusehen müssen, wie die Macht seines Staates schwand. Er ersuchte Alexander um Beistand und blieb ihm ergeben, während er territoriale Forderungen stellte, die fast zum Krieg zwischen den Verbündeten führten. Porträt von Antonio Schrader, ca. 1817, nach François Gérard. geltungsmaßnahmen, darum verurteilte Friedrich Wilhelm den Übertritt lautstark als einen Akt der Meuterei und bekräftigte ostentativ seine Allianz mit Napoleon. Aber sein Verbündeter war im fernen Paris damit beschäftigt, eine neue Armee aufzustellen, die Russen überschwemmten sein Reich von Osten her und die öffentliche Meinung war gegen ihn. Friedrich Wilhelm hätte gute Gründe gehabt, das Kommen der Russen zu begrüßen. Damals in Berlin, bei ihrer ersten Begegnung im Jahre 1805, hatten er und Alexander einander am Grab Friedrichs des Großen um Mitternacht ewige Freundschaft geschworen. Diese Freundschaft hatte nur unwesentlich gelitten, als Friedrich Wilhelm gezwungenermaßen Truppen zu Napoleons Invasion Rußlands beisteuern mußte; der preußische König wußte, daß er auf Alexanders Verständnis zählen konnte. Dennoch sah er dem Herannahen der russischen Armeen mit bösen Vorahnungen und sogar Angst entgegen. Angesichts des bisherigen Verhältnisses der beiden Monarchen stellte die Ernennung Steins durch Alexander fast eine Beleidigung dar. der retter europas 47 Die Art, in der Stein die Autorität Friedrich Wilhelms beim Aufbau der Verwaltung Ostpreußens ignorierte, war ein offener Affront. Es hätte bedeuten können, daß Alexander die Abtrennung dieser Provinz vom Königreich Preußen vorbereitete. Steins Aufrufe zu einem nationalen deutschen Befreiungskrieg waren noch alarmierender. Stein machte keinen Hehl aus seiner Meinung, alle deutschen Herrscher, die sich mit Napoleon verbündet hatten, seien «feige, … welche das Blut ihres Volkes verkaufen um ihr schamvolles Daseyn zu verlängern». Die Vorstellung, er könne auf Deutschland losgelassen werden, weckte begründete Ängste vor sozialem Aufruhr oder gar Revolution, denen sich zu widersetzen Friedrich Wilhelm nicht imstande wäre.10 Seine Lage war nicht beneidenswert. Die starke französische Garnison, die sich in der Spandauer Zitadelle einquartiert hatte, paradierte täglich durch Berlin und führte ihm vor Augen, daß sich mehr französische als preußische Truppen im Land befanden. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde Napoleon mit einer frischen Armee im Frühling zurückkehren und mit ihr die Russen vernichten. Selbst wenn er sich keine russische Niederlage wünschte, sehnte sich Friedrich Wilhelm doch nach einer Stabilität, die nur Napoleons Rückkehr garantieren konnte. Was er vor allem anderen befürchtete, war, daß Alexander und Napoleon letztlich doch noch eine Einigung erzielen könnten, deren erstes Opfer ziemlich sicher Preußen sein würde: Eine naheliegende Übereinkunft bestünde darin, daß Rußland, als Preis für die fortgesetzte französische Herrschaft über Deutschland, Ostpreußen und alle polnischen Gebiete bis zur Weichsel erhielte. Wenn es ihm gelänge, bessere Konditionen mit Napoleon auszuhandeln, so Friedrich Wilhelms Überlegungen, könnte er seine Autorität wieder geltend machen, die Hitzköpfe in seinem Herrschaftsgebiet im Zaum halten und Rußland in einem ausgeglicheneren Verhältnis gegenübertreten. Dies wäre wohl das kleinere Übel. «Als er sich Frankreich anschloß, war höchstens eine weitere Zerstörung des Königreichs zu erwarten, das unweigerlich zum Kriegsschauplatz werden würde», schrieb der preußische Staatskanzler, Baron Karl August von Hardenberg, «aber wie könnte man es wagen, sich noch einmal der unerbittlichen Rache Napoleons auszusetzen, indem man sich Rußland anschließt?»11 Daher entsandte Friedrich Wilhelm den Fürsten Hatzfeldt nach Paris mit dem Vorschlag eines Bündnisses gegen Rußland, unter der 48 1815 Bedingung, daß Frankreich die neunzig Millionen Franken zurückzahlte, die es Preußen schuldete, und es der Rückerstattung einiger der ehemals preußischen Gebiete in Polen zustimmte. Das Bündnis würde durch die Vermählung des preußischen Kronprinzen mit einer Prinzessin des Hauses Bonaparte besiegelt werden. Als er keine Antwort erhielt, unterbreitete er im Februar 1813 Napoleon zwei weitere Angebote dieser Art.12 Aber Friedrich Wilhelm konnte es sich nicht leisten, noch länger zu warten. Als kein positives Zeichen von Napoleon kam und in Anbetracht dessen, daß bereits mehr als zwei Drittel seiner Truppen gegen seinen Willen operierten, mußte er handeln. Am 22. Januar 1813 verließ er Berlin, wo sich noch die französische Garnison und die Scharen französischer Beamten befanden, und fuhr nach Breslau, die Hauptstadt seiner Provinz Schlesien. Obwohl ihn der französische Botschafter Saint-Marsan begleitete, hatte der König das Gefühl, dort weniger unter Beobachtung zu stehen. Während er wiederholt seine Loyalität zu Napoleon beteuerte, genehmigte er die Aufstellung eines freiwilligen Jägerkorps (Freikorps) und die Einführung der Wehrpflicht für alle Männer im Alter zwischen zwanzig und vierunddreißig Jahren, vorgeblich, um seinem Verbündeten Napoleon im Frühjahr frische Truppen zuführen zu können. Am 9. Februar schickte er seinen Sondergesandten Karl Friedrich von dem Knesebeck in Alexanders Hauptquartier in Kalisch, um sich die Zusicherung zu holen, daß Preußen, wenn es sich im bevorstehenden Konflikt nicht auf die Seite Napoleons stelle, auch nicht nach Westen verschoben und zu einer Art Pufferstaat gemacht würde. Alexander war über Friedrich Wilhelms Gesandten nicht übermäßig erfreut. Knesebeck bat den Zaren, Stein zu entlassen und zu versprechen, daß er die alten polnischen Provinzen Preußens zurückgeben werde, die 1807 ins Großherzogtum Warschau eingegliedert worden waren und nun russisch besetzt waren. Alexander sah dieses Ersuchen als ein Zeichen mangelnden Vertrauens in seine Großherzigkeit. Er ignorierte Knesebeck und entsandte statt dessen Stein mit einem Schreiben und dem Entwurf eines Bündnisvertrags zu Friedrich Wilhelm nach Breslau. Steins Ankunft dort am 25. Februar war dem König höchst unwillkommen. Ihm lief die Zeit davon, denn immer größere Teile seines Reiches wurden von den russischen Armeen eingenommen, und die deutschen der retter europas 49 Patrioten, die mit ihnen marschierten, wiegelten seine Untertanen zum Aufstand und zum Kampf auf, ohne den Willen des Königs zu berücksichtigen. Am 19. Februar schloß Fichte eine Rede an seine Studenten der Universität Berlin mit den Worten: «Dieser Kurs wird bis zum Ende des Feldzugs unterbrochen, wenn wir uns in einem freien Vaterland wieder versammeln oder unsere Freiheit durch den Tod zurückgewonnen haben werden.» Begeisterte junge Männer aus ganz Deutschland schlossen sich dem Freikorps von Adolf von Lützow an, um Deutschland zu befreien. Eine Welle der Erregung ging durchs Land und es schien, «als richtete … der deutsche Geist, der deutsche Muth, die Hoffnung besserer Tage sich empor», schrieb die patriotische Caroline Pichler, die in Wien einen Salon unterhielt und der auffiel, wie frisch und kriegerisch die Stimmen junger Männer waren.13 Friedrich Wilhelm sah sich in die Enge getrieben, und am 27. Februar unterschrieb er den von Stein überbrachten Vertrag, der mit Datum 1. März in Kalisch ratifi ziert wurde. Friedrich Wilhelm machte sich daran, Truppen auszuheben, und zum Zeichen der Aussöhnung mit seiner widerspenstigen Armee schuf er den Orden des Eisernen Kreuzes. Zwei Wochen später traf Alexander mit Friedrich Wilhelm in Breslau zusammen, und am 16. März erklärte Preußen Frankreich den Krieg. Aus Alexander und Friedrich Wilhelm waren nun auf Gedeih und Verderb Verbündete geworden. Innerhalb der Allianz war Friedrich Wilhelm in untergeordneter Position. Das einzige Versprechen, das er Alexander hatte abringen können, stand in einer Geheimklausel des Vertrages, der zufolge dieser sich feierlich verpflichtete, «die Waffen so lange nicht niederzulegen, wie Preußen nicht in seinen statistischen, geographischen und finanziellen Größenverhältnissen [von 1806] wiederhergestellt sein wird». Da Alexander bereits alle Gebiete innehatte, die Preußen damals verloren hatte, konnte Preußen nur darauf warten, daß er sie zurückgab, was unwahrscheinlich schien, oder daß er seine Macht einsetze, um Preußen aus zukünftigen Eroberungen vergleichbare Territorien anderswo in Deutschland zukommen zu lassen. Das in dem Zusammenhang verwendete Wort «Gleichwertiges» klang zunächst harmlos, aber es ließ die Frage offen, wo diese Gebiete zu finden wären und wer verdrängt werden müsse, um sie freizugeben – jedes Stück Land hatte einen Besitzer.14 50 1815 Obwohl in ganz Europa viele der Vorherrschaft Napoleons überdrüssig geworden waren und in Alexander einen Befreier sahen, schätzten nur wenige, daß er sich das Recht anmaßte, bei der bevorstehenden Neuordnung Europas die entscheidende Rolle zu spielen. Ihm selbst ging es nicht mehr nur darum, daß er über Napoleon triumphiert hatte. In den letzten Jahren war Alexander zu der Überzeugung gelangt, daß seine Auseinandersetzung mit dem französischen Kaiser nicht einfach ein persönlicher Wettstreit oder ein Zusammenprall zweier Imperien war, sondern ein wirkliches Armageddon zwischen Gut und Böse. Den Zaren hatten sein Idealismus einerseits und seine politischen Enttäuschungen und militärischen Demütigungen andererseits für Mystik empfänglich gemacht. Zu seinen engen Freunden zählten Anhänger von Saint-Martin, Swedenborg und Lavater, und er war bewandert in der Literatur der Mystik und im deutschen Pietismus. Als er 1812 ansehen mußte, wie man über sein Land herfiel und es verwüstete, hatte er Trost darin gesucht, sich dem Willen Gottes zu ergeben; und als sich das Kriegsglück zu seinen Gunsten wendete, sah er auch dies als Manifestation dieses Willens. Von hier aus war es nur ein kleiner Schritt, sich als Gottes Werkzeug zu verstehen. Das Leid, das sein Land und sein Volk im Vorjahr erduldet hatten, deutete er als reinigende göttliche Prüfung und sah in ihr eine Art moralisches Kapital, das ihm gegenüber allen anderen Monarchen in Europa Überlegenheit verlieh. Wie Stein und viele andere deutsche Patrioten sah er jetzt den Krieg als einen Kreuzzug an, und zwar nicht so sehr gegen Frankreich selbst als gegen das, wofür es stand – für Revolution, moralische Verderbtheit und Usurpation von Herrschaft. Dieser letzte Punkt, Napoleons fast gleichgültiges Zertrampeln althergebrachter Rechte anderer Monarchen und seine schamlose Gewaltanwendung beim Ernennen und Absetzen von Herrschern war es, was am meisten beleidigt hatte. Als sich Alexander nun auf die nächste Phase seines Kreuzzugs vorbereitete, Deutschland von dem Usurpator zu befreien, forderte er dessen rechtmäßige Fürsten auf, sich zu beteiligen. Ein Aufruf, den Feldmarschall Kutusow in seinem Namen herausgab, betonte, daß die Armeen des Kaisers von Rußland und des Königs von Preußen in Deutschland mit einem einzigen Ziel eindrangen, das Volk zu befreien und ihm zu helfen, seine «ererbten Rechte» wiederzuerlangen, die ihm geraubt wurden, die aber unaufhebbar seien. «Möge je- der retter europas 51 der Deutsche, der dieses Namens noch würdig ist, sich uns sofort und tatkräftig anschließen», hieß es darin, «möge jedermann, ob er Fürst oder Edelmann ist, oder ob er zu den Männern des Volkes gehört, mit seinem Besitz und seinem Blut, mit seinem Leib und seinem Leben, seinem Herzen und seinem Geist die Befreiungsziele Rußlands und Preußens unterstützen.» Der Aufruf verkündete, daß die beiden Monarchen die Auflösung des Rheinbundes verfügt hätten und beabsichtigten, ihn durch ein Gebilde zu ersetzen, das dem «alten Geist des deutschen Volkes» entsprach. «Der Rheinbund, diese Kette der Täuschungen, mittels derer der usurpatorische Geist wieder einmal das zersplitterte Deutschland gefesselt und es dazu gebracht hatte, sogar seinen alten Namen einzubüßen, ist unerträglich geworden. … Ihre Majestäten glauben, gerade dem allgemeinen Wollen zu entsprechen, das im Volk seit langem gehegt und sorgfältig bewahrt wurde, indem sie erklären, daß die Auflösung jenes Bundes eine ihrer entschiedensten Absichten ist.»15 Der von Rußland und Preußen am 19. März 1813 unterzeichnete Vertrag zu Breslau war geschäftsmäßiger und genauer. Er legte fest, daß alle «befreiten» Gebiete in fünf Bezirke aufgeteilt wurden und einem Zentralverwaltungsrat unter Stein unterstanden, dem die Aufgaben der Steuereintreibung, der Ressourcenverwaltung und der Truppenaushebung oblagen. Der Vertrag rief alle deutschen Herrscher auf, sich der gemeinsamen Sache anzuschließen, und verkündete, daß «jedem Fürst, der diesem Aufruf nicht innerhalb eines festgesetzten Zeitraums folgt, mit dem Verlust seiner Herrschaft gedroht wird».16 Es war eine seltsame Art, einen Kreuzzug für die Legitimität gegen den Usurpator auszurufen, und nicht nur Friedrich Wilhelms Staatskanzler Hardenberg befürchtete: «Dieses Appellieren an die herrschenden Leidenschaften, sogar an demokratische Ideen, die im Munde zweier absoluter Monarchen so neu klingen, könnte später einmal in ernste Unannehmlichkeiten führen.» Diese Prognose sollte sich als gelinde Untertreibung erweisen. Die beiden Monarchen hatten in der Tat die Sprache der Französischen Revolution und die Methoden Napoleons übernommen, wodurch sie ihre Glaubwürdigkeit untergruben und sich der einzigen Waffen beraubten, die sie gegen die ihnen ungewohnten Leidenschaften, die sie jetzt entfachten, hätten einsetzen können.17 3 Die Friedensstifter die friedensstifter Das neue Bündnis zwischen Rußland und Preußen konnte niemanden stärker beunruhigen als den österreichischen Außenminister, Clemens Wenceslaus Nepomuk Lothar Graf von Metternich. Österreich drohten durch die radikalen Entwicklungen in Deutschland größere Verluste als jeder anderen Macht. Es war, auf andere Art als Preußen, möglicherweise das brüchigste politische Gebilde in Europa. Sein Herrscher war 1792 als Franz II. zum Kaiser des Heiligen Römischen Reichs gekrönt worden. Neben diesem repräsentativen aber einflußarmen Titel hatte er das altertümliche Haus Habsburg geerbt, das in Jahrhunderten durch Eroberungen, diplomatische Finessen und dynastische Ehen zur damaligen Größe angewachsen war. Schon bald sah er sich gezwungen, einige der äußeren Provinzen an das revolutionäre Frankreich abzutreten – 1797 die österreichischen Niederlande (das heutige Belgien), die Lombardei und das linke Rheinufer; 1805 Venedig und Illyrien; sowie Tirol, das dem mit Frankreich verbündeten Bayern zufiel. 1806 löste Napoleon das Heilige Römische Reich als Ganzes auf, dessen bisheriger Souverän nun Kaiser Franz I. von Österreich wurde. Sein unkluger Versuch im Jahre 1809, sich einige Provinzen zurückzuerobern, solange Napoleon mit dem Krieg in Spanien beschäftigt war, kostete ihn Salzburg, das Napoleon eben erst, 1805, Österreich übergeben hatte. Er verlor überdies seine letzten Gebiete an der Adria und einen Teil seiner polnischen Provinzen. Außerdem mußte er den entsprechenden Friedensvertrag damit besiegeln, daß er der Vermählung seiner Lieblingstochter Marie-Louise mit Napoleon zustimmte. Danach war er gezwungen, sich mit einem österreichischen Hilfskorps von 30 000 Soldaten unter Fürst Schwarzenberg 1812 an Napoleons Invasion Rußlands zu beteiligen. Zu Beginn des Jahres 1813 war er noch immer ein Verbündeter Frankreichs. 53 die friedensstifter Gebietsverluste der Habsburger, 1792–1810 Ostsee Nordsee Danzig Hamburg Elb Rhein Berlin Leipzig Frankfurt l se ich We er Od Prag Krakau Do na Breisgau München u Basel Lemberg Tirol Piacenza Guastalla jes Ofen tr Pest KAISERTUM ÖSTERREICH Parma Turin Tarnopol Dn Wien FRANZ. KAISERREICH Mittelmeer GHZM. WA R S C H A U Breslau RHEINBUND Straßburg RUSSLAND Warschau Köln Luxemburg Genua Minsk e Magdeburg Österreichische Niederlande Königsberg KGR. PREUSSEN Venedig KGR. I TA L I E N Toskana Adria Österreichische Grenze 1813 Von den Habsburgern verlorene Gebiete Zwar strebten sowohl Franz als auch Metternich danach, daß sich Österreich aus dieser Allianz löse und sowohl französische Truppen wie französischer Einfluß aus Deutschland verschwänden, aber sie hatten auch jede Art von Veränderung zu fürchten. Das stark dezimierte Reich von Franz II. war geostrategisch verwundbar, da es nach allen Seiten offene Angriffsflächen bot. Es war nicht national definiert und in ihm lebte eine Fülle von Slawen, Magyaren und anderen Nationalitäten. Der einzige Kitt, der diese heterogene Fülle zusammenhielt, war die Monarchie selbst, das Haus Habsburg. Gerade dadurch aber war Österreich auch in ideologischer Hinsicht gefährdet. Die Aufklärung, die Französische Revolution und ihr napoleonisches Erbe stellten alles in Frage, was die Monarchie je ausgemacht hatte: Die Hinrichtung des französischen Königs Ludwig XVI. im Jahre 1793 verletzte und entweihte die von Gott gegebene Heiligkeit des Königtums, auf die sich die Macht der Habsburger berief; das Ideal der Volkssouveränität untergrub den paternalistischen Absolutismus, auf dem die Monarchie basierte; und 54 1815 das Prinzip der Nation stellte seine territoriale Existenzberechtigung in Zweifel. Unter diesen Umständen wirkten in Wien die Proklamationen aus dem russischen Hauptquartier alarmierend. Sie weckten Befürchtungen vor revolutionären und nationalistischen Leidenschaften, die im Habsburgerreich um sich greifen könnten. Noch bedrohlicher war, daß sich in ihnen die Absicht Alexanders andeutete, auf die deutschen Angelegenheiten Einfluß nehmen zu wollen, die für Österreich von entscheidendem Interesse waren. Zugleich wirkten die Proklamationen in ähnlicher Weise auf die größeren und kleineren deutschen Fürsten, was sie wahrscheinlich dazu bewegen würde, Schutz an Österreichs Seite zu suchen, um mit ihm gemeinsam und gegen Rußland die Zukunft Deutschlands zu bestimmen. Metternich war überzeugt, daß ein dauerhafter Frieden nur erzielt werden könne, wenn die Mitte Europas von der Bedrohung ausländischer Herrschaft frei sei und unter den doppelten Schutz Preußens und Österreichs gestellt würde. Dies setzte den Ausschluß französischer und russischer Einflußnahmen auf Deutschland voraus, aber auch, daß sie sich weiterhin gegenseitig in Schach halten sollten. Obwohl er und sein Land besonders gefährdet waren, machte er sich daran, eine solche Friedensordnung zuwege zu bringen. Er glaubte nicht, daß diese Aufgabe seine Fähigkeiten überfordern würde. Die hervorstechende Eigenschaft des österreichischen Außenministers war seine Eitelkeit. Dem bedeutenden Historiker des 19. Jahrhunderts, Albert Sorel, zufolge war «Metternich … sich selbst das Licht der Welt, und er war geblendet von den Strahlen aus jenem Spiegel, den er sich ständig vor Augen hielt. Er litt an einer chronischen Hypertrophie seines Egos, die gnadenlos wuchs.» Er war in jeder Hinsicht der Mittelpunkt seines eigenen Universums. Ausführlich und unermüdlich kommentierte er alles, was er gedacht, geschrieben und getan hatte, und wies, manchmal nur sich selbst, darauf hin, wie sehr die Brillanz dieser Gedanken, Texte und Taten ihn beeindruckte. Diese Ichbezogenheit wurde durch eine grandiose Selbstzufriedenheit abgesichert, die ihn gegen jede Erfahrung immunisierte.1 Metternich war fleißig, ehrenhaft und kultiviert und nicht gänzlich ohne Humor, obgleich dieser etwas gravitätisch war. Er war äußerst vorsichtig und reichlich mit dem versehen, was er «Takt» nannte, womit er die friedensstifter 55 Außenminister Metternich, Österreichs damals maßgeblicher Politiker, schmeichelte und manipulierte, um seine Vision eines sicheren Europas durchzusetzen. Vom Glauben an seine eigene Überlegenheit verblendet, machte er viele Fehler, die die Realisierung seiner eigenen Pläne behinderten. Seine Liebesabenteuer brachten ihn in Konflikt mit Alexander. Porträt von Thomas Lawrence, ca. 1815. offenbar die Fähigkeit meinte, sich nie so stark auf etwas einzulassen, daß er sich nicht mehr herauswinden konnte. Das machte ihn zum perfekten Diplomaten und respektierten Unterhändler. Er konnte Menschen dazu bringen, daß sie glaubten, sich durchzusetzen, während er sich ihrem Verhandlungsstil anpaßte und sie so auf jenes Ziel hinlenkte, das er bestimmte. Auch wenn er nicht übermäßig intelligent war, besaß er doch beträchtlichen Scharfsinn. Vor allem aber wußte er, was er wollte, und verfolgte seine Ziele hartnäckig. Er war gutaussehend, von selbstverständlicher Eleganz und Vornehmheit, verdarb aber den Effekt ein wenig dadurch, daß er seiner Frisur und seiner Kleidung eine zu große Aufmerksamkeit widmete. Er verfügte über beträchtlichen Charme, war liebenswürdig und überaus gesellig, was ihn in den Salons zu einem gern gesehenen Gast machte. Er liebte die Musik und ließ sich von ihr oft zu Tränen rühren. Sicherlich war er kein Wüstling, aber er hatte eine Schwäche für die Damen und konnte, wenn er wollte, verführerisch sein. Im Laufe seines Lebens 56 1815 fand er Zutritt in die Schlafzimmer einiger der bemerkenswertesten Schönheiten seiner Zeit. Hatte er Erfolg gehabt, wurde er oft von sentimentaler Verliebtheit überwältigt. Er ergoß dann seine Gefühle in rührselige Briefe oder stellte sie auf seltsam unreife Weise zur Schau – 1810, während einer Affäre mit Napoleons Schwester Caroline Murat, trug er ostentativ ein aus ihrem Haar geflochtenes Armband. Sein Aufstieg war kometenhaft. 1773 in Koblenz am Rhein geboren, studierte er an den Universitäten Straßburg und Mainz. Im Alter von neunzehn Jahren erlebte er 1792 in Frankfurt die Krönung Franz’ II. zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, ein Ereignis, das einen bleibenden Eindruck hinterließ. Nach kurzen Reisen nach Wien und London heiratete er Marie-Eleonore von Kaunitz-Rietberg, Enkelin des berühmten Staatskanzlers von Maria Theresia, und trat 1801 als Gesandter des Kaisers am sächsischen Hof in Dresden seine erste Stelle im diplomatischen Dienst an. Von dort wurde er als Botschafter nach Berlin entsandt, wo er 1805 den Vertrag zwischen Österreich, Rußland und Preußen aushandelte, die Grundlage für die Dritte Koalition. Nach deren Niederlage wurde er, auf Wunsch Napoleons, Botschafter Österreichs in Paris. Als 1809 Krieg zwischen den beiden Ländern ausbrach, wurde er zunächst als Geisel in Paris festgehalten und dann damit beauftragt, den Frieden auszuhandeln, zu dem auch gehörte, die Ehe zwischen Marie-Louise und Napoleon zu arrangieren. Im selben Jahr wurde er österreichischer Außenminister, ein Amt, das er über die nächsten neununddreißig Jahre innehaben sollte. Metternich war in jeder Beziehung ein Kind des Ancien Régime. Er glaubte an die natürliche Ordnung der Dinge, deren Grundpfeiler die althergebrachte Religion, die Monarchie und eine klar umrissene Hierarchie waren. Er witterte in jeder Veränderung den Umsturz, und er fürchtete das Bürgertum, weil es zu Hoffnungen neigte, die sich nicht einlösen ließen, ohne daß andere verdrängt oder die Ordnung gestört und die bestehenden Institutionen zerstört würden. Die Französische Revolution war für ihn die größte Katastrophe, die je über Europa hereingebrochen war, und instinktiv verabscheute er Napoleon als deren Produkt. Zugleich jedoch bewunderte er ihn wegen seiner Leistungen und rechnete es ihm vor allem hoch an, daß von ihm eine wirkliche Autorität ausging, die die Kräfte des Chaos in Frankreich eingedämmt die friedensstifter 57 hatte, und die – sofern auch er sich zähmen ließe – zur Bewahrung der «natürlichen Ordnung» in Europa mit beitragen könnte. Tatsächlich rangierte Napoleon auf Metternichs Skala der Nützlichkeit höher als viele legitime Monarchen. «Die Welt ist verloren», hatte Metternich 1806 seinem Freund Friedrich von Gentz geschrieben, nachdem Napoleon das Heilige Römische Reich aufgelöst hatte. Es gelang ihm kaum, sein Entsetzen über das Tun des Franzosen und seine Verachtung all dessen, was sein «System» ausmachte, zu verbergen. Auf der anderen Seite lernte er allmählich den Wert des von Napoleon geschaffenen Rheinbunds als Ausgangsbasis für ein unabhängigeres Deutschland zu schätzen. Auch vertrat er nicht die Meinung, daß man Napoleon um jeden Preis loswerden müsse.2 Metternich hoffte, die Katastrophe des Feldzugs nach Rußland hätte Napoleon hinreichend ernüchtert und zu der Einsicht gebracht, daß er den Traum von einem pan-europäischen französischen Großreich aufgeben und so schnell wie möglich Frieden schließen würde – einen Frieden, den Metternich mit den entsprechenden Vorteilen für Österreich vermitteln würde. Um dies zu erreichen und um sich alle Möglichkeiten offenzuhalten, müßte er sein Land aus dem Bündnis mit Frankreich irgendwie herauslösen und es in ein «System aktiver Neutralität» einbinden.3 Metternich fürchtete die Bildung einer neuen Koalition gegen Frankreich, denn er sah voraus, daß Rußland darin die treibende Kraft sein und die Führungsrolle übernehmen würde; was er noch mehr fürchtete als eine Wiederherstellung der französischen Hegemonie über Europa war ihre Ablösung durch eine russische. Gleichzeitig war ihm klar, daß, wenn Rußland und Frankreich direkt miteinander verhandeln sollten, sie Europa unter sich aufteilen könnten, und Österreich leer ausginge. Im Dezember 1812 unterbreitete er Napoleon über Bubna sein Angebot, Frankreich bei Friedensverhandlungen mit Rußland behilflich zu sein. Er entwickelte die Vision eines starken Frankreichs, das viele seiner Eroberungen seit 1792 behielte, das gemeinsam mit Österreich ein neutralisiertes Deutschland überwachen würde, während Rußland und Preußen im Osten einander in Schach hielten. Was aus den französischen Eroberungen in Italien würde, ließ er im ungewissen; Österreich 58 1815 und Frankreich könnten diese Frage zu einem späteren Zeitpunkt gemeinsam lösen. Obwohl Napoleon Bubnas Vorschläge abtat und prahlte, er werde im Frühjahr ausrücken und seine Feinde unterwerfen, hielt Metternich an der Hoffnung fest, ihn umstimmen zu können. Gleichzeitig begann er jedoch auch Vorkehrungen für alle Fälle zu treffen. Durch den Frieden von Schönbrunn zwischen Frankreich und Österreich, den er 1809 selbst ausgehandelt hatte, war die österreichische Armee auf 150 000 Mann reduziert worden. Aber Napoleon ging davon aus, daß Österreich sein Bündnispartner bleiben und er selbst demnächst ein größeres Hilfskorps benötigen werde; daher regte er jetzt an, die österreichische Armee zu vergrößern: Metternich nutzte diese Gelegenheit und ordnete eine rasche Mobilisierung aller verfügbaren Kräfte an. Daneben intensivierte er seinen Dialog mit Rußland und anderen Mächten. Metternich wußte, daß für Napoleon eine befriedigende Einigung mit Großbritannien das wichtigste Ziel war, und daß ohne sie kein Frieden, den er mit irgendeinem anderen Land schloß, als endgültig angesehen werden konnte. Er teilte die in Europa weitverbreitete Meinung über Großbritannien, daß es nur auf den eigenen Nutzen bedacht und auf dem europäischen Festland von nur geringem Gewicht sei. Er konnte eine gewisse Verbitterung über die offensichtliche Arroganz der Briten nicht verhehlen, aber er glaubte gleichwohl, daß sie im Interesse aller in die Verhandlungen eingebunden werden sollten. Im Februar 1813 schickte er einen inoffi ziellen Abgesandten, Johann Freiherr von Wessenberg, nach London, um beim britischen Kabinett vorzufühlen, ob es bereit sei, unter österreichischer Vermittlung in Verhandlungen einzutreten.4 Die Mission war zum Scheitern verurteilt. Seit Marie-Louises Verehelichung mit Napoleon galt in London, daß Österreich eng mit Frankreich verbündet sei und es sich daher nicht einmal lohne, inoffi zielle Verbindungen zu unterhalten. Das Foreign Office hatte in diesem Jahr sogar seine Zahlungen an Friedrich von Gentz eingestellt, der seit 1802 einer seiner verläßlichsten Informanten in Österreich gewesen war. Unter diesen Umständen faßte man Wessenbergs Ankunft in London als eine Art Intrige auf. In außenpolitischen Belangen dominierten im britischen Kabinett veraltete Vorurteile.5 Die im 18. Jahrhundert vorherrschende Wahrnehmung Frankreichs als eines monströsen und diabolischen Erzfeinds, der nur Englands Ver- die friedensstifter 59 nichtung im Sinn hatte, hatte sich immer noch gehalten. In einer ähnlich überkommenen Sichtweise betrachtete man Rußland, Preußen und Schweden als natürliche Verbündete Großbritanniens. Dies ging auf die Vorstellung zurück, daß Rußland, wie Großbritannien, in europäischen Angelegenheiten eine «uneigennützige» Macht sei und es ihm gegenüber keine denkbaren Gründe für Konflikte gebe; Schwedens Interesse sei es, mit Großbritannien gemeinsame Sache zu machen, während Preußen als protestantische Macht im Norden und als früherer Feind Frankreichs ein wohlgesonnener Bündnispartner Großbritanniens sein müsse. In Wirklichkeit verübelte Rußland Großbritannien seine Vormachtstellung auf den Weltmeeren und rechnete mit zukünftigen Interessenkonflikten nicht nur um den Balkan und um Konstantinopel, sondern auch im Mittelmeerraum und, auf längere Sicht, um Südasien. Innerhalb des Militärs und des politischen Establishments Rußlands sprachen sich viele dagegen aus, der Grande Armée über die Grenzen Rußlands hinweg nachzusetzen und eine vollkommene Niederlage Frankreichs herbeizuführen, eben weil sie befürchteten, daß Großbritannien davon am meisten profitieren würde. Diese Überlegungen gingen einher mit ökonomischen Rivalitäten und einer weitverbreiteten Mißgunst, die der Überzeugung entsprang, daß die aggressiven britischen Handelspraktiken die Entwicklung der russischen Wirtschaft behinderten. Während Großbritannien mithin Rußland als natürlichen Verbündeten ansah, galt es in Rußland als Rivale. Rußlands wiederholte Angebote, ein Friedensabkommen zwischen Großbritannien und den Vereinigten Staaten zu vermitteln, stellten kaum verhüllte Versuche dar, deren Stellung als eine Seemacht zu stärken, die auf den Weltmeeren ein Gegengewicht zu Großbritannien sein könnte und damit dessen stolz gehegten Anspruch auf Vorherrschaft zur See, die «maritime rights», in Frage zu stellen. Und obwohl Rußland seine Häfen für alle öffnete, als es aus Napoleons Kontinentalsperre ausscherte, erhob es für britische Händler Zölle in nahezu unerschwinglicher Höhe.6 Schweden hatte sich während der letzten zwei Jahrzehnte zu keinem Zeitpunkt als zuverlässiger Verbündeter erwiesen, und obgleich schwedische Schiffe und Häfen die Kontinentalblockade mißachteten und weiter mit Großbritannien Handel trieben, hatte das Land 1810 den napoleonischen Marschall Jean-Baptiste Bernadotte zum Kronprinzen und faktischen Herrscher auserkoren. Auch Preußen hatte enttäuscht. 60 1815 Es kämpfte häufiger gemeinsam mit den Franzosen als gegen sie, und es hatte sich Hannover, ein Besitztum des britischen Königshauses, heimtückisch einverleibt. 1812 bekam Großbritannien einen neuen Außenminister, den Viscount Castlereagh. Aber er stand nicht für eine neue politische Perspektive und einen Richtungswechsel. Geboren wurde er 1769 mit dem schlichten Namen Robert Stewart als Sohn eines im nordirischen Ulster begüterten Grundbesitzers mit schottisch-presbyterianischen Wurzeln. Der Vater war Parlamentsmitglied in Dublin geworden, hatte sich (zweimal) vorteilhaft verheiratet und seine Verbindungen weidlich genutzt, wodurch er 1789 Baron Londonderry, 1795 Viscount Castlereagh und 1796 Earl von Londonderry geworden war; 1816 würde er Marquess von Londonderry werden. In jungen Jahren war Robert Stewart, der im selben Jahr zur Welt gekommen war wie Napoleon, empfänglich für alle Schwärmereien seiner Zeit. Er bewunderte die amerikanischen Rebellen, die die Herrschaft Englands abgeschüttelt hatten, er sympathisierte mit der Französischen Revolution und ging als enthusiastischer irischer Patriot in die Politik, machte Trinksprüche auf «die gallische Verfassung» und auf «das Volk» und einmal sogar auf «das Seil, an dem der König hängen soll». Seine Reisen nach Frankreich und Belgien in den Jahren 1792 und 1793 jedoch dämpften seine Begeisterung für alles Revolutionäre, und bei dem Heranwachsenden setzte sich der nüchterne Pragmatismus seiner väterlichen Vorfahren gegen die von seiner aristokratischen Mutter kommenden romantischen Neigungen mehr und mehr durch. 1796 erbte er nicht nur den Titel eines Viscount Castlereagh, er übernahm auch das Kommando über fünfhundert Mann, die sich der drohenden französischen Landung in der Bantry Bay entgegenstellten, mittels derer Irland vom englischen Joch befreit werden sollte. Zwei Jahre darauf beteiligte er sich aktiv an der Unterdrückung der irischen Rebellion, und er gehörte zu den entschlossensten Konstrukteuren der 1801 geschaffenen Union mit England, wobei er großzügig Bestechungen einsetzte, um sein Ziel zu erreichen. Alle Schwärmerein seiner Jugend hatte er zugunsten von Gesetz und Ordnung verraten, in denen er nun die größte Wohltat des öffentlichen Lebens sah. Das war vielleicht nicht verwunderlich, da er inzwischen vieles zu bewahren hatte. 1802 war er zum Präsidenten des Kontrollrats der Britischen Ostindien-Kompanie die friedensstifter 61 Großbritanniens Außenminister Lord Castlereagh spielte in der Einigung der europäischen Großmächte gegen Napoleon eine entscheidende Rolle. Auf dem Kongreß versuchte er vor allem, als Vermittler zu agieren, wurde jedoch in unerwartete Konflikte hineingezogen und war schließlich damit konfrontiert, gegen jene Parteien Krieg führen zu sollen, die er als verläßlichste Verbündete erachtete. Porträt von Thomas Lawrence. ernannt worden, und 1805 wurde er Kriegsminister in William Pitts Kabinett. Er war im Machtzentrum der britischen Politik angekommen. Aber es wäre falsch, in Castlereaghs Sinneswandel eine Kehrtwende aus Eigennutz zu sehen. Vielmehr hatte er sich Pitts Meinung angeschlossen, daß eine illegitime Revolution niemals jene Stabilität schaffen könne, die für die Entwicklung einer zivilen Gesellschaft erforderlich ist, und diese Überzeugung wurde durch jenen gesunden Menschenverstand bestärkt, der sich mit zunehmendem Alter einstellt. Ohne innere Kämpfe hatte sie sich aber nicht durchgesetzt. Zweifellos mußte Castlereagh hart an sich arbeiten, um sein impulsives Temperament zu zügeln, das sich zuweilen in hitzigen Worten und, besonders spektakulär, im Jahr 1809 darin äußerte, daß er George Canning wegen politischer Meinungsverschiedenheiten zum Duell herausforderte. Mit Mitte dreißig repräsentierte er die bürgerlichen Wertmaßstäbe in vorbildlicher Weise. Er war glücklich verheiratet, enthaltsam und maßvoll in seinen Gewohnheiten, trank wenig und stand früh auf; nichts 62 1815 machte ihn glücklicher, als London zu verlassen und auf seiner Farm in Cray in Kent verweilen zu dürfen, wo er sich seiner Liebe zur Pflege von Gärten und Tieren widmete. Er genoß es, mit Kindern zusammenzusein. Er behandelte die Dienstboten freundlich und war großzügig zu den Armen. In seiner Arbeit war er fleißig und gewissenhaft. Er entspannte sich mit Büchern und genoß seine geliebte Musik; er spielte Cello und sang, wann immer sich eine Gelegenheit bot. Seine Zeit im Kriegsministerium, die 1809 endete, galt als wenig erfolgreich. Seine einzige große Errungenschaft war es, unter Umgehung der Vorschriften General Arthur Wellesley zum Befehlshaber des Expeditionskorps ernannt zu haben, das 1808 auf die Iberische Halbinsel entsandt wurde. Aber wie gut diese Entscheidung war, zeigte sich erst einige Jahre später, als Wellesley die ersten entscheidenden Siege über die Franzosen errang, wofür er 1814 den Titel eines Herzogs von Wellington erhielt. 1812 wurde Castlereagh Außenminister, ein Amt, das seinen Begabungen insgesamt mehr entsprach. Castlereagh war ein äußerst fähiger Politiker. Er konnte ein Problem mitsamt seinen möglichen Auswirkungen rasch erfassen und es klar und elegant schriftlich darstellen. Andererseits war er kein origineller Denker. In europäischen Angelegenheiten kannte er sich nicht aus, und ihm fehlte die Einbildungskraft, zu erkennen, was auf dem Kontinent vor sich ging. Er hatte sich die außenpolitischen Ansichten seines Helden Pitt zu eigen gemacht, und ihnen würde er treu bleiben. Als er seine Arbeit im Foreign Office aufnahm, war Großbritannien vollkommen isoliert und ohne Einfluß auf dem europäischen Festland. Als erstes bemühte er sich daher darum, Verbündete auf dem Kontinent zu finden und eine Koalition gegen Napoleon aufzubauen. Napoleons Invasion in Rußland im Sommer 1812 kam ihm da gelegen, und im Juli dieses Jahres schloß er einen Bündnisvertrag mit Rußland, der die beiden Länder verpflichtete, sich bei ihren Bemühungen, Frankreich zu bezwingen, gegenseitig zu unterstützen. Für Rußland war dies nur ein schwacher Trost, dessen Armeen vor der siegreichen Grande Armée flohen und das nun mit der Möglichkeit rechnen mußte, daß andere Feinde die Gelegenheit ergreifen könnten, verlorene Gebiete zurückzuholen. Dazu zählte die Türkei, mit der Rußland eilig Frieden schloß. Auch Schweden, dem es erst drei Jahre zuvor Finnland abgenommen hatte, würde es bestimmt wieder in Besitz neh- die friedensstifter 63 men wollen. Wäre Schweden zu diesem Zeitpunkt einmarschiert, wäre Rußlands Verteidigung höchstwahrscheinlich vollends zusammengebrochen. Zar Alexander nahm Verhandlungen mit Bernadotte auf und arrangierte ein persönliches Treffen in Åbo. Im Verlauf dieser Gespräche konnte Alexander Bernadotte dazu überreden, daß Rußland Finnland behalten dürfe und im Gegenzug Schweden dabei behilflich wäre, den mit Frankreich verbündeten Dänen Norwegen zu entreißen. Er versprach auch, sich bei den Briten dafür einzusetzen, eine der Kolonien, die sie Frankreich abgenommen hatten, an Schweden abzutreten. Er umschmeichelte den abtrünnigen französischen Marschall auf jede erdenkliche Art und warf einen weiteren Köder aus, um ihre Entente zu besiegeln, indem er Bernadotte den französischen Thron in Aussicht stellte, wenn Napoleon besiegt wäre. Kurz darauf trat Castlereagh in Verhandlungen mit Schweden ein, als deren Ergebnis der Vertrag von Stockholm am 3. März 1813 unterzeichnet wurde. Er enthielt außerordentlich großzügige Bestimmungen. Großbritannien verpflichtete sich, Schweden bei der Annexion Norwegens beizustehen, sogar mit militärischer Unterstützung, falls sich der dänische König widersetzen sollte, ferner, ihm die ehemals französische Karibikinsel Guadeloupe abzutreten und die Summe von einer Million britischer Pfund Sterling zu zahlen, wofür Schweden versprach, 30 000 Soldaten gegen Napoleon bereitzustellen.7 Die Nachricht von der Unterzeichnung des Vertrags von Kalisch zwischen Rußland und Preußen am 1. März 1813 wurde in London freudig aufgenommen, aber Castlereagh war keineswegs begeistert. Großbritannien war zum Inhalt des geplanten Vertrags nicht konsultiert worden, was nahelegte, daß Rußland meinte, unabhängig von seinem britischen Verbündeten agieren zu können. Es bedeutete auch, daß Castlereagh nicht wußte, welche Geheimklauseln der Vertrag enthalten mochte. Und die Tatsache, daß jetzt Großbritannien, Rußland, Schweden und Preußen gegen Napoleon standen, bedeutete noch nicht, daß sie ein Bündnis bildeten. Selbst wenn es so gewesen wäre, lehrte doch die Erfahrung, daß Bündnisse nur allzuleicht wieder zerbrechen konnten. Die erste Koalition gegen Frankreich hatte sich im Jahr 1793 gebildet. Sie führte Österreich, Rußland, Preußen, Spanien und eine Anzahl kleinerer Mächte zusammen. Diese furchterregende Allianz 64 1815 erwies sich jedoch als wirkungslos, sobald sie dem élan der französischen Revolutionsarmeen begegnete; 1796 fiel sie auseinander. Eine zweite Koalition aus Großbritannien, Rußland, Österreich und der Türkei entstand 1799, löste sich aber nach den französischen Siegen bei Marengo und Hohenlinden wieder auf. Eine dritte, die Castlereaghs Mentor Pitt 1805 mühsam bewerkstelligt hatte, brachte Österreich, Rußland, Schweden und Preußen mit Großbritannien zusammen, aber auch sie fiel Napoleons Erfolgen von Austerlitz, Jena und Friedland zum Opfer. Der einzige Sieg über Napoleon, die Schlacht von Trafalgar von 1805, hatte nicht ausgereicht, auf dem Kontinent Entscheidendes zu bewirken. Als Napoleon 1807 sein umfassendes Bündnis mit Rußland unterzeichnete, kontrollierte er so gut wie den gesamten europäischen Kontinent, wodurch Großbritannien jede Einflußnahme auf die Angelegenheiten des Festlands verwehrt blieb; nur in Portugal konnte sich ein kleines britisches Expeditionskorps noch halten. Obwohl es die Meere beherrschte, wurden viele der entsprechenden Vorteile durch den Zollkrieg mit Frankreich wieder zunichte gemacht. Überall in Europa schloß Napoleons Kontinentalsperre die Briten vom Handel aus und führte schließlich zum Ausbruch des Krieges zwischen Großbritannien und den Vereinigten Staaten von Amerika. Als Castlereagh im Frühjahr 1813 über eine neue Koalition nachdachte, war ihm deutlich bewußt, daß er sie zwar führen mußte, ihm aber die Mittel dazu fehlten. Die doppelte Belastung durch den Krieg gegen Frankreich in Spanien und den gegen die Vereinigten Staaten jenseits des Atlantiks hatte die militärischen Kapazitäten Großbritanniens aufs äußerste strapaziert, so daß er lediglich finanziell eingreifen konnte. Aber mit Geld allein konnte er sich nicht genügend Einfluß erkaufen, um aus einer so buntscheckigen Ansammlung Verbündeter eine Einheit zu schmieden. Für Großbritannien hatten immer Marineangelegenheiten Vorrang besessen, und erst 1792, als die französischen Revolutionstruppen in die österreichischen Niederlande eindrangen und drohten, die Mündung der Schelde einzunehmen, sahen sich die bis dahin gleichgültigen Briten genötigt, in den Krieg zu ziehen. Das Mündungsgebiet der Schelde und der Hafen von Antwerpen galten in Whitehall von jeher als Ort, von dem aus eine Invasion Englands möglich wäre, und der bloße Gedanke, daß es in die friedensstifter 65 französische Hände fallen könnte, konnte Alpträume auslösen. Solange das Gesamtgebiet der Niederlande von einer befreundeten oder neutralen Macht beherrscht werde, kümmerte es Großbritannien nicht sonderlich, welche Regierungsform sich Frankreich auferlegte. Hierdurch unterschied es sich von seinen Verbündeten der ersten Koalition, die mit dieser einen monarchistischen Kreuzzug gegen die Revolution führen wollten. Mit der Zeit glichen sich die Ansichten Großbritanniens und die ihrer Verbündeten auf dem Festland einander an, und doch blieben bedeutsame Unterschiede. Unterschwellige Ressentiments und ein wechselseitiges Mißtrauen, weil keine Partei die strategischen Imperative der anderen verstand, bewirkten, daß jede denkbare Koalition labil blieb. Als Insel und Seemacht ohne nennenswerte Landstreitkräfte konnten sich die Briten an den Kämpfen auf dem Kontinent nur mit Finanzhilfen maßgeblich beteiligen, die ihre Alliierten verwendeten, um Truppen auszuheben und auszurüsten. Die Seesiege über die Franzosen, selbst wenn sie die Größenordnung der Schlachten auf dem Nil oder bei Trafalgar hatten, zeigten auf dem europäischen Festland keine spürbaren Folgen. So entstand der Eindruck, daß Großbritannien nicht seine ganze Kraft einsetzte und nicht die gleichen Opfer brachte wie seine Verbündeten. Die Finanzhilfen waren in deren Augen durch den Wohlstand der französischen und niederländischen Kolonien, die in britische Hand fielen, und durch die Reichtümer, die die britische Marine auf See konfiszierte, mehr als ausgeglichen. Einer Kontinentalmacht hingegen brachte eine gewonnene Schlacht keine vergleichbaren Vorteile, während nach einer verlorenen Schlacht ihr Territorium oftmals verwüstet war und sie in einen Frieden um jeden Preis einwilligen mußte. Die vom umgebenden Wasser beschützten Briten konnten solche Nöte nicht nachvollziehen. Sie hatten ausländische Invasionen und Besatzungen nie erlebt und beklagten sich über die jämmerliche Neigung ihrer Verbündeten, schon nach dem ersten Rückschlag um Frieden zu bitten. In jedem Staat, der sich zu so etwas gezwungen sah, sahen sie tendenziell einen Feind. Da die Briten nie selbst gegen Napoleon gekämpft hatten, schrieben sie seine Siege eher dem Versagen der mit ihnen verbündeten Armeen und der Feigheit ihrer Regierungen zu. Das schien sich zu bestätigen, als Rußland, die einzige Kontinentalmacht, die strategisch ebenso unverletzlich war wie Großbritannien, sich 1807 Napoleon unterwarf. 66 1815 General Charles Murray, Earl Cathcart, britischer Botschafter am Zarenhof. Als alter Offi zier mit geringer diplomatischer Erfahrung stand er der Komplexität der europäischen Angelegenheiten nicht selten befremdet gegenüber, verfolgte jedoch Castlereaghs Ziele gewissenhaft und unterzeichnete die Schlußakte in Wien im Namen Großbritanniens. Stich von Henry Meyer, nach John Hoppner, ca. 1807. Tatsächlich hatte Rußland diesen Schritt nur getan, weil sein österreichischer Bündnispartner besiegt worden war und um Frieden nachsuchen mußte, weil sein preußischer Bündnispartner zerschmettert am Boden lag, während Großbritannien unfähig gewesen war, auch nur ein einziges Regiment zur Unterstützung zu entsenden. Aber Castlereagh konnte sich genausowenig vorstellen wie Pitt vor ihm, was es bedeutete, einem siegreichen Napoleon auf einem leichenübersäten Schlachtfeld einsam gegenüberzustehen. Er wußte nur, daß Koalitionen leicht zerfielen, und schrieb dies grundsätzlich dem Umstand zu, daß ihnen ein klar definiertes Ziel und ein Mechanismus fehlten, die gewährleisteten, daß alle Beteiligten bis zum glücklichen Ende zusammenblieben. Während er mit ansah, was im Frühjahr 1813 auf dem Kontinent geschah, wurde Castlereagh eines klar: Er mußte irgendwie sicherstellen, daß die Verbündeten dieser entstehenden Koalition nur gemeinsam Krieg führen und nur gemeinsam Frieden schließen würden, und zwar zu miteinander abgestimmten und genau definierten Bedingungen. Das würde nicht leicht zu erreichen sein. die friedensstifter 67 Sir Charles Stewart, britischer Botschafter am preußischen Hof, war ebenfalls kein gelernter Diplomat, sondern hatte als Soldat in Wellingtons Stab auf der Iberischen Halbinsel gedient. «Ein äußerst tapferer Kerl, aber vollkommen verrückt», so das Urteil eines Offi zierskollegen. In Wien sorgte er für so manchen Skandal. Porträt von Thomas Lawrence. In weiten Teilen des Kontinents waren die britischen Diplomaten während der letzten fünfzehn Jahre nicht zugelassen worden, während der letzten drei oder vier auch in den verbliebenen Resten; daher mangelte es in London an Wissen darüber, was in einzelnen Ländern vor sich ging und wer dort etwas zu sagen hatte. Entsprechend fehlte es auch just in dem Augenblick an erfahrenen Diplomaten, als Castlereagh sie brauchte. Nach Rußland hatte er Lord Cathcart entsandt, einen alten Soldaten mit wenig diplomatischer Erfahrung. Ins preußische Hauptquartier schickte er jetzt seinen eigenen Halbbruder, Sir Charles Stewart, der ebenfalls Soldat war, und nicht einmal ein besonders hervorragender. Stewart war fünfunddreißig. Er hatte in Wellingtons Stab auf der Iberischen Halbinsel gedient, wo er sich durch ungestüme Kühnheit ausgezeichnet hatte, nicht aber durch irgendwelche Qualitäten, die für einen Kommandierenden erforderlich waren – «ein äußerst tapferer Bursche, aber vollkommen verrückt», wie es einer seiner Offi zierskameraden ausdrückte. Stewart hätte die Beschreibung vermutlich gefallen. «Meine Pläne sind die eines Husaren auf Vorposten», schrieb er an den Maler Thomas Lawrence, 68 1815 bevor er sein erstes diplomatisches Amt antrat. «Kurz, dezidiert und prompt.»8 Castlereaghs Instruktionen für die beiden Männer regelten hauptsächlich die Höhe der Finanzhilfen, die Großbritannien in die Allianz einbringen würde. Aber sie umrissen auch die Grundzüge einer endgültigen Übereinkunft, auf die sie hinarbeiten sollten, mit dem ausdrücklichen Wunsch, ein engeres Bündnis zu schmieden, das die Alliierten auf diese Ziele bindend festlegte – er wollte verhindern, daß diese Koalition wie die anderen auseinanderfiel, und er wollte vermeiden, daß einzelne Bündnispartner in separate Friedensschlüsse einwilligten, sobald sie ihre eigenen Ziele erreicht hatten, und Großbritannien im Stich ließen. Er sah sich bereits in der Rolle eines Spiritus Rector dieser entstehenden Koalition, und hegte, was sie betraf, ehrgeizige Pläne. Österreich einzubinden zog er allerdings noch nicht in Betracht, und sein Mißtrauen gegenüber Metternich war so groß, daß er nicht einmal hören wollte, was ihm der österreichische Gesandte Wessenberg zu sagen hatte. 4 Ein Krieg für den Frieden ein krieg für den frieden «Ich wünsche den Frieden, die Welt bedarf seiner», verkündete Napoleon auf der Eröffnungssitzung des gesetzgebenden Korps am 14. Februar 1813. Er wünschte ihn sich wahrscheinlich genauso wie jeder andere. Aber er könne, wie er sagte, «niemals einen anderen als einen ehrenvollen, dem Interesse und der Größe meines Reichs angemessenen Frieden schließen.» Sich vorzustellen, aus einer Position der Schwäche heraus zu verhandeln, war ihm unmöglich, und seine instinktive Reaktion in dieser Zwangslage war, daß er zuerst einen Krieg gewinnen müsse.1 Seine Strategie, dem Gegner einen vernichtenden Schlag zu versetzen und dann die Friedensbedingungen zu diktieren, hatte zwar in der Vergangenheit recht gut funktioniert, aber zwangsläufig schien jeder seiner Siege weniger dramatisch zu sein als der jeweils vorhergehende, während die wiederholten Abreibungen, die sich seine Feinde von ihm holten, deren Widerstand nur stärkten. Sein modus operandi entsprach dem erbarmungslosen Gesetz des abnehmenden Grenznutzens, aber er schien sich dessen nicht bewußt zu sein. Nachdem es Murat nicht gelungen war, die Überreste der Grande Armée bei Wilna und dann im ostpreußischen Königsberg zu sammeln, hatte er seinen Posten verlassen und war wieder in sein Königreich Neapel zurückgekehrt. Sein Kommando übernahm nun Napoleons Stiefund Adoptivsohn Fürst Eugène de Beauharnais, nomineller Vizekönig von Italien. Im Januar war es ihm gelungen, eine Front entlang der Weichsel zu stabilisieren, und von seinem Hauptquartier in Posen aus bemühte er sich mit aller Kraft, die Reihen der zersprengten Einheiten wieder aufzufüllen. Napoleon schrieb ihm am 27. Januar einen langen Brief, in dem er die Möglichkeiten eines Feldzugs im Frühjahr erörterte, der französische Truppen im August wieder über den Njemen zurück 70 1815 nach Rußland führen sollte; und Anfang Februar traf er bereits Vorkehrungen, seinen Haushalt dorthin zu entsenden. Das eine, was er im russischen Feldzug gelernt hatte, war, daß zuviel Personal und Ausstattung nur lästig waren. «Ich will viel weniger Leute haben, nicht so viele Köche, weniger Tafelgeschirr, kein großes Reisenécessaire», schrieb er. «Im Einsatz und auf dem Marsch sollen Suppe, ein gekochtes Gericht, ein Braten mit Gemüse, ohne eine Nachspeise, auf den Tisch kommen, auch auf meinen.» Er kündigte an, daß er keine Pagen mitnehmen wolle, «sie sind mir nicht von Nutzen», abgesehen von einigen robusteren Pagen für die Jagd.2 Inzwischen war die französische Frontlinie bereits an die Oder zurückgedrängt worden, was Napoleon aber nicht übermäßig beunruhigte. Am 11. März schrieb er erneut an Fürst Eugène, der jetzt die Front entlang der Elbe hielt, und umriß für ihn einen kühnen Angriffsplan, der einen Vorstoß über Berlin und Danzig nach Polen hinein vorsah. Von Krakau aus sollte Poniatowski mit der Unterstützung der Österreicher nach Norden vorrücken und die Verbindungswege der russischen Armeen unterbrechen.3 Diese Pläne wurden durchkreuzt, ohne daß sein Selbstbewußtsein sonderlich litt, als der preußische Gesandte in Paris am 27. März die preußische Kriegserklärung an Frankreich überreichte. Napoleon reagierte darauf, indem er Narbonne in Wien anwies, Österreich die preußische Provinz Schlesien anzubieten (die Preußen 1745 von Österreich erobert hatte), als Gegenleistung für die Unterstützung Frankreichs im bevorstehenden Krieg. Metternich wollte Schlesien nicht, und schon gar nicht wollte er wieder an der Seite Frankreichs in den Krieg ziehen. In einem allerletzten Versuch, Napoleon an den Verhandlungstisch zu bringen, schickte er Fürst Schwarzenberg nach Paris.4 Die Weisungen an Schwarzenberg vom 28. März 1813 betonten, es sei «ein Augenblick höchster Wichtigkeit für das künftige Schicksal Europas, Österreichs und insbesondere Frankreichs» und von «dringlicher Notwendigkeit», daß die beiden Höfe zu einer Einigung kämen. Er sollte Napoleon gegenüber deutlich machen, daß Österreich Frankreich zwar in seinem Streben nach einem gerechten Frieden aufrichtig unterstützen wolle, es sich jedoch nicht verpflichtet fühle, dies bedingungslos zu tun. Metternich ging es vor allem darum, unmißverständlich klarzumachen, daß Napoleons Ehe mit Marie-Louise unter den gegen- ein krieg für den frieden 71 wärtigen Umständen ohne Bedeutung sei. «Politik band diese Ehe, und Politik kann sie wieder lösen», sagte Schwarzenberg zu Maret. Aber Napoleon ignorierte diese Hinweise.5 Er verbrachte seine Tage damit, die frisch aufgestellten Regimenter auf dem Marsfeld paradieren zu lassen, bevor sie nach Deutschland aufbrachen. In der letzten Märzwoche und in den ersten vierzehn Apriltagen traf er letzte Vorkehrungen. Dazu gehörte, einen Regentschaftsrat einzurichten, der Frankreich verwalten sollte, solange er im Feld war, und die Kontrolle übernahm, wenn ihm etwas zustieße. Schwarzenberg, der am 13. April in Saint-Cloud eine lange Unterredung mit ihm hatte, erlebte ihn als weniger angriffslustig im Vergleich zu früher, und als aufrichtig darum bemüht, einen Krieg zu vermeiden. «Seine Sprache war weniger schneidend und sein Auftreten insgesamt weniger selbstsicher; er wirkte wie ein Mann, der befürchtet, des Prestiges, das ihn umgab, verlustig zu gehen; sein Blick schien mich zu fragen, ob ich in ihm noch den selben wie früher sah.» Sechsunddreißig Stunden später machte sich Napoleon in Saint-Cloud auf zu seiner Armee, die er am 25. April in Erfurt erreichte.6 Alexander und Friedrich Wilhelm waren schon in die Offensive gegangen. Mit der preußischen Armee unter General Blücher an der Spitze marschierten sie in Sachsen ein und beschuldigten dessen König, Werkzeug Napoleons und Verräter zu sein. König Friedrich August I. sah sich in ziemlich ähnlicher Lage wie Friedrich Wilhelm III. einige Monate zuvor, nur blieb ihm noch weniger Zeit, sich für eine Seite zu entscheiden. Die Verbündeten hatten ihre Gründe, ihm in dieser Weise die Pistole auf die Brust zu setzen, und es waren keine ehrenhaften. In den Geheimklauseln des Vertrags von Kalisch hatte Rußland zugesichert, Preußen wieder eine ähnliche Machtposition zu verschaffen wie vor der Zeit, als es seine polnischen Gebiete an Napoleon verlor, bzw. für diese notfalls «Äquivalente» zu finden. Nun war aber Rußland im Besitz jener ehemals preußischen polnischen Gebiete, und es war nicht die Rede von einer Rückgabe. Dafür deutete das Wort «Äquivalente» darauf hin, daß Preußen mit deutschen Gebieten wiederhergestellt werden sollte. Als besonders appetitlicher Brocken bot sich Sachsen an. Sowohl Alexander als auch Friedrich Wilhelm hofften, daß 72 1815 König Friedrich August I. von Sachsen, ein treuer Verbündeter Napoleons, dem der Zar «Verrat an der europäischen Sache» vorwarf und den er versuchte vom Thron zu stoßen. Stich von Johann Rosmäsler, ca. 1812. Friedrich August nicht für die Verbündeten optieren und damit Sachsen den Verbündeten zuführen würde. Friedrich August war Napoleon, dem er seine Königskrone verdankte, aufrichtig verbunden, und sein Ehrgefühl gebot es ihm, seinem Verbündeten unter allen Umständen die Treue zu halten. Aber seine kleine Armee war in Rußland vernichtet worden, und nun stand er in der Schußlinie. Metternich bedrängte ihn, die Seite zu wechseln, aber einerseits widerstrebte ihm dies und andererseits hatte er Angst, sein Bündnis mit Napoleon zu brechen. Er versuchte dem Druck auszuweichen, indem er Schutz bei Österreich suchte und mit ihm am 20. April einen Vertrag schloß, der ihm weiteren Besitz Sachsens zusicherte. Nicht lange, nachdem er seine Hauptstadt Dresden verlassen hatte, wurde sie von Alexander und Friedrich Wilhelm besetzt, die an der Spitze ihrer Truppen einmarschierten und von den Einwohnern jubelnd empfangen wurden. Aber ihr Triumph sollte kurzlebig sein.7 Die Armee der Verbündeten, die aus etwa 100 000 Russen und Preußen bestand und von dem russischen General Ferdinand von Wintzingerode und dem Preußen Blücher befehligt wurde, rückte aus, um sich den Franzosen entgegenzustellen. Aber Napoleon stieß zügig vor und besiegte sie am 2. Mai bei Lützen. Die Russen und die Preußen hatten