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THEO STAMMEN
1
In Glanz und Gloria
Das Deutsche Keiserreich
1871-1918
Einführung
Dass ein Buch über die Weimarer Republik mit einem Kapitel über das Deutsche
Kaiserreich von 1871 eröffnet wird, bedarf der Rechtfertigung. Es sei vorab betont, dass
diese Darstellung keinen Selbstzweck besitzen will; sie erfolgt vielmehr unter der
(notwendigerweise verkürzenden) Perspektive der Weimarer Republik. Genauer: sie
steht unter dem (bis heute traumatisch wirkenden) Eindruck des Schicksals dieser ersten
deutschen Demokratie, die - 1918/19 in einer revolutionären Situation begründet - nur
knappe vierzehn Jahre existierte und nach einer kurzen Blütezeit (1924-29) in einer
Phase des rapiden Niedergangs (1930-33) in die totalitäre Diktatur des
Nationalsozialismus versank.
Dieses verhängnisvolle Geschick der Weimarer Republik mit seinen noch
verhängnisvolleren Auswirkungen im Nationalsozialismus für die nationale deutsche
wie für die europäische Geschichte bis in unsere Tage (man denke nur an die deutsche
und europäische Teilung!) bestimmt Perspektive und Fragen, unter denen hier auch das
Deutsche Kaiserreich von 1870 bis 1918, von seiner Gründung bis zu seinem
Untergang in der Katastrophe des Ersten Weltkrieges, als Vorläufer dieser Weimarer
Republik gesehen und analysiert werden soll.
Denn: die historische Tatsache, dass die erste deutsche Demokratie nach nur vierzehn
Jahren zusammenbrach, hat schon bei den mitwirkenden und mitleidenden
Zeitgenossen die Frage aufgeworfen, ob und (wenn ja) auf welche Weise das
Deutschland der Weimarer Republik durch das vorangehende politisch-sozial-kulturelle
System der Kaiserzeit, wie es Bismarck durch die Reichsgründung geschaffen und
bestimmt hatte, vorgeprägt und vorbelastet war. Diese Frage stellt sich, auch in der
Gegenwart als eine wesentliche Frage der neueren deutschen Geschichte, speziell unter
dem Gesichtspunkt der Demokratieentwicklung in Deutschland. Eine Frage von solcher
historischer Bedeutung lässt sich natürlich nicht pauschal in einem Satz mit "Ja" oder
"Nein" beantworten; die historische Realität ist komplex; so ist auch bei dem Versuch
einer Antwort zu differenzieren, er muss die verschiedenen Phasen der Entwicklung des
Deutschen Reiches ebenso berücksichtigen wie die vielfältigen politisch-sozialen
Faktoren und die allgemeinen Rahmenbedingungen der deutschen Politik jener Zeit
sukzessive in den Blick nehmen, um so schrittweise zu einer angemessenen und
zugleich historisch-konkreten Beantwortung der Frage nach den Vorprägungen und
Vorbelastungen der ersten deutschen Demokratie durch das Kaiserreich zu gelangen.
Die These von der Vorbelastung der Weimarer Republik durch die vorangehende
Epoche des Bismarckreiches und des Ersten Weltkrieges kann durchaus generelle
Geltung beanspruchen; indes - in dieser allgemeinen Fassung besagt sie wenig, kann
17
man doch grundsätzlich davon ausgehen, dass sowohl jedes Individuum als auch jede
soziale Einheit - seien es Gruppen, seien es Gesellschaften oder gar Nationen - in ihrer
historisch-konkreten Lage und Entwicklung durch die jeweilige Vorgeschichte
vorgeprägt und (im Sinne unseres Problems) vorbelastet" sind.
Nun besagt die oben ausgesprochene These genauer besehen mehr; sie behauptet
nämlich, die Weimarer Republik sei sowohl hinsichtlich der Strukturen als auch
hinsichtlich des Funktionierens ihrer Demokratie durch das vor- oder
nichtdemokratische, sondern stark autokratische politisch-soziale System des
Kaiserreichs und seine dazu passende politische Kultur eindeutig negativ geprägt
gewesen und diese negative Prägung habe nicht unwesentlich zur Schwächung der
Weimarer Republik sowie zu ihrem raschen Zerfall und Untergang beigetragen.
Mithin geht es bei der Beantwortung unserer Frage vorwiegend um die Verifizierung
oder Falsifizierung (d. h. Bestätigung oder Widerlegung) der vielfach, auch schon von
zeitgenössischen Beobachtern und Kritikern der Weimarer Republik behaupteten
negativen Vorbeiastung der Weimarer Republik, der Grundlagen ihrer Demokratie und
des Funktionierens ihres demokratischen Prozesses, durch die unmittelbar
vorangehende Epoche des Kaiserreiches bis zum Ende des Ersten Weltkrieges.
Wegen der Knappheit des zur Verfügung stehenden Raumes müssen wir uns allerdings
beschränken und können nur die wichtigsten Aspekte des Bismarck-Reiches unter dem
Gesichtspunkt dieser negativen Vorbelastung in diese Untersuchung einbeziehen. Wir
wollen dabei so vorgehen, dass wir uns zunächst die kritischen Stimmen einiger
prominenter Zeitgenossen anhören und aus ihren kritischen Stellungnahmen zum
Kaiserreich die Gesichtspunkte herausarbeiten wollen, die uns - auch im Lichte des
späteren Schicksals der Weimarer Republik - als besonders bedeutsam erscheinen; wir
werden dabei auf die Grundstrukturen des politischen Systems des Bismarck-Reiches
ebenso einzugehen haben wie auf die herrschenden Kräfte in Politik und Gesellschaft
(Bürokratie, Militär, Parteien, Verbände etc.); zu berücksichtigen ist auch das
Erziehungs- und Bildungssystem und die in diesen Institutionen wirkenden und
reproduzierten Wertvorstellungen und Leitbilder, ferner besonders wichtige Aspekte
der Innen- und Außenpolitik sowie schließlich noch der Erste Weltkrieg und seine
tiefgreifenden Auswirkungen auf Staat und Gesellschaft in Deutschland bis zum
revolutionären Umbruch 1918119.
Chronik
15. Juni- 23. August 1866
Preußisch-Österreichischer Krieg.
23. August 1866
Friede von Prag: Führung über Norddeutschland für Preußen.
1867
Gründung des Norddeutschen Bundes unter Preußens Führung.
19. Juli 1870 - 10. Mai 1871
Deutsch-Französischer Krieg.
18. Januar 1871
Kaiserproklamation in Versailles.
18. Okt. 1878
Gesetz über die "gemeingefährlichen Bestrebungen der Socialdemokratie".
18
12. Juli 1879
Abkehr vom Freihandel, Schutzzollsystem.
1888
"Dreikaiserjahr", Wilhelm I. stirbt, Friedrich III. regiert neunundneunzig Tage, Wilhelm II. Kaiser.
20. März 1890
Bismarcks Entlassung.
1890-94
Reichskanzler Caprivis "Neuer Kurs" in Sozial- und Außenwirtschaftspolitik.
Nach Sturz Caprivis Bestrebungen zum "persönlichen Regiment" Kaiser Wilhelm II. und seiner
Umgebung.
1894-1900
Reichskanzler Fürst Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst.
Bülow Staatssekretär des Auswärtigen Amtes; Flottenbauprogramm von Tirpitz gegen England.
1900-1909
Bülow Reichskanzler.
1905/06
Erste Marokko-Krise.
Okt./Nov. 1908
"Daily Telegraph"-Affäre schwächt Position des Kaisers.
1909-1917
Bethmann-Hollweg, bislang Chef des Reichsamtes des Inneren, Reichskanzler.
1912/13
Balkankrise.
30. Juni 1913
Heeresvermehrung in Deutschland als Antwort auf französische und russische Rüstung, stärkere
Ausschöpfung der Wehrpflicht.
28. Juni 1914
Ermordung des österr.-ungar. Thronfolgers Franz Ferdinand durch serbische Nationalisten.
4. August 1914
Ausbruch des Ersten Weltkrieges.
Anfang Sept. 1914
Der deutsche Vormarsch endet in Sichtweite von Paris, im Osten wird der russische Vormarsch
zurückgeworfen.
1914-16
Die Entscheidung des Krieges wird auf beiden Seiten durch Gewinnung von Bündnispartnern,
Ausweitung des Krieges und neue Waffentechnik gesucht.
21. Febr.- 2. Sept. 1916
Schlacht um Verdun; 700000 Tote auf deutscher und französischer Seite.
1916/18
Die 3. Oberste Heeresleitung unter Hindenburg und Ludendorff übt faktisch eine Militärdiktatur über das
Deutsche Reich aus.
22. Januar 1917
Wilson proklamiert "Frieden ohne Sieg".
1. Febr. 1917 Deutschland erklärt den uneingeschränkten U-Boot-Krieg, Eintritt der USA in den
Weltkrieg wird unvermeidlich.
19
7. April 1917
Osterbotschaft des Kaisers: Reformen werden angekündigt.
14. Juli 1917
Entlassung Bethmann-Hollwegs, Michaelis wird Reichskanzler.
19. Juli 1917
Friedensresolution des Deutschen Reichstags. Frieden ohne Annexionen und Kontributionen.
1917-1918
Reichskanzler Graf Hertling (Zentrum).
7.18. Nov. 1917
Lenins Putsch in Petrograd.
3.Januar 1918
"Die 14 Punkte" Wilsons.
3. März 1918
Friedensdiktat von Brest-Litowsk: Das Deutsche Reich beherrscht Ostmitteleuropa.
März-Juli 1918
Deutsche Offensiven im Westen laufen sich fest.
21. Sept. 1918
Hindenburg und Ludendorff fordern sofortiges
parlamentarische Regierung im Deutschen Reich.
Waffenstillstandsangebot
durch
eine
neue
Ende Sept. 1918
Verfassungsreform im Deutschen Reich.
2. Okt.- 9. Nov. 1918
Prinz Max von Baden wird letzter Reichskanzler des Kaiserreichs.
3./4. Okt. 1918
Deutsches Waffenstillstandsangebot an Präsident Wilson auf der Grundlage der "14 Punkte".
29.Okt. 1918
Beginn der Meuterei auf der auslaufenden deutschen Hochseeflotte in Kiel; Zusammenbruch der
Westfront.
7.-9. Nov. 1918
Revolution in den deutschen Hauptstädten.
9. Nov. 1918
Ausrufung der Republik durch Scheidemann, Friedrich Ebert (SPD) wird Reichskanzler.
10. Nov. 1918
"Rat der Volksbeauftragten" (SPD und USPD) versucht, die Regierungsgewalt neu zu organisieren,
daneben Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte.
11. Nov. 1918 Waffenstillstand auf der Grundlage der "14 Punkte" Wilsons.
20
Das Kaiserreich in der Zeitkritik
Im Jahre 1917, als sich die deutsche Niederlage immer deutlicher als unabwendbar
abzeichnete, publizierte der Soziologe Max Weber in der alten "Frankfurter Zeitung"
eine aktuell-politische Artikelserie, die im Mai 1918 überarbeitet unter dem Titel
"Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland" als Broschüre erschien.
Obwohl - wie das Titelwort "neugeordnet" signalisiert - primär an der künftigen
Neugestaltung der Verfassungsverhältnisse in einem Nachkriegsdeutschland
interessiert, geht Max Weber mit den bestehenden deutschen Verfassungszuständen,
deren tödliche Krise für ihn durch den Weltkrieg unabweislich offenbar geworden war,
hart ins Gericht. Auf die Frage "Was war Bismarcks Erbe?" gibt Max Weber eine
ziemlich vernichtende Antwort:
"Er hinterließ eine Nation ohne alle und jede politische Erziehung, tief unter dem Niveau,
welches sie in dieser Hinsicht zwanzig Jahre vorher bereits erreicht hatte. Und vor allem eine
Nation ohne allen und jeden politischen Willen, gewohnt, dass der große Staatsmann an ihrer
Spitze für sie die Politik schon besorgen werde. Und ferner, als Folge der missbräuchlichen
Benutzung des monarchischen Gefühls als Deckschild eigener Machtinteressen im politischen
Parteikampf, eine Nation, daran gewöhnt, unter der Firma der monarchischen Regierung`
fatalistisch über sich ergehen zu lassen, was man über sie beschloss, ohne Kritik an der
praktischen Qualifikation derjenigen, welche sich nunmehr auf Bismarcks leergelassenen
Sessel niederließen und mit erstaunlicher Unbefangenheit die Zügel der Regierung in die Hand
nahmen. An diesem Punkte lag der bei weitem schwerste Schaden. Eine politische Tradition
dagegen hinterließ der große Staatsmann überhaupt nicht. Innerlich selbständige Köpfe und
vollends Charaktere hatte er weder herangezogen noch auch nur ertragen. Und der Unstern
der Nation hatte überdies gewollt, dass er neben seinem rasenden Argwohn auf alle
Persönlichkeiten, die ihm irgendwie als denkbare Nachfolger verdächtig waren, auch noch
einen Sohn besaß, dessen wahrlich bescheidene staatsmännische Qualitäten er erstaunlich
überschätzte, demgegenüber nun als ein rein negatives Ergebnis seines gewaltigen Prestiges:
ein völlig machtloses Parlament. Er selbst hat sich bekanntlich dessen als eines Fehlers
angeklagt, als er nicht mehr im Amt war und die Konsequenzen an seinem eigenen Schicksal
erfahren hatte. Jene Machtlosigkeit bedeutete aber zugleich auch: ein Parlament mit tief
herabgedrücktem geistigen Niveau. Zwar die naive moralisierende Legende unserer
unpolitischen Literaten denkt sich die ursprüngliche Beziehung vielmehr gerade umgekehrt: weil
das Niveau des Parlamentslebens niedrig gewesen und geblieben sei, deshalb sei es, und
zwar verdientermaßen, machtlos geblieben. Höchste einfache Tatsachen und Erwägungen
zeigen aber den wirklichen Sachverhalt, der sich übrigens für jeden nüchtern Denkenden von
selbst versteht. Denn darauf, ob große Probleme in einem Parlament nicht nur beredet,
sondern maßgeblich entschieden werden, ob also etwas und wie viel darauf ankommt, was im
Parlament geschieht, oder ob es nur der widerwillig geduldete Bewilligungsapparat einer
herrschenden Bürokratie ist, stellt sich die Höhe oder Tiefe seines Niveaus ein." (Politische
Schriften, S. 319-320)
(Seite 20: Die Kaiserproklamation im Schloss von Versailles am 18. Januar 1871. Das
Gemälde des Berliner Hofmalers Anton von Werner zeigt links neben dem Kaiser den
Kronprinzen und späteren Kaiser Friedrich III.; vor den Stufen von Bismarck und der
preußische Generalstabschef von Moltke inmitten der siegreichen deutschen
Regimenter aus dem Frankreichfeldzug, unter denen sich auch der spätere
Reichspräsident Paul von Hindenburg als junger Leutnant befand.)
21
Der Soziologie
Max Weber (1864-1920)
Der Politiker
Friedrich Naumann (1860-1919)
Um das Gewicht dieser Sätze richtig ermessen zu können, muss man wissen, dass Max
Weber durchaus kein prinzipieller Gegner des Deutschen Reiches von 1870 gewesen
ist; im Gegenteil! In seiner Freiburger Antrittsvorlesung "Der Nationalstaat und die
Volkswirtschaftslehre" (1895) hatte er die imperialistische Expansionspolitik des
Deutschen Reiches nicht nur vehement verteidigt, sondern deren Notwendigkeit für die
weitere Entwicklung Deutschlands als Nationalstaat im Konzert der damaligen
(europäischen) Großmächte nachdrücklich gefordert, besonders in jenem vielzitierten
Satz:
"Wir müssen begreifen, dass die Einigung Deutschlands ein Jugendstreich war, den die Nation
auf ihre alten Tage beging und seiner Kostspieligkeit halber besser unterlassen hätte, wenn sie
der Abschluss und nicht der Ausgangspunkt einer deutschen Weltmachtpolitik sein sollte."
(Politische Schriften, S. 23)
Ganz ähnlich argumentierte auch Ernst Troeltsch etwa zur gleichen Zeit. Troeltsch,
protestantischer Theologe und zugleich auch Soziologe, war zu Beginn des Ersten
Weltkrieges entschiedener Anhänger der offensiven deutschen "Ideen von 1914", die
bewusst gegen die revolutionären "Ideen von 1789" konzipiert worden waren, und ihrer
extrem chauvinistischen Kriegszielpolitik gewesen. Nach Kriegsende kommentiert er
das politische Geschehen in Deutschland beim revolutionären Übergang von der
Monarchie zur Republik in seinen tagespolitischen "Spektator-Briefen" (1918-1922).
Dort heißt es mit Bezug auf die negativen Vorbelastungen der neuen Republik durch
das vorangehende Kaiserreich:
22
"Das Ende ist da, der Schleier des vierjährigen Geheimnisses ist gelüftet. Es ist ein Ende mit
Schrecken. . . Der Zusammenbruch . . . Deutschlands ist heute vollendete Tatsache. Aus dem
militärischen Zusammenbruch der Front und der Bundesgenossen ergab sich der
Zusammenbruch auch des längst unterhöhlten politischen Systems. Niederlage und Revolution
sind auch unser Schicksal geworden . . . Nachdem unsere herrschenden Schichten es
verschmäht hatten, den unvermeidlichen Folgen eines radikalisierenden Massenkrieges durch
demokratische Reformen rechtzeitig vorzubeugen und auf der Höhe der militärischen Siege
einen Frieden großer Mäßigung zu schließen, war wenig Hoffnung mehr . . . Im Augenblick
kann die Klarheit, die wir gewinnen müssen, nur darin bestehen, dass wir uns klar werden über
dasjenige, was unter allen Umständen und bei allen kommenden Zukunftsmöglichkeiten
erledigt und zu Ende ist. Das aber ist der Militarismus, der Aufbau des Staates und der
Gesellschaft auf der bisherigen preußischen Militärverfassung und dem entsprechenden Geiste
. . . Der deutsche Militarismus war . . . eine politische Institution, ein entscheidendes Element
der Staatsverfassung, und er war dies, weil er zugleich das Wesen der deutschen
herrschenden Gesellschaft ausmachte. Er war der Charakter der preußischdeutschen
Reichsverfassung und die besondere Eigentümlichkeit der deutschen Klassenherrschaft . . .
Politisch war das preußisch-deutsche Reich ein völlig dualistisches Gebilde, das einerseits auf
der vom Parlament lediglich kontrollierten zivilen Regierung des Bundesrates und der
Reichsleitung, anderseits auf der unmittelbaren und unbedingten Militärgewalt des preußischen
Königs und dem hiermit eng verbundenen politischen Willen des Generalstabs beruhte. Jeder
dieser beiden Teile hat seine eigene Politik gemacht. Eine Vermittlung gab es nur in der Person
des Kaisers, dessen schwierige und wichtige Aufgabe die Ausgleichung zwischen diesen
beiden politischen Mächten war oder hätte sein müssen . . . Durch den Reichskanzler ging der
Riss mitten hindurch; er konnte überhaupt nur Politik machen, wenn er durch die Person des
Kaisers mit dem Militär und mit der preußischen Herrengesellschaft einen Ausgleich finden
konnte. Diese Sonderstellung des Militärs aber ihrerseits war nur möglich auf G rund der alten
preußischen sozialen Überlieferung, der gemäß der kleine Grundadel die militärische und
bürokratische Ämterpfründe zu seiner Verfügung hielt und gleichzeitig in seiner Gutsherrschaft
die Eigenschaften eines starken, selbstbewussten und klugen Herrensinnes erwarb und
betätigte. Diese Grundsätze gingen durch die Erziehung des Offiziers und Reserveoffiziers
sowie durch das gesellschaftliche Übergewicht des Militärs in jeden Verkehr der höheren
Klassen auf das gesamte Bürgertum mit geringen Ausnahmen über. Der Geschichtsunterricht
der Schulen wurde in diesem Sinne geleitet. Die satisfaktionsfähige Weltanschauung zog das
Studententum in diese Ideenwelt hinein und wurde gesellschaftlich allmächtig, Voraussetzung
jeder Karriere und Maßstab aller sozialen Gliederungen. Und um die Herrschaft vollständig zu
machen, hat sich auch noch der Geist der neuen Großindustrie und Hochfinanz auf diese Seite
geschlagen, Geschäft und Beziehungen auf den Fuß engster Gemeinschaft mit dieser Schicht
gestellt, durch Grundbesitz und vornehmen Militärdienst nobilitiert, Demokratie und Sozialismus
im Bund mit diesen Mächten faktisch und moralisch niedergehalten. Interessant ist
insbesondere, dass auch die Kirche, vor allem die protestantische, sich ganz auf den Boden
dieser Militär- und Gesellschaftsauffassung stellte: Demokratie, Sozialismus, Pazifismus,
Volksstaat usw. waren auch für sie unanständige, plebejische Begriffe einer unbotmäßigen
Masse. Jeder von uns weiß das und hat es in irgendeiner Weise am eigenen Leibe verspürt,
wenn auch nur wenige sich Tragweite und Bedeutung dieses Sachverhaltes klargemacht
haben, da das System in der Verbindung mit einem sehr pflichttreuen und sorgsamen
Beamtentum ja unleugbar seine überaus glänzenden und tüchtigen Seiten hatte."
(SpektatorBriefe, S. 1-6)
23
Eine Kleinstadt im wilhelminischen Deutschland erwartet den Besuch des Kaisers. In
ehrwürdiger Haltung harren die städtischen Honoratioren neben dem Standortkommandanten
und seinem Adjutanten, den Vertretern der Geistlichkeit und einer Abordnung von
Ehrenjungfrauen des hohen Besuchs.
Wir wollen noch eine dritte Stimme hören, die sich - auch aus dem bürgerlichen Lager
stammend - schon sehr früh, d. h. noch vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, bewusst
auf: den Standpunkt der westlichen, vor allem französischen Demokratie stellte und von
dort her die verfassungspolitischen und auch gesellschaftlichkulturellen Verhältnisse in
Deutschland einer scharfen, z. T. satirischen Kritik unterzog: Heinrich Mann, den Autor
des Romans "Der Untertan", der ursprünglich den bezeichnenden Untertitel Geschichte
der öffentlichen Seele unter Wilhelm II." tragen sollte.
In seinem Essay "Kaiserreich und Republik" (1919) schreibt H. Mann kritisch über das
untergegangene Kaiserreich:
"Das Deutsche Reich von 1871 war, wie es nun einmal ward, eine unwesentliche Schöpfung
der Deutschen. An seiner Errichtung waren nicht alle ihre Fähigkeiten beteiligt, und ihre besten
waren weniger vertreten als ihre nicht einmal guten. Die Deutschen wohnten in diesem Reich
nie ganz; ein wichtiger Teil ihres Wesens blieb draußen. Das Deutsche Reich von 1871 musste
zusammenbrechen, aus diesem tiefsten Grunde: weil es nicht ganz deutsch war. Aber sein
Sturz begräbt nur eine fragwürdige Abart des Deutschen, nicht das Deutschtum." (Essays, S.
392)
24
Betroffen durch die letztlich - bei allen argumentativen Unterschieden - in dieselbe
Richtung zielende Kritik an den Verhältnissen im Deutschen Kaiserreich durch M.
Weber, E. Troeltsch und H. Mann wird man zunächst fragen müssen, ob diese
kritischen und polemischen Stellungnahmen überhaupt repräsentativ und sachlich
zutreffend waren und ob sie eine berechtigte) Einschätzung der politischen
Gesamtrealität des Kaiserreiches bieten.
Darauf ist zu antworten: Sicher nicht im allgemeinen; wohl aber - und das ist der Grund
dafür, diese Autoren hier zu Wort kommen zu lassen - im Hinblick auf die oben
erwähnten und vermuteten negativen Vorprägungen und Vorbelastungen der Weimarer
Republik durch die Epoche des Kaiserreichs. Gleichwohl wird es nötig sein, diese
kritische Beurteilung in einzelnen Bereichen der politischen Wirklichkeit jener Zeit
genauer zu prüfen und im einzelnen zu belegen. Dazu wenden wir uns zunächst den
Strukturen des politischen Systems jener Epoche zu.
Der Kaiser als oberster Kriegsherr: Kaiser Wilhelm II. nimmt nach der Frühjahrsparade
1912 in Potsdam militärische Meldungen entgegen.
25
Das politische System
1. Gesamtcharakter des Verfassungssystems
Der zitierte Text von M. Weber enthält u. a: einen deutlichen Vorwurf in die Richtung,
dass das von Bismarck geschaffene Verfassungssystem, das Institutionengefüge und die
dadurch maßgeblich bestimmte Machtverteilung, schließlich und vor allem die
eigentümliche Handhabung der politischen Macht durch den ersten Reichskanzler der
Demokratisierung und Parlamentarisierung 'des Deutschen Reiches im Sinne der
westlichen Entwicklung nicht nur nicht förderlich, sondern im Gegenteil entschieden
abträglich gewesen seien.
Dieser Vorwurf, den wir zum Leitfaden unserer Darstellung des politischen Systems
des Kaiserreichs machen wollen, mag auf den ersten Blick überraschen - vor allem
wenn man sich vor Augen hält; dass die Reichsverfassung von 1871 im Reichstag, ein
Parlament vorsah, das nach dem fortschrittlichsten Wahlrecht der damaligen Zeit direkt
vom Volke gewählt wurde und insofern eine fraglos demokratische Legitimationsbasis
besaß. Zudem hatte eine Pluralität politischer Parteien, wie sie sich seit der 48er
Revolution in Deutschland gebildet und danach vorwiegend in den Einzelstaaten
fortentwickelt hatten; im Reichstag ihr politisch-parlamentarisches Aktionsfeld
gefunden.
So zutreffend diese Einzelbeobachtungen auch sein mögen, sie übersehen indes die
reale politische Machtverteilung im Bismarckschen 'System, und nur von dem gesamten
Geflecht der politischen Machtbeziehungen her kann man die einzelnen Elemente in
ihrer verfassungsrechtlichen Position und verfassungspolitischen Funktion. und
Wirkung begreifen (vgl. Dok. 1):
Die Gesamteinschätzung des Bismarckschen Verfassungssystems ist (auch gerade
heute) nicht leicht; so kann es nicht verwundern, dass seine Beurteilung unter
Historikern, Politikwissenschaftlern und Verfassungsgeschichtlern bis heute eher
umstritten ist:
- die einen sehen in ihm die "stilgerechte Lösung der deutschen Verfassungsfrage" (E.
R. Huber) aus den Bedingungen des 19. Jahrhunderts;
- die anderen sprechen von ihm als einem "zeitwidrigen monarchischen
Semiabsolutismus" (K D. Bracher); ,
- oder einer Form des "Bonapartismus mit seiner auch in Deutschland vorhandenen
eigenartigen Mischung von charismatischen, plebiszitären und traditionalistischen
Elementen" (H. U. Wehler).
Es ist nicht zu leugnen, dass unterschiedliche politische Optionen der Interpreten diese
verschiedenen Stellungnahmen stark beeinflusst haben. Mindestens so wichtig ist die
Tatsache, dass diese Urteile von unterschiedlichen Standpunkten und Perspektiven im
Rahmen der deutschen Verfassungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts abhängen.
Schließlich kann die unterschiedliche Bewertung des Kaiserreichs auch dadurch
mitverursacht sein, dass der eine Urteilende stärker die normative Verfassungsordnung
der
Gründung
mit
ihren
noch
unerschöpften
(auch
positiven)
Entwicklungsmöglichkeiten, der andere stärker die spätereVerfassungsrealität mit ihren
Enttäuschungen, Restriktionen und Blockierungen im Blick hatte.
26
27
In jedem Fall ist es geboten, die Richtigkeit derartiger Urteile sorgfältig durch` eine
Strukturanalyse des Bismarckschen Verfassungssystems zu überprüfen. Eine solche
Analyse wird einerseits das (normative) Verfassungsmodell, sodann natürlich auch die
Verfassungsrealität und deren Entwicklung berücksichtigen müssen; im Hinblick auf
letztere wird _man mithin die gesamte Epoche von der Gründung (1871) bis zum
Untergang (19 f 8) des Deutschen Reiches hinsichtlich der wichtigsten Etappen (von
der Gründung bis zur Entlassung Bismarcks 1871-o1890), vom Beginn des
"persönlichen Regiments" Wilhelm II. ,bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges
(1890-1914) und vom Beginn des Krieges bis zu seinem Ende (1914-1918) seiner
Entwicklung in die Betrachtung einbeziehen müssen,
Das Deutsche Reich von 1871 war nach der Präambel seiner Verfassung ein von den
deutschen Fürsten und Freien Städten geschlossener "ewiger Bund zum Schutz des
Bundesgebietes und des" innerhalb dieses gültigen Rechtes, sowie zur Pflege der
Wohlfahrt des Deutschen Volkes", mithin ein Bundesstaat, dessen Doppelstruktur der
"Einheit in der Vielfalt" auf Bundesebene/Reichsebene durch zwei Institutionen
"Bundesrat" und "Reichstag" - repräsentiert werden sollte übrigens durchaus analog zur
heutigen Bundesrepublik.
Die Verfassung des Deutschen Reiches selbst war Ergebnis einer doppelten
Vereinbarung zwischen den Regierungen der beteiligten deutschen Einzelstaaten mit
Zustimmung der betreffenden Landtage, zum anderen eines Verfassungsgesetzes
zwischen der Gesamtheit der Regierungen einerseits und dem vom Volk direkt
gewählten Reichstag andererseits.
Verfassungsrechtlich war der "Bundesrat" das höchste Reichsorgan, in dem Preußen
aufgrund seiner Größe und seiner hegemonialen Stellung dominierte; denn in diesem
Gremium, das organisatorisch einem "Gesandtenkongress" glich, waren die, einzelnen
Länder entsprechend ihrer Größe mit unterschiedlichen Stimmenzahlen ausgestattet
vertreten: Preußen 17; Bayern 6, Sachsen und Württemberg je 4, Baden und Hessen je
3, die kleineren je 2 oder 1 = insgesamt 58 Stimmen (vgl. Art. 6 RV)
Neben Kompetenzen in der Exekutive und auch in der Verfassungsgerichtsbarkeit hatte
der Bundesrat vor allem Anteil an der Gesetzgebung, musste diese aber mit dem
Reichstag teilen:
"Die Reichsgesetzgebung wird ausgeübt durch den Bundesrat und den Reichstag.
Übereinstimmung der Mehrheitsbeschlüsse beider Versammlungen ist zu einem Reichsgesetz
erforderlich und ausreichend." (Art. 5 RV).
Die völkerrechtliche Vertretung des Deutschen Reiches oblag dem "Präsidium" des
Bundes, das laut Verfassung (Art. 11) dem preußischen König zustand, "welcher den
Namen Deutscher Kaiser` führt". Der Kaiser hatte zudem die Kompetenz, im Namen
des Reiches - allerdings mit Zustimmung des Bundesrates - Krieg zu erklären und
Frieden zu schließen, Bündnisse und andere Verträge mit auswärtigen Mächten
einzugehen (Art. 11). Ihm stand ferner das Recht zu, den Bundesrat und den Reichstag
"zu berufen, zu eröffnen, zu vertagen und zu schließen" (Art. 12) sowie denReichskanzler, dem der Vorsitz des Bundesrates und die Leitung der Geschäfte zusteht,
und die Reichsbeamten zu ernennen und zu entlassen (Art. 15 u. 18 RV).
28
Dem "Reichstag", der die Reichseinheit repräsentieren sollte, standen Kompetenzen in
der Gesetzgebung und der Budgetbewilligung zu; seine Legislaturperiode dauerte drei
Jahre, seine vorzeitige Auflösung auf Beschluss des Bundesrates mit Zustimmung des
Kaisers war möglich (Art: 24 RV): Die Wahl zum Reichstag erfolgte nach dem
absoluten Mehrheitswahlrecht zunächst in 382 Einmannwahlkreisen (Art. 20 RV).
Wahlberechtigt waren - wie überall damals - allerdings (noch) nur Männer (vgl. Dok.
2).
Merkwürdigerweise gab es nach der Reichsverfassung weder den Begriff noch die
Institution einer "Reichsregierung". Die Reichsleitung lag zunächst in der Hand des
Reichskanzlers und seines Büros, der Reichskanzlei:
Diese
Verfassungsordnung
entsprach
hinsichtlich
ihrer
Machtund
Kompetenzverteilung
durchaus
den
zeitgenössischen
Vorstellungen
von
"konstitutioneller Monarchie", wie sie sich in der verfassungstheoretischen Diskussion
des 19. Jahrhunderts ausgebildet hatten: sie beließ dem Kaiser (als Präsidium des
Bundes) in Zusammenwirken mit seinem Reichskanzler und dem Bundesrat (als
Vertretung der beteiligten Einzelstaaten) die eigentliche Reichsleitung, während der
Reichstag als gewählte Volksvertretung in seiner Mitwirkung am politischen
Willensbildungs- - und Entscheidungsprozeß auf Gesetzgebungs- und BudgetKompetenzen beschränkt war und keinen Einfluss auf die Berufung oder Abberufung
des Reichskanzlers besaß. D.h., die Reichsverfassung sah zwar einen traditionellen
Parlamentarismus, aber kein parlamentarisches Regierungssystem vor.
Erwähnenswert bleibt noch, dass die Reichsverfassung als Organisationsstatut des
Deutschen Reiches über keinen Grundrechtsteil verfügte (wie etwa die in mancher
Hinsicht vorbildliche Paulskirchenverfassung von 1848). Diese Tatsache darf indes
nicht dahin verstanden werden, dass das Deutsche Reich von 1871 kein Rechtsstaat
gewesen sei, in dem staatliche Eingriffe in die Privatsphäre des Bürgers willkürlich
erlaubt gewesen wären, im Gegenteil: rechtsstaatliche Grundsätze waren voll wirksam;
Grundrechte gab es in den zeitgenössisch üblichen Fassungen in den einzelnen
Landesverfassungen, so dass eine nochmalige Aufnahme in die Reichsverfassung nicht
notwendig erschien.
Mithin bot die Reichsverfassung vom Mai 1871 ein Gesamtbild, das durchaus den
Standards der damaligen Verfassungsdiskussion und auch den Entwicklungstendenzen
der deutschen Verfassungstradition entsprach. Unklar blieb jedoch, welche
Entwicklungsrichtung diese Verfassung künftig nehmen würde. Es lagen durchaus
verschiedene Möglichkeiten in ihr; so z. B. die Richtung auf ein parlamentarisches
Regierungssystem britischer Prägung mit einer dem Parlament politisch
verantwortlichen Regierung; oder aber die Richtung einer Verstärkung der
absolutistischen oder autokratischen Elemente der Verfassung im Sinne älterer
deutscher Verfassungstraditionen. Die Entscheidung über diese möglichen Alternativen
bahnte sich bereits unmittelbar nach der Gründung des Deutschen Reiches durch die
Politik des ersten Reichskanzlers Otto von Bismarck an.
29
2. Verfassungsentwicklung (1871-1918)
In der Verfassungspraxis der nachfolgenden Jahre und Jahrzehnte (1871-1918) blieb die
von der Verfassung so bestimmte Macht- und Kompetenzverteilung nicht unangetastet.
Schon in der ersten Entwicklungsphase unter der starken Kanzlerschaft Bismarcks kam
es zu entscheidenden Weichenstellungen in der Verfassungsentwicklung, die den
künftigen Charakter des Deutschen Reiches durchgreifend bestimmten. Auf die (bisher
schon beschriebenen) Institutionen des Reiches bezogen ist festzustellen:
a) Reichsregierung
Zunächst kam es sukzessive zur Ausbildung einer starken und entsprechend den
Politikfeldern differenzierten Reichsleitung. Die Regierungspraxis hatte bald erkennen
lassen, dass die dürftige vorgegebene organisatorische und bürokratische Ausstattung
des Reichskanzlers (als des einzigen echten "Reichsministers" der Verfassung) völlig
unzureichend und den wachsenden Anforderungen nicht angemessen war. Daher
wurden Schritt für Schritt sog. "Reichsämter" gebildet: als erstes das "Auswärtige
Amt", dann das "Reichsmarineamt", das "Reichseisenbahnamt", das "Reichspostamt",
das "Reichsamt des Innern", das "Reichskolonialamt", das "Reichjustizamt", das
"Reichsschatzamt" etc.
An der Spitze dieser Reichsämter standen jeweils Staatssekretäre, die anfänglich strikt
weisungsgebunden dem Reichskanzler unterstellt waren, die aber ab 1878 durch das
sog. "Stellvertretergesetz" zunehmend in die Rolle von echten (d. h.
eigenverantwortlichen) Ressortministern hineinwuchsen. Für ihr Ressort erhielten sie
das Recht der Gegenzeichnung, das die Verfassung in Artikel 17 zunächst nur dem
Reichskanzler gegenüber dem Kaiser eingeräumt hatte, und damit durchaus politische
Verantwortung im Rahmen der gegebenen Verfassung.
Neben dem Kanzler- und dem Ressortsprinzip entwickelte sich in der Reichsleitung
zunächst (noch) kein Kabinetts- oder Kollegialprinzip. Erst 1914 wurde es Übung, dass
sich die Leiter der Reichsämter unter der Führung des Kanzlers zu (Kabinetts)
Sitzungen trafen; erst damit war die Ausbildung einer regelrechten (Reichs) Regierung,
wie sie uns heute geläufig ist, abgeschlossen.
Aus der konstitutionell-monarchischen Struktur der Machtverteilung im Deutschen
Reich folgte konsequent auch noch die Tatsache, dass der Reichskanzler und die Leiter
der Reichsämter nicht zugleich Mitglieder des Reichstages und somit keine
Parlamentarier (mehr) waren. Zwar schrieb die Verfassung nicht ausdrücklich diese
"Inkompatibilität" vor; sie folgte aber sachlogisch aus der Situation und aus Art. 9 RV,
der bestimmte: "Niemand kann gleichzeitig Mitglied des Bundesrates und des
Reichstages sein." Insofern nämlich der Kanzler und auch die Staatssekretäre der
Reichsämter in aller Regel zugleich (als Mitglieder der preußischen Regierung)
preußische
Bundesratsbevollmächtigte
waren,
unterlagen
sie
dieser
Inkompatibilitätsbestimmung der Verfassung. Es gab nur seltene Ausnahmen von dieser
Regel bis zum Ende des Reiches; das bedeutete auch, dass für die Machtstellung des
30
Kanzlers (und analog auch seiner Ressortleiter) die Mitgliedschaft im Bundesrat
(über die preußische Bundesratsbevollmächtigung) wichtiger war als die
Mitgliedschaft als Parlamentarier im damaligen Reichstag, was ein deutliches
Licht auf die Machtverteilung zwischen diesen Institutionen wirft.
31
Von außerordentlicher Bedeutung war im Bereich der Regierungsorganisation
schließlich noch der interessante, eben schon angedeutete Tatbestand, dass sich
zwischen der Führung der Reichsämter und der preußischen Regierung in der Regel
eine enge personelle Verflechtung herausbildete. So beruhte die Machtstellung des
Reichskanzlers - wie die Erfahrung bald lehrte - durchaus auf der Verbindung dieses
Reichsamtes mit dem des preußischen Ministerpräsidenten und/oder Außenministers.
Das gilt gerade auch für Bismarck selbst, der nur zwischendurch für ganz kurze Zeit
(1872/73) einmal auf das Amt des preußischen Ministerpräsidenten (er blieb indes
preußischer Außenminister, um die preußischen Stimmen im Bundesrat führen zu
können) verzichtete, und sogleich die negativen Folgen dessen für seine allgemeine
Machtstellung erfahren musste.
Analoges galt auch für die Leiter der Reichsämter. Diese Personalunion zwischen den
Leitern der Reichsämter und der preußischen Regierung wurde meist auf die Weise
hergestellt, dass die Staatssekretäre des Reiches `nachträglich Mitglieder der
preußischen Regierung wurden, nicht umgekehrt. Diese Reihung lässt erkennen, dass z.
B. Bismarck dabei mindestens so stark im Auge hatte, den preußischen Partikularismus
gegenüber der Reichspolitik zu mildern, als die (ohnehin gegebene) Vorrangstellung
Preußens im Reich (noch) auszubauen:
Die soeben skizzierte allmähliche Ausbildung einer ursprünglich nicht vorgesehenen
Reichsregierung und -verwaltung ist durchaus als Reflex einer Vereinheitlichung
(Unitarisierung) der Lebensverhältnisse im Deutschen Reich seit der Gründung
anzusehen - ein Prozess übrigens, der sich durch die ökonomischen und sozialen
Strukturwandlungen irreversibel angebahnt hatte. Besonders markante Momente dieses
Vereinheitlichungsprozesses stellen - neben einer wachsenden Reichsgesetzgebung
einmal die verschiedenen reichseinheitlichen Rechtskodifikationen sowie zum anderen
die Entwicklung eines einheitlichen Systems der Daseinsvorsorge und -fürsorge im
Rahmen der Sozialpolitik dar.
"Seit 1869 gab es für das Reich ein einheitliches Wechsel- und Handelsrecht und ein
Bundesoberhandelsgericht in Leipzig, seit 1870 auch ein gemeinsames Strafgesetzbuch, seit
1879 ferner eine einheitliche Gerichtsverfassung, die im Reichsgericht ihre höchste Spitze fand,
und einheitliche Zivil- und Strafprozessordnungen, seit 1900 endlich ein gemeinsames
Bürgerliches Gesetzbuch." (Fr. Hartung).
Auch die Sozialpolitik, die Bismarck 1881 "gleichsam als wohlfahrtsstaatlichen
Kontrapunkt ' zur, polizeistaatlichen Unterdrückung" der Sozialisten ins Leben gerufen
hatte (V. Hentschel), wirkte unitarisierend, die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse
im Deutschen Reich befördernd.
b) Wechselspiel Regierung-Reichstag
Bemerkenswert ist demgegenüber, dass in dem' für den Gesamtcharakter des
politischen Systems so entscheidenden Wechselverhältnis Reichskanzler-Reichstag
sowohl unter Bismarck als auch unter seinen Nachfolgern im Kanzleramt sich keine
grundlegende Änderung in Richtung auf eine Vollparlamentarisierung = d. h. im Kern:
auf Einführung der politischen Verantwortung des Kanzlers gegenüber dem Reichstag vollzogen hat. Eher im Gegenteil: bis 1890 ist die Bemühung Bismarcks
32
durchaus klar erkennbar, die verfassungsmäßige Mitwirkung des Reichstags an der
Gesetzgebung und de Budgetbewilligung möglichst gering zu halten und nicht zum
Hebel für eine Parlamentarisierung des Reiches im` Sinne westlicher Vorbilder werden
zulassen. Diesem Zweck diente Bismarcks Übung, sich für parlamentarische
Durchsetzung seiner politischen Ziele möglichst der Unterstützung durch- wechselnde
Mehrheiten zu versuchen (vgl. Dok. 7).
33
bis 1878 stützte er sich dabei vornehmlich auf die Nationalliberalen, die ihn auch bei
der Reichseinigung unterstützt hatten;.
-- danach in einer Ara neuorientierter Wirtschafts- und Zollpolitik auf die
Konservativen, die sich Mitte der 70er Jahre neu formiert hatten;
- seit Ende der 70er Jahre nahm dann das Zentrum eine Schlüsselposition im
parlamentarischen Kräftespiel und Mehrheitsbildung ein.
Da durch die außerparlamentarische Regelung der Verantwortlichkeit des
Reichskanzlers (gegenüber dem Kaiser) die Notwendigkeit einer stabilen
parlamentarischen Mehrheitsbildung, nötigenfalls auf der Basisdauerhafter
Parteienkoalitionen, nicht bestand, konnten die deutschen Parteien bis in den Weltkrieg
hinein
weitgehend
auf
die
Einübung
politischer
Kompromißund
Kooperationsbereitschaft mit anderen Parteien zugunsten weltanschaulicher
Programmatik und/oder gruppenspezifischer Interessenvertretung verzichten. Dieser
Mangel sollte sich später in der Weimarer Republik unter den neuen
Rahmenbedingungen eines echten parlamentarischen Regierungssystems, in der die
Regierungsbildung von dauerhaften Parteienkoalitionen abhängt, sehr negativ
auswirken.
Während des Kaiserreichs gab es eigentlich nur einen größeren Versuch, von dieser
Technik der wechselnden Mehrheiten zur Unterstützung der Regierungspolitik
abzugehen; gemeint ist der sog. "Billow-Block", den der Reichskanzler Fürst Billow
Ende 1909 unternahm, um sich von Einfluss und Abhängigkeit durch das Zentrum
loszumachen. Zu diesem Zwecke stellte die Regierung ein Programm auf, das sie mit
einer festen Parteienkoalition aus Konservativen, Nationalliberalen und Linksliberalen
verwirklichen wollte. Auf dieser Basis kam der sog. "Block" zustande, "die erste feste
Verbindung zwischen der deutschen Reichsregierung und den Mehrheitsparteien des
Reichstags. Von Dauer war sie freilich nicht," (Fr. Hartung). Im Zusammenhang mit
dem Versuch einer Reichsfinanzreform scheiterte dieser `Versuch bereits 1909. Billow
musste zurücktreten, und sein Nachfolger als Kanzler, Bethmann Hollweg, kehrte zu
der Bismarckschen Übung zurück, seine Politik mit wechselnden Mehrheiten
durchzusetzen, wobei ihm das Zentrum wegen seiner zentralen Position im
Parteiensystem eine unentbehrliche Stütze war. Damit war zugleich auch die Chance,
über feste Koalitionsbildung indirekt zu einer Parlamentarisierung des Reiches zu
gelangen, vertan. Für den politischen Willensbildungsprozess wirkte sich auf die Dauer
die Stagnation der Wahlrechtsentwicklung zunehmend bedenklich aus. Zwar verfügte
das Kaiserreich (wie schon vorher der Norddeutsche Bund) mit dem absoluten
(Männer) Mehrheitswahlrecht ohne Zensus über das seiner zeitfortschrittlichste
Wahlrecht; diesem lag allerdings bis zum Ende des Kaiserreichs eine
Wahlkreiseinteilung zugrunde, die sich auf eine Volkszählung von 1869 stützte. Die
gewaltigen Bevölkerungswanderungen, -verschiebungen und -ballungen infolge der
rapiden Industrialisierung und Verstädterung blieben unberücksichtigt, was zu einer
extremen Ungerechtigkeit und Verzerrung des Stimmenwertes bei den Wahlen führte.
Die vorwiegend agrarischen Gebiete des Ostens mit einer stagnierenden oder gar
abnehmenden Bevölkerungszahl wurden dadurch gegenüber' den westlichen Industrieund Ballungsgebieten unverhältnismäßig bevorzugt. Benachteiligt war dadurch speziell
die Sozialdemokratische Partei, die naturgemäß ihre Anhängerschaft in den
34
industriellen städtischen Großräumen etwa des Ruhrgebietes - hatte. Gerade die Furcht
vor einem zu raschen Anwachsen der Stimmen und Mandatszahlen der
Sozialdemokratie bewirkte bei den bürgerlichen Parteien das hartnäckige Festhalten an
dieser längst überholten und jetzt, die politische Repräsentation verzerrenden
Wahlkreiseinteilung.
Diese exemplarischen Hinweise mögen genügen, um die Tendenz zu belegen, dass die
Verfassungsentwicklung des Kaiserreichs bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges
günstigstenfalls als ambivalent beschrieben werden kann. Die in der
Verfassungskonstruktion
Bismarcks
liegenden
Möglichkeiten
zu
einer
parlamentarischen Entwicklung und damit zu einem kontinuierlichen Übergang zur
parlamentarischen Demokratie westlicher Prägung wurden auf, jeden Fall nicht genutzt.
Dass dem so war und dass dem eigentlich kaum anders sein. konnte - unter den
politischen und auch gesellschaftlichen Bedingungen der Epoche soll jetzt durch die
Einbeziehung und nähere Charakterisierung der wichtigsten politischen Kräfte im
Deutschen Reich belegt werden.
Die politischen Kräfte
Wenden wir uns nach diesem Blick auf die institutionellen Strukturen des politischen
Systems und seiner Entwicklungen nun den politischen Kräften zu, die das Deutsche
Reich von Beginn an maßgeblich bestimmten oder gar beherrschten.
Aus heutiger Sicht würde man bei dieser Frage spontan und ohne Zögern an die
politischen Parteien als an die wichtigsten Träger politischer Willens- und
Entscheidungsbildung denken; erst danach an Verbände, Bürokratie und Militär. Für
das Bismarckreich wird man von den damals geltenden Gegebenheiten und
Bedingungen der politischen. und gesellschaftlichen Machtverteilung: her eine
eindeutig andere Dominanz und entsprechende Reihenfolge setzen müssen. Keineswegs
kann man für jene Epoche (bereits) den politischen Parteien, deren Konstituierung auf
Reichsebene sich- ja eben erst gleichzeitig mit der Reichsgründung vollzog, schon
damals nach Stellung und Wirkung in Staat und Gesellschaft die erste Position unter
den maßgeblichen politischen Kräften. zuweisen.
Demgegenüber verdienen fürs erste Verwaltung und Beamtenschaft einerseits und
Militär andererseits für jene Epoche eine entschieden höhere Einschätzung als die
Parteien. Ihnen nachzuordnen wären wohl dann die einflussreichen Großorganisationen
der Wirtschaft (Industrie wie Landwirtschaft) zur Interessenvertretung gegenüber dem
Staat. Erst nach ihnen wird man die politischen Parteien einordnen können.
Die Beamtenschaft
Die tonangebende Bedeutung der Beamtenschaft im Bismarckreich hängt eng mit der
Rolle derselben im Prozess der Entstehung und Ausbildung des modernen Staates in
Preußen zusammen, zu dessen tragenden Säulen - neben dem Militär - diese
Beamtenschaft schon im 18. Jahrhundert gehörte. Diese Stellung blieb auch durch
35
das 19. Jahrhundert im Ganzen unangefochten bestehen, wenn sich auch einige
politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen veränderten: Aber nicht nur in
Preußen, sondern durchaus ähnlich auch in den meisten anderen deutschen
Einzelstaaten wie Bayern, Württemberg, Sachsen etc. war im Zusammenhang mit der
Herausbildung des modernen Staates die Beamtenschaft als Dienerkaste der Fürsten
von außerordentlicher Bedeutung für die Organisation eines rationalen Verwaltungs-,
Finanz- und Militärsystems gewesen.
Schon früh in der Geschichte hatten sich in den deutschen Einzelstaaten international
vergleichsweise hohe Ausbildungsstandards für diese Staatsdiener durchgesetzt:
Studium der Rechts- und Staatswissenschaften an Akademien und/oder Universitäten
mit zwei oder gar drei Examina als Abschluss galten ebenso als unabdingbare
Voraussetzung für den Eintritt in den Staatsdienst wie unbedingte Treue und Gehorsam
gegenüber dem Monarchen und dem Staat, in dessen Dienst man stand. So wurde die
Beamtenschaft sowohl durch die Funktionen im Staat als auch durch ihre moralischen
Einstellungen gegenüber der Herrschaft zum wohl wichtigsten Stabilisierungsfaktor der
jeweiligen monarchisch-absolutistischen oder (später) monarchisch-konstitutionellen
Herrschaft. Aufklärerisch liberalen Ideen und Bestrebungen war sie an der Wende vom
18. zum 19. Jahrhundert - wie viele Beispiele (etwa der preußischen Reformer) belegen
- durchaus aufgeschlossen und versuchte ihnen im Rahmen der bestehenden
Herrschaftsordnung durch Reformen entsprechende Geltung zu verschaffen.
Allerdings - und das ist für den eigentümlichen Charakter der Beamtenschaft im
Bismarckreich von außerordentlicher Bedeutung - setzte nach 1848/49 zunächst in
Preußen, dann auch in anderen Einzelstaaten und ab 1871 auch im Deutschen Reich
eine Entwicklung ein, die die Beamtenschaft immer stärker politisch disziplinierte und
so zu einem Hort des Konservatismus und zu einem entsprechend willfährigen
Instrument der politischen Führung werden ließ.
Dies sicherzustellen dienten vor allem zwei Kontrollmechanismen: die Regulierung der
Ausbildung sowie die der Herkunft der Beamten. Gymnasium, Universität, dazu die
wichtigen studentischen Verbindungen und Corps bedeuteten eine system- und
autoritätsorientierte Sozialisation in den staatlicherseits erwünschten Tugenden und
Einstellungen der Beamtenanwärter, wie sie H. Mann in satirischer Überzeichnung,
aber gleichwohl treffend in seinem Roman "Der Untertan" dargestellt hat. Für die
soziale, Stellung der so gebildeten Staatsdienerschaft war wichtig, dass diese
Sozialisation mit ihren Mustern und Werten in der Gesellschaft allgemein höchste
Anerkennung als Leitbild fand.
Was die Herkunft betraf, so verlangten zwar die offiziellen Regularien über die
Beamtenanstellung eine strikte Auswahl rein nach den fachlichen Qualifikationen der
Bewerber. So hieß es z. B. in Art. 4 der preußischen Verfassung von 1850: "Die
öffentlichen Ämter sind, unter Einhaltung der von den Gesetzen festgestellten
Bedingungen, für alle dazu Befähigten, gleich zugänglich." In der Praxis gerieten
jedoch diese Grundsätze zu leicht ins Hintertreffen. So suchte man bei der Besetzung
von Beamtenstellen in den Reichsbehörden durchweg einen landsmannschaftlichen
Proporz durchzuhalten; das bedeutete natürlich - allein aufgrund der gegebenen
Größenverhältnisse eine starke Dominanz des preußischen Elements in der
36
Reichsbeamtenschaft: Politisch wurde das liberale und fortschrittliche Element unter
den Beamten immer weiter zurückgedrängt; nur wer die Gewähr einer streng
konservativen Haltung und Einstellung bot, konnte auf Karriere hoffen. Damit war
dafür Sorge getragen, dass sozialdemokratisch orientierte Personen nicht die geringste
Chance hatten, in den Staatsdienst aufgenommen zu werden.
Durch die Eigentümlichkeiten der Laufbahn mit ihrer oft extrem langen Wartezeit vor
der endgültigen festen Anstellung, die im Grunde nur vermögende Personen heil
überstehen konnten, war zudem gesichert, dass sich die Beamtenschaft nur aus den
oberen (und das bedeutete zugleich: systemtreuen) gesellschaftlichen Schichten
rekrutieren konnte. Vor allem der Adel war in den höheren Rängen extrem
überrepräsentierte bis in die Ränge der Landräte dominierten Adelige. Speziell der
diplomatische Dienst war eine Domäne des (hohen und mittleren) Adels; Bürgerliche
hatten hier kaum eine ernsthafte Chance.
"Die strengen Aufnahmebedingungen, . . . könnten zu der Annahme verleiten, dass fachliche
Eignung das einzige Kriterium war. Davon kann jedoch keine Rede sein. Im Gegensatz zum
britischen Auswahlsystem beruhte das preußische und damit auch das des Reiches nicht auf
offenem Wettbewerb. Die Regierung machte ausgiebig von ihrem Recht gebrauch, qualifizierte
Kandidaten aus politischen oder anderen Gründen abzulehnen. Konservative mögen sich gern
auf Hegels Wort berufen haben, dass das preußische System jedem Bürger die Möglichkeit,
sich dem allgemeinen Stande zu widmen, garantiere, aber in der Praxis wurden mehr als die
Hälfte dieser Bürger aus Gründen, die nichts mit ihrer Befähigung zu tun hatten,
ausgeschlossen." (John C. G. Röhl, Beamtenpolitik im Wilhelminischen Deutschland, in: M.
Stürmer (Hrsg.): Das Kaiserliche Deutschland, 1970, S. 293).
In diesem Zusammenhang war auch die Konfessionszugehörigkeit wichtig. Das
protestantische Element war stark bevorzugt, weil es als absolut kaisertreu und
zuverlässig galt; seit dem Kulturkampf waren die Katholiken eher kritisch zu sehen.
Hinzu kam, dass sich das katholische Bildungsdefizit nachteilig auswirkte, so dass
Katholiken nur in Ausnahmefällen in dem höheren Beamtendienst des Reiches oder
(erst recht) Preußens zu finden waren: Ein extremes, aber tendenziell nicht untypisches
Beispiel war das preußische Innenministerium, in dem es im letzten Jahrzehnt des 19.
Jahrhunderts nur einen Katholiken gab - als Hausboten! Noch schwieriger war es trotz
bester fachlicher Qualifikation für ungetaufte Juden, im Staatsdienst unterzukommen
und Karriere zu machen. Selbst -getauften Juden gegenüber bestanden in allen
Bereichen der öffentlichen Verwaltung die größten Vorbehalte. Der latente
Antisemitismus der deutschen Gesellschaft um 1900 wurde hier deutlich.
Was für die allgemeine Beamtenschaft galt, traf für die Justizverwaltung -- die
Richterschaft - in einem noch höheren Maße zu. Durch Sozialisation und Ausbildung
war sie noch strenger auf die konservativen Werte des Bismarckreiches verpflichtet.
Wenn: man bedenkt, dass zahlreiche Beamte und Richter, die im Kaiserreich unter den
geschilderten Bedingungen ihre Sozialisation und Ausbildung durchgemacht bzw.
erhalten hatten, nach dem Systemwechsel 1918/19 in der Weimarer Republik ihren
Dienst weiter versahen, kann es einen nicht verwundern, dass die Loyalität dieser
Kreise gegenüber der für sie fremden und befremdlichen, im Grunde ihres
37
Herzens verhassten und abzulehnenden Demokratie und den neuen politischen und
gesellschaftlichen Machtverhältnissen nur schwach ausgebildet war. Die vielfach
belegten Beispiele einer "auf dem rechten Auge blinden" Klassenjustiz sind dafür nur
ein markantes Indiz, ,das nachdrücklich belegt, unter welcher schweren Hypothek die
Weimarer Republik in dieser Hinsicht zu leben hatte.
38
Das Militär
Dass dem Militär im preußisch-deutschen Reich eine mehr als nur dienende, sondern
deutlich bestimmende Rolle zukam, geht schon aus der verfassungsrechtlichen Stellung
hervor, die dem Militär eingeräumt worden war. In einem umfangreichen Abschnitt der
Verfassung (Art. 57-68) wird unter der Überschrift "Reichskriegs-Wesen" die
Heeresverfassung als ein zentraler Bestandteil der Reichsverfassung I normiert und
dabei die unmittelbare Unterstellung des Militärs unter den Kaiser besonders betont.
Aus der Entstehungsgeschichte der Verfassung weiß man, dass dieser Regelung gerade auch aus preußischer Perspektive -eine ganz besondere Bedeutung beizumessen
ist. "Ursprüngliche Absicht der Reichsverfassung" war nach Bismarcks eigener
Aussage, "den Kaiser in den Bestimmungen über die Stärke der Armee . . . frei und
unabhängig von Beschlüssen des- Reichstags hinzustellen." Konkret bedeutete dies,
dass die "Anordnungen des Kaisers in Kommandosachen von der ministeriellen
Gegenzeichnung" und damit der parlamentarischen Verantwortung freigestellt werden
sollten (H. U. Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918, 1973, S. 151).
Die Festlegung der Präsenzstärke der Armee, wie sie- u, a. mit dem "Septemnat" von
1874 - versucht wurde, bedeutete letztlich verfassungsrechtlich den "Vorbehalt des
Absolutismus gegen das parlamentarische System in militärischen Angelegenheiten"
(nach Wehler, a. a. 0., S. 150). Damit dürfte die spezifische Problematik deutlich
geworden sein: sie lag nicht in der Tatsache, dass das Deutsche Reich im Zeitalter des
Imperialismus wie auch die anderen nationalen Staaten Europas ein starkes Heer besaß;
dies lag durchaus im Verhalten der damaligen Staaten und in der Richtung ihrer
Interessen. Problematisch war vielmehr die unzureichende verfassungsrechtliche
Einbindung der Armee und des Militärs, ihre fehlende deutliche Unterordnung unter die
politische Führung. Zwar hat Bismarck selbst während seiner Regierungszeit dem
Militär eine eigenständige Rolle in der Politik zu - verwehren gewusst. Nach Bismarcks
Entlassung (1890) wird dies jedoch anders. Ansatzpunkt dafür wird die bereits aus der
preußischen Verfassungsentwicklung bekannte Unterscheidung zwischen den (durch
ministerielle Gegenzeichnungspflicht ausgezeichneten) Regierungsakten und den (der
ministeriellen Gegenzeichnungspflicht enthobenen) Kommandosachen, die dem König
bzw. Kaiser allein zustanden. Dieser Differenzierung, die im preußischen
Verfassungskonflikt der 60er Jahre eine große Rolle gespielt hatte, entsprach auf der
organisatorisch-instutionellen Ebene die Unterscheidung zwischen dem (dem Parlament
politisch verantwortlichen) Kriegsminister, dem die Militärverwaltung unterstand, dem
Kriegskabinett und dem Obersten Generalstab, die beide - allein dem König bzw.
Kaiser verantwortlich - für die militärischen Kommandosachen zuständig waren. Da es
sich weder beim Kriegsminister noch bei dem Kriegskabinett oder Obersten
Generalstab um eine Institution des Deutschen Reiches handelte; bestand in diesen
militärischen Bereichen keinerlei Mitsprachekompetenz des Reichskanzlers.
Nach Bismarcks Entlassung gelang es den militärischen Führungskreisen, den
Handlungsbereich des Kriegsministers wegen der lästigen parlamentarischen
Verantwortlichkeit immer weiter einzuschränken, dafür den Handlungsspielraum des
39
Militärkabinetts und des Obersten Generalstabs, beide parlamentarisch
unverantwortlich, weiter auszudehnen. Die damit gegebene Verschiebung der Gewichte
zwischen der politischen und der militärischen Führung im Deutschen Reich sollte sich
unter den schwachen Reichskanzlern der Wilhelminischen Ära immer bedenklicher
auswirken. Der berühmte Schlieffen-Plan, der eine Zweifrontenstrategie nach Westen
und Osten rein militärisch, d. h. ohne politische und diplomatische Rücksichten (etwa
gegenüber der Neutralität Belgiens und deren Garantie durch England) versuchte, ist
dafür ein besonders deutliches Beispiel. Von besonders gravierender Bedeutung war in
diesem Zusammenhang, dass sich Kaiser Wilhelm II. in seiner Neigung zum
"persönlichen Regiment" mehr und mehr unter. den unkontrollierbaren Einfluss der
militärischen Führung begab, bis es im Ersten Weltkrieg dann mit einer gewissen
Zwangsläufigkeit zu einer Militärdiktatur der Obersten Heeresleitung kam.
Mit dieser Entwicklung ist einer der Aspekte des preußisch-deutschen Militarismus
charakterisiert, den man als Dominanz militärischen Denkens über das politische
Denken definieren kann. Damit war aber das militaristische Syndrom des Deutschen
Reiches noch nicht in seiner ganzen Bedeutung angezeigt. Zu sprechen ist von einem
"sozialen Militarismus", dessen Eigentümlichkeit darin bestand, dass das Militärische
mit seinen Werten und Einstellungen die damalige deutsche Gesellschaft in einem
durchdringenden Maße bestimmte.
40
Die vorherrschende Leitfigur des "Reserveoffiziers" ist hierfür besonders
charakteristisch sowie die damit zusammenhängende Neigung bürgerlicher Kreise, bei
allen möglichen und unmöglichen gesellschaftlichen Anlässen und Gelegenheiten in
Uniform und mit Schleppsäbel zu erscheinen, und durch diesen Aufzug, dem
Militärischen zu huldigen. Diese wohl mehr unbewusste als bewusste, gleichwohl
eingeübte Verhaltensweise bürgerlicher Kreise der deutschen Gesellschaft vor 1914
signalisiert aufs anschaulichste, dass die militärische Dienstzeit (Wehrpflicht) für viele
eine
folgenreiche
Erziehungsepoche
war,
in
der
politisch-militärische
Werteinstellungen und Verhaltensweisen vermittelt und eingeübt wurden, die auch für.
das spätere zivile Leben dieser Bürger von maßgeblicher und prägender Bedeutung
bleiben sollten.
Schließlich darf bei der versuchten Einschätzung des Militärs und des Militärischen in
der deutschen Vorkriegsgesellschaft die Tatsache nicht übersehen werden, dass den
führenden Kreisen die Armee stets auch als ein Disziplinierungsinstrument für
potentiell innenpolitische Krisensituationen diente, wie sie in einem Zeitalter,
wachsender sozialer Spannungen durch eine entstehende Arbeiter- und
Gewerkschaftsbewegung durchaus vorstellbar waren (vgl. Dok. 3).
Alle diese verschiedenen Aspekte des deutschen Militarismus des Kaiserreiches wurden
wie in einem Brennspiegel konzentriert grell deutlich in der sog. "Zabern-Affäre" von
1913". Gemeint ist damit jener Vorgang in dem kleinen elsässischen
Garnisonsstädtchen Zabern, in dem der noch nicht volljährige Infanterie-Leutnant
Günter Freiherr von Forstnet seine Rekruten aufforderte, bei Händeln mit der
Zivilbevölkerung während des Stadtausgangs zur Verteidigung von der Waffe
Gebrauch zu machen, und noch eine Prämie von zehn Goldmark aussetzte; wenn dabei
ein "Wackes" (Schimpfwort für Elsässer) niedergestochen würde, so mache das weiter
nichts.
Dieser Skandal, der - durch die örtliche Presse publiziert - im Elsaß und im ganzen
Reich Empörung auslöste sowie die die Situation eher noch verschlimmernden
Reaktionen der militärischen Führung brachten den Reichstag zum Eingreifen; die
Affäre wurde zur parlamentarischen Auseinandersetzung über das Verhältnis der
politischen und militärischen Gewalt im Reich. Der Reichskanzler Bethmann-Hollweg,
der dafür eintrat, dass "der Rock des Königs . . . " unter allen Umständen respektiert
werden müsse, erlitt zwei Überraschende Abstimmungsniederlagen im Parlament. Aber
- und das ist das Symptomatische dieser Affäre - die parlamentarische Intervention
vermochte keine grundlegende Veränderung im Verhältnis der politischen zur
militärischen Gewalt herbeizuführen. Leutnant von Forstner wurde in der Berufung
freigesprochen. Dies sowie ein anderer Prozess aus dem gleichen Anlas zeigten
deutlich, dass die Militärgewalt nicht unter politischer und auch nicht untergerichtlicher
Kontrolle stand. Entsprechend versandete die Affäre.
"Das Versanden der Proteststimmung war . . . ein Ergebnis des gesellschaftlichen Militarismus
im Kaiserreich von 1871. Die soziale Prävalenz des Militärs, seine Stellung an der Spitze der
Gesellschaftshierarchie, die es auf Grund einer komplexen militär- und sozialgeschichtlichen,
auch zunehmend ideologisch unterbauten Entwicklung gewonnen hatte, wirkte ungemein
prägend auf die Sozialverfassung des preußisch-deutschen Kaiserreichs ein. Militärische
Verhaltensweisen und Wertvorstellungen wurden als verbindliche Sozialnormen von den
41
bürgerlichen Schichten übernommen, die nur zu häufig ihr Ziel in feudalisierten Lebensformen
sahen und zumindest den Prestigezuwachs aus der Institution des Reserveoffiziers anstrebten.
Sozialer Aufstieg setzte weitgehend die Anpassung an Verhaltensnormen und Ehrenkodex der
Militäraristokratie voraus. Eine von diesen sozialstrukturellen und ideologischen Gegebenheiten
bestimmte öffentliche Meinung konnte schlechthin keinen entschlossenen Widerpart gegen die
Auswüchse des Falles Zabern abgeben, da sie sonst in Friedenszeiten gegen grundlegende
formende Prinzipien der eigenen, bürgerlichen deutschen Gesellschaftsordnung hätten
revoltieren müssen." (H. U. Wehler: Krisenherde des Kaiserreichs, 1970, S.7819).
Aus diesen politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten heraus war es dem Militär
in der Zabern-Affäre gelungen, das zu erreichen, was der langjährige Chef des
Militärkabinetts, Wilhelm von Hahncke, 1895 gegenüber Kaiser Wilhelm II. als
Postulat aufgestellt hatte: dass nämlich die preußische Armee ein abgesonderter Körper
bleiben müsse, in den niemand mit kritischen Augen hineinsehen dürfe." (Zitat bei
Wehler, a. a. O. S. 79).
Interessenverbände
Wir sind heute geneigt, Interessenverbände als spezifische gesellschaftliche
Organisationen aufzufassen, die sich zur Vermittlung und Durchsetzung
gruppenspezifischer Interessen zwischen Gesellschaft und Staat herausgebildet haben
und insofern ein wichtiges Charakteristikum moderner pluralistischer Gesellschaften
und Demokratien sind.
42
Für die Tatsache indes, dass Interessenverbände auch schon in vordemokratischen
politischen Systemen entstanden und dort ein überaus reiches Betätigungsfeld fanden;
ist das Deutsche Reich von 1871 durchaus ein gutes Beispiel. Es belegt, wie sich
gesellschaftliche Interessenverbände sehr wohl auch die vordemokratischen, autoritären
Herrschafts- und Entscheidungsstrukturen eines politischen Systems für ihre Zwecke
dienstbar machen können, ohne dass sie ihrerseits einen sichtbar demokratisierenden
Einfluss auf die Strukturen und Prozesse dieses politischen Systems ausgeübt hätten.
Was die Entstehung derartiger gesellschaftlicher Interessengruppen betrifft, so sind für
die deutsche Geschichte zwei Phasen voneinander zu unterscheiden:
* Eine erste Phase (ab 2820), in der sich - meist auf staatliche Anregung hin gesellschaftliche Gebilde mit mehr, oder weniger öffentlich-rechtlicher
Aufgabenstellung im Bereich von Industrie, Handel, Handwerk und Landwirtschaft
herausbildeten. Sie übernahmen vielfach die Funktionen älterer Korporationen oder
Zünfte, die beim Eintritt der Gesellschaftsentwicklung in das Zeitalter der modernen
bürgerlichen Gesellschaft Funktion und Existenz verloren hatten. Wir haben es somit in
Deutschland fürs erste mit einem "staatlich gestifteten Pluralismus" (H. A. Winkler) zu
tun, der im öffentlich-rechtlichen Kammerwesen seine besonders klare Ausprägung
fand.
* Die zweite Phase der freien Verbandsbildung setzt erst nach der Reichsgründung
(1871) ein, sie setzt den vollen Durchbruch zur modernen Industriegesellschaft voraus
und hat vorwiegend zweikonkrete Entstehungsgründe: einmal den Übergang des
modernen Staates vom liberalen zum Interventions- und Leistungsstaat, der sich immer
aktiver. in die Gestaltung der wirtschaftlichen Prozesse einschaltet; zum anderen die
ökonomischen Krisenerscheinungen ab Mitte der 70er Jahre, deren Bewältigung für die
verschiedenen Bereiche der Wirtschaft ebenfalls zunehmend staatliche Hilfe
erforderlich machte. Beide Ursachen stehen natürlich in einem engen Zusammenhang.
Uns kann es hier nur um den Typus von Interessenverband gehen, wie er in dieser
zweiten Phase (nach 1875 etwa) im Deutschen Reich entstanden und zur Wirkung
gekommen ist. So bildeten sich, z. B 1876 der "Zentralverband deutscher Industrieller"
und der "Verein der Steuer- und Wirtschaftsreformer", letzteres eine einflussreiche
Gruppierung der Großagrarier. Rasche Industrialisierung und damit verbunden starker
sozialer Wandel, Entwicklung und Krisen der Produktion, die zunehmende
weltwirtschaftliche Verflechtung des Deutschen Reiches durch wachsende Exporte und
Importe, die umstrittene Frage von Freihandels- oder Schutzzollpolitik waren und
blieben für lange Zeit die entscheidenden Ursachen der Verbandsbildung und zugleich
die Hauptmotive verbandspolitischer Aktivitäten und Agitationen, die sich schon
damals sowohl auf Regierung und staatlicher Bürokratie als auch auf den Reichstag und
die Parteien wie schließlich auch auf die öffentliche Meinung im Deutschen. Reich
richteten.
Auch die Techniken, die diese Verbände zur Publizierung und Durchsetzung ihrer
Interessen anwandten gleichen im Grunde den heute üblichen Praktiken: bei den
politischen Parteien Einflussnahme auf die Kandidatenaufstellung, den Wahlkampf
durch Wahlempfehlungen an die jeweilige Anhängerschaft; Lobbyismus im Parla-
43
ment; direkter oder indirekter Einfluss auf Regierung und Ministerialbürokratie bis hin
zum Reichskanzler.
Gleichwohl gab es - im Vergleich zur Stellung und Funktion von Interessenverbänden
in einer heutigen pluralistischen Demokratie - doch charakteristische Unterschiede, die
die Problematik der Wirkung von Interessenverbänden im Deutschen Reich von 1914
deutlich machen. Am bedenklichsten war wohl die Tatsache, dass im innenpolitischen
Kräftefeld eindeutliches Ungleichgewicht der Interessenvertretung bestand. Während
die verschiedenen Arbeitgeberorganisationen von Industrie, Handel, Handwerk und
Landwirtschaft, deren konkrete Interessen oft widerstritten, staatlicherseits als legitim
anerkannt waren. und entsprechend ihrer Durchsetzungsfähigkeit staatliche
Berücksichtigung oder Förderung ihrer Interessen fanden, hatten die Arbeiter bei der
Organisation und Artikulation ihrer klassenmäßigen Bedürfnisse und Interessen von
Beginn an die staatliche Ordnung als Gegner.
Schon die ersten Ansätze zur Bildung einer deutschen Arbeiterbewegung im Vormärz
und im Umfeld der 48er-Revolution hatten stark unter staatlicher Repression zu leiden:
- So belegte z. B. die preußische Gewerbeordnung von 1845 (S.§ 181-185) die
Koalitionsfreiheit für Arbeiter mit Verbot.
- Auch als die preußische Verfassung 1850 die Vereinsfreiheit (wieder) herstellte, blieb
das Verbot von Arbeitnehmerorganisationen, die auch den Arbeitskampf als Mittel zur
Durchsetzung ihrer Ziele einzusetzen bereit waren, bestehen.
- Nach 1854 gab es im Bereich des Deutschen Bundes ein generelles Verbot für alle
Arbeitervereine, die "politische, sozialistische oder kommunistische Zwecke
verfolgten".
- Nach Gründung des Norddeutschen Bundes (1867) gab es durch die Gewährung einer
allgemeinen Koalitionsfreiheit für Arbeitgeber wie Arbeitnehmerorganisationen
zunächst eine kurze Phase der Besserung, in der sich rasch die (liberalen) "HirschDunckerschen Gewerkvereine" (1868) bildeten und analoge Versuche zur Gründung
verschiedener sozialistischer Gewerkschaften ereigneten.
Durch die ablehnende Einstellung der Sozialdemokraten gegenüber dem DeutschFranzösischen Krieg von 1870/71, durch :die Sympathierede August Bebels für die
(sozialistische) Pariser Commune (1871), durch den nachfolgenden Hochverratsprozeß
gegen A. Bebel und W. Liebknecht (1872), der; mit der Verurteilung der beiden
Arbeiterführer endete, entstand ein gespanntes Klima, das rasch neue Bereitschaft und
neue Möglichkeiten zur Behinderung und Unterdrückung von Aktivitäten und
Organisationen der Arbeiterbewegung schuf. Meist auf der Grundlage des sehr
restriktiv ausgelegten Vereinsrechts gab es laufend politische: und gerichtliche
Maßnahmen gegen sozialistische Personen, Gruppen, Versammlungen, so z. B. die
Auflösung sozialistischer Ortsvereine oder das Verbot sozialistischer Presseorgane:
Nach zwei (missglückten) Attentatsversuchen auf den deutschen Kaiser (am 11. Mai
1878 und am 2. Juni 1878), die den Sozialisten angelastet wurden, nutzte Bismarck die
Gelegenheit, im August 1878 das sog. "Sozialistengesetz" im Reichstag einzubringen,
das von den beiden konservativen Fraktionen und den Nationalliberalen
44
45
- gegen die Stimmen des Zentrums, der Fortschrittspartei und (natürlich) der
Sozialdemokraten am 18. August 1878 mit Mehrheit angenommen wurde und am 21.
Oktober des gleichen Jahres in Kraft trat (vgl. Dok. 4).
Das Sozialistengesetz, das - wie sein Titel sagt - "gegen die gemeingefährlichen
Bestrebungen der Sozialdemokratie" gerichtet war, sprach Verbote . aus gegen
Vereinigungen,
Versammlungen
und
Druckschriften,
die
im
Dienst
"sozialdemokratischer, sozialistischer oder kommunistischer Bestrebungen" standen
und die den "Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung" bezweckten,
hatte zunächst eine begrenzte Geltungsdauer von 2/2 Jahren, wurde dann aber --- auf
Antrag Bismarcks - viermal durch den Reichstag verlängert und galt bis 1890. Während
dieser zwölf Jahre unterlagen alle Aktivitäten der deutschen Arbeiterbewegung einer
scharfen polizeilichen und gerichtlichen Kontrolle, die die Arbeit von
Interessenvertretungen der Arbeiter in Form von Gewerkschaften ebenso behinderten
wie die Tätigkeit der Sozialdemokratischen Partei, beide Organisationsformen aber
nicht gänzlich auf Dauer unterdrücken konnten.
Als eine weitere Verlängerung des. Sozialistengesetzes über 1890 scheiterte,
entwickelten sich die Gewerkschaften bald zu beachtlich großen Massenorganisationen:
um 1900 hatten z. B. die Freien Gewerkschaften 680 000 Mitglieder, 1904 mehr als 1
Mill., 1910 mehr als 2 Mill. und 1913 betrug die Mitgliederzahl mehr als 2,5 Mill.
Hinzu kamen noch die Christlichen Gewerkschaften mit über 300 000 und die liberalen
Gewerkschaften mit über 100 000 Mitglieder. In zahlreichen Arbeitskämpfen und
Streiks kämpften sie erfolgreich für die Verbesserung der Lohn-, Arbeitsund
Lebensverhältnisse der Arbeiterklasse in Deutschland. Die sozialpolitischen Erfolge der
Gewerkschaften hatten u. a. auch einen politisch mäßigenden Effekt auf die
Sozialdemokratische Partei und stärkte den Reformismus derselben, der sich seit 1900
immer stärker durchsetzte.
Interessant und wichtig für die Gesamtentwicklung jener Epoche ist die Tatsache, dass
die staatliche Sozialpolitik, die in den 80er Jahren von Bismarck (auch) absichtsvoll
gegen die organisierte Arbeiterbewegung eingeführt wurde (um die Arbeiterschaft der
sozialistischen Bewegung zu entfremden), ihr keinen nennenswerten Abbruch tat. Unter
verschiedener Hinsicht ging die deutsche Arbeiterbewegung gestärkt aus der Periode
der Verfolgung und Unterdrückung durch das Sozialistengesetz hervor. Gleichwohl
bleibt natürlich aus der Sicht des Historikers festzuhalten, dass die geschilderten
Entwicklungen eine positive Integration der Arbeiterschaft in Staat und Gesellschaft des
Deutschen Reiches lange Zeit verhindert und "dadurch auch für später erheblich
erschwert haben. Die vielzitierte Redewendung Kaiser Wilhelm IL von den
"Vaterlandslosen Gesellen" ist dafür beredter Ausdruck. Es liegt nahe, zwischen dieser
Entwicklung und der Revolution von 1918/19 Zusammenhänge zu erkennen.
Neben dieser eklatanten und letztlich verhängnisvollen "Asymmetrie" der
Interessenrepräsentation zeigt das Verbandswesen des Deutschen Reiches vor 1914
noch eine zweite Problematik, die sich im Verlauf seiner Geschichte bis zum Vorabend
des Ersten Weltkrieges zunehmend verschärft und auf den Ausbruch dieses Weltkrieges
einen nicht zu unterschätzenden Einfluss ausgeübt hat: gemeint ist die Entstehung und
die Wirkung politischer Agitationsverbände, die aufs Ganze gesehen einen
verhängnisvollen Einfluss auf die politische Kultur der wilhelminischen Epoche gehabt
und auch wesentlich zur Vorbereitung und Verbreitung eines völkischen und
rassistischen Nationalismus beigetragen haben.
46
Gemeint sind damit solche Vereinigungen wie z. B.
- der "Deutsche Flottenverein" (1898-1934), der mit seinen. zeitweise 20000
Mitgliedern auch die Interessen der (am Flottenbau interessierten) Schwerindustrie
unterstützte,
- der "Deutsche Wehrverein" (1912-1935) der in der unmittelbaren Vorphase zum
Ersten Weltkrieg agitierend auf die Rüstungsdiskussion Einfluss nahm, - der "Deutsche
Ostmarkenverein" (1894-1935) mit seiner stark antipolnischen Ausrichtung,
- die "Deutsche Kolonial-Gesellschaft" (1887-1936), deren imperialistischexpansionistische Tendenz schon im Namen anklingt,
- und schließlich der berühmt-berüchtigte "Alldeutsche Verband" (1891--1939) mit
seinem extrem rechtsradikalen völkischen Nationalismus und Antisemitismus, seiner
pangermanistischen Lebensraum- und Weltherrschafts-Doktrin.
Die hier nur stichwortartig angedeutete ideologische und programmatische Ausrichtung
dieser die innerdeutsche Diskussion stark bestimmenden Agitationsverbände wirft
schon ein bezeichnendes Licht auf durchaus sozialdominante und zugleich -relevante
politisch-gesellschaftliche Grundströmungen des Kaiserreichs mit ihrem gefährlich
aggressiven Unterton gegenüber Minderheiten und ausländischen Mächten, die sich
dann im Ersten Weltkrieg in einer maßlosen Kriegszielpolitik konkretisieren sollten und
- da sie durchweg die Revolutionsepoche von 1918/19 als Organisationen überlebten zu einer schweren Belastung für . die Weimarer Demokratie werden mussten. Oder
anders gewendet: diese politisch agitativen Massenorganisationen waren zugleich
Ausdruck wie auch dynamische Kraft der antidemokratischen, antiparlamentarischen,
extrem chauvinistischen politischen Tendenzen im Deutschen Reich.
Politische Parteien
Die Anfänge politischer Parteien in Deutschland fallen in die Epoche der 48er
Revolution, In der Frankfurter Paulskirchenversammlung hatten sich, lockere politische
Gruppierungen gebildet, die: meist nach ihren Versammlungsorten (Gasthöfen und
Hotels) benannt, die wichtigsten politischen Ideenströmungen des damaligen
Deutschlands repräsentierten. Diese Ansätze zerfielen weitgehend mit dem Scheitern
der Nationalversammlung und ihres Verfassungswerkes. Für die nächsten zwei
Jahrzehnte konnten sich parteiähnliche politische Gruppenbildungen, die die
Ideenströmungen des Liberalismus, Konservatismus, Radikalismus, Sozialismus und
politischen Katholizismus verkörperten, lediglich auf einzelstaatlicher Ebene vollziehen
und
dort
entsprechend
dem Entwicklungsstand
und
-fortschritt
der
Verfassungsverhältnisse zur Wirkung gelangen. Zu überregionalen Parteibildungen kam
es erst wieder im Zusammenhang mit der Gründung des Norddeutschen Bundes (1867)
und des Deutschen Reiches (1871); aber auch danach blieb vielfach der regionale
Grundzug des deutschen Parteiwesens als Charakteristikum bestehen.
Für unsere begrenzte Fragestellung nach den Erscheinungsformen und Determinationen
des deutschen Parteiwesens von 1918 beschränken wir uns auf die
47
Parteienentwicklung im Deutschen Reich nach 1971. Als positiv ist hier festzuhalten,
dass die Bismarcksche Reichsverfassung, ohne Parteien direkt zu erwähnen, ihre
Existenz und Wirkung im Grunde voraussetzte. Es wurde den Parteien in zweifacher
Hinsicht eine wichtige politische Rolle eingeräumt: einmal bei den Reichstagswahlen,
zum anderen im Reichstag. Diese Feststellung trifft auch dann zu, wenn man
berücksichtigt, dass das Bismarcksche System nur einen begrenzten Parlamentarismus
zuließ, in dem die Parteien (noch) keine echte Beteiligung an der Regierungsbildung
kannten: Von ihrer soziologischen Struktur her handelte es sich bei diesen Parteien mit Ausnahme der Sozialdemokratie - zunächst durchweg um "Honoratiorenparteien"
ohne ausgeprägte und dauerhafte Parteiorganisation und -bürokratie; sie hatten ihren
Kern in den Parlamentsfraktionen und traten zunächst lediglich zu den
Reichstagswahlen
in
den
einzelnen
Wahlkreisen
zum
Zwecke
der
Kandidatenaufstellung und des Wahlkampfes als "Wahlkomitees" oder (wie das
Wahlgesetz definiert) als "Wahlvereine" auf.
Ihre Wirkung auf die öffentliche Meinung ging wesentlich von den ihnen
nahestehenden überregionalen Presseorganen aus: z. B- für die Deutsch-Konservativen
durch die "Neue Preußische Zeitung", auch "Kreuzzeitung" genannt, für die
Freikonservativen durch die "Post", für die Nationalliberalen durch die
"Nationalzeitung" und die "Kölnische Zeitung", für die Linksliberalen durch die
"Vossische Zeitung" die "Frankfurter Zeitung" und das "Berliner Tageblatt", für das
Zentrum durch die "Germania" und für die SPD durch den "Vorwärts"; diese parteiliche
Meinungsbildung wurde noch durch zahlreiche regionale Parteizeitungen multipliziert
und verstärkt. Dass die politischen Parteien durch ihre Arbeit bereits einen
erwähnenswerten Mobilisierungseffekt unter der Wählerschaft zu erzielen vermochten,
darf man wohl aus der stetig zunehmenden Beteiligung bei den Reichstagswahlen
ablesen: lag die Wahlbeteiligung 1871 noch bei gerade 50% und 1884 noch bei 60 %,
so stieg sie danach rasch an: 1887 betrug sie schon über 77 % und zwischen 1907 und
1912 lag sie schließlich bei über 84 % der Wahlberechtigten.
Parallel dazu hatten, die Parteien wachsende Mitgliederzahlen zu verzeichnen: Die
Sozialdemokratische Partei steigerte ihre Mitglieder von 1876 bis 1906 von 38000 auf
384000, 1912 war die Zahl bereits auf 983000 gestiegen. Entsprechend stieg die Zahl
sozialdemokratischer Wähler an: 1878: 437000, 1907:3259000, 1912:4250000 Wähler.
Die Organisationsdichte der Partei, d. h. die Zahl der Mitglieder auf 100 Wähler stieg
Non 9% (1878) auf 23% (1912).
Aber auch die bürgerlichen Parteien verfügten, zum Teil durch die Wirkung von:
Hilfsorganisationen; über eine beachtliche Organisationsdichte: z. B. das Zentrum 1912
bei rd. 2 Mill. Wählern über rd. 800 000 Mitglieder des ihm zuarbeitenden
"Volksvereins für das katholische Deutschland", d. h. 40 %. Auch die
Deutschkonservativen erreichten 1912 mit Unterstützung des "Bundes der Landwirte"
(300000 Mitgl.) 1,493 Mill. Wähler, was rd. 20 % Organisationsdichte bedeutete.
Durch diese Beziehungen der Parteien zu zahlenmäßig großen und mächtigen
Interessenverbänden öffneten sich die politischen Parteien immer mehr den sozialen
und ökonomischen Interessen; sie verloren den anfänglichen Charakter von reinen
"Weltanschauungsparteien" und wurden zu "Interessenparteien" mit stark gruppen- oder
klassenspezifischer Orientierung.
48
Sieht man einmal von den eigentümlichen regionalen Parteibildungen und den
verschiedenen Parteiabsplitterungen ab, so haben wir es im Kaiserreich aufs Ganze
gesehen mit einem Mehrparteiensystem zu tun, dessen Spektrum von den rechten
"Deutsch-Konservativen" und Freikonservativen" über die "Nationalliberalen", das
"Zentrum" und die "Linksliberalen" bis zur linken "Sozialdemokratie" reichte.
Die anfängliche Polarisierung und Unterscheidung durch Bismarck in
"reichsfreundliche" (konservative und nationalliberale) Parteien und "reichsfeindliche"
(linksliberale, Zentrum und sozialdemokratische) Parteien verlor später ihren Sinn.
Abgesehen von der SPD, die erst allmählich durch den aufkommenden Revisionismus
aus einer systemfeindlichen zu einer systemimmanenten Oppositionspartei wurde,
hatten alle anderen Parteien unter den verschiedenen Reichskanzlern je nach der
politischen Konstellation und Problemlage mal mehr die Rolle von "Regierungs-", mal
mehr von "Oppositionsparteien", zwischen denen auch jeweils koalitionsähnliche
Verbindungen bestehen konnten.
Wenn wir es aufgrund der eigentümlichen Verfassungstruktur des Bismarckreiches
noch nicht mit einem parlamentarischen Regierungssystem und insofern auch noch
längst nicht mit einem modernen "Parteienstaat" zu tun haben, so haben die politischen
Parteien -- im Rahmen der von der Verfassung ihnen gebotenen Möglichkeiten - ihren
Handlungsspielraum auszunutzen und auch auszuweiten versucht, ohne indes auch nicht zuletzt aus Angst vor der wachsenden Sozialdemokratie - entschieden auf eine
Vollparlamentarisierung des Reiches hinzuwirken.
Kurzcharakteristik der einzelnen Parteien:
- Die "Deutschkonservative Partei", 1876 gegründet, vertrat einen ziemlich
reaktionären Konservatismus, der sein soziales Fundament fast ausschließlich im
preußischen Ostelbien besaß. Bis zu Bismarcks Entlassung (1890) war diese Partei
regierungstreu, danach geriet sie in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen immer
öfter in Konflikt und Opposition mit der Regierung. Durch ihr sog. "Tivoli-Programm"
von 1892 konnte sie sich der Unterstützung des agitationsstarken und einflussreichen
"Bundes der Landwirte" versichern und dadurch. ihre soziale Basis erheblich erweitern.
Im Unterschied dazu verband die Freikonservative Partei agrarische und industrielle
Interessen, blieb in ihren sozialpolitischen Vorstellungen gleichwohl strikt
patriarchalisch orientiert und stand der modernen Arbeiterbewegung mit ihren
Forderungen nach sozialer und politischer Emanzipation durchweg verständnislos und
feindlich gegenüber.
Die liberale Bewegung in Deutschland fand selten zur Einheit. Nach der 48er
Revolution spaltete sie sich in eine national- und eine linksliberale Richtung. Die
Nationalliberale Partei war von 1867 bis 1878 die politische Partei, auf die sich im
Reich wie in Preußen Bismarck bei seinen Bemühungen um Herstellung und Aufbau
der nationalen Einheit stützen konnte, nachdem ihm die Konservativen hierbei die
Gefolgschaft weitgehend versagten. Bei den Nationalliberalen war das industrielle
Großbürgertum sowie das protestantische Akademikertum, mithin "Besitz und Bildung"
repräsentiert.
Aus
verschiedenen,
vorwiegend
wirtschafts-
49
und sozialpolitischen Gründen lockerte sich in der zweiten Hälfte der 70er Jahre das
Bündnis mit Bismarck. 1877/78 kam es über der neuen Wirtschaftspolitik zum Bruch.
Politisch traten die Nationalliberalen für einen machtvollen deutschen Nationalstaat ein,
für eine rechtsstaatliche und konstitutionelle Demokratie, die unter den europäischen
Großmächten dank ihrer wirtschaftlichen und militärischen Potenz einen
hervorragenden Platz einnehmen, sollte. Deshalb bejahten sie später aktiv die
imperialistische Kolonialpolitik und entsprechend die Flottenpolitik des Deutschen
Reiches, vertraten auch innenpolitisch gegenüber den dänischen und polnischen
nationalen Minderheiten im Deutschen Reich einen strikt deutsch-nationalen
Standpunkt.
Der Linksliberalismus litt besonders unter vielen Krisen und Spaltungen, bedingt durch
die individualistischen Führungspersönlichkeiten der Partei. Da die Linksliberalen
weniger interessen- als ideenbezogene Politik vertraten, konnten sie eigentlich keine
Massenbasis gewinnen. Ihre Mitgliedschaft setzte sich überwiegend aus freien Berufen
und Intelligenz sowie bürgerlichem Mittelstand zusammen. Während der längsten Zeit
des Kaiserreichs gab es mehrere linksliberale Parteien: Deutsche Freisinnige Partei,
Deutsche Volkspartei, Freisinnige Vereinigung und Freisinnige Volkspartei. Erst 1910,
gelang die Vereinigung zur Fortschrittlichen Volkspartei. Erst um diese Zeit öffnete
sich - vornehmlich durch die Aktivitäten Fr. Naumanns - der Linksliberalismus auch
den aktuellen sozialpolitischen Fragen und Problemen.
Im überwiegend protestantisch bestimmten Deutschen Reich musste sich der politische
Katholizismus als Repräsentant einer bedeutenden Bevölkerungsminderheit im Zentrum
neu formieren. In der frühen Phase des Kulturkampfes, in dem Bismarck u. a.
versuchte, das Zentrum zum ultramontan (d: h. auf Rom und den Papst) orientierten
"Reichsfeind" abzustempeln, gewann die Partei organisatorische und politische
Festigkeit. Später, nach Ende des Kulturkampfes, nahm das Zentrum - nicht zuletzt
wegen seiner zentralen Position - im Parteiensystem des Kaiserreiches eine
Schlüsselposition ein. Von nur kurzen Unterbrechungen abgesehen unterstützte es
durchweg die Politik der verschiedenen Reichskanzler. Im klaren Unterschied zu den
anderen Parteien war das Zentrum keine Klassenpartei,. sondern repräsentierte -- auchin verschiedene Flügel gegliedert - die gesamte katholische Bevölkerung mit ihren
regionalen Schwerpunkten, im Westen und Süden des Reiches. Dabei wurde es
unterstützt durch den ausgebauten Verbandskatholizismus mit seinen Kolpings- und
Bauernverbänden. Nach 1895 fand es eine noch größere Massenbasis durch den
"Volksverein für das katholische Deutschland" und die christlichen Gewerkschaften
und erzielte bei den Reichstagswahlen konstante, Stimmenanteile um 20 %.
Am schwersten hatte es die Sozialdemokratie als politische Organisation der deutschen
Arbeiterbewegung, sich unter den restriktiven Bedingungen des Deutschen Reiches als
politische Partei durchzusetzen. Die Sympathieerklärung Bebels für die Aufständischen
der französischen Commune mit ihrem Hinweis, der Pariser Aufstand sei nur "ein
Vorpostengefecht" ließ die Regierung und weite Teile der bürgerlichen Gesellschaft
eine gewaltsame sozialistische Revolution befürchten, gegen die die Staatsgewalt
Vorkehrungen Zu treffen hatte. Als sich die getrennten Richtungen der Lassalleaner
50
und Marxanhänger schließlich vereinigten und so die Arbeiterbewegung stärkten, stellte
die Regierung sie durch das Sozialistengesetz unter Ausnahmerecht. Erst 1890, als
dieses Gesetz nicht mehr verlängert wurde, konnte die Sozialdemokratie sich als
politische Kraft freier entfalten; indem sie ihre vielfältigen Organisationen ausbauten
und bei den Reichstagswahlen wachsende Erfolge erzielten. Gleichwohl blieben die
Sozialdemokraten als "vaterlandslose Gesellen" vielfach diskriminiert, mehrfach wurde
von Regierungsseite der Versuch gemacht, das Sozialistengesetz - etwa durch die
"Umsturzvorlage" (1894) und die "Zuchthausvorlage" (1899) - zu erneuern (vgl. Dok.
5).
51
52
Es war schon erwähnt worden, dass die Bismarcksche Sozialpolitik der 80er Jahre nicht
zuletzt auch das politische Ziel verfolgte, die Arbeiterschaft von der Sozialdemokratie
zu trennen. Beides - Unterdrückungsmaßnahmen und politisch motivierte Sozialpolitik hatten indes keinen Erfolg: die deutsche Arbeiterbewegung um 1900 war die größte und
stärkste in Europa, ihre politische Vertretung, die SPD, gewann - trotz einer extrem
ungünstigen Wahlkreiseinteilung- von Mal zu Mal bei den Reichstagswahlen mehr
Stimmen und Mandate; bereits 1890 erhielt sie mit 19,8 % die meisten Wählerstimmen,
denen aber nur 8,8% (= 35) der Sitze entsprachen. Erst 1912; bei der letzten
Reichstagswahl vor Ausbruch des Weltkrieges, überrundete sie mit 27,7 % der Sitze (=
110), das Zentrum und wurde damit auch stärkste Fraktion im Reichstag (vgl. Dok. 6).
Der Wandel der politischen Rahmenbedingungen sowie der wachsende
parlamentarische Erfolg zeitigte allmählich innerparteiliche Folgen. Zuerst in den
süddeutschen Ländern (vor allem in Bayern durch das Wirken von G. v. Vollmar), dann
auch in Preußen und im Reich vollzog sich ein programmatischer Anpassungsprozeß
der Sozialdemokratie, der unter dem Namen ;,Revisionismus" bekannt ist. So- erkannte
z. B. E. Bernstein in den 90er Jahren, dass grundlegende Annahrnen über die
ökonomische, soziale und damit auch politische Entwicklung der kapitalistischen
Gesellschaften, wie sie Mark in seinen Schriften als gültig formuliert hatte, nicht
eintraten und am Ende des Jahrhunderts überholt waren. Daraus leitete Bernstein die
Folgerung ab, dass die Sozialdemokratie, durch die allgemeine Entwicklung begünstigt,
ohne gewaltsame Revolution -und Umsturz unaufhaltsam stärker werden und damit
zwangsläufig an die politische Macht kommen werde. Diese revisionistischen
Anschauungen blieben in der SPD, gerade auch in ihrer Führung, lange umstritten,
setzten sich aber je länger je mehr durch und bestimmten immer stärker das allgemeinpolitische und speziell-parlamentarische Verhalten der SPD vor dem Ersten Weltkrieg:
aus einer strikt systemfeindlichen, marxistisch revolutionären Partei war - aufs Ganze
gesehen - eine revisionistische oder reformistische Partei geworden, die versuchte, ihre
sozialen und politischen Ziele im Rahmen der bestehenden politischen und
gesellschaftlichen Ordnung durch deren Weiterentwicklung und Demokratisierung auf
legalem Weg zu erreichen.
53
Gesellschaft und politische Kultur
In den voranstehenden Abschnitten ist versucht worden, die politischen Kräfte zu
charakterisieren, von denen anzunehmen ist, dass sie die politische Realität des
Deutschen Reiches vor dem Ersten Weltkrieg maßgeblich geprägt und insofern zugleich
auch wichtige Vorprägungen (es wird hier absichtlich das wertneutrale Wort
verwendet) der Weimarer Republik bewirkt haben.
Das so gewonnene Bild bedarf allerdings noch einiger Ergänzungen und der
Abrundung. Vor allem muss darauf hingewiesen werden, dass diese politischen Kräfte
nicht isoliert zu sehen sind; sie sind letztlich alle zusammen komplexer Ausdruck und
auch Repräsentant der Gesamtrealität des Deutschen Reiches, seiner Gesellschaft, ihrer
Gliederung in Klassen und Schichten, so wie ihrer politischen und sozialen
Einstellungen, Werthaltungen und Verhaltensweisen, kurz: ihrer politischen Kultur.
Diese gesellschaftliche Gesamtrealität sowie ihre politische Kultur genau zu erfassen,
ist -- aus heutiger Sicht - nicht eben leicht. Es seien daher hier abschließend nur einige
Grundzüge hervorgehoben, die für unser Thema relevant sind.
Fürs erste wird man festhalten -müssen, dass die deutsche Gesellschaft im letzten
Drittel des 19. Jahrhunderts und danach bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges einen
sehr beschleunigten Wandel durchgemacht hat, der durch seine Rapidität und
Radikalität das auffallend ambivalente Bild dieser Gesellschaft entscheidend
mitbestimmt hat. Wichtig ist dafür nicht nur die Tatsache eines rasanten
Bevölkerungswachstums in dieser Epoche: Von 1871 rd. 41 Mill. auf 65 Mill.1910,
sondern auch der rasch zunehmende Grad der Verstädterung: lebten 1871 noch 63,9 %
der deutschen Bevölkerung in Gemeinden unter 2000 Einwohnern und nur 4,8% in
Großstädten mit mehr als 100 000, so 1910 nur noch 40 % in den kleinen Gemeinden
und bereits 21,3 % in Großstädten. Auch die Einwohnerzahl der mittleren Städte
(zwischen 20000-100000) hatte sich in der gleichen Zeit von 12,5% auf 34,7% der
Gesamtbevölkerung vergrößert.
Es bedarf keines besonderen Hinweises darauf, dass diese Urbanisierungsprozesse
kausal mit der Industrialisierung des Deutschen Reichs zusammenhängen; denn in der
Zeit von der Reichsgründung (1871) bis 1914 wurde das Deutsche Reich aus einem
Agrar- zu einem - auch im internationalen Vergleich - mächtigen Industriestaat.
Zunehmend mehr Arbeitnehmer fanden in den neuen Produktionsbereichen Arbeit und
Brot; der Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten ging stark zurück: waren es
180 noch rd. 50 % und auch 1882 noch über 40 %, so sank dieser Anteil bis 1907 auf
nur noch rd. 28,6%; gleichzeitig nahm der Anteil der Beschäftigten in Industrie und
Bergbau von 35,5 % (1882) auf 42,8 % (1907 und in Handel, Verkehr und
Dienstleistungen von 22% (1882) auf 28,6% (1907) zu. Entsprechend verlagerte sich
auch die Wertschöpfung in der Produktion: 1870 hatte der Anteil der
Landwirtschaftsproduktion noch rd. 40% betragen, der von Industrie und Handwerk
26%; 1913 hatte sich das Bild verkehrt: der landwirtschaftliche Anteil sank auf 23 %,
der von Industrie und Handwerk stieg auf 41 %.
Mit, dieser Verschiebung in der Beschäftigung und Produktion einher ging eine starke
Binnenwanderung - zum Teilzusätzlich zu der nach wie vor starken Auswanderung
54
etwa nach Amerika - aus den östlichen Agrargebieten in. die westlichen
Industriegebiete des Deutschen Reiches, wodurch, sich der Urbanisierungsprozeß
verstärkte.
55
So besehen war die Gesellschaft des Deutschen Reiches um 1900 in mehr, als einer
Hinsicht eine Gesellschaft des Umbruchs, die vielfältige und deutliche Spannungen und
Konfliktlinien zwischen traditionellen und modernen Strukturen aufwies. Es ist ohne
weiteres
einsichtig,
dass
derartige
tiefgreifende
ökonomische
soziale
Wandlungsprozesse ihre unausweichlichen Auswirkungen auf die Einstellungen und
Werthaltungen, aber auch Verhaltensweisen der Bevölkerung u. a. auch gegenüber der
Politik zur Folge hatten. Die Darstellung der politischen Kräfte hat dazu bereits einige
Aspekte geliefert. Auch hierbei zeigte sich häufig ein ambivalenter Charakter, der - je
nach Standpunkt des Beobachters oder Kritikers zu recht unterschiedlichen
Bewertungen Anlas geben kann. Diese Zwiespältigkeit gilt auch für das Gesamtbild der
deutschen Gesellschaft jener Epoche. Sie ergibt sich eben aus dieser angedeuteten
Situation, des gesamtgesellschaftlichen Umbruchs und ist zugleich auch Ursache für die
unausgeglichene politische Kultur im kaiserlichen Deutschland.
Aus heutiger Sicht ist diese politische Kultur eindeutig als "vordemokratisch" zu
bezeichnen. Sowohl die Strukturen des politischen Systems als auch die
vorherrschenden politisch-sozialen Kräfte bestimmten und determinierten die politische
Kultur in dieser Richtung und ließen eine demokratische Entwicklung derselben nicht
zu.
Das trifft im besonderen Maße für die systemtragenden Eliten des Kaiserreichs zu: für
den konservativen Adel als traditionelle Führungsschicht in Preußen-Deutschland; für
das Militär, dessen Wertsystem und entsprechende Verhaltensweisen in der deutschen
Gesellschaft nicht nur allgemeine Anerkennung fanden, sondern zugleich ein hohes
Maß an Vorbildlichkeit auch für die politischen Orientierungen des deutschen
Bürgertums besaßen: schließlich für die Beamtenschaft, die sich dem monarchischkonstitutionellen Obrigkeitsstaat zu Treue verpflichtet fühlte und entsprechende
systemkonforme Wertüberzeugungen und Verhaltensweisen zeigte.
Aufgrund ihrer strategischen Position im politisch-sozialen Gesamtsystem konnten
diese Eliten aus ihrem Selbstverständnis heraus an einer Weiterentwicklung der
Verfassungsordnung des Kaiserreichs in Richtung auf Vollparlamentarisierung oder gar
Demokratisierung prinzipiell und auch mit Rücksicht auf die Erhaltung ihrer
Machtposition in Staat und Gesellschaft nicht interessiert sein; sie stellten sich daher bis
zuletzt entschlossen gegen alle Veränderungstendenzen.
Wichtig und folgenreich für die deutsche Entwicklung vor dem Ersten Weltkrieg war
jedoch darüber hinaus, dass auch die bürgerliche Gesellschaft in ihren überwiegenden
Teilen keinen nennenswerten Antrieb verspürte, dem westlichen Vorbild
parlamentarisch-demokratischer
Verfassungsentwicklung
nachzueifern.
Das
monarchisch-konstitutionelle System der Bismarck-Verfassung galt ihnen in der,
erreichten Fassung als der besondere, "Deutsche Weg" zum modernen
Verfassungsstaat; man hielt ihn gegenüber den westlichen Formen parlamentarischer
Demokratie für besser und überlegener. Zudem befürchtete man bei einer
parlamentarisch-demokratischen Öffnung dieser Verfassungsstruktur die Gefahr einer
sozialdemokratischen Machtübernahme mit unabsehbaren revolutionären Folgen für die
soziale und ökonomische Machtverteilung im Deutschen Reich. Es gab nur wenige
56
intellektuelle Kritiker, die trotz allem eine parlamentarisch-demokratische
Weiterentwicklung der deutschen Verfassung für notwendig und unabdingbar hielten.
Aber auch diese mussten angesichts der vorherrschenden Kräfte und ihrer politischen
Überzeugungen resigniert, feststellen, dass die geistig-politischen Voraussetzungen für
eine derartige, am Westen orientierte Verfassungsentwicklung in Deutschland
weitgehend fehlten. So wenn z. B. Fr. Naumann wiederholt skeptisch feststellt:
"So gewiss, dass sich das deutsche Volk eine Beseitigung seines Parlamentarismus nicht wird
gefallen lassen, weil er keine unkontrollierte Reichsregierung ertragen will, so sicher scheint
leider bis jetzt auch das andere zu sein, dass der Wille, dem Parlament zur politischen Führung
zu verhelfen, nicht vorhanden ist, nicht einmal in der Sozialdemokratie . . . Nicht einmal gegen
das preußische Schattenbild eines Volkswillens erhebt sich starke Leidenschaft. Die Leute
sagen sich: Wozu sollen wir uns für ein parlamentarisches Regiment totschießen lassen, da wir
nicht wissen, was es leisten wird?"
Und an anderer Stelle:
"Man kann also im Prinzip der denkbar reinste Demokrat sein und muss doch zugeben, dass in
der gegenwärtigen Epoche die reine demokratische Formel für Deutschland eine geschichtliche
Unmöglichkeit ist."
Schließlich:
"Es fehlt infolge der Zerfahrenheit unseres Parteiwesens bei den meisten Volksvertretern
überhaupt der Wille zur Macht. Das ist eine traurige Erfahrung dieser Woche, keine neue
Erfahrung, wo wir an die Regierungsfähigkeit des Kaisers nicht mehr in alter Weise glauben
können und doch dabei die Regierungsunfähigkeit der Volksvertretung vor Augen haben."
Zu einer politisch, relevanten Veränderung dieser überwiegenden Einstellungen zum
bestehenden politischen System kam es in Deutschland erst in der zweiten Phase des
Ersten Weltkrieges, als die verhängnisvollen Auswirkungen einer autoritären
Regierungsweise in den Leiden des Kriegsgeschehens immer deutlicher wurden.
Erster Weltkrieg
1. Entwicklung bis 1916
Für die Zwecke unserer begrenzten Fragestellung können wir darauf verzichten, die
komplizierte und nach wie vor umstrittene Entstehungsgeschichte des Ersten
Weltkrieges hier aufzurollen. Ob es von deutscher Seite ein Verteidigungskrieg war,
aufgezwungen von der russischen "Dampfwalze", oder ob ihn ein deutscher "Griff nach
der Weltmacht" (Fr. Fischer) auslöste oder ob die imperialistisch orientierten und hoch
aufgerüsteten europäischen Mächte eher zufällig in die Katastrophe hineingeschlittert
sind.
Wichtiger ist für uns zu beschreiben, welche innen- und verfassungspolitischen
Auswirkungen der Krieg im Deutschen Reich hatte und welche Vorprägungen oder
Vorbelastungen von ihm auf die folgende Epoche der Weimarer Republik ausgingen.
57
Sicher ist, dass "mit Ausbruch des Weltkrieges . .. sogleich jene innenpolitische
Belastung einer Verfassungssituation ein(setzte), die Einsichtige durch eine rechtzeitige
Reform gar nicht erst aufkommen lassen wollten" (Th. Eschenburg).
Mit Ausbruch der Feindseligkeiten und Kriegshandlungen musste der Kriegszustand
ausgerufen werden; damit ging die oberste vollziehende Gewalt im Deutschen Reich
auf die Militärbefehlshaber über (vgl. Dok. 8).
Am 1. August 1914 hatte Kaiser Wilhelm II., vom Balkon des Berliner Schlosses mehr beschwörend - ausgerufen: "Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch
Deutsche!" Die darin anklingende Sorge, die innenpolitischen Gegensätze könnten jetzt
- unter der außenpolitischen Belastung - erst recht ausbrechen, erwies sich als
unbegründet. Denn unter der fast allgemeinen Annahme, Deutschland habe einen
Verteidigungskrieg in einem ihm aufgezwungenen Krieg zu führen, war die Einheit der
Nation über alle innenpolitischen Frontierungen . hinweg erstaunlich groß; selbst die
Sozialdemokraten willigten - unter Anerkennung der Pflicht der Vaterlandsverteidigung
- in den allgemeinen "Burgfrieden" ein; die Regierung stellte ihrerseits alle
diskriminierenden Maßnahmen gegen die Linke ein. Die Kriegskredite wurden vom
Reichstag mit überwältigender Mehrheit bewilligt.
Es gab merkwürdigerweise im Deutschen Reich - trotz der starken militärischen
Tradition und Macht - keine hinreichenden gesetzlichen Grundlagen für die umfassende
organisatorische Durchführung eines Kriegszustandes. In der Anfangs-Phase musste
daher viel improvisiert werden; die Koordination der Maßnahmen ließ viel zu
wünschen übrig.
58
59
2. Epoche der Kriegswirtschaft
Erst Ende 1916 (!) trat das "Gesetz über den Kriegszustand" in Kraft das u. a. einen
Obermilitärbefehlshaber mit der Koordination und Kontrolle aller kriegsbezogenen
Maßnahmen und Anstrengungen beauftragte. Vorher hatte man versucht, durch eine
Fülle von Einzelgesetzen und -verordnungen Kriegsrüstung, Kriegswirtschaft,
Kriegsleistungen, Arbeitseinsatz sowie die Volksernährung zu organisieren und
sicherzustellen. Zahlreiche neue Verwaltungen und Dienststellen (z. B. die
"Kriegsgetreidegesellschaft", das "Reichswirtschaftsamt" oder das "Reichsarbeitsamt")
entstanden, deren Kompetenzen sich vielfach überschnitten, so dass militärische und
zivile Verwaltung in Konflikt gerieten. Wichtig für die spätere Zeit ist, dass auch die
Gewerkschaften in diese Organisation des Wirtschafts- und Soziallebens einbezogen
wurden und erstmals gesetzlich als Vertretung der Arbeiterschaft anerkannt wurden.
Schon früh zeigte sich der Kaiser als unfähig, die politische Führung auch gegenüber
der militärischen geltend zu machen. Der Mangel an politischer Führung wurde mehr
und mehr offenbar.
Unter dem Druck der Volksmeinung musste Kaiser Wilhelm IL im August 1916 die im
Osten siegreichen Heeresführer Hindenburg und Ludendorff an die Spitze der Obersten
Heeresleitung (OHL) stellen. Von da an war Hindenburg bis Kriegsende der.
eigentliche "Kriegskaiser" und Ludendorff sein eigentlicher "Regierungschef".
60
"Der durch die Kriegsverlängerung bedingte Demokratisierungsprozess hatte nicht zu einer
Verfassungswandlung im demokratischen Sinne, sondern zu einer Verfassungsänderung in der
anderen Richtung geführt; es war durch Verzicht von Kaiser und Kanzler, durch Übergehen von
Reichstag und Bundesrat, die sich damit abfanden, eine legale Militärdiktatur entstanden. Die
Auctoritas des ruhmreichen und höchst populären Feldherrn Hindenburg verband sich mit der
potestas des militärischen Organisators Ludendorff zur obersten staatlichen Gewalt." (Th.
Eschenburg).
In allen wichtigen Entscheidungen musste sich hinfort der Kaiser den Militärs beugen
und fügen. So zwangen sie ihn u. a. zur Entlassung des Reichskanzlers BethmannHollwegs (1917) und verschiedener anderer Persönlichkeiten aus dem engsten
Mitarbeiterstab des Kaisers. Die extremen Bestimmungen des mit Russland
geschlossenen Friedens von Brest-Litowsk wurden von ihnen durchgesetzt.
Im Reichstag fand die OHL für diese Politik durchaus Unterstützung: bei den
Konservativen, den Nationalliberalen und (zunächst auch) bei Zentrum; lediglich
Sozialdemokraten und Linksliberale stellten sich ihr mit ihren Forderungen nach einem
raschen Friedensschluss, nach einem Verständigungsfrieden ohne Annexion und nach
einer baldigen Verfasungsreform im Reich und in Preußen (erfolglos) entgegen. Erst als
der Krieg an den Fronten vollends in den Grabenkämpfen steckenblieb, als sich die
Versorgungslage der Zivilbevölkerung immer weiter verschlechterte, als sich
dementsprechend das Misstrauen des Volkes gegen die mehr und mehr versagende
Obrigkeit und die allgemeine Unzufriedenheit steigerte, die althergebrachte
obrigkeitliche Bindung des Bürgers an den Staat erschüttert wurde, formiert sich
allmählich auch im Reichstag die Opposition. Auslösendes Moment ist die
Verkündigung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges 1917, die den Eintritt der USA
in den Krieg zur unmittelbaren Folge hatte (vgl. Dok. 9 - 18).
3. Auflösung des Regimes
Jetzt formulieren die sozialdemokratische, die linksliberale und die Zentrumsfraktion
im Reichstag auf Initiative von M. Erzberger (Zentrum) eine Friedensresolution. Ende
März 1917 wird auf Antrag der SPD-Fraktion ein Parlamentsausschuss für
Verfassungsreform gebildet, der die Parlamentarisierung des Reiches sowie die
Abschaffung des preußischen Dreiklassenwahlrechts befürwortet. Seine Vorschläge
geraten aber auf die lange Bank; es fehlt den beteiligten Fraktionen, obwohl sie im
Reichstag über die Mehrheit verfügen, an politischem Willen zur Durchsetzung ihrer
Vorstellungen. Hugo Preuß, ein kritischer Beobachter dieser Zeitverhältnisse; schrieb
im September 1917 dazu:
"Aber ... die Parteien wissen sich, wie sie nun einmal unter diesen Umständen geworden sind,
nicht anders zu helfen, als indem sie alle Verantwortlichkeit einer politischen schöpferischen
Initiative der Obrigkeitsregierung zuschieben. So erklärt sich auch der seltsame Ausgang, den
jetzt die Krise um demokratische Parlamentarisierung in Deutschland genommen hat. Dem
Wortführer einer Partei, deren ganze Existenzberechtigung in dem tatkräftigen Streben nach
jenem Ziel liegt, ist das bezeichnende Geständnis entschlüpft, dass seinen Parteifreunden der
Wille zur politischen Macht fehle und sie den Zeitpunkt herbeisehnten, wo sie wieder nach alter
Gewohnheit in gesinnungstüchtige Opposition treten könnten."
61
Deutsche Infanteristen beim Sturmangriff, 1917
62
Die Parteien der Opposition haben zwar auch ihren Anteil an der Abberufung
Bethmann-Hollwegs als Kanzler, aber sein Nachfolger, der hohe preußische Beamte
Michaelis, wird (wieder) ohne Mitwirkung des Reichstags bestimmt. Fr. Naumann
charakterisierte diesen Vorgang so:
"Die Monarchie lobt das Volk, braucht das Volk, aber hört es nicht! Sie schickt ihm einen
Reichskanzler, wie man einen Gouverneur in die Kolonie sendet: Gehe hin und regiere!"
Zwar werden jetzt einige Parlamentarier als Staats- oder Unterstaatssekretäre in die
Regierung aufgenommen, aber von einer echten Parlamentarisierung des Reiches kann
noch längst nicht gesprochen werden. Ein sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter
nennt den Vorgang "Kryptoparlamentarismus".
Ab Juli 1917 kommt es zur Bildung eines Interfraktionellen Ausschusses (IFA) aus
Sozialdemokraten, Linksliberalen und Zentrum. Auf Druck des Reichstages hin muss
Michaelis um seine Entlassung nachsuchen; sein Nachfolger wird am 1. November
1917 indes der konservative bayerische Ministerpräsident Graf Hertling, der längere
Zeit Fraktionsführer des Zentrums im Reichstag gewesen war, ein Gegenspieler des
parlamentarisch und demokratisch orientierten Erzberger und entsprechend ein
entschiedener Gegner der Parlamentarisierung des Reiches. Indes: die Berufung
Hertlings erfolgt mit Zustimmung des Reichstags, seine Stellvertreter im Reich und in
Preußen (wo er Ministerpräsident wird) sind Parlamentarier, die jedoch - entsprechend
Art. 9,2 der Reichsverfassung - bei Amtsantritt wegen "Inkompatibilität" - ihr
parlamentarisches Mandat niederlegen müssen. Durch den IFA versucht die
Reichstagsmehrheit auch Einfluss auf die Politikinhalte der neuen Reichsregierung zu
bekommen. Jedoch bleibt die Position der OHL nach wie vor überlegen wirksam. Die
Regierung unter Hertling erkannte diese Position uneingeschränkt an und wird dadurch
selbst zu einer" zivilen Hilfseinrichtung" der OHL; um der notwendigen Kriegsführung
willen akzeptiert vorerst auch der Reichstag noch die OHL-Führungsposition. So
werden auch alle Ansätze und Versuche einer Verfassungsreform im Reich und in
Preußen von der OHL entschlossen zurückgewiesen. Bezeichnend die Stellungnahme
Ludendorffs vom B. Dezember 1917:
"Ich bin der Ansicht, dass der Krieg nun wahrlich keinen Grund zur Demokratisierung und
Parlamentarisierung gegeben hat. Die Zustände in den demokratisch regierten, feindlichen
Staaten können uns in keiner Weise zur Nachahmung reizen. Vielmehr halte ich eine Politik des
Nachgebens gegenüber dem ,Zeitgeist` für außerordentlich gefährlich."
So bleibt alles beim Alten; sowohl die militärische als auch die politische Führung
bleibt uneinsichtig dabei, dass angesichts der gleichmachenden, Wirkung eines bereits
drei Jahre andauernden Krieges mit all seinen Belastungen für die einfachen Bürger die
diskriminierende politische Ungleichheit des preußischen Dreiklassenwahlrechts längst
nicht mehr länger zumutbar ist. Selbst die Mehrheit der Parteien im preußischen
Landtag aus Konservativen, Nationalliberalen und Zentrum lehnt noch im Juli, 1918 (!)
die längst überfällige Wahlrechtsreform in Preußen ab.
63
Diese Haltung sowie die bolschewistische Oktoberrevolution in Russland wirkten
radikalisierend auf die Sozialdemokraten in Deutschland. Dies wiederum hatte zur
Reaktion eine Verhärtung des reaktionär-konservativen Standpunkts im preußischen
Landtag. "So wirkte die Kriegslage im Zusammenhang mit der bolschewistischein
Resolution zwar einerseits als Anreiz zu einer politischen Umgestaltung,, aber zugleich
auch andererseits noch stärker als Hemmung" (Th. Eschenburg).
Um so überraschender musste angesichts dieser Tatbestände dann wirken, dass die
OHL Ende September 1918 plötzlich von sich aus die Reichsleitung 1. zu einem
Waffenstillstandsangebot an die Westmächte durch eine 2. auf parlamentarischer
Grundlage gebildete neue Regierung und 3. eine Wahlrechtsreform in Preußen forderte.
Diese Kehrtwendung der OHL ist nur als ein Akt der Verzweiflung und zugleich der
Feigheit zu verstehen, für die eklatanten deutschen Niederlagen im August/September
1918 die Verantwortung und persönliche Konsequenzen zu ziehen.
4. Verfassungsreform und Revolution
Auch der Reichstag und seine Fraktionen waren von der sich überstürzenden
Entwicklung der Dinge, -da unvorbereitet, völlig überrascht. So war er auch nicht
imstande, aus seiner Mitte einen Kanzlerkandidaten zu präsentieren; Prinz Max von
Baden, Anhänger sowohl der Friedensresolution als auch der Verfassungsreform, wurde
neuer Reichskanzler. Noch ohne verfassungsrechtliche Grundlage wurde unter seiner
Leitung ein "Kriegskabinett" gebildet, dem verschiedene Mitglieder des Reichstags
angehörten; der Reichstag sprach zudem der neuen Regierung ausdrücklich das
Vertrauen aus. Erst Ende Oktober 1918 trat da die förmliche Verfassungsreform in
Kraft, von der auch die kaiserliche Kommandogewalt mitbetroffen, war. Eine erste
Konsequenz dieser Reform war die Entlassung General Ludendorffs aus der OHL.
So überfällig diese Verfassungsreformen auch waren, das "Wie ihrer Einführung konnte
niemanden frohmachen: "Überhastet und improvisiert vollzog sic die grundlegende
Umgestaltung der Bismarckschen Verfassung" (Th. Eschenburg); sie war eher eine
"Revolution von oben", eine "oktroyierte Demokratie" als eine durch demokratische
Kräfte errungene. Das Volk nahm kaum noch Notiz von ihr.. Zudem war sie nicht um
ihrer selbst Willen durchgeführt worden, sondern als Mittel zum Zweck: zur
(innenpolitischen) Legitimierung und (außenpolitischen) Herbeiführung des
unvermeidlich gewordenen Waffenstillstandes, dem die OHL bisher stets ausgewichen
war, weil er das Eingeständnis der Niederlage einschloss. "Die Mehrheit des Volkes
hätte wohl dennoch eine günstige Beendigung des Krieges ohne Demokratisierung jeder
demokratischen Reform in Verbindung mit einer Niederlage vorgezogen" (Th.
Eschenburg). Aus dieser Situation sollten sich später einige der wichtigsten Vorbehalte
gegen die Demokratie von Weimar ergeben und auf die Dauer deren Bestand
unterminieren. Ein Zeitgenosse bewertet den Vorgang so:
"Wir kamen, ganz, unbefangen betrachtet, zum parlamentarischen System so wenig wie zur
Republik im Wege des zielbewussten Strebens, beide blieben schließlich eben als die einzigen
Möglichkeiten noch übrig."
64
65
Aus dieser Situation ist auch verständlich, dass sich in den politischen Parteien zunächst
Widerstand dagegen regte, in diesem bankrotten politischen System plötzlich
Verantwortung übernehmen zu sollen. Das galt besonders für die SPD. Ihr Führer Ph.
Scheidemann sprach sich daher gegen eine Beteiligung an der Macht aus. Fr. Ebert
dagegen trat für einen Eintritt der SPD in die Regierung und damit in die politische
Verantwortung ein - nicht zuletzt deswegen, um durch diesen Akt in letzter Minute die
deutsche Monarchie zu retten. Am 6. November 1918 sagten die Arbeiterführer zu
Reichskanzler. Prinz Max von Baden:
"Große Teile der Sozialdemokratie würden sich mit einer Monarchie mit sozialem Einschlag
nach parlamentarischem System durchaus abfinden."
Man verlangte indes die Abdankung Kaiser Wilhelm II., der durch sein persönliches
Regiment vor dem Krieg und erst recht durch seine politische Unfähigkeit zur Führung
während des Krieges viel zur Krise des Deutschen Reiches beigetragen hatte. General
Groener, Ludendorffs Nachfolger in der OHL, war indes nicht bereit, den Kaiser
entsprechend zur Abdankung zu drängen. Wenige Tage später hatte die rapide
Entwicklung der Ereignisse diese Möglichkeit der Rettung oder Erhaltung der
Monarchie in Deutschland bereits überholt. Am 7. November 1918 betonte Fr. Ebert,
der die Reform, nicht aber die Revolution wollte, gegenüber dem Kanzler: "Wenn der
Kaiser nicht abdankt, dann ist die soziale Revolution unvermeidlich. Ich aber will sie
nicht, ich hasse sie wie die Sünde:" Am 9. November 1918 übergab dann angesichts der
beginnenden Revolution Prinz Max (außerkonstitutionell) das Kanzleramt an Fr. Ebert
und gab zugleich die Abdankung des Kaisers bekannt, der nach Holland außer Landes
ging. Doch zur Rettung der Monarchie war es jetzt schon zu spät: Am gleichen Tag,
mittags um 14 Uhr, rief Ph. Scheidemann gegen den Willen von Ebert - vom Fenster
des Reichstags die Deutsche Republik aus. In einer Art "Fürstenpanik" dankten binnen
kürzester Zeit einundzwanzig Monarchen angesichts des verlorenen Krieges und
angesichts einer sich rasch ausbreitenden revolutionären Bewegung in Deutschland ab.
In dieser Revolution ging das Bismarcksche Reich unter.
Fazit
Versuchen wir zum Abschluss ein Fazit unserer Darlegungen. Geleitet hatte uns die
eingangs gestellte Frage nach den Vorprägungen bzw. Vorbelastungen der Weimarer
Republik durch das vorangehende bismarcksche und wilhelminische Deutsche
Kaiserreich.
Dass derartige Vorprägungen in der Aufeinanderfolge historischer Phasen oder
Epochen anzunehmen sind, davon waren wir ausgegangen. Es kam indes auf die
Bestimmung der Richtung ihrer Wirkung an. Dazu lassen sich jetzt folgende
zusammenfassende Feststellungen treffen:
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1. Wir hatten gesehen, dass die bismarcksche Verfassungskonstruktion mit ihrer
doppelten - monarchischen wie demokratischen - Legitimitätsgrundlage zwei
gegenläufige, ja einander widersprechende Tendenzen der allgemeinen
Verfassungsentwicklung des 19. Jahrhunderts zu verschmelzen trachtete und dadurch
eine eigentümliche, spezifisch deutsche Form des modernen Verfassungsstaates
schaffen wollte, :dessen Überlegenheit gegenüber den Formen westlicher
parlamentarischer Demokratie man glaubte behaupten zu können.
2. Wir hatten ferner feststellen können, dass die in dieser Verfassungskonstruktion
durchaus liegenden progressiven Entwicklungstendenzen bis zum Ausbruch des Ersten
Weltkrieges in keinem nennenswerten Maße genutzt wurden und daher nicht zur
Entfaltung kommen konnten.
Die vorherrschenden politischen Kräfte des Deutschen Reiches - der traditionell fixierte
Adel, das obrigkeitsstaatlich orientierte Militär und Beamtentum als Stützen des
Regimes - wirkten im Interesse der Erhaltung ihrer politischen und gesellschaftlichen
Machtpositionen derartigen Tendenzen entschlossen entgegen und unterdrückten sie.
Auch die bürgerlichen Parteien und die gesellschaftlichen Verbände zeigten- nicht
zuletzt aus Furcht vor einer Machtergreifung der Sozialdemokraten - weder Neigung
noch entschlossenen politischen Willen, in Deutschland die Verfassungsentwicklung in
Richtung einer Parlamentarisierung und gar Demokratisierung des Systems
voranzutreiben.
3. Wir konnten darüber hinaus zeigen, dass auch die politische Kultur im Deutschen
Reich mit ihren dominanten politischen Werten und Einstellungen vordemokratisch
geprägt war. Die rapiden gesellschaftlichen und ökonomischen Wandlungsprozesse
trugen das, ihrige dazu bei, eher, antidemokratische (d. h. nationalistische, völkische,
rassistische und antisemitische) Strömungen und Gruppierungen entstehen zu lassen.
4. Schließlich konnten wir erkennen, dass das so beschaffene politische System im
Ersten Weltkrieg den zunehmenden Belastungen an der Front und in der Heimat je
länger, je weniger gewachsen war; spätestens seit 1916 regierte die OHL als
uneingeschränkte Militärdiktatur, der gegenüber die politische Führung als "zivile
Hilfseinrichtung" fungierte und die bis kurz vor dem militärischen Zusammenbruch im
Herbst 191$ alle Bestrebungen um eine längst überfällige Verfassungsreform, durch die
vielleicht die Revolution hätte vermieden werden und die Monarchie hätte gerettet
werden können, blockierte und dadurch den Ausbruch der Revolution im November
1918, die zugleich das Ende des bismarkisch-wilhelminischen Reiches besiegelte,
herbeiführte.
In jedem der hier aufgeführten Punkte sind Kräfte und Faktoren greifbar, die letztlich
einzeln und erst recht zusammen eine durchaus negative Vorprägung der Weimarer
Republik und ihres Versuches einen parlamentarischen Demokratie in Deutschland
bedeuteten.
67
Literatur
E. W. Böckenförde (Hrsg.) Moderne deutsche Verfassungsgeschichte, Köln 1972
H. H. Böhme (Hrsg. ): .Probleme der Reichsgründungszeit, Köln 1973
K. E. Born: Von der Reichsgründung bis zum Ersten Weltkrieg (Gebhardt, Handbuch
der deutschen Geschichte, DTV-Ausgabe, Bd. 16, München 1975)
R. Dahrendorf: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland; München 1965
E. R. Huber. Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. III und N, Stuttgart
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H. Lübbe: Politische Philosophie in Deutschland, Basel 1963 (auch dtv)
G. Mann: Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jh., Frankfurt 1958 (auch Fischer-TB)
Th. Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800 1866, München 1983
T h. Nipperdey: Gesellschaft, Kultur; Theorie; Göttingen 1976
H. Plessner: Die verspätete Nation, Stuttgart 1959 (auch Suhrkamp-TB)
G. A. Ritter: Arbeiterbewegung, Parteien und Parlamentarismus, Göttingen 1976 G.
A. Ritter: Die deutschen Parteien 1:830-1914, Göttingen 1985
Th. Schieder: Das deutsche Kaiserreich als Nationalstaat, Köln 1961
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M. Stürmer: Das ruhelose Reich. Deutschland 1866-1918, Berlin 1983
M. Stürmer: Dissonanzen des Fortschritts - Essays über Geschichte und Politik in
Deutschland, München 1986
M. Stürmer (Hrsg.): Das kaiserliche Deutschland, Düsseldorf 1970
H. U. Wehler: Das deutsche Kaiserreich 1871-1918, Göttingen 1973
H. U. Wehler: Krisenherde des Kaiserreichs 1871-1918, Göttingen 1970
H. U. Wehler Bismarck und der Imperialismus, Köln 1972 (auch dtv)
68
69
Dokumente
Dok. 1
Der Staatsrechtler Georg Jellinek behandelt in einem Vortrag vom 13. März 1909 die in der
Verfassung liegenden Hindernisse, die einer parlamentarischen Herrschaft im Deutschen Reich
im Wege stehen.
Zweierlei Hinderungsmittel einer positiven parlamentarischen Herrschaft sind nun in der
Reichsverfassung verborgen, das eine partikularistischer, das andere föderalistischer Natur. Sie
hinwegzuschaffen wäre ohne die tiefstgreifende Wandlung des Reichs, ohne die schwersten
Kämpfe um die Änderung seiner Verfassung nicht möglich. Auch wenn die gegenwärtige
Gestaltung des Parteiwesens, das selbst die großen Parteien verhindert, nach der Herrschaft zu
streben, sich von Grund aus ändern sollte, würden die verfassungsmäßigen Verhältnisse des
Reichs solchem Herrschaftsstreben schwer übersteigbare Schranken darbieten. Palamentarische
Regierung hat verschiedene Erscheinungsformen und ist in jedem Staate, der sie zur
Erscheinung brachte, anders gestaltet. Gemeinsam sind ihr aber überall zwei Momente. Sie
muss aus einer einigermaßen, wenn auch auf Koalitionen beruhenden, festgefügten
parlamentarischen Mehrheit mit bestimmtem Parteiprogramm hervorgehen und sie muss
imstande sein, vor dem Lande die Verantwortlichkeit für alles zu tragen, was im ganzen
Bereiche des Staates von Staats wegen geschieht. Sie darf daher nicht in die Lage gesetzt sein,
sich zu ihrer Entlastung irgendwie auf einen anderen, von ihr unabhängigen oder ihr
übergeordneten Willen berufen zu können.
Im Deutschen Reiche stehen jedoch neben der Reichsregierung zwei mit ihr engverbundene und
doch wieder von ihr unabhängige Mächte: die preußische Regierung und der Bundesrat, deren
Verhältnis zur Reichsregierung diese selbst in eigenartigster Weise beeinflussen.
Der partikularistische Einschlag der Reichsverfassung ist die Verbindung der
Reichskanzlerschaff mit der Mitgliedschaft am preußischen Staatsministerium, dessen Präsident
der Reichskanzler in der Regel ist. Nach dem Buchstaben der Reichsverfassung kann der
Reichskanzler nur in seiner Eigenschaft als preußischer Bundesratsbevollmächtigter mit dem
Reichstag verkehren. Wenn aber auch die konstitutionelle Praxis dem Reichskanzler eine ganz
selbständige Stellung gegenüber dem Reichstage anweist, so darf doch niemals außer acht
gelassen werden, dass er dabei stets preußischer Ministerpräsident bleibt, der in dieser
Eigenschaft für seine Handlungen nicht vor dem Reichstag die Verantwortlichkeit zu tragen hat,
ja dies vielfach gar nicht könnte, selbst wenn er es wollte. Um die preußische Politik der des
Reiches genau anzupassen, müsste nämlich der Reichskanzler zu den preußischen
Ressortministern genau dieselbe Stellung erlangen, wie er sie heute gegenüber seinen
Staatssekretären im Reiche besitzt. Diese sind- als Stellvertreter - nur insoweit selbständig, als
ihnen der Reichskanzler Selbständigkeit gewährt und wollen sie sich ihm nicht fügen, so kann
er unmittelbar seinen Willen zur Geltung bringen, indem er die betreffende Angelegenheit an
sich zieht. Die preußischen Minister müssten zu Untergebenen des Reichskanzlers werden, nur
dann könnte mit Sicherheit die innere Politik Preußens mit der des Reiches in Obereinstimmung
gebracht und die volle Verantwortlichkeit des Reichskanzlers vor dem Reichstage auf sie
ausgedehnt werden. Man möge sich aber der bitteren Klage erinnern, die Bismarck über den
Ressortpartikularismus der preußischen "föderierten ministeriellen Staaten" geäußert hat.* Der
Versuch, den Verkehr der preußischen Minister mit dem König unter die Kontrolle des
Ministerpräsidenten zu stellen, war bekanntlich einer der unmittelbaren Anlässe zum Sturze des
gewaltigen Mannes.
Nun könnte dem erwidert werden, dass im Laufe der Zeiten sich die Kompetenz des Reiches
immer mehr ausgedehnt hat. Das Reich hat von Gebieten Besitz ergriffen, zu deren Okkupation
es zwar verfassungsmäßig berechtigt war, die aber doch erst durch besondere gesetzgeberische
Akte für die Reichskompetenz erworben werden konnten. Mit jeder Ausdehnung der
Zuständigkeit des Reiches wird aber die der Bundesstaaten eingeschränkt. Immerhin ist die
ihnen auch in Zukunft verbleibende Macht nicht zu unterschätzen. Vor allem gilt dies für
Preußen, dessen führende Stellung im Reiche auch durch das größte Wachstum der
70
Reichskompetenz schon vermöge seiner Stellung im Bundesrate nicht erschüttert werden kann.
Dadurch wird aber auch dem preußischen Landtag eine ganz andere Bedeutung gewährt, als den
übrigen Landesparlamenten, indem er dem Streben des Reichstags nach der Vorherrschaft im
Reiche feste Schranken zieht. Der preußische Landtag ist ganz anders zusammengesetzt als der
Reichstag und sucht seine Zusammensetzung gegenüber Abänderungsvorschlägen energisch zu
behaupten. Vorherrschaft des Reichstags im Reiche würde notwendig die Forderung der
Vorherrschaft des Landtags in Preußen entstehen lassen. Was aber hätte zu geschehen, wenn
Reichs- und Landtagsmehrheit nicht zusammen stimmten, wenn jede eine andere Regierung,
wenn auch vielleicht nur durch Nuancen geschieden, forderte? Dann würde zwischen Reichsund Landtag ein heftiges Ringen um die Herrschaft entstehen, in welchem, wenn nicht das
übrige Reich gänzlich der unwiderstehlichen Gewalt Preußens unterworfen werden sollte, dem
Reichstage der Sieg gebühren müsste. Solchenfalls gäbe es nur eine mögliche Lösung des
Konflikts, die darin bestünde, dass das preußische Parlament sich mit der Rolle eines
Provinziallandtags begnügte, der irgendwelche Verantwortlichkeit der Regierung geltend zu
machen nicht in der Lage wäre. Sollte die preußische Regierung der des Reiches untergeordnet
werden, so wäre das nur durch die gänzliche Entstaatlichung Preußens, durch seine
Herabdrückung auf die Stufe einer Reichsprovinz möglich. Bei allen anderen Bundesstaaten,
deren Regierung von der des Reiches gänzlich getrennt ist, wäre innerhalb der ihnen
zustehenden, wenn man sich so ausdrücken kann, reichsfreien Sphäre eine viel größere
Selbständigkeit möglich als in einem Preußen, dem seine Regierung von Reichs wegen
aufgezwungen werden könnte.
Die andere Schranke für die Vorherrschaft des Reichstags liegt in dem föderalistischen Organ
des Reiches, dem Bundesrate, dieser eigentümlichsten deutschen Verfassungsinstitution, der
nicht nur staatsrechtlich, sondern auch politisch eine der merkwürdigsten politischen Bildungen
im Staatenleben der Gegenwart ist. Man sieht und hört von ihm wenig. Er verhandelt und
beschließt bei geschlossenen Türen, in dieser Hinsicht dem alten Frankfurter Bundestag
gleichend. Kaiser, Reichskanzler, Reichstag sind die jedermann sicht- und hörbaren Organe des
Reichs - nur ausnahmsweise ergreifen nichtpreußische Bevollmächtigte zum Bundesrate das
Wort im Reichstag. Daher wird in der politischen Diskussion weiter Volkskreise der Bundesrat
oft gänzlich ignoriert und vom Auslande wird sein Dasein oft entweder nicht gekannt oder
missverstanden. Am häufigsten wird er außerhalb des Reichs mit einem Oberhaus verglichen,
ein hinkender Vergleich, da er viel mehr als ein solcher nicht nur staatsrechtlich, sondern auch
politisch bedeutet. Weitaus der größte Teil der Gesetze entspringt seiner Initiative, sein Wille ist
nicht nur staatsrechtlich, sondern auch praktisch-politisch bei der Gesetzgebung der
ausschlaggebende. Der Bundesrat hat von seiner Befugnis, Gesetzesbeschlüssen des
Reichstages die Sanktion zu verweigern, häufiger Gebrauch gemacht, als in den Einzelstaaten
die Monarchen den Landtagen gegenüber. Ihm steht ferner bekanntlich ein ganz bedeutender
Anteil an der Reichsregierung zu. Er erlässt wichtige Verordnungen, macht Vorschläge zur
Besetzung von Reichsämtern, entscheidet Streitigkeiten, besorgt Verwaltungsgeschäfte
mannigfaltigster Art. Das alles tut er gemäß der Instruktionen der ihn beschickenden
Regierungen. Im Bundesrate macht sich allerdings, wie öfters hervorgehoben wurde, das
Machtverhältnis der einzelnen Staaten geltend. Der Einfluss Preußens im Bundesrate ist viel
bedeutender als ihm nach seiner Stimmenzahl zukommt, und indem die Kleinstaaten ihm
keinen nennenswerten Widerstand leisten können, verständigt es sich mit den größeren Staaten
außerhalb des Bundesrates.
Für die Beschlüsse des Bundesrats ist aber dem Reiche niemand verantwortlich, ganz ebenso
wie der Reichstag. Der Reichskanzler vollzieht die Beschlüsse des Bundesrats, trägt aber für
sie, insofern sie sich innerhalb der bundesrätlichen Zuständigkeit bewegen, keine wie immer
geartete Verantwortlichkeit. Bismarck hat zwar einmal, als ihm ein Bundesratsbeschluss nicht
passte, eine derartige Verantwortlichkeit für sich in Anspruch genommen, es ist jedoch bisher
bei diesem einzigen, staatsrechtlich nicht gerechtfertigten Versuch geblieben.
Die umfangreichen Befugnisse des Bundesrats hindern nun bei den gegenwärtigen
Verfassungsverhältnissen ein parlamentarisches Regiment im Reiche, da ein großes Gebiet
staatlicher Tätigkeit des Reichs existiert, für welches dem Reichstag gegenüber niemand die
Verantwortlichkeit trägt. Wollte man den Parlamentarismus nach westlichem Muster
durchführen, so wäre dies nur unter Zurückdrängung des Bundesrats und damit unter
71
Preisgebung der bundesstaatlichen Gestaltung des Reichs möglich. Die einzelnen
Bundesregierungen müssten sich dem durch die Reichsregierung repräsentierten Willen des
Reichstags fügen und würden zu wesenlosen Schatten herabsinken. Das haben diese auch
jederzeit wohl erkannt. So oft die Diskussion darüber eröffnet wurde, ob neben den
Reichskanzler ein ganzes System von Reichsministern treten solle, haben die
Bundesregierungen energischen Protest dagegen erhoben, weil sie neben einem kollegialischen
verantwortlichen Reichsministerium gar keinen reellen Anteil an der Leitung der
Reichsgeschäfte haben könnten. Unausweichliche Wirkung der parlamentarischen
Regierungsweise im Reiche wäre daher Herabdrückung der Einzelstaaten zu politisch
bedeutungslosen Gebilden. [... ]
Man sieht, die Frage: parlamentarische oder außerparlamentarische Regierung birgt für das
Deutsche Reich noch eine andere höchst bedeutungsvolle in sich: Einheitsstaat oder
Bundesstaat, Unitarismus oder Föderalismus. Nicht nur um das gegenseitige Verhältnis von
Kaiser, Kanzler und Reichstag handelt es sich bei der Lösung dieser Frage, sondern um
Aufrechterhaltung oder völlige Umwälzung der historischen Grundlagen des Reiches. Darum
sind auch die partikularistischen und föderalistischen Bestrebungen im Reichstage, die
wiederum mit der Parteizersplitterung zusammenhängen, ein Wall gegen die Tendenz nach
Vorherrschaft des Reichstages, die in einem unitarisch gefügten Reichsparlament mit
historischer Notwendigkeit hervorbrechen müssten.
(aus: Gerhard A: Ritter (Hrsg.), Das Deutsche Kaiserreich 1871 -1914. Ein historisches
Lesebuch, Göttingen 31977)
(Preußen hatte im Bundesrat 17 von insgesamt 58 Stimmen. 1911 wurde die
Gesamtsummenzahl durch 3 Stimmen für Elsaß-Lothringen auf 61 erhöht.)
Dok. 2
Der bekannte national-soziale Publizist und spätere liberale Reichstagsabgeordnete Friedrich
Naumann im Jahre 1900 über den Machtanstieg des Kaisertums im Vergleich zum Reichstag.
Es gibt zwei Faktoren, die im Deutschen Reiche miteinander zu rechnen haben: der Kaiser und
der Reichstag. Vom Reichstag haben wir in früheren Kapiteln gesprochen und gesehen, dass ersich am Problem der Majoritätsbildung abmüht. Hätten wir einen Reichstag mit
Zweiparteiensystem, so würde der Reichstag dem Kaiser politisch gleichwertig
gegenüberstehen können, dann würde er eigene gesetzgeberische Initiative besitzen und durch
die Geschlossenheit seines Auftretens eine ihm genehme Regierung erzwingen können. In
diesem Falle würde auch das Recht wiederholter Auflösung nicht allzu viel bedeuten. Von dem
Zweiparteiensystem sind wir aber noch ungeheuer weit entfernt. Unser Parlamentarismus ist
jung und arbeitet mit einer Kräftevergeudung und Zerspaltenheit, die ein parlamentarisches
System selbst in einer Republik schwer möglich machen würde, die aber gegenüber der
geschlossenen Kraft des Kaisertums notwendig zur geringeren Wirkung führt. Natürlich muss
die Demokratie auf Erweiterung der tatsächlichen Kraft des Stimmrechtes bedacht sein. Sie
wird es aber nur können, wenn sie den Gesichtspunkt stets im Auge hat, dass eine Vielheit von
Gruppen die Gesamtkraft des Parlamentarismus lähmt, und dass eine demokratische Majorität
nur möglich ist auf vaterländischer Grundlage. Das letztere ist eine unbedingte Notwendigkeit,
denn niemals wird es eine Majorität in Deutschland geben, die auf deutsche Machtwirkung
verzichtet.
Vorläufig steigt im Vergleich mit dem Reichstag das Kaisertum. Aus dem, was ihm die
Verfassung an Rechten bietet, bildet sich ein neues Amt zentraler Gewalt. Das Kaisertum ist
mehr geworden als 1871 jemand annehmen konnte. Die Geschichtslage, das moderne Leben,
die öffentliche Meinung und die Person des jetzigen Kaisers helfen dazu, die Fülle kaiserlicher
Tatwirkung zu steigern. Er ist ein Faktor unter anderen, aber allerdings, er ist der erste.
(aus: Gerhard A. Ritter (Hrsg.), Das Deutsche Kaiserreich 1871-1914. Ein historisches
Lesebuch, Göttingen (3)1977)
72
Dok. 3
Der Historiker Otto Hintze analysiert 1911 die verfassungsmäßigen Konsequenzen der
Tradition Preußens als Militärmonarchie.
Dieses System [das monarchisch-konstitutionelle System] wurzelt aber doch nicht bloß in der
Persönlichkeit Bismarcks und in den Erfolgen seiner Politik, sondern in der gesamten Tradition
des preußischen Staates und überhaupt in den historisch-politischen Bedingungen unserer
staatlichen und nationalen Existenz; und diese Bedingungen dauern auch in der Gegenwart noch
fort, wenn auch die lange Friedenszeit begreiflicherweise die Kraft ihres Einflusses auf das
Volksbewusstsein erheblich abgeschwächt hat. Es muss mit Nachdruck betont werden, dass das
stärkste Argument für die Beibehaltung des monarchischen Regierungssystems in derselben
Tatsache liegt, die zugleich das historische Fundament seines Bestandes gewesen ist: nämlich in
der Tatsache, dass Preußen ein im eminenten Sinne militärischer Staat ist und dass es ebenso
wie das von ihm begründete Reich durch die allgemeine politische Lage gezwungen ist, es auf
absehbare Zeit zu bleiben. Die Volksgesamtheit hat bei uns eigentlich keine einheitliche
politische Form. Das Volk in Waffen ist rein monarchisch organisiert, wenn auch die
allgemeine Wehrpflicht dieser Organisation eine nationale volkstümliche Grundlage gegeben
hat. In seinem Verhältnis zum Heer ist der Monarch durch keine konstitutionellen Rücksichten
gebunden. Die konstitutionelle Verfassung bezieht sich eigentlich nur auf das Volk in seiner
Eigenschaft als bürgerliche Gesellschaft. Da aber die Kriegsverfassung doch das Rückgrat der
staatlichen Organisation ausmacht, so kann die Vertretung der bürgerlichen Gesellschaft, d. h.
der Landtag, niemals zum beherrschenden Einfluss im Staate gelangen.
(aus: Gerhard A. Ritter (Hrsg.), Das Deutsche Kaiserreich 1871 -1914. Ein historisches
Lesebuch, Göttingen (3)1977)
Dok. 4
Auszüge aus dem Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie
vom 21. Oktober 1878.
Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, König von Preußen etc.
verordnen im Namen des Reichs, nach erfolgter Zustimmung des Bundesraths und des
Reichstags, was folgt:
§1
Vereine, welche durch sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische Bestrebungen
den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung bezwecken, sind zu verbieten.
Dasselbe gilt von Vereinen, in welchen sozialdemokratische, sozialistische oder
kommunistische auf den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung gerichtete
Bestrebungen in einer den öffentlichen Frieden, insbesondere die Eintracht der
Bevölkerungsklassen gefährdenden Weise zu Tage treten. Den Vereinen stehen gleich
Verbindungen jeder Art.
§3
Selbständige Kassenvereine (nicht eingeschriebene), welche nach ihren Statuten die
gegenseitige Unterstützung ihrer Mitglieder bezwecken,
sind im Falle des § 1 Abs. 2 zunächst nicht zu verbieten, sondern unter eine außerordentliche
staatliche Kontrolle zu stellen. [... ]
Die mit der Kontrolle betraute Behörde ist befugt:
1. allen Sitzungen und Versammlungen des Vereins beizuwohnen;
2. Generalversammlungen einzuberufen und zu leiten;
3, die Bücher, Schriften und Kassenbestände einzusehen, sowie Auskunft über die Verhältnisse
des Vereins zu erfordern;
4. die Ausführung von Beschlüssen, welche zur Förderung der im § 1 Abs. 2 bezeichneten
Bestrebungen geeignet sind, zu untersagen,
73
5. mit der Wahrnehmung der Obliegenheiten des Vorstandes oder anderer leitender Organe des
Vereins geeignete Personen zu betrauen; 6, die Kassen in Verwahrung und Verwaltung zu
nehmen.
§5
Wird durch die Generalversammlung, durch den Vorstand oder durch ein anderes leitendes
Organ des Vereins den von der Kontrollbehörde innerhalb ihrer Befugnisse erlassenen
Anordnungen zuwidergehandelt oder treten in dem Vereine die im § 1 Abs. 2 bezeichneten
Bestrebungen auch nach Einleitung der Kontrolle zu Tage, so kann der Verein verboten werden.
§9
Versammlungen, in denen sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische auf den
Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung gerichtete Bestrebungen zu Tage
treten, sind aufzulösen.
Versammlungen, von denen durch Thatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, dass sie zur
Förderung der im ersten Absatze bezeichneten Bestrebungen bestimmt sind, sind zu verbieten.
Den Versammlungen werden öffentliche Festlichkeiten und Aufzüge gleichgestellt.
§10
Zuständig für das Verbot und die Auflösung ist die Polizeibehörde.
Die Beschwerde findet nur an die Aufsichtsbehörden statt.
§11
Druckschriften, in welchen sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische auf den
Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung gerichtete Bestrebungen in einer
den öffentlichen Frieden, insbesondere die Eintracht der Bevölkerungsklassen gefährdenden
Weise zu Tage treten, sind zu verbieten.
Bei periodischen Druckschriften kann das Verbot sich auf das fernere Erscheinen erstrecken,
sobald auf Grund dieses Gesetzes das Verbot einer einzelnen Nummer erfolgt.
§13
Das von der Landespolizeibehörde erlassene Verbot einer Druckschrift ist dem Verleger oder
dem Herausgeber, das Verbot einer nicht periodisch erscheinenden Druckschrift auch dem auf
derselben benannten Verfasser, sofern diese Personen im Inlande vorhanden sind, durch
schriftliche, mit Gründen versehene Verfügung bekannt zu machen.
Gegen die Verfügung steht dem. Verleger oder dem Herausgeber, sowie dem Verfasser die
Beschwerde (§ 26) zu.
Die Beschwerde ist innerhalb einer Woche nach der Zustellung der Verfügung bei der Behörde
anzubringen, welche dieselbe erlassen hat.
Die Beschwerde hat keine aufschiebende Wirkung.
§16
Das Einsammeln von Beiträgen zur Förderung von sozialdemokratischen, sozialistischen oder
kommunistischen auf den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung
gerichteten Bestrebungen, sowie die öffentliche Aufforderung zur Leistung solcher Beiträge
sind polizeilich zu verbieten. Das Verbot ist öffentlich bekannt zu machen.
Die Beschwerde findet nur an die Aufsichtsbehörden statt.
§17
Wer an einem verbotenen Vereine (§ 6) als Mitglied sich betheiligt, oder eine Thätigkeit im
Interesse eines solchen Vereins ausübt, wird mit Geldstrafe bis zu fünfhundert Mark oder mit
Gefängniß bis zu drei Monaten bestraft. Eine gleiche Strafe trifft denjenigen, welcher an einer
verbotenen Versammlung (§ 9) sich betheiligt, oder welcher nach polizeilicher Auflösung einer
Versammlung (§ 9) sich nicht sofort entfernt. Gegen diejenigen, welche sich an dem Vereine
oder an der Versammlung als Vorsteher, Leiter, Ordner, Agenten, Redner oder Kassirer
betheiligen, oder welche zu der Versammlung auffordern, ist auf Gefängniß von Einem Monat
bis zu Einem Jahre zu erkennen.
§18
Wer für einen verbotenen Verein oder für eine verbotene Versammlung Räumlichkeiten
hergiebt, wird mit Gefängniß von Einem Monat bis zu Einem Jahre bestraft.
§19 ,
74
Wer eine verbotene Druckschrift (§§ 11,12), oder wer eine von der vorläufigen Beschlagnahme
betroffene Druckschrift (§ 15) verbreitet, fortsetzt oder wieder abdruckt, wird mit Geldstrafe bis
zu eintausend Mark oder mit Gefängniß bis zu sechs Monaten bestraft.
Wer einem nach § 16 erlassenen Verbote zuwiderhandelt, wird mit Geldstrafe bis zu
fünfhundert Mark oder mit Gefängniß bis zu drei Monaten gestraft. Außerdem ist das zufolge
der verbotenen Sammlung oder Aufforderung Empfangene oder der Werth desselben der
Armenkasse des Orts der Sammlung für verfallen zu erklären.
§22
Gegen Personen, welche sich die Agitation für die im § 1 Abs. 2 bezeichneten Bestrebungen
zum Geschäfte machen, kann im Falle einer Verurtheilung wegen Zuwiderhandlungen gegen
die §§ 17 bis 20 neben der Freiheitsstrafe auf die Zulässigkeit der Einschränkung ihres
Aufenthaltes erkannt werden.
Auf Grund dieses Erkenntnisses kann dem Verurtheilten der Aufenthalt in bestimmten Bezirken
oder Ortschaften durch die Landespolizeibehörde versagt werden, jedoch in seinem Wohnsitze
nur dann, wenn er denselben nicht bereits seit sechs Monaten inne hat. Ausländer können von
der Landespolizeibehörde aus dem Bundesgebiete ausgewiesen werden. Die Beschwerde findet
nur an die Aufsichtsbehörden statt.
Zuwiderhandlungen werden mit Gefängniß von Einem Monat bis zu Einem Jahre bestraft.
Zur Entscheidung der in den Fällen der §§ 8, 13 erhobenen Beschwerden wird eine
Kommission gebildet. Der Bundesrath wählt vier Mitglieder aus seiner Mitte und fünf aus den
Mitgliedern der höchsten Gerichte des Reichs oder der einzelnen Bundesstaaten.
Die Wahl dieser fünf Mitglieder erfolgt für die Zeit der Dauer dieses Gesetzes und für die
Dauer ihres Verbleibens in richterlichem Amte.
Der Kaiser ernennt den Vorsitzenden und aus der Zahl der Mitglieder der Kornmission dessen
Stellvertreter.
Für Bezirke oder Ortschaften, welche durch die im § 1 Abs. 2 bezeichneten Bestrebungen mit
Gefahr für die öffentliche Sicherheit bedroht sind, können von den Zentralbehörden der
Bundesstaaten die folgenden Anordnungen, soweit sie nicht bereits landesgesetzlich zulässig
sind, mit Genehmigung des Bundesraths für die Dauer von längstens Einem Jahre getroffen
werden:
1. dass Versammlungen nur mit vorgängiger Genehmigung der Polizeibehörde stattfinden
dürfen, auf Versammlungen zum Zweck einer ausgeschriebenen Wahl zum Reichstag oder zur
Landesvertretung erstreckt sich diese Beschränkung nicht;
2. dass die Verbreitung von Druckschriften auf öffentlichen Wegen, Straßen, Plätzen oder an
anderen öffentlichen Orten nicht stattfinden darf;
3, dass Personen, von denen eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung zu
besorgen ist, der Aufenthalt in den Bezirken oder Ortschaften versagt werden kann;
4. dass der Besitz, das Tragen, die Einführung und der Verkauf von Waffen verboten,
beschränkt oder an bestimmte Voraussetzungen geknüpft wird.
Über jede auf Grund der vorstehenden Bestimmungen getroffene Anordnung muss dem
Reichstag sofort beziehungsweise bei seinem nächsten Zusammentreffen Rechenschaft gegeben
werden. [ . .]
§ 30
Dieses Gesetz tritt mit dem Tage der Verkündigung in Kraft und gilt bis zum 31. März 1881.
Urkundlich unter Unserer Höchsteigenhändigen Unterschrift und beigedrucktem Kaiserlichen
Insiegel.
Gegeben Potsdam, den 21. Oktober 1878.
Im Allerhöchsten Auftrage seiner Majestät des Kaisers:
(L. S.) Friedrich Wilhelm, Kronprinz. Fürst v. Bismarck (aus: Gerhard A. Ritter (Hrsg.), Das
Deutsche Kaiserreich 1871 -1914. Ein historisches Lesebuch, Göttingen 31977)
(Das Gesetz wurde dreimal - 1881, 1884 und 1887 - verlängert.)
(Der Kronprinz unterschrieb, da der Kaiser aufgrund seiner schweren Verletzung durch das auf
ihn verübte Attentat vom 2. Juni 1878 seine Regierungsfunktionen nicht ausüben konnte.)
75
Dok. 5
In einer von Bismarck verlesenen Botschaft des Kaisers vom 17. November 1881 zur Eröffnung
des neuen Reichstages wird im Rahmen einer Skizzierung des Regierungsprogramms eine
umfangreiche Sozialgesetzgebung zur Ergänzung des gewaltsamen Vorgehens gegen die
Sozialdemokratie und zur Lösung der sozialen Frage angekündigt. Die vorgesehenen Gesetze
wurden in den folgenden Jahren verabschiedet: Gesetz über die Krankenversicherung der
Arbeiter vom 15. Juni 1883; Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884; Gesetz über die
Invaliditäts- und Altersversicherung vom 22. Juni 1889.
Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, König von Preußen etc. thun kund und
fügen hiermit zu wissen: [... ]
Schon im Februar dieses Jahres haben Wir Unsere Ueberzeugung aussprechen lassen, dass die
Heilung der socialen Schäden nicht ausschließlich im Wege der Repression
socialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung
des Wohles der Arbeiter zu suchen sein werde. Wir halten es für Unsere Kaiserliche Pflicht,
dem Reichstage diese Aufgabe von Neuem ans Herz zu legen, und würden Wir mit um so
größerer Befriedigung auf alle Erfolge, mit denen Gott Unsere Regierung sichtlich gesegnet hat,
zurückblicken, wenn es Uns gelänge, dereinst das Bewußtsein mitzunehmen, dem Vaterlande
neue und dauernde Bürgschaften seines inneren Friedens und den Hilfsbedürftigen größere
Sicherheit und Ergiebigkeit des Beistandes, auf den sie Anspruch haben, zu- hinterlassen. In
Unseren darauf gerichteten Bestrebungen sind Wir der Zustimmung aller verbündeten
Regierungen gewiß und vertrauen auf die Unterstützung des Reichstags ohne Unterschied der
Parteistellungen.
In diesem Sinne wird zunächst der von den verbündeten Regierungen in der vorigen Session
vorgelegte Entwurf eines Gesetzes über die Versicherung der Arbeiter gegen Betriebsunfälle
mit Rücksicht auf die im Reichstag stattgehabten Verhandlungen über denselben einer
Umarbeitung unterzogen, um die erneute Berathung desselben vorzubereiten. Ergänzend wird
ihm eine Vorlage zur Seite treten, welche sich eine gleichmäßige Organisation des
gewerblichen Krankencassenwesens zur Aufgabe stellt. Aber auch diejenigen, welche durch
Alter oder Invalidität erwerbsunfähig werden, haben der Gesammtheit gegenüber einen
begründeten Anspruch auf ein höheres Maß staatlicher Fürsorge, als ihnen bisher hat zu Theil
werden können.
Für diese Fürsorge die rechten Mittel und Wege zu finden, ist eine schwierige, aber auch eine
der höchsten Aufgaben jedes Gemeinwesens, welches auf den sittlichen Fundamenten des
christlichen Volkslebens steht. Der engere Anschluß an die realen Kräfte dieses Volkslebens
und das Zusammenfassen der letzteren in der Form corporativer Genossenschaften unter
staatlichem Schutz und staatlicher Förderung werden, wie Wir hoffen, die Lösung auch von
Aufgaben möglich machen, denen die Staatsgewalt allein in gleichem Umfange nicht
gewachsen sein würde. Immerhin aber wird auch auf diesem Wege das Ziel nicht ohne die
Aufwendung erheblicher Mittel zu erreichen sein.
(aus: Gerhard A. Ritter (Hrsg.), Das Deutsche Kaiserreich 1871-1914. Ein historisches
Lesebuch, Göttingen (3)1977)
Dok. 6
Der evangelische Theologe Paul Göhre beschreibt 1891 die Diskussion der staatlichen
Sozialversicherungsgesetzgebung in einem sozialdemokratischen Wahlverein in Chemnitz.
Aus der breiten Masse der bisher geschilderten Durchschnittssozialdemokraten hob sich nun
meiner Beobachtung nach eine besonders bedeutsame Gruppe ab, deren Zahl, wie ich zu
vermuten manche gute Gründe habe, heute überall in stetigem Wachsen ist. Es waren gerade die
besonders klugen, praktischen, verständigen, ernsten und gebildeten Leute, Männer mittlern
Alters, die sich auch mit den weitergehenden sozialdemokratischen wirtschaftlichen und
politischen Problemen nicht ohne Verständnis beschäftigt hatten und ihnen, wenn auch mit
76
Kritik, doch teilweise gerade besonders stark huldigten, die aber trotzdem von der rein
politischen Agitationsarbeit der Partei nichts oder nicht viel hielten und sich darum, tatenlustig
wie sie waren, auf die näher liegende, unmittelbare, praktische Erfolge und mehr Befriedigung
versprechende Arbeit in den Fach- und Gewerkvereinen, in den Komitees der Kranken- und
Unfallversicherungskassen, der freien Hilfskassen und vor allem auch auf die Tätigkeit
innerhalb ihrer lokalen politischen Gemeinde geworfen hatten; natürlich immer mit der festen
Absicht, diese Arbeit im Sinne der sozialdemokratischen Grundsätze und selbstverständlich zu
Nutz und Frommen der sozialdemokratischen, der Arbeiterinteressen zu tun. Aber indem sie sie
taten, waren sie - mochten sie noch so sehr sozialdemokratische Gesinnung dabei durchdrücken
wollen - doch gezwungen, mit realen Tatsachen zu rechnen, reale Ziele verfolgen zu lernen.
Diese realen Tatsachen und Ziele beginnen zu interessieren; sie treten vor den problematischen
und fern hinausliegenden der Gesamtpartei voran und erziehen so diese Männer, die dabei meist
immer noch überzeugte Sozialdemokraten bleiben, zu wahrhaft praktischer politischer und
sozialer Tätigkeit. Damit ist aber ein wirksames Gegengewicht zu den Träumereien und
Utopienjagden geschaffen, denen sie früher ausschließlich nachhingen und nachgingen, wenn
sie ihren politischen Menschen anzogen; dadurch wird hoffentlich auch mit die Gefahr
vermieden, dass die Sozialdemokratie zu einer kindlichen, nie wirkliche Reformen
erzwingenden Schattenpartei wird und sich lächerlich macht.
Diese Erfahrung, die ich da eben ausführte, und für die ich auch besonders aus der
aufmerksamen Verfolgung der jüngsten Entwicklung der sozialdemokratischen
Gewerkschaftsbewegung ausreichende Beweise bringen könnte, machte ich in besonders klarer
und überraschender Weise z. B. einmal in einer Sitzung unsers sozialdemokratischen
Wahlvereins. Hier trug an diesem Abende der damalige, jetzt auch abgedrückte Redakteur der
Chemnitzer sozialdemokratischen "Presse°, wie ich glaube eine ehrliche Seele, über die damals
noch nicht in Kraft getretene Alters- und Invaliditätsversicherung
vor, zunächst hauptsächlich zur Orientierung der Genossen. Es war eine im großen und ganzen
durchaus sachlich gehaltene Rede. Sie gipfelte in der doppelten Behauptung, dass das neue
Gesetz in der Tat vielfach noch mangelhaft sei, und dass es jedenfalls nicht die durchgreifende
Hilfe für die Arbeiterschaft und die Lösung der sozialen Probleme sei, dass man sich aber
dennoch nicht abschrecken lassen dürfe, sondern nun zunächst einmal das Angebotene
annehmen, aber zugleich wacker an der allmählichen Verbesserung dieses Gesetzes mitarbeiten
sollte. Man sollte, so schloß er, endlich einmal mit dem ganz überflüssigen Räsonieren und
Schnauzen aufhören. Trotz allem stecke in der Arbeiterversicherung ein guter Kern, den immer
mehr herauszuschälen die Hauptaufgabe wäre. Er gab damit mutvoll wohl einer Meinung
Ausdruck, die vielfach unter den Arbeitsgenossen verbreitet war, sich aber nur selten und
schüchtern ans Tageslicht wagte, nachdem die offizielle Sozialdemokratie ihr Verdikt über die
heutige Versicherungsgesetzgebung ausgesprochen hat. Denn man empfindet heute schon
dankbar, wenn auch als etwas Selbstverständliches die bereits deutlich spürbaren Wohltaten des
Gesetzes. Wenn man irgendwie über sie klagte, so betraf das nach meiner Beobachtung immer
nur einzelne Mängel, wie die dreitägige Karenzzeit zu Anfang einer jeden Krankheit, oder
Mißstände, die sich in der Verwaltung herausstellen, und an denen oft nur die an ihrer Spitze
stehenden Personen die Schuld hatten. [... j
Genau dieselbe freundliche Gesinnung zu den Versicherungsgesetzen kam nun auch in jener
Sitzung unsers Wahlvereins unter den zahlreichen Anwesenden zum erfreulichen Ausdruck.
Zwar - ich wiederhole das nachdrücklich - fehlten auch gegnerische Stimmen nicht, die sich
ganz in den offiziellen Urteilen der sozialdemokratischen Fraktion über die Gesetze ergingen.
Aber die Meinung des Vortragenden war doch auch die der Majorität.
(aus: Gerhard A. Ritter (Hrsg.), Das Deutsche Kaiserreich 1871-1914. Ein historisches
Lesebuch; Göttingen (3)1977)
77
Dok. 7
Ergebnisse der Reichstagswahlen von 1871-1912
78
Dok. 8
Aufruf Kaiser Wilhelms II., 6. August 1914
An das Deutsche Volk
Seit der Reichsgründung ist es durch 43 Jahre Mein und Meiner Vorfahren heißes Bemühen
gewesen, der Weit den Frieden zu erhalten und im Frieden unsere kraftvolle Entwickelung zu
fördern. Aber die Gegner neiden uns den Erfolg unserer Arbeit.
Alle offenkundige und heimliche Feindschaft von Ost und West, von jenseits der See haben wir
bisher ertragen im Bewusstsein unserer Verantwortung und Kraft. Nun aber will man uns
demütigen. Man verlangt, dass wir mit verschränkten Armen zusehen, wie unsere Feinde sich
zu tückischem Überfall rüsten, man will nicht dulden, dass wir in entschlossener Treue zu
unserem Bundesgenossen stehen, der um sein Ansehen als Großmacht kämpft und mit dessen
Erniedrigung auch unsere Macht und Ehre verloren ist. So muss denn das Schwert entscheiden.
Mitten im Frieden überfällt uns der Feind. Darum auf! zu
den Waffen! Jedes Schwanken, jedes Zögern wäre Verrat am Vaterlande.
Um Sein oder Nichtsein unseres Reiches handelt es sich, das unsere Väter neu sich gründeten.
Um Sein oder Nichtsein deutscher Macht und deutschen Wesens.
Wir werden uns wehren bis zum letzten Hauch von Mann und Roß. Und wir werden diesen
Kampf bestehen, auch gegen eine Welt von Feinden. Noch nie ward Deutschland überwunden,
wenn es einig war.
Vorwärts mit Gott, der mit uns sein wird, wie er mit den Vätern war.
Berlin, den 6. August 1914
Wilhelm
(aus: Ulrich Cartarius (Hrsg.), Deutschland im Ersten Weltkrieg (dtv-Dokumente), München
1982)
Dok. 9
Die Regelung des Verkehrs mit Brotgetreide und Mehl im Rahmen der Kriegszwangswirtschaft,
Januar/Februar 1915
Bekanntmachung über die Regelung des Verkehrs mit Brotgetreide und Mehl vom 25. Januar/6.
Februar 1915
(Auszug)
Der Bundesrat hat auf Grund des § 3 des Gesetzes über die Ermächtigung des Bundesrats zu
wirtschaftlichen Maßnahmen usw. vom 4. August 1914 folgende Verordnung erlassen:
I. Beschlagnahme
§ 1. Mit dem Beginn des 1. Februar 1915 sind die im Reiche vorhandenen Vorräte von Weizen,
Roggen, allein oder mit anderer Frucht gemischt, auch ungedroschen, für die Kriegs-GetreideGesellschaft m. b. H. in Berlin, die Vorräte von Weizen-, Roggen-, Hafer- und Gerstenmehl für
den Kommunalverband beschlagnahmt, in dessen Bezirk sie sich befinden.
II. Anzeigepflicht
§ B. Wer Vorräte der im § 1 bezeichneten Art sowie Hafer mit Beginn des 1. Februar 1915 in
Gewahrsam hat, ist verpflichtet, die Vorräte und ihre Eigentümer der zuständigen Behörde
anzuzeigen, in deren Bezirke die Vorräte lagern.
Bei Personen, deren Vorräte weniger als einen Doppelzentner betragen, beschränkt sich die
Anzeigepflicht auf die Versicherung, dass die Vorräte nicht größer sind.
Vorräte, die als Saatgut beansprucht werden, sind besonders anzugeben.
§ 13. Wer die Anzeigen nicht in der gesetzten Frist erstattet, oder wer wissentlich unrichtige
oder unvollständige Angaben macht, wird mit Gefängnis bis zu sechs Monaten oder mit
Geldstrafe bis zu fünfzehnhundert Mark bestraft:
79
III. Enteignung
§ 14. Das Eigentum an den beschlagnahmten Vorräten geht durch Anordnung der zuständigen
Behörde auf die Person über, zu deren Gunsten die Beschlagnahme erfolgt ist.
§ 16. Der Erwerber hat für die überlassenen Vorräte einen angemessenen Preis zuzahlen.
Soweit anzeigepflichtige Vorräte nicht angezeigt sind, wird für sie kein Preis gezahlt. In
besonderen Fällen kann die höhere Verwaltungsbehörde Ausnahmen zulassen.
§ 20. Wer der Verpflichtung, enteignete Vorräte zu verwahren, und pfleglich zu behandeln,
zuwiderhandelt, wird mit Gefängnis bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bis zu zehntausend
Mark bestraft.
VII. Verbrauchsregelung
§ 31. Unter der Bezeichnung Reichsverteilungsstelle wird eine Behörde gebildet.
Die Behörde besteht aus 16 Bevollmächtigten zum Bundesrat. Außerdem gehören ihr je ein
Vertreter des Deutschen Landwirtschaftsrats, des Deutschen Handelstages und des Deutschen
Städtetags an.
§ 32. Die Reichsverteilungsstelle hat die Aufgabe, mit Hilfe der Kriegs-Getreide-Gesellschaft
m. b. H, für die Verteilung der vorhandenen Vorräte über das Reich für die Zeit bis zur nächsten
Ernte nach den vom Bundesrat aufzustellenden Grundsätzen zu sorgen.
§ 34. Die Kommunalverbände haben den Verbrauch der Vorräte in ihrem Bezirk zu regeln.
§ 36. Die Kommunalverbände oder die Gemeinden, denen die Regelung ihres Verbrauchs
übertragen ist, können zu diesem Zwecke insbesondere:
a) anordnen, dass nur Einheitsbrote bereitet werden dürfen;
b) das Bereiten von Kuchen verbieten oder einschränken;
c) die Abgabe und die Entnahme von Brot und - Mehl auf bestimmte Mengen, Abgabestellen
und Zeiten sowie in anderer Weise beschränken,
e) Händlern, Handelsmühlen, Bäckern und Konditoren die Abgabe von Brot und Mehl
außerhalb des Bezirkes ihrer gewerblichen Niederlassung verbieten öder beschränken.
Xl. Zwangsbefugnis
§ 52. Die zuständige Behörde kann Geschäfte schließen, deren Inhaber oder Betriebsleiter sich
in der Befolgung der Pflichten. unzuverlässig zeigen, die ihnen durch diese Verordnung oder
die dazu erlassenen Ausführungsbestimmungen auferlegt sind.
Gegen die Verfügung ist die Beschwerde zulässig, sie hat keine aufschiebende Wirkung. Über
die Beschwerde entscheidet die höhere Verwaltungsbehörde endgültig.
(aus: Ulrich Cartarius (Hrsg.), Deutschland im Ersten Weltkrieg (dtv-Dokumente), München
1982.
Dok. 10
Erhebung der Kartoffelvorräte, 11. März 1915
Auf Grund der Bekanntmachung des Bundesrates vom 4. März 1915 wird für den Bezirk der
Stadt Charlottenburg angeordnet:
Wer mit Beginn des 15. März Vorräte an Kartoffeln in Mengen von mindestens 1 Zentner hat,
ist verpflichtet, die Vorräte dem Magistrat der Stadt Charlottenburg anzuzeigen. Vorräte unter 1
Zentner sind nicht anzuzeigen. Anzuzeigen sind nur Vorräte, die im Gebiet der Stadt
Charlottenburg lagern.
Anzeigepflichtig ist jeder, der Kartoffeln in Mengen von 1 Zentner und mehr in Gewahrsam
hat, gleichviel ob er Eigentümer ist oder nicht.
Die Anzeige hat schriftlich auf einem vorgeschriebenen Formular zu erfolgen. Diese Formulare
werden von Sonnabend, den 13. März ab auf den Polizei-Revieren, in den Brotkommissionen
und im Statistischen Amt der Stadt Charlottenburg, Rathaus, Zimmer 131 kostenlos abgegeben.
Die ausgefüllten und unterschriebenen Formulare sind bis Mittwoch, den 17. März bei den
Brotkommissionen oder auf dem Statistischen Amt der Stadt Charlottenburg, Rathaus, (Zimmer
131) abzugeben, oder dem Statistischen Amt einzusenden.
Vorräte, die sich am 15. März auf dem Transport befinden, sind unverzüglich nach dem
Empfang von dem Empfänger zu melden.
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Wer vorsätzlich die Anzeige nicht in der gesetzten Frist erstattet oder wissentlich unrichtige
oder unvollständige Angaben macht, wird mit Gefängnis bis zu sechs Monaten oder mit
Geldstrafe bis zu zehntausend Mark bestraft; auch können Vorräte, die verschwiegen sind, im
Urteil für den Staat verfallen erklärt werden.
Wer fahrlässig die Anzeige, zu der er auf Grund dieser Verordnung verpflichtet ist, nicht in der
gesetzten Frist erstattet oder unrichtige oder unvollständige Angaben macht, wird. mit
Geldstrafe bis zu dreitausend Mark oder im Unvermögensfalle mit Gefängnis bis zu sechs
Monaten bestraft.
Charlottenburg, den 11. März 1915
Der Magistrat
(aus: Ulrich Cartarius (Hrsg.), Deutschland im Ersten Weltkrieg (dtv-Dokumente), München
1982)
Dok. 11
Verordnung über die Einschränkung des Kuchenbackens, 25. März 1915
§ 1. Hefe, Backpulver und ähnlich wirkende Mittel dürfen zum Bereiten von Kuchen nicht
verwendet werden.
Kuchen darf an Roggen- und Weizenmehl insgesamt nicht mehr als 10% des Kuchengewichts
enthalten.
Die Vorschriften dieses Paragraphen beziehen sich auf jede Herstellung von Kuchen, auch auf
die in den Haushaltungen.
§ 2. Vom 26. März bis 12. April 1915 ist das Bereiten von jeglichem Kuchen in den
Haushaltungen untersagt. In der gleichen Zeit dürfen Bäckereien, Konditoreien und ähnliche
Betriebe Kuchenteig, der außerhalb ihres Betriebes hergestellt ist, nicht verbacken.
§ 3. Der Magistrat - trifft die erforderlichen Ausführungsbestimmungen und ist berechtigt, in
einzelnen Fällen Abweichungen zuzulassen.
§ 4. Zuwiderhandlungen gegen diese Verordnung werden gemäß § 44 der Bekanntmachung des
Bundesrats vom 25. Januar 1915 (Reichsgesetzblatt S. 35) mit Gefängnis bis zu 6 Monaten oder
mit Geldstrafe bis zu 1500 Mark bestraft. Auch kann gemäß § 2 derselben Bekanntmachung die
Schließung der Geschäfte angeordnet werden.
§ 5. Die Verordnung tritt mit dem 26. März 1915 in Kraft.
Charlottenburg, den 25. März 1915
Der Magistrat
(aus: Ulrich Cartarius (Hrsg.), Deutschland im Ersten Weltkrieg (dtv-Dokumente), München
1982)
Dok. 12
Der Kleingärtner als kriegswichtiger Faktor, Februar 1917
Kleingärtner, halte durch!
Noch schwelt die Kriegsfackel blutigrot, und ihre schwarzen Schwaden verschleiern den Blick
in die Zukunft. Zwar schienen sich ja zuletzt die Nebel zu zerteilen und freudige Ausblicke
wollten eine schwere Sorge der Daheimgebliebenen, die Nahrungsfrage, etwas erleichtern. Aber
trotz aller Erfolge in West und Ost, ja wenn selbst in naher Zeit das verderbliche Völkerringen
aufhören sollte, noch bedarf es auf Jahre hinaus der Anspannung aller Kräfte, um unsere
Tapferen draußen reichlich zu versorgen, um unsere Arbeitskräfte zu Hause, einerlei ob sie in
Fabrik, Lager, Lazarett, Küche und Haus sich regen, leistungsfähig zu erhalten. Sie alle müssen
den schwersten Forderungen des Tages entsprechen können, und wir müssen durch genügende
und gute Nahrung eine kräftige Jugend heranziehen. Der Heimatsieg des Reichstags hat den
unbeugsamen Siegeswillen des ganzen Volkes aller Welt kundgetan: "Wir wollen und wir
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müssen siegen!" Doch dem Willen maß die Tat folgen! Und Dein Teil an dieser Tat kennst Du,
Kleingärtner, Du hast es in 2 Kriegsjahren bewiesen und gezeigt, dass Du mithelfen willst und
kannst. Jetzt heißt's aber, halte durch, erschlaffe nicht, raste und ruhe nicht, sei ein leuchtendes
Vorbild für alle, die noch abseits unserer Arbeit stehen. Viele Tausende hat der Krieg Dir zu
Arbeitsgenossen gemacht, und noch viele weitere Tausende müssen nachfolgen, wenn die
Aushungerungspläne unserer Gegner zunichte werden sollen.
Drum nimm guten Rat an und wirke selbst in seinem Sinne! Nütze jedes Fleckchen Boden aus!
Schon ist in dieser Hinsicht viel geschehen. Wieviel Brachland, das Jahrzehnte lang nutzlos
schlummerte, ist der Volksernährung gewonnen! Aber es liegt immer noch viel unbeachtet. Hilf
dies aufstöbern und teile es den zuständigen Stellen mit. Belehre, wenn nötig; den Besitzer, dass
kein Fleckchen zu klein und keines zu schlecht sei, etwas wächst immer darauf. Der Ertrag
braucht nicht immer fünf- und zehnfältig zu sein. Viele Wenig machen ein Viel!
(aus: Ulrich Cartarius (Hrsg.), Deutschland im Ersten Weltkrieg (dtv-Dokumente), München
1982)
Dok. 13
Merkblatt zur Kohlenversorgung für gewerbliche Zwecke, April 1916
1. Für gewerbliche Zwecke werden weiße Kohlenkarten und Marken ausgegeben.
2. Die auf gewerbliche Kohlenkarten bezogenen Kohlen dürfen ohne Genehmigung der
Kohlenausgleichstelle weder an Dritte abgegeben, noch für Hausbrandzwecke verwendet
werden.
3. Gewerbekohlenkarten erhalten auch Gast- und Schankwirtschaften und ähnliche Betriebe,
Anstalten, Läden, Bureauräume, Werkstätten, Arbeitsräume des Lebensmittelberufes und
sonstige Gewerberäume. Die Lieferung der hierfür zugeteilten Kohlenmengen darf jedoch
monatlich nicht mehr wie 1/5 der von der Kohlenausgleichstelle zugeteilten Menge betragen.
4. Gewerbekohlen, die nicht durch hiesige Lieferanten, sondern genossenschaftlich durch
direkten Bezug beschafft werden, sind unter den gleichen Bestimmungen wie seither an die
Verbraucher abzugeben. Der Kohlenausgleichstelle ist vor der Anlieferung ein Verzeichnis der
Verbraucher einzureichen.
5. Für die Abfuhr dieser Kohlen in dem Stadtgebiet gibt die Kohlenausgleichstelle
Durchfuhrscheine aus, die den Oktroierhebestellen auszuhändigen sind. Die Bezugsvereinigung
hat alsdann die erforderlichen Eintragungen in der Gewerbekohlenkarte unter Rückgabe der den
Mengen entsprechenden Kohlenmarken vorzunehmen, wobei das auf der städtischen Waage
festgestellte Gewicht maßgebend ist. Für die ab 1. Mai 1917 bezogenen Mengen Brennstoff
sind, soweit dies nicht schon seitens der Kohlenausgleichstelle geschehen ist, die Einträge in die
Kohlenkarte durch den Lieferanten bei der ersten Bestellung vorzunehmen, unter Rückgabe der
entsprechenden Anzahl Kohlenmarken.
6. Die Geschäftsstunden bei den Kohlenhändlern sind für den Verkehr mit den Verbrauchern
auf die Zeit von vormittags 9-12 Uhr und nachmittags von 3 - 5 Uhr festgesetzt. Samstags
nachmittag ist geschlossen.
(aus: Ulrich Cartarius (Hrsg.), Deutschland im Ersten Weltkrieg (dtv-Dokumente), München
1982)
Dok. 15
Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst, 5. Dezember 1916
(Auszug)
§ 1. Jeder männliche Deutsche vom vollendeten siebzehnten bis zum vollendeten sechzigsten
Lebensjahr ist, soweit er nicht zum Dienste in der bewaffneten Macht einberufen ist, zum
vaterländischen Hilfsdienst während des Krieges verpflichtet.
§ 2. Als im vaterländischen Hilfsdienst tätig gelten alle Personen, die bei Behörden,
behördlichen Einrichtungen, in der Kriegsindustrie, in der Land- und Forstwirtschaft, in der
Krankenpflege, in kriegswirtschaftlichen Organisationen jeder Art oder in sonstigen Berufen
oder Betrieben, die für Zwecke der Kriegsführung oder der Volksversorgung unmittelbar oder
mittelbar Bedeutung haben, beschäftigt sind, soweit die Zahl dieser Personen das Bedürfnis
nicht übersteigt.
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Hilfsdienstpflichtige, die vor dem 1. August 1916 in einem land- und forstwirtschaftlichen
Betriebe tätig waren, dürfen aus diesem Berufe nicht zum Zwecke der Überweisung in eine
andere Beschäftigung im vaterländischen Hilfsdienst herangezogen werden.
§ 3. Die Leitung des vaterländischen Hilfsdienstes liegt dem beim Königlich Preußischen
Kriegsministerium errichteten Kriegsamt ob.
§ 7. Die nicht im Sinne des § 2 beschäftigten Hilfsdienstpflichtigen können jederzeit zum
vaterländischen Hilfsdienst herangezogen werden.
Die Heranziehung erfolgt in der Regel zunächst durch eine Aufforderung zur freiwilligen
Meldung . . . Wird dieser Aufforderung nicht in ausreichendem Maße entsprochen, so wird der
einzelne Hilfsdienstpflichtige durch besondere schriftliche Aufforderung eines Ausschusses
herangezogen ...
Jeder, dem die besondere schriftliche Aufforderung zugegangen ist, hat bei einer der nach § 2 in
Frage kommenden Stellen Arbeit zu suchen. Soweit hierdurch eine Beschäftigung binnen zwei
Wochen nach Zustellung der Aufforderung nicht herbeigeführt wird, findet die Überweisung zu
einer Beschäftigung durch den Ausschuß statt....
§ 9. Niemand darf einen Hilfsdienstpflichtigen in Beschäftigung nehmen, der bei einer der im §
2 bezeichneten Stellen beschäftigt ist oder in den letzten zwei Wochen beschäftigt gewesen ist,
sofern der Hilfsdienstpflichtige nicht eine Bescheinigung seines letzten Arbeitgebers darüber
beibringt, dass er die Beschäftigung mit dessen Zustimmung aufgegeben hat.
Weigert sich der Arbeitgeber, die von dem Hilfsdienstpflichtigen beantragte Bescheinigung
auszustellen, so steht diesem die Beschwerde an einen Ausschuß zu, der in der Regel für jeden
Bezirk einer Ersatzkommission zu bilden ist und aus einem Beauftragten des Kriegsamts als
Vorsitzendem sowie aus je drei Vertretern der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer besteht....
§ 11. In allen für den vaterländischen Hilfsdienst tätigen Betrieben, für die Titel VII der
Gewerbeordnung gilt, und in denen in der Regel mindestens fünfzig Arbeiter beschäftigt
werden, müssen ständige Arbeiterausschüsse bestehen. . . . Die Mitglieder dieser
Arbeiterausschüsse werden von den volljährigen Arbeitern des Betriebes oder der
Betriebsabteilung aus ihrer Mitte in unmittelbarer und geheimer Wahl nach den Grundsätzen
der Verhältniswahl gewählt.... Nach denselben Grundsätzen und mit den gleichen Befugnissen
sind in Betrieben der in Abs. 1 bezeichneten Art mit mehr als fünfzig nach dem
Versicherungsgesetze für Angestellte versicherungspflichtigen Angestellten besondere
Ausschüsse (Angestelltenausschüsse) für diese Angestellten zu errichten.
§ 12. Dem Arbeiterausschusse liegt ob, das gute Einvernehmen innerhalb der Arbeiterschaft des
Betriebs und zwischen der Arbeiterschaft und dem Arbeitgeber zu fördern. Er hat Anträge,
Wünsche und Beschwerden der Arbeiterschaft, die sich auf Betriebseinrichtungen, die Lohnund sonstigen Arbeitsverhältnisse des Betriebs und seine Wohlfahrtseinrichtungen beziehen, zur
Kenntnis des Unternehmers zu bringen und sich darüber zu äußern.
Auf Verlangen von mindestens einem Viertel der Mitglieder des Arbeiterausschusses muss eine
Sitzung anberaumt und der beantragte Beratungsgegenstand auf die Tagesordnung gesetzt
werden.
§ 13. Kommt ... bei Streitigkeiten über die Lohn- oder sonstigen Arbeitsbedingungen eine
Einigung zwischen Arbeitgeber und dem Arbeiterausschusse nicht zustande, so kann . . . von
jedem Teile der in § 9 Abs. 2 bezeichnete Ausschuß als Schlichtungsstelle angerufen werden. . .
. Unterwirft sich der Arbeitgeber dem Schiedsspruch nicht, so ist den beteiligten Arbeitnehmern
auf ihr Verlangen die zum Aufgeben der Arbeit berechtigende Bescheinigung zu erteilen.
Unterwerfen sich die Arbeitnehmer dem Schiedsspruch nicht, so darf ihnen aus der dem
Schiedsspruch zugrunde liegenden Veranlassung die Bescheinigung nicht erteilt werden.
(aus: Ulrich Cartarius (Hrsg.), Deutschland im Ersten Weltkrieg (dtv-Dokumente), München
1982)
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Dok. 16
Aufruf zur Zeichnung von Kriegsanleihen, März 1917
Zeichnet Kriegs-Anleihe für U-Boote gegen England! Soldaten der dritten Armee!
Das U-Boot ist als eherne Notwendigkeit gegen den brutalen Aushungerungskrieg unserer
Gegner auf den Plan getreten, um Gleiches mit Gleichem zu vergelten.
Laßt uns dem Staat mit weitem Blick und offenen Händen die Mittel geben, die er zur raschen
umfassenden Durchführung seiner als richtig erkannten Maßnahmen benötigt, um diesen Krieg
zu einem schnellen und siegreichen Ende zu führen.
Dok. 17 Werbung für die 6. Kriegsanleihe, Der Herr Leiter des Kriegsamtes, Se. Exzellenz
Generalleutnant Groener in Berlin:
Ich bin mir keinen Augenblick im Zweifel, dass das Ergebnis der 6. Kriegsanleihe von neuem
aller Welt Deutschlands eisernen Willen zur siegreichen Durchführung seines Existenzkampfes
kundtun wird.
Zeichnet Kriegsanleihe für U-Boote gegen England!
Es ist nicht nur eine heilige, nationale Pflicht, die Ihr damit erfüllt, sondern auch ein Akt klugen
Selbstschutzes, denn Ihr werdet keinen sicheren und keinen treueren Hüter und Schirmer Eurer
Ersparnisse und Eures Besitzes finden, als Euer Vaterland.
Euer Oberbefehlshaber v. Einem
(aus: Ulrich Cartarius (Hrsg.), Deutschland im Ersten Weltkrieg (dtv-Dokumente), München
1982)
Dok. 17 Werbung für die 6. Kriegsanleihe, März 1917
Herr Reichstagsabgeordneter M. Erzberger, Berlin:
Die 6. Kriegsanleihe wird die deutsche Siegesanleihe sein. Wer den Sieg für unsere Fahne will,
muss sich an diesem großen vaterländischen Unternehmen beteiligen. Wir wollen glänzend
siegen!
Herr Geheimrat Prof. Dr. C. Duisberg, Dr. ing. et med. h. c., Generaldirektor der
Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co., Leverkusen bei Köln:
Zur sechsten Kriegsanleihe!
Die letzte Phase des Weltkrieges hat begonnen. Jetzt geht es wirklich um Sein oder Nichtsein.
Alle Klassen und Schichten der Bevölkerung sind davon betroffen. Jeder, ob er viel oder wenig
erspart hat und besitzt, gebe, was er übrig hat.
Wer hätte nicht alles für sein Vaterland übrig, jetzt nach der schnöden Ablehnung des
Friedensangebotes unseres Kaisers, nachdem schon so viel und so Großes erreicht wurde und
wir alle wie ein Mann bis zum endgültigen Sieg durchzuhalten entschlossen sind!
Drum heraus mit jedem Groschen!
(aus: Ulrich Cartarius (Hrsg.), Deutschland im Ersten Weltkrieg (dtv-Dokumente), München
1982)
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Dok. 18
Aufruf zur Goldablieferung, 5. März 1915
Gold gehört in die Reichsbank!
Zur siegreichen Beendigung des Krieges soll und kann jeder Deutsche beitragen.
Er kann es, wenn er mithilft, die Finanzkraft des Reiches zu stärken.
Das kann, nicht wirksamer als durch die Abführung des Goldes an die Reichsbank geschehen,
das in erheblichen Beträgen noch überflüssiger Weise im Verkehr ist oder gar unnütz im Kasten
ruht. Für 20 M. Gold kann die Reichsbank 60 M. in Banknoten ausgeben.
Darum: Zur Reichsbank mit allem Golde das noch im Privatbesitz ist!
Goldgeld wird von allen öffentlichen Kassen, Sparkassen angenommen und an die Reichsbank
abgeführt.
Königsberg, den 5. März 1915
Der Magistrat Dr. Körte (aus: Ulrich Cartarius (Hrsg.), Deutschland im Ersten Weltkrieg (dtvDokumente), München 1982)
Dok. 19
Begründung der SPD-Reichstagsfraktion für ihre Zustimmung zu den Kriegskrediten,
abgegeben durch den Parteivorsitzenden Hugo Haase im Reichstag, 4. August 1914
Meine Herren, im Auftrage meiner Fraktion habe ich folgende Erklärung abzugeben.
Wir stehen vor einer Schicksalsstunde. Die Folgen der imperialistischen Politik, durch die eine
Ära des Wettrüstens herbeigeführt wurde und die Gegensätze unter den Völkern sich
verschärften, sind wie eine Sturmflut über Europa hereingebrochen. Die Verantwortung hierfür
fällt den Trägern dieser Politik zu ("Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.); wir lehnen sie ab.
("Bravo!" bei den Sozialdemokraten.)
Die Sozialdemokratie hat diese verhängnisvolle Entwicklung mit allen Kräften bekämpft, und
noch bis in die letzten Stunden hinein hat sie durch machtvolle Kundgebungen in allen Ländern,
namentlich in innigem Einvernehmen mit den französischen Brüdern (Lebhaftes "Bravo!" bei
den Sozialdemokraten.), für die Aufrechterhaltung des Friedens gewirkt. (Erneuter lebhafter
Beifall bei den Sozialdemokraten.) Ihre Anstrengungen sind vergeblich gewesen.
Jetzt stehen wir vor der ehernen Tatsache des Krieges. Uns drohen die Schrecknisse feindlicher
Invasionen. Nicht für oder gegen den Krieg haben wir heute zu entscheiden, sondern über die
Frage der für die Verteidigung des Landes erforderlichen Mittel. (Lebhafte Zustimmung bei den
bürgerlichen Parteien.) Nun haben wir zu denken an die Millionen Volksgenossen, die ohne
ihre Schuld in dieses Verhängnis hineingerissen sind. ("Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)
Sie werden von den Verheerungen des Krieges am schwersten getroffen. ("Sehr richtig!" bei
den Sozialdemokraten.) Unsere heißen Wünsche begleiten unsere zu den Fahnen gerufenen
Brüder ohne Unterschied der Partei. (Lebhaftes allseitiges "Bravo!" und Händeklatschen.) Wir
denken auch an die Mütter, die ihre Söhne hergeben müssen, an die Frauen und die Kinder, die
ihres Ernährers beraubt sind und denen zu der Angst um ihre Lieben die Schrecken des Hungers
drohen. Zu diesen werden sich bald Zehntausende verwundeter und verstümmelter Kämpfer
gesellen. ("Sehr wahr!") Ihnen allen beizustehen, ihr Schicksal zu erleichtern, diese
unermeßliche Not zu lindern, erachten wir als eine zwingende Pflicht. (Lebhafte Zustimmung
bei den Sozialdemokraten.)
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Für unser Volk und seine freiheitliche Zukunft steht bei einem Sieg des russischen
Despotismus, der sich mit dem Blute der Besten des eigenen Volkes befleckt hat (Lebhafte
Rufe "Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.), viel, wenn nicht alles auf dem Spiel. (Erneute
Zustimmung.) Es gilt, diese Gefahr abzuwehren, die Kultur und die Unabhängigkeit unseres
eigenen Landes sicherzustellen. ("Bravo!")
Da machen wir wahr, was wir immer betont haben: Wir lassen in der Stunde der Gefahr das
eigene Vaterland nicht im Stich. (Lebhaftes "Bravo!") Wir fühlen uns dabei im Einklang mit der
Internationale, die das Recht jedes Volkes auf nationale Selbständigkeit und Selbstverteidigung
jederzeit anerkannt hat ("Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.), wie wir auch in
Übereinstimmung mit ihr jeden Eroberungskrieg verurteilen. ("Sehr gut!" bei den
Sozialdemokraten.) Wir fordern, dass dem Kriege, sobald das Ziel der Sicherung erreicht ist
und die Gegner zum Frieden geneigt sind, ein Ende gemacht wird durch einen Frieden, der die
Freundschaft mit den Nachbarvölkern ermöglicht. ("Bravo!" bei den Sozialdemokraten.) Wir
fordern dies nicht nur im Interesse der von uns stets verfochtenen internationalen Solidarität,
sondern auch im Interesse des deutschen Volkes. ("Sehr gut" bei den Sozialdemokraten.)
Wir hoffen, dass die grausame Schule der Kriegsleiden in neuen Millionen den Abscheu vor
dem Kriege wecken und sie für das Ideal des Sozialismus und des Völkerfriedens gewinnen
wird. (Lebhaftes "Bravo!" bei den Sozialdemokraten.)
Von diesen Grundsätzen geleitet, bewilligen wir die geforderten Kriegskredite. (Lebhafter
Beifall bei den Sozialdemokraten.)
(aus: Ulrich Cartarius (Hrsg.), Deutschland im Ersten Weltkrieg (dtv-Dokumente), München
1982)
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