EXAMINATORIUM IM SCHWERPUNKTBEREICH 10 (MEDIZINRECHT) SOMMERSEMESTER 2016 FLORIAN ZENGER Fall 12 a Lösungsvorschlag Erster Tatkomplex: Die verhinderte Abtreibung I. Strafbarkeit der F gem. §§ 218 I, III, 22, 23 I StGB (versuchter Schwangerschaftsabbruch) durch das Ansetzen zum Einnehmen der Pille F könnte sich durch das Ansetzen zur Einnahme der Mifegyne-Pille eines versuchten Schwangerschaftsabbruchs strafbar gemacht haben. 1. Vorprüfung a) Keine Vollendung Die Tat dürfte nicht vollendet sein. Zwar trat später aufgrund des Eingriffs während der Geburt der Tod des – nunmehr als Mensch zu beurteilenden – Kindes ein, was prinzipiell auch als Erfolg iSd § 218 StGB ausreichen kann (Stichwort: pränataler Eingriff mit postnatalen Folgen), wenn der Tod des späteren Menschen durch eine vorsätzliche Abbruchshandlung noch während der Schwangerschaft verursacht wird.1 Hier steht der spätere Tod des Kindes allerdings in keinem Zusammenhang mit der in Rede stehenden Handlung der F: Dächte man sich das Ansetzen zur Einnahme der Pille am Anfang der Schwangerschaft hinweg, wäre ebenfalls der spätere Tod aufgrund Perforation eingetreten. Somit ist die Kausalität der Handlung der F für den Erfolg zu verneinen; es liegt kein vollendeter Schwangerschaftsabbruch vor. b) Strafbarkeit des Versuchs Der Versuch des Schwangerschaftsabbruchs ist grundsätzlich strafbar gemäß § 218 IV 1 StGB. Zwar wird die Schwangere selbst gemäß § 218 IV 2 StGB nicht wegen Versuchs bestraft, allerdings handelt es sich hierbei um einen persönlichen Strafausschließungsgrund, der nur für die Schwangere selbst gilt (§ 28 II StGB) und somit erst nach der Schuld zu prüfen ist – insb. bleibt eine etwaige Teilnahme anderer Personen an der 2 versuchten Tat der Schwangeren trotz Straffreiheit der Haupttäterin möglich. 2. Tatbestand a) Tatentschluss F müsste Vorsatz hinsichtlich aller objektiven Tatbestandsmerkmale des § 218 gehabt haben. aa) Tatobjekt Die Tat müsste sich nach der Vorstellung der F auf eine lebende Leibesfrucht,3 also noch keinen Menschen, bezogen haben. Eine Leibesfrucht liegt nach allen Ansichten zum Beginn des Menschseins vor, da die Geburt weder vollendet ist noch begonnen hat, was F wusste. 1 Lackner/Kühl, § 218 Rn 4. 2 Spickhoff/Knauer/Brose, Medizinrecht, 2. Auflage 2014, § 218 StGB Rn 38. 3 SSW/Momsen/Momsen-Pflanz, § 218 Rn 5. LUDWIG-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT MÜNCHEN SEITE 2 VON 11 bb) Tathandlung und Taterfolg Def.: Unter Abbrechen der Schwangerschaft ist jede Handlung, die durch unmittelbare 4 oder mittelbare Einwirkung auf die Leibesfrucht deren Tod herbeiführt, zu verstehen. F kam es gerade darauf an, dass durch die Einnahme des Mittels Mifegyne ihre Leibesfrucht abgetötet und so deren Abgang bewirkt würde. Vorsatz in Form von dolus directus 1. Grades hinsichtlich des Abbrechens einer Schwangerschaft liegt somit vor. b) Unmittelbares Ansetzen (+) F hat bereits unmittelbar zur Einnahme der Pille und damit zur Tathandlung „angesetzt“ laut Sachverhalt. c) Tatbestandsausschluss gem. § 218a I StGB Der Abbruch sollte gem. § 218a I Nr. 1 auf Verlangen der F und nach Vorlage einer Bescheinigung nach § 219 II 2 StGB erfolgen, außerdem durch einen Arzt (§ 218a I Nr. 2) und innerhalb der 12-wöchigen Frist des § 218a I Nr. 3 vorgenommen werden. Damit sind die Voraussetzungen des § 218a I StGB erfüllt, der einen Tatbestandsausschluss bei dennoch bestehen bleibender Rechtswidrigkeit der Tat normiert. Außerdem käme der F, wenn nicht bereits der Tatbestand ausgeschlossen wäre, der persönliche Strafausschließungsgrund des § 218 IV 2 StGB zugute, nach dem die Schwangere selbst nicht wegen Versuchs bestraft wird (was ebenfalls nicht die Rechtswidrigkeit der Tat beseitigt). 2. Ergebnis F ist nicht nach § 218 StGB strafbar. II. Strafbarkeit des A gem. §§ 218 I, IV 1, 22, 23 I StGB (versuchter, mittäterschaftlicher Schwangerschaftsabbruch) durch das Übergeben der Pille A könnte sich durch die Übergabe der Pille eines versuchten Schwangerschaftsabbruchs in Mittäterschaft strafbar gemacht haben. 1. Vorprüfung Ein vollendeter Schwangerschaftsabbruch liegt nicht vor (s.o.). Der Versuch ist gemäß § 218 IV 1 StGB strafbar. 2. Tatbestand a) Tatentschluss A müsste mit Vorsatz hinsichtlich der objektiven Tatbestandsmerkmale des § 218 StGB gehandelt haben. aa) Abbruch einer Schwangerschaft A hatte jedenfalls sicheres Wissen davon, dass durch die Einnahme des Mittels Mifegyne auf eine Leibesfrucht eingewirkt, diese abgetötet und so deren Abgang bewirkt würde. Vorsatz hinsichtlich des Abbrechens einer Schwangerschaft liegt somit vor. bb) (mit)täterschaftliche Verwirklichung Allerdings sollte dieses nicht eigenhändig durch eine Handlung des A vonstatten gehen, sondern unmittelbar erst durch die Einnahme der Pille durch F selbst. Ob diese Handlung der F dem A im Wege der Mittäterschaft zugerechnet werden kann, be- 4 Vgl. SSW/Momsen/Momsen-Pflanz, § 218 Rn 10 f. LUDWIG-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT MÜNCHEN SEITE 3 VON 11 stimmt sich nach § 25 II StGB. Dieser setzt einen gemeinsamen Tatplan und eine ge5 meinsame Tatausführung voraus. Ersteres ist unproblematisch der Fall, es bestand Einvernehmen zwischen F und A über die Durchführung des Schwangerschaftsabbruchs. Fraglich ist jedoch, ob A nach seiner Vorstellung von der Tat auch einen ausreichenden Beitrag zur gemeinsamen Tatausführung geleistet hätte. Nach der in der Literatur vorherrschenden Tatherrschaftslehre6 ist Täter, wer als Zentralgestalt des Geschehens eine für die Tatverwirklichung wesentliche Funktion ausfüllt. Maßgeblich ist das arbeitsteilige Zusammnewirken der Beteiligten. Hiernach spricht zwar gegen eine täterschaftliche Verwirklichung, dass A nicht unmittelbar durch eine eigene Handlung die Schwangerschaft abgebrochen hätte, er hat „nur“ das Mittel für F zur Verfügung gestellt. Allerdings war F diesbezüglich wesentlich auf A angewiesen, ohne den Arzt wäre sie nicht an das Mittel gekommen. Außerdem hatte A auch bei der Einnahme der Pille noch eine beherrschende Stellung, da er diese überwachte und in seiner Praxis stattfinden ließ. Daher ist eine funktionelle Tatherrschaft des A zu bejahen. (aA mit entspr. Argumentation vertretbar) Auch nach der Rechtsprechung (subjektive Theorie auf objektiv-tatbestandlicher Grundlage), die ebenfalls Kriterien wie die objektive Tatherrschaft zur Bestimmung 7 des hiernach maßgeblichen Täterwillens heranzieht, ergibt sich nichts anderes. (aA gut vertretbar aufgrund ggf. fehlenden eigenen Interesses an der Tat) b) Unmittelbares Ansetzen Durch das Überreichen der Pille hat A bereits unmittelbar zur Tat angesetzt. c) Tatbestandsausschluss gem. § 218a I StGB Auch diese Tat ist jedoch aufgrund des Tatbestandsausschlusses gem. § 218a I StGB (Fristenlösung) nicht strafbar (s.o.). 2. Ergebnis A hat sich nicht gemäß §§ 218, 25 II, 22 StGB strafbar gemacht. III. Strafbarkeit der M gem. § 240 I, II StGB (Nötigung) durch Entreißen der Pille M könnte sich wegen einer Nötigung strafbar gemacht haben, indem sie der F die Pille wegnahm. 1. Tatbestand a) objektiver Tatbestand aa) Nötigungsmittel Def. Gewalt: Körperlich wirkender Zwang, um geleisteten oder erwarteten Widerstand zu überwinden8 5 Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT, Rn 761. 6 Vgl. MüKo/Joecks, § 25 Rn 33, 183. 7 NK/Schild, § 25 Rn 37. 8 Rengier, Strafrecht BT II, 17. Aufl. 2016, § 23 Rn 23. LUDWIG-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT MÜNCHEN SEITE 4 VON 11 Das Entreißen der Pille ist als Ausübung von Zwang anzusehen, der dazu eingesetzt wurde, um tatsächlich geleisteten Widerstand (F versuchte, die Pille festzuhalten) zu überwinden. Das Nötigungsmittel der Gewalt liegt somit vor. bb) Nötigungserfolg Als Nötigungserfolg kommt jede Handlung, Duldung oder Unterlassung des Genötigten in Betracht. Hier musste F die Wegnahme der Pille dulden. cc) Finale Verknüpfung Der Einsatz der Gewalt geschah auch mit dem Ziel, die Duldung des Entreißens der Pille zu erzwingen. b) Subjektiver Tatbestand M handelte dabei mit Wissen und Wollen, mithin vorsätzlich. 2. Rechtswidrigkeit a) Verwerflichkeitsprüfung, § 240 II StGB Die Rechtswidrigkeit ist bei § 240 StGB nicht durch die Tatbestandsmäßigkeit indiziert, sie muss positiv festgestellt werden (§ 240 II StGB) und setzt voraus, dass sich aus ei9 ner Zweck-Mittel-Relation ergibt, dass die Tat verwerflich ist. Der hier vorliegende Zweck, die Verhinderung des fristgemäßen Schwangerschaftsabbruchs gegen den Willen der F, ist bereits verwerflich, da hierin eine grobe Missachtung des Selbstbestimmungsrechts der F liegt. (aA vertretbar angesichts der „Rechtswidrigkeit“ des Schwangerschaftsabbruchs) b) Rechtfertigung durch Nothilfe zugunsten des Embryos, § 32 StGB Die Tat könnte aber durch Nothilfe gem. § 32 StGB gerechtfertigt sein. aa) Nothilfelage Dies setzt einen gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff voraus. Def.: Angriff ist jede durch menschliches Verhalten drohende Verletzung eines notwehrfähigen Rechtsguts. Gegenwärtig ist der Angriff dann, wenn er unmittelbar bevorsteht, gerade stattfindet oder noch andauert. Rechtswidrig ist der Angriff, wenn er im Widerspruch zur Rechtsordnung steht.10 11 Das ungeborene Leben ist ein Individualrechtsgut und somit notwehrfähig. Die bevorstehende Abbruchshandlung durch Einnahme der Pille und damit durch menschliches Verhalten ist eine unmittelbar bevorstehende Verletzung dieses Rechtsguts. Der versuchte Schwangerschaftsabbruch durch F und A ist somit ein gegenwärtiger Angriff. Problematisch ist die Rechtswidrigkeit des Angriffs. Zwar normiert § 218a I StGB einen Tatbestandsausschluss, dieser soll jedoch die Rechtswidrigkeit unberührt lassen.12 Laut Vorgabe des BVerfG sollte der Gesetzgeber mit der Neufassung des § 218a StGB sicherstellen, dass der beratene Schwangerschaftsabbruch nach Fristenlösung zwar 9 Rengier, Strafrecht BT II, 17. Aufl. 2016, § 23 Rn 60 f. 10 Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT, Rn 479, 487, 493. 11 Roxin, Strafrecht AT I, § 15 Rn 33. 12 MüKo/Gropp, Bd. IV, 2. Aufl. 2012, § 218a Rn 4. LUDWIG-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT MÜNCHEN SEITE 5 VON 11 straffrei, aber rechtswidrig ist. Etwaige Notwehrrechte gegen solche rechtswidrige Ab13 brüche sollen aber ausgeschlossen sein. 14 (aA aufgrund der Inkonsistenzen der BVerfG-Urteils und der Gesetzesbegründung vertretbar) bb) Nothilfehandlung Die Nötigungshandlung ist gegen F als Täterin des §§ 218, 22 und damit gegen die Angreiferin gerichtet. Sie ist erforderlich zur sofortigen Abwendung des Angriffs, da kein milderes gleich geeignetes Mittel zu Verfügung steht – auch der Einsatz von Gewalt war notwendig, da F die Pille festzuhalten versuchte. Fraglich ist, ob die Notwehrhandlung auch geboten war oder ob hier ausnahmsweise eine der sozialethisch begründeten Einschränkungen des Notwehrrechts anzunehmen ist. Der Zweck der Beratungslösung besteht darin, dem Lebensschutz durch Anreiz für Schwangere, die „ergebnisoffene“ (mit möglichem straffreien Schwangerschaftsabbruch) Beratung in Anspruch zu nehmen, zu dienen. Dadurch soll eine Flucht in die Illegalität verhindert werden. Dieser Zweck würde konterkariert, wenn jedem Dritten ein Notwehrrecht zugunsten des Embryos eingeräumt würde.15 Aus diesem Grund ist die Gebotenheit der Nothilfe zu verneinen. cc) Zwischenergebnis Eine Rechtfertigung durch Nothilfe scheidet mangels Gebotenheit aus. c) Rechtfertigung durch Notstandshilfe, § 34 StGB? aa) Notstandslage Mit der gegenwärtigen Gefahr für die Leibesfrucht der F besteht eine Notstandslage iSd. § 34 StGB. bb) Notstandshandlung (1) Erforderlichkeit Das Entreißen der Pille war erforderlich zur Abwendung der Gefahr (s.o. zu Nothilfe). (2) Interessenabwägung Außerdem müsste ein wesentliches Überwiegen des geschützten Interesses über das beeinträchtigte vorliegen. Hier sind als abstrakte Rechtsgüter das ungeborene Leben, 16 17 das nach herrschender, wenn auch zweifelhafter Meinung bereits dem geborenen Leben gleichwertigen Schutz genießt und die Willensentschließungsfreiheit der F gegeneinander abzuwägen. Schon bei abstrakter Betrachtung überwiegt das Lebensrecht des Ungeborenen.18 In der konkreten Situation spielt auch die Eingriffsintensität und die Wahrscheinlichkeit der drohenden Gefahr eine Rolle für die Interessenabwägung. Hier droht das Leben der Leibesfrucht sicher vollständig beseitigt zu werden. Das Entreißen der Pille ist jedoch eine nur geringfügige Beeinträchtigung der Selbstbestim- 13 BVerfG NJW 1993, 1751. 14 Für Rechtmäßigkeit NK/Merkel, § 218a Rn 57 ff. 15 Hillenkamp, JuS 2014, 924, 926. 16 BverfG NJW 1975, 573; Bockelmann, JZ 1959, 498; Jerouschek GA 1988, 483 ff.; Kaufmann, JZ 1963, 142. 17 Dreier, JZ 2007, 261, 267. 18 Spickhoff/Knauer/Brose, Medizinrecht, § 218 Rn 2. LUDWIG-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT MÜNCHEN SEITE 6 VON 11 mung der F. Somit ist ein wesentliches Überwiegen des Lebensrechts des Embryos zu bejahen. (3) Angemessenheit Jedoch ist das gewaltsame Verhindern eines Schwangerschaftsabbruchs kein angemessenes Mittel, um der Gefahr für den Embryo zu begegnen. Die Entscheidung des Gesetzgebers, in diesen Konstellationen auf Zwang zu verzichten, würde konterkariert, ließe man die zwangsweise Durchsetzung des Lebensrechts des Embryos durch Private 19 zu (siehe auch oben, Gebotenheit der Notwehr). Mangels Angemessenheit ist eine Rechtfertigung wegen Notstandshilfe zu verneinen. d) Zwischenergebnis Die Nötigung war rechtswidrig. 3. Schuld a) Entschuldigender Notstand, § 35 StGB Nach h.M. liegt schon keine Gefahr für ein notstandsfähiges Rechtsgut iSd. § 35 und damit keine Notstandslage vor, da diese Vorschrift mit „Leben“ nur das geborene Leben meint.20 21 Anm.: Wenn man an dieser Stelle (vertretbar ) ein Rechtsgut des § 35 StGB bejaht, müsste man 22 1. in dem Embryo eine angehörige Person der M im Sinne der §§ 11 I Nr. la, 35 sehen , was angesichts der Verwandtschaft (M wäre Großmutter des Kindes) vertretbar erscheint (sofern eine „Person“ bereits angenommen werden kann), sowie 23 2. über das Erfordernis der Unzumutbarkeit der Hinnahme der Gefahr hinwegkommen, um den entschuldigenden Notstand zu bejahen b) Übergesetzlicher Notstand Eine die Erwägung eines übergesetzlichen Notstands rechtfertigende außergewöhnli24 che Konfliktsituation liegt hier nicht vor. Auch eine etwaige religiöse Überzeugung der M kann hier nicht entschuldigend wirken, hiergegen spricht die eindeutige gesetzgeberische Entscheidung gegen die 25 zwangsweise Verhinderung von Schwangerschaftsabbrüchen nach Fristenlösung. c) Zwischenergebnis M handelte auch schuldhaft. 4. Ergebnis M hat sich gemäß § 240 StGB wegen Nötigung strafbar gemacht. 19 Hillenkamp, JuS 2014, 924, 926. 20 SSW/Rosenau, § 25 Rn 5; MüKo/Müssig, § 35 Rn 13; LK/Zieschang, § 35 Rn 12. 21 Z.B. Schönke/Schröder/Perron § 35 Rn. 5. 22 bejahend iHa den Erzeuger des Embryos etwa Satzger, JuS 1997, 804. 23 Dafür: Satzger, JuS 1997, 804; dagegen: Schönke/Schröder/Perron § 35 Rn. 32, Hillenkamp, JuS 2014, 924, 926. 24 Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT Rn 677 ff.; näher hierzu siehe unten, Zweiter Tatkomplex, Strafbarkeit des B gem. § 212 StGB. 25 Hillenkamp, JuS 2014, 924, 926. LUDWIG-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT MÜNCHEN SEITE 7 VON 11 IV. Strafbarkeit der M gem. § 240 I, II StGB (Nötigung) durch Drohung mit Rausschmiss aus der Wohnung 1. Tatbestand a) Objektiver Tatbestand aa) Nötigungsmittel: Drohung M hat möglicherweise mit einem empfindlichen Übel gedroht. Def.: Inaussichtstellen eines empfindlichen, also zur Beeinflussung des Opferverhaltens im Sinne des Drohenden geeigneten, Übels, auf das der Drohende Einfluss zu haben vorgibt.26 M hat der F für den Fall der Nichtbefolgung ihres Verlangens den Rausschmiss aus der Wohnung in Aussicht gestellt, mithin mit einem empfindlichen Übel gedroht. bb) Nötigungserfolg Dies hat F zu der Handlung veranlasst, nach Hause mitzugehen. cc) finale Verknüpfung Die Drohung sollte auch gerade dazu dienen, diesen Erfolg zu erreichen. b) subjektiver Tatbestand M handelte vorsätzlich. 2. Rechtswidrigkeit Die Tat war auch rechtswidrig (zu Verwerflichkeitsprüfung sowie zur Verneinung der in Frage kommenden Rechtfertigungsgründe vgl.o.). 3. Schuld Mangels entgegenstehender Anhaltspunkte handelte M auch schuldhaft. 4. Ergebnis M hat sich einer weiteren Nötigung schuldig gemacht. V. Strafbarkeit der M gem. § 239 (Freiheitsberaubung) durch Zimmerarrest 1. Tatbestand Def. Einsperren: Verhindern des Verlassens eines (beweglichen oder unbeweglichen) 27 Raumes durch äußere Vorrichtungen oder sonstige Vorkehrungen Das Einschließen im Zimmer der F erfüllt die Voraussetzungen des Einsperrens iSd § 239 StGB und damit den objektiven Tatbestand. M handelte auch vorsätzlich. 2. Rechtswidrigkeit Rechtfertigungsgründe sind auch hier abzulehnen (vgl. o.) 3. Schuld Die Tat war schuldhaft. 4. Ergebnis 26 Rengier, Strafrecht BT II, 17. Aufl. 2016, § 23 Rn 39. 27 Rengier, Strafrecht BT II, 17. Aufl. 2016, § 22 Rn 6 f. LUDWIG-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT MÜNCHEN SEITE 8 VON 11 M ist wegen Freiheitsberaubung gem. § 239 StGB strafbar. VI. Konkurrenzen A und F haben sich nicht strafbar gemacht. M ist gem. §§ 240, 240, 239, 53 (Tatmehrheit) strafbar. Zweiter Tatkomplex: Bei der Geburt I. Strafbarkeit des B gem. § 218 StGB (Schwangerschaftsabbruch) durch die Perforation B könnte sich, indem er den Kopf des Kindes punktierte, wegen Schwangerschaftsabbruchs strafbar gemacht haben. 1. Objektiver Tatbestand Dies setzt zunächst als taugliches Tatobjekt eine Leibesfrucht voraus. Zum Zeitpunkt der Punktion fand gerade der Geburtsvorgang statt, was die Frage nach der Abgrenzung zwischen Leibesfrucht iS. § 218 StGB und Mensch iSd §§ 211 ff. StGB aufwirft. Eine Auffassung sieht den Beginn des Menschseins erst in der Beendigung der Geburt; 28 bis dahin liege „nur“ eine Leibesfrucht vor. Argumentiert wird hier mit dem Wortlaut „Mensch“ in Abgrenzung zum „Ungeborenem“, wonach vor dem Hintergrund des Bestimmtheitsgebots gem. Art. 103 II GG als Mensch nur der bereits „geborene“ Mensch gelten kann. Außerdem wird angeführt, die den Beginn des Menschseins früher ansetzende h.M. zu unlösbaren Rechtsgutskonflikten bei Problemen während der Geburt führe29, was insb. der vorliegende Fall vor Augen führt. Demnach wäre hier das Vorliegen einer Leibesfrucht zu bejahen, da die Geburt noch nicht beendet war. Die h.M. dagegen stellt auf den Beginn der Eröffnungswehen ab.30 Hierfür spricht einerseits die Gesetzgebungsgeschichte bzgl. des § 217 StGB a.F.: Diese Norm stufte die Tötung eines Kindes „in“ der Geburt bereits als Tötungsdelikt ein; mit Streichung des § 217 StGB wurden keine diesbezügliche Änderung der Rechtslage bezweckt. Zudem müsse sei die sorgfältige Durchführung gebursthilflicher Maßnahmen (hohes Schädigungspotential) sicherzustellen durch die Fahrlässigkeitsstrafbarkeit während der Geburt, welche mit § 222 StGB nur iRd §§ 211 ff. StGB vorgesehen ist (ein entsprechender Fahrlässigkeitstatbestand in den §§ 218 ff fehlt).31 Aus diesen Gründen wird hier der h.M. gefolgt, es liegt daher zum maßgeblichen Zeitpunkt (Punktion) keine Leibesfrucht mehr vor, sondern bereits ein Mensch. 2. Ergebnis B hat sich nicht gem. § 218 StGB strafbar gemacht. Anm.: Würde hier der MM gefolgt, wäre der Tatbestand des § 218 zu bejahen und das Problem der Lebensgefahr für die F unter die medizinisch-soziale Indikation des § 218a II zu subsumieren, der die Rechtswidrigkeit des Schwangerschaftsabbruchs entfallen lässt. 28 Herzberg/Herzberg JZ 2001, 1106 ff.; NK/Merkel § 218 Rn. 40 ff. 29 Merkel, in: Roxin/Schroth, Handbuch des Mezinistrafrechts, S. 318 f. 30 SK/Rudolphi/Rogall, Vor § 218 Rn 65; Schönke/Schröder/Eser-Sternberg-Lieben, Vor § 211 Rn 13. 31 Vgl. Schönke/Schröder/Eser-Sternberg-Lieben, Vor § 211 Rn 13. LUDWIG-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT MÜNCHEN SEITE 9 VON 11 II. Strafbarkeit des B gem. §§ 212, 211 StGB (Mord) durch die Perforation Möglicherweise ist B jedoch wegen selbiger Handlung nach §§ 212, 211 StGB strafbar. 1. Tatbestand a) Objektiver Tatbestand aa) Grundtatbestand des § 212 StGB Mit dem Kind der F liegt zum Zeitpunkt der Tathandlung (Punktion), die nach Beginn der Eröffnungswehen erfolgt, bereits ein Mensch vor und damit ein taugliches Tatobjekt iSd § 212 StGB. Dieser wurde kausal durch die Punktion getötet. Dies war dem B auch objektiv zurechenbar. bb) Mordmerkmal der Heimtücke Das allein in Betracht kommende Mordmerkmal der Heimtücke (§ 211 II Var. 5 StGB) setzt zunächst Arg- und darauf beruhende Wehrlosigkeit des Opfers voraus.32 Arglos ist, wer sich keines tätlichen Angrifs seitens des Täters versieht.33 Dies setzt jedoch nach h.M. die grundsätzlich gegebene Fähigkeit zum Argwohn voraus. Tötungen von Kleinstkindern unterfallen demnach wegen konstitutioneller Arglosigkeit nie dem Heimtückemerkmal.34 cc) Zwischenergebnis Der Tatbestand des § 212 StGB ist erfüllt, § 211 StGB scheidet aus. b) Subjektiver Tatbestand B müsste vorsätzlich gehandelt haben. Er hat den Tod des Kindes zwar nicht beabsichtigt und auch kein sicheres Wissen (nur 90% der Fälle tödlich) über die tödliche Folge der Punktion, aber die Möglichkeit bzw. hohe Wahrscheinlichkeit des Todeseintritts wurde von B gesehen und billigend in Kauf genommen, er hatte mithin Vorsatz in Form von dolus eventualis. 2. Rechtswidrigkeit a) Notwehr, § 32 StGB Eine Rechtfertigung nach § 32 setzt einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff durch einen anderen Menschen voraus. Zwar ging hier eine Gefahr von dem Kind und damit von einem Menschen aus, allerdings wurde diese nicht durch eine (willensgesteuerte35) Handlung des Kindes versursacht. Ein Angriff liegt nicht vor. b) Rechtfertigende Pflichtenkollision Eine rechtfertigende Pflichtenkollision kommt ebenfalls nicht in Betracht, da keine Kollision zweier Handlungspflichten vorliegt, sondern eine Unterlassungspflicht (bzgl. Tötung des Kindes) mit einer Handlungspflicht (bzgl. Rettung der Mutter) kollidiert. In diesen Fällen ist nach den Notstandsregelungen zu entscheiden.36 32 NK/Neumann, § 211 Rn 50. 33 NK/Neumann, § 211 Rn 52. 34 St Rspr, vgl. BGH NStZ 2006, 338, BGH NStZ 2013, 158; Schönke/Schröder/Eser/Sternberg-Lieben, § 211 Rn 25c. 35 Vgl. MüKo/Erb, § 32 Rn 55. 36 Vgl. Schönke/Schröder/Eser/Sternberg-Lieben, Vor §§ 32 ff. Rn 71/72. LUDWIG-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT MÜNCHEN SEITE 10 VON 11 c) rechtfertigender Notstand, § 34 StGB aa) Notstandslage Mit der gegenwärtigen Gefahr für das Leben der F liegt eine Notstandslage vor. bb) Notstandshandlung (1) Erforderlichkeit Die Perforation war erforderlich, um das Leben der F zu retten und somit die Gefahr abzuwenden. (2) Interessenabwägung Fraglich ist, ob ein wesentliches Überwiegen des geschützten Rechtsguts über das beeinrächtigte festgestellt werden kann. Die Interessenabwägung ist vor dem Hintergrund der Gleichwertigkeit der hier widerstreitenden Rechtsgüter problematisch. Aufgrund des Grundsatzes der Lebenswertindifferenz darf eine Abwägung von Leben ge37 gen Leben nicht zugunsten eines der beiden Rechtsgüter ausfallen (Art. 1 I GG). Hier könnte sich jedoch eine Besonderheit daraus ergeben, dass es sich um einen Fall des sog. Defensivnotstands handelt. Abweichend von der „normalen“ Konstellation des § 34 StGB, des Aggressivnotstands, bei dem in Rechtsgüter eines Unbeteiligten eingegriffen wird, um die Gefahr abzuwenden, geht es hier um eine Gefahr, die vom Eingriffsgut bzw dessen Träger selbst ausgeht. Insofern ist diese Konstellation einerseits mit der Notwehr vergleichbar, da zwar kein Angriff vorliegt, aber dennoch die Gefahr von einer Person ausgeht. Andererseits besteht eine Vergleichbarkeit mit Fällen des zivilrechtlichen Defensivnotstands, der nur bzgl. von Sachen ausgehender Gefahren geregelt ist (§ 228 BGB). Diese Parallelen lassen den strengen Maßstab des § 34 StGB in Defensivnotstandskonstellationen als nicht sachgerecht erscheinen. Zur Lösung der vorliegenden Problematik werden unterschiedliche Ansätze vertreten: Eine Auffassung verneint eine Rechtfertigung nach § 34 StGB, da dieser nach dem klaren Wortlaut mit dem Erfordernis des „wesentlichen Überwiegens“ des geschützten Rechtsguts nur auf Konstellation des aggressiven Notstands passe. Dafür sei aber ein übergesetzlicher Notstand bei Defensivkonstellationen anzuerkennen, wobei der Abwägungsmaßstab des § 228 BGB herangezogen werden könne. Danach muss das geschützte Rechtsgut weder wesentlich noch überhaupt überwiegen, es kann auch hinter 38 dem angegriffenen Rechtsgut zurückbleiben. Nach dieser Ansicht wäre eine Rechtfertigung des B zu bejahen. Dagegen lässt sich jedoch einwenden, dass der Maßstab des § 228 BGB nicht sachgemäß ist, der auf bloße Angriffe auf Sachen zugeschnitten ist.39 Die h.L. beurteilt daher auch den Defensivnotstand nach § 34 StGB, nimmt aber aufgrund der Vergleichbarkeit der Konstellation mit Notwehr und zivilrechtlichem Defensivnotstand (s.o.) Modifikationen iRd „Interessenabwägung“ vor: Diese sei ohnehin keine rein abstrakte Rechtsgüterabwägung, sondern eine Gesamtwürdigung der Interessenlage unter Einbeziehung aller Umstände des Einzelfalls. Das Ausgehen der Gefahr vom Kind kann als solcher Abwägungsfaktor in der Interessenabwägung 37 MüKo/Erb, § 34 Rn 116. 38 Lampe, NJW 1968, 88; Hruschka, in: FS Dreher 1977, 189, 204 ff. 39 Roxin, Strafrecht AT I, § 16 Rn 76. LUDWIG-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT MÜNCHEN SEITE 11 VON 11 berücksichtigt werden und diese zugunsten des Lebens der Mutter verschieben. Auch diese Ansicht kommt zu einer Rechtfertigung im vorliegenden Fall. 40 Nach einer Mindermeinung wird der Beginn des Menschseins erst mit Beendigung der Geburt angesetzt;41 danach wäre hier bereits tatbestandlich kein Tötungsdelikt, sondern § 218 erfüllt und es könnte § 218a II (medizinisch-soziale Indikation) als Rechtfertigungsgrund herangezogen werden. Diese Ansicht wurde oben bereits abgelehnt. Ein weiterer Ansatz besteht darin, eine Rechtfertigung abzulehnen und auf eine Ent42 schuldigung per übergesetzlichem entschuldigenden Notstand zu rekurrieren. Dagegen spricht jedoch, dass dem Arzt in Fällen wie dem vorliegenden die Begehung eines rechtswidrigen Tötungsdelikts bei bloßer Entschuldigung zugemutet würde, was einerseits ein Notwehrrecht gegen die Perforation zuließe und andererseits unter Wertungsgesichtspunkten unangemessen erscheint. Im Ergebnis ist daher eine Rechtfertigung gem. § 34 StGB zu befürworten. d) Zwischenergebnis Die Tat war nicht rechtswidrig. 3. Ergebnis B hat sich nicht nach § 212 StGB strafbar gemacht. 43 40 Roxin, Strafrecht AT I, § 16 Rn 75, 79. 41 Herzberg/Herzberg JZ 2001, 1106 ff.; NK/Merkel § 218 Rn. 40 ff. 42 Hierzu Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT, Rn 677 ff. 43 Anm.: Wenn die Rechtswidrigkeit bejaht würde, wäre in der Schuld § 35 StGB zu prüfen und mangels nahestehender Person zu verneinen. Dann sollte aber auf einen übergesetzlichen entschuldigenden Notstand abgestellt werden (Vgl. Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT, Rn 677 ff.). Anschließend käme auch eine (zwar entschuldigte) Teilnahme durch F in Betracht, etwa als psychische Beihilfe gem. §§ 212, 27 StGB, allerdings bestehen hier im Sachverhalt zu wenig Anhaltspunkte hierfür (von einer Einwilligung seitens der F ist zwar auszugehen, allerdings fehlen genauere Informationen über deren objektive Wirksamkeit als Förderung der Tat des B).