Riesen des Nord Das Versagen des Mercedes A machte sie weltberühmt: Elche. Hochbeinig, beinahe eine Tonne schwer und auf den ersten Blick eher hässlich, geht man den faszinierenden Tieren vor allem als Automobilist besser aus dem Weg. Text und Fotos: Karl Weber D urch die rasch hereinbrechende Dämmerung schnurrt der Wagen auf der nur schwach befahrenen Überlandstrasse in Richtung Norden – vorbei an fast endlosen Fichtenund Kiefernwäldern, an Birkenhainen und niederen Espengehölzen. Dann und wann öffnet sich die Kulisse des Waldes für eine Weile; ein Moor, in der Dunkelheit eher zu erahnen als zu sehen, oder einer der zahllosen kleineren oder grösseren Seen 18 Natürlich | 10-2005 säumt den Weg, fahl schimmernd der Wasserspiegel, davor schon nachtschwarz aufragend die Silhouetten einzelner Bäume und Büsche. Die Wärme im Auto und die Monotonie der nächtlichen Strasse sind gefährliche Begleiter. Mangelnde Konzentration oder Unachtsamkeit kann in nordischen Ländern besonders gefährlich sein. Denn: Um diese Tageszeit sind die Elche besonders aktiv. Mehr oder weniger glimpflich verlaufende Unfälle mit diesen Tieren gehören zum Beispiel in Schweden fast schon zur Tagesordnung; die Statistiken sprechen diesbezüglich Bände. Unübersehbar machen Schilder die Strassenbenützer auf die bestehende Gefahr aufmerksam. Nächtlicher Spuk Und doch: Viel zu spät erfasst das Auge den mächtigen Wildkörper, der sich wie ein Phantom aus dem dunklen Graben seitlich der Strasse löst und einen Atemzug später schon mitten auf der Fahrbahn steht. Die Bremsen zwei-, dreimal kurz antippen und das Gefährt durch ein hartes Durchtreten des Pedals schlingernd zum Stillstand bringen, geschieht rein automatisch. Kaum drei Meter vor dem Wagen steht eine Elchkuh. Das Riesenvieh tut nicht den geringsten Wank. Es steht einfach mit nach hinten gelegten Ohren und gesträubtem Nackenhaar im Scheinwerferlicht und starrt das Auto an. Dabei erweckt der Koloss den Eindruck, als wolle er im nächsten Augenblick wutentbrannt auf das Tiere NATUR ens Auto losgehen. Der Grund wird nach einer knappen Minute klar, als zwei halbwüchsige Kälber aus dem Dunkel auftauchen und sich zu ihrer Mutter gesellen. Wenig später verrät der sich ändernde Gesichtsausdruck der Elchkuh einen Stimmungswechsel. Bedächtig wendet sich das Tier vom Auto ab, stakst, die beiden Jungen im Schlepptau, gemächlich auf die andere Strassenseite hinüber, fällt dort in Troll und verschwindet mit seinem Anhang in der Dunkelheit der Nacht. Der Spuk ist vorbei. Elch stand vor der Ausrottung Der heute in Nord- und Osteuropa, in Sibirien sowie in einigen Regionen des nördlichen Nordamerikas lebende Elch (Alces alces) war früher einmal viel weiter verbreitet. So bewohnte er einst grössere Teile Mitteleuropas, ja selbst auf dem Gebiet der heutigen Schweiz lebten diese Tiere in zahlreichen fluss- und seenahen Wäldern. Wir dürfen annehmen, dass Elche bis zu Beginn des vergangenen Jahrtausends zwischen Jura und Alpen ihre Fährte zogen. Später dann hatten die vom Menschen verursachten Landschaftsveränderungen und die durch den Gebrauch modernerer Waffen sich stärker auswirkende zügellose Bejagung der Tiere einen allgemeinen Rückgang und schliesslich das völlige Verschwinden des Elches aus Mitteleuropa zur Folge. Im Laufe des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahmen die Elchbestände schliesslich auch in den nord- und osteuropäischen Verbreitungsgebieten auf fast katastrophale Weise ab. Der grösste Hirsch der Welt war hier nun ebenfalls der Ausrottung nahe. Erst nachdem verschiedene Länder das Elchwild unter strengen Schutz stellten, vermochten sich die arg geschrumpften Bestände wieder zu erholen. Nicht genug damit, die Elche vermehrten sich seither in kaum erwarteter Weise und begannen vormals verlorene Gebiete zurückzuerobern und neue Lebensräume zu besiedeln. Heute leben in Nord- und Ost- europa mehr Elche als je zuvor in den letzten 200 Jahren. Hervorragend dem Lebensraum angepasst Der Elch ist ein Tier ausgedehnter, lichter Wälder und weiträumiger Sümpfe und Moore. Diesen ursprünglichen Lebensräumen ist er bezüglich Gestalt und Körperbau wie auch durch sein Verhalten hervorragend angepasst. Der stattlichste aller Hirsche erweist sich in seiner natürlichen Umwelt deshalb als in hohem Masse überlebenstüchtig. Lange, kräftige Beine erlauben ihm ein sicheres Sich-Fortbewegen im Sumpfgelände wie im fallholzreichen Urwald, im trügerischen Moor genauso wie im hohen Schnee. Die grossen Hufe mit den weit spreizbaren Zehen tragen das Ihrige dazu bei. Ein ausgezeichnetes Gehör und eine feine Nase sind die Sinne, auf die sich ein Elch in seinem Leben verlässt. Beide sind hoch entwickelt. Weit geringer ist dagegen Natürlich | 10-2005 19 «Muffel»: Die kräftige, stark herunterhängende Oberlippe der Elche erleichtern den Tieren das Erfassen und Abbrechen von Zweigen und das Abstreifen von Blättern die Leistungsfähigkeit des Auges. Einen unauffällig gekleideten, ruhig verharrenden Menschen beispielsweise sieht das Tier kaum. In seinen bevorzugten Einständen in strauch- und buschwerkreichen Wäldern würde ihm ein überdurchschnittliches Sehvermögen auch gar nicht viel nützen. Nase und Ohr indes verraten ihm einen herannahenden Feind, meist lange bevor zu diesem eine Sichtverbindung besteht. Ausdauernde Schwimmer Immer wieder verblüfft die Tatsache, wie wenig Elche trotz ihrer Grösse und Massigkeit auffallen. Ziehen sie nicht gerade über bewuchsarmes, offenes Gelände, werden sie leicht übersehen. Noch erstaunlicher aber ist die Tatsache, dass sie sich nahezu lautlos durch dichte Vegetation bewegen und sich bei Gefahr unbemerkt, fast geisterhaft davonstehlen können. Obschon Elche das Galoppieren nicht besonders lieben, sind sie notfalls in der Lage, einige hundert Meter weit mit einer Geschwindigkeit um die 40 Stundenkilometer zu fliehen. Ihre wohl typische Fortbewegungsart ist der Troll, ein weit greifender, leichter Trab. Diesen Gang halten sie bei Bedarf über viele Kilometer durch ohne jemals anzuhalten. Im Lebensraum der Elche ist Wasser – in Form von Flüssen, Seen, Sümpfen, Mooren oder Meeresarmen – ein nahezu allgegenwärtiges Element. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Tiere sich in ihm hervorragend zurechtfinden. Als ausdauernde Schwimmer sind sie ohne weiteres in der Lage, Seen oder Sunde von mehreren Kilometern Breite zu durchqueren. Auch das Tauchen bereitet einem Elch offensichtlich wenig Mühe. Zumindest in flacheren Gewässern machen die Tiere bei der Nahrungssuche immer wieder von dieser Fähigkeit Gebrauch. Sie gelangen so an saftige Sumpf- und Wasserpflanzen. Entweder tauchen sie dabei nur ihren langen 20 Natürlich | 10-2005 Gute Schwimmer: Gewässer stellen für Elche kaum je ein Hindernis dar Kopf unter oder gehen, wo dies nicht mehr ausreicht, mit dem ganzen Körper auf Tauchstation. Dabei bleiben sie manchmal bis gegen eine Minute unter Wasser. Reine Vegetarier 30 bis 40 Kilogramm Nahrung benötigt ein Elch im Sommer pro Tag. Hauptbestandteil sind Blätter, Zweigspitzen und junge Triebe von Bäumen und Sträuchern, vor allem von so genannten Weichhölzern. Daneben nehmen die Tiere zu gewissen Zeiten auch Kräuter und Gräser auf oder tun sich an saftiger Rinde und, vorab im Winter, an Koniferennadeln gütlich. Dabei fällt ihnen das Abweiden bodennaher Pflanzen nicht leicht. Im Verhältnis zu seinen überaus langen Läufen hat der Elch nämlich einen kurzen Hals. So gute Dienste diese Kombination dem Tier beim Knabbern von Laub und Zweigen leistet, so wenig eignet sie sich zum Äsen von Gras und kleinwüchsigen Kräutern. Um diese Nahrung trotzdem aufnehmen zu können, müssen die Elche ihre Vorderbeine breit auseinander stellen oder sich gar auf die Vorderhufgelenke niederlassen. 30 Kilogramm schweres Geweih Von allen Hirscharten trägt der männliche Elch das grösste und schwerste Geweih. Vor allem die Elchhirsche Sibiriens und Alaskas entwickeln mächtige, mit einer Vielzahl von Enden versehene, schaufelförmige Geweihe, die nicht selten eine Auslage von zwei Metern und ein Gewicht von 20 bis 30 Kilogramm erreichen. Grösse und Gestalt dieses Kopfschmuckes sind allerdings sehr verschie- Elchkälber: Ihnen fehlt das hell gefleckte Jugendfell, wie man es von anderen Hirscharten kennt Tiere NATUR den und längst nicht alle Elche tragen solch imposante Schaufeln. Dabei spielt nicht nur das Alter des Hirsches eine Rolle, auch die Ernährung und die individuelle Veranlagung eines Tieres haben einen Einfluss auf die Ausbildung des Geweihs. Seine Form ist offenbar zum Teil auch geografisch bedingt. Fachleute unterscheiden zwischen mehreren Geweihtypen. Wesentliches Merkmal ist, ob ein Geweih eine mehr stangenförmige Ausbildung, ohne Neigung zur Verbreiterung, oder eben eine mehr oder weniger ausgeprägte Schaufelform zeigt. In den meisten Gebieten Nord- und Osteuropas überwiegt der Stangenelch-Typ. Keine Haremsbildung Das fertig entwickelte, als Rangsymbol und als Waffe im Rivalenkampf dienende Geweih tragen Elche nur während etwa drei bis vier Monaten im Jahr. Auch wenn es während der Paarungszeit in der Regel viel ruhiger zu- und hergeht als bei den meisten andern Hirscharten, kommt es Tiere NATUR Kehlbart: Dabei handelt es sich um einen mit längeren Haaren besetzten Hautlappen, dessen Funktion oder Bedeutung nicht mit Sicherheit geklärt ist doch zwischen gleich starken Nebenbuhlern des Öftern zu erbitterten Kämpfen um die weiblichen Tiere. Und Verletzungen, auch tödlich endende, sind als Folge der hart geführten Auseinandersetzungen keine Seltenheit. Elchhirsche scharen allerdings keinen vielköpfigen Harem um sich, wie wir es etwa von dem bei uns heimischen Rot- oder Edelhirsch kennen. Meist tun sie sich eine Weile mit einem, seltener mit zwei oder mehr Weibchen zusammen. Nach der Paarung trennen sich die Tiere wieder, und der Hirsch macht sich auf die Suche nach weiteren paarungsbereiten Kühen. Wenig natürliche Feinde Gute acht Monate nach der Brunft stellt sich beim Elchwild der Nachwuchs ein. Zwischen April und Anfang Juni bringen die trächtigen Weibchen ein bis zwei, ausnahmsweise auch drei Kälber zur Welt. Diese sind bei der Geburt rund 70 bis 80 Zentimeter hoch und wiegen durchschnittlich um zehn Kilogramm. In den ersten Lebensmonaten legen Elchjunge auffallend schnell an Gewicht zu. Schon nach einem halben Jahr, zu Beginn des Winters, wiegen sie mehr als das Zehnfache. Ihre Körpergrösse verdoppelt sich in der gleichen Zeit nahezu. Die volle Stärke, sowohl bezüglich der Körpermasse als auch des Gewichts, erreichen Elche erst ab dem fünften Lebensjahr. Bis es so weit ist, haben die Elch-Kälber vor allem Bären und Wölfe zu fürchten. Denn sieht man einmal vom Menschen ab, so hat ein gesunder ausgewachsener Elch nur wenige natürliche Feinde. Wolf und Braunbär sind wohl die Einzigen, die ihm wirklich gefährlich werden können. Häufiger fallen diesen Raubtie- ren Kälber, halbwüchsige Junge oder kranke und geschwächte Tiere zum Opfer. Der ausgewachsene und gesunde Elch ist für beide Raubtiere eine nur schwer zu überwältigende Beute, die Jagd auf ihn stets mit grossem Risiko verbunden. Vor Wölfen muss der Elch sich eigentlich nur im Winter in Acht nehmen, wenn Wolfsrudel mangels anderer, leichter zu überwältigender Beute auch ausgewachsene Elche angreifen. Die kraftvollen Hirsche wissen sich ihrer Haut sehr wohl zu wehren. Auch beim jungen Elchwild ist die oft hohe Sterblichkeitsrate weit mehr auf verschiedene Krankheiten oder sonstige Gefahren des Lebens zurückzuführen als auf den Einfluss der Beutegreifer. Elche im Vorgarten Wo Elche nicht übermässig bejagt oder sonstwie belästigt werden, verlieren sie mit der Zeit nicht selten ihre ganze Vorsicht gegenüber dem Menschen. Sie macht dann einer weit gehenden Unbekümmertheit, ja manchmal sogar einer gewissen Aufdringlichkeit Platz. Sowohl in Nordeuropa als auch in den andern Verbreitungsgebieten kommt es immer wieder vor, dass sich Elche bei helllichtem Tage entlang von Strassen tummeln und sich ohne Scheu aus der Nähe bestaunen lassen – solange Schaulustige im Auto bleiben oder sich zumindest nicht wesentlich von ihm entfernen. Verschiedenenorts wagen sich die mächtigen Tiere manchmal sogar in die Strassen und Parkanlagen grösserer Städte oder dringen in Gärten ein und tun sich dort am vorgefundenen Gemüse gütlich. Eines sollte man beim Zusammentreffen mit solchen Elchen nie ausser Acht lassen: Es sind trotz allem Wildtiere. Ihre Laune kann oft schon durch eine vermeintliche Nichtigkeit umschlagen, und dann ist mit ihnen nicht gut Kirschen essen. Unerwartet rasch kann ein beunruhigter oder gereizter Elch zum Angriff übergehen. Besonders Junge führende Elchkühe und männliche Hirsche zur Brunftzeit neigen zu Temperamentsausbrüchen. Die muskulösen langen Vorderläufe mit den scharfrandigen Hufen sind eine furchtbare Waffe. Es sind Fälle bekannt, wo Elche Wölfe, ja sogar Bären töteten, indem sie ihnen mit Hufschlägen den Schädel zertrümmerten. Der Elch als Haustier Weil der Elch verhältnismässig leicht zu zähmen ist, wurde schon seit dem Mittelalter immer wieder versucht, ihn als Nutztier, etwa zum Tragen und Ziehen von Lasten, zu halten. Noch heute gibt es Gebiete in Sibirien, in denen sie als Arbeitstiere verwendet werden. Ein ausgewachsener Elch kann bis zu 125 Kilogramm auf seinem Rücken tragen oder eine Schlittenladung mit einem Gewicht von gut 900 Kilogramm ziehen. Selbst Versuche, diese Hirschart in Farmen für die Milch- und Fleischgewinnung zu züchten, fehlen nicht. Gewisse Erfolge bei der wirtschaftlichen Nutzung des Elchwildes erzielte man in Sibirien. Östlich von Moskau versorgen Elche ein Sanatorium mit Elchmilch. Sie dient zur Behandlung von Morbus Crohn und Strahlenkrankheiten. ■ Infobox – www.alces-alces.com – www.elchhausen.de/Elch-Test.html – www.mooseworld.com (englisch) Literatur – Hofrichter, «Die Rückkehr der Wildtiere – Wolf, Geier, Elch & Co.», Verlag Stocker 2005, ISBN: 3-7020-1059-9, Fr. 52.20 – Heptner, Nasimowitsch, «Der Elch – Alces alces», Die Neue Brehm-Bücherei Bd. 386, 2004, ISBN: 3-89432-173-3, Fr. 52.30 – Silliker, «Moose: Giants of the Northern Forest», Verlag Firefly Books Ltd 2005, ISBN 1552092550, etwa Fr. 30.– (in englischer Sprache) – Van Ballenberghe, «In the Company of Moose», Verlag Stackpole 2004, ISBN 0-8117-0102-6, Fr. 51.60 (in englischer Sprache) – Lee, «The Encyclopedia of Deer: Your Guide to the World’s Deer Species», Verlag Voyager 2004, ISBN 0-89658-590-5, Fr. 60.– (in englischer Sprache) Natürlich | 10-2005 23