243 Varia Profilierte Vielseitigkeit – Zum achtzigsten Geburtstag des australischen Komponisten George Dreyfus Norbert Platz (Trier) Wegen seiner jüdischen Herkunft musste George Dreyfus im Jahr 1939 im Alter von elf Jahren mit einem ‚Kindertransport’ Deutschland verlassen und gelangte über England nach Australien. Die Umstände der Auswanderung aus Deutschland und der Anpassung an die Lebensbedingungen in einem neuen Land wurden von unserem Manfred Brusten kenntnisreich in einem kritisch bearbeiteten Interview festgehalten, das er 1993 mit George Dreyfus führte. Als Dreyfus in Berlin seine ersten Klavierstunden nahm, war noch nicht abzusehen, dass er sich in Australien zu einem der bedeutendsten Komponisten dieses Erdteils entwickeln könnte und dort einmal den Beinamen „Mr. New Music“ erhalten würde. Ein vollständiges Werkverzeichnis, (auch im Internet zugänglich), dokumentiert übersichtlich die Schaffensperiode zwischen 1965 und 2001. Beim Durchblättern dieses Katalogs kann man über den wagemutigen Unternehmergeist des Komponisten und seinen „Facettenreichtum zwischen Didjeridu und Avantgarde“ (so ein deutscher Kritiker) nur bewundernd staunen. Obgleich die Voraussetzungen für die Aufführung musikalischer Bühnenwerke in Australien nicht günstig waren, komponierte Dreyfus doch fünf Stücke, die dort auch tatsächlich aufgeführt wurden. Den Auftakt lieferte er 1965/66 mit der Oper Garni Sand, die gewissermaßen als erste australische Oper in Sydney und Melbourne ihren Weg auf eine professionelle Bühne fand. 1969 folgte dann The Takeover als einaktiges School musical, das die Begegnung von Weißen und der australischen Urbevölkerung thematisiert und 1997 auch an einem deutschen Gymnasium aufgeführt wurde. Wie Dreyfus jedoch schon früh feststellen musste, war er in Australien häufig auf Amateurmusiker angewiesen, bei denen nur wenig Bereitschaft bestand, ‚neue’ Musik zu spielen. Nach dem englischsprachigen Musical The Sentimental Bloke (1985) nahm er sich ein ehrgeiziges Großprojekt vor: Er komponierte zwei ‚große’ Opern, die nicht in Australien, sondern in Deutschland aufgeführt werden sollten. Beiden wurde ein deutschsprachiges, von Volker Elis Pilgrim verfasstes Libretto zugrunde gelegt. Ein amerikanischer Kritiker sprach unverdienter Maßen von “two absurdist works in German”. Der Protagonist der im Juni 1993 in Kassel uraufgeführten Oper Rathenau erinnert thematisch an die Anfangsjahre der Weimarer Republik, in denen sich erste 244 Aufwallungen antisemitischer Gesinnung an dem damaligen Reichsaußenminister Walter Rathenau entluden, der als „gottverdammte Judensau“, wie es im Text heißt, am 24. Juni 1922 von ‚fünf blonden Jungs’ ermordet wurde. Rathenau hatte sterben müssen, so notierte der deutsche Widerstandskämpfer Fritz Elsas am 25. Juni 1922 in seinem Tagebuch, „weil er Jude war“. Walter Rathenau als biografisch komplexe Figur hatte sich vorher bereits Robert Musil in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften zugewandt. Bei Musil lieferte Rathenau die Vorlage für die Romanfigur Paul Arnheim. Pilgrims Libretto sieht vor, dass in Rathenaus Todesstunde dessen Leben noch einmal in zwölf Szenen evoziert und im psychischen Korrelationsfeld von Eltern und Priester exemplarisch ausgedeutet wird. Zu neunzig Prozent besteht der Text aus Rathenau-Zitaten. Rathenau wird bei Pilgrim als „Bettritzen“-Kind nachhaltig dem tiefenpsychologisch virulenten Konflikt der Eltern ausgesetzt. Das erregte im Feuilleton vieler deutscher Blätter verständlicherweise Verwunderung. Als Komponist setzt Dreyfus ungewöhnliche musikalische Mittel ein, wie sie vorher wahrscheinlich noch nie auf der deutschen Opernbühne gehört worden waren. Die Mutter wird von einer tiefen Bassstimme gesungen und dabei von einem australischen Didjeridu begleitet; dem singenden Vater ist eine oft schrill klingende chinesische Suona zugeordnet; mexikanische Panflöten assistieren den mordenden fünf blonden Jungs, und den Priester umgibt der Hall afrikanischer Trommeln. Für Rathenau selbst fehlen die musikalischen Leitklänge. Er selbst singt nicht; statt seiner singt ein Countertenor am Pult. Der Titelheld bleibt ein Mann ohne Klang. Wo in der Operntradition hatte es so etwas schon einmal gegeben? Wie in einer Besprechung hervorgehoben wurde, handelt es sich insgesamt um eine innovative Musik, „die der gequälten Seele auf angemessene Weise Laut verschafft“ (Reininghaus). Weiterhin wurde bezüglich Deyfus’ kompositorische Leistung anerkannt: „Chromatische und diatonische Tonfolgen“ seien ineinander verwoben. „Clusters, Ton- und Wortkaskaden, oft schrill die Monotonie des Orchesters übertönend und doch im Musikalischen ohne dramatische Entwicklung oder Höhepunkte“ werden als Gütezeichen von „hoher und oft auch beeindruckender Intellektualität“ bewertet (Küster). Karl Marx ist eine historische Figur, bei der man ebenfalls neugierig fragen darf: Eignet er sich als Opernheld? Die von Pilgrim und Dreyfus gegebene Antwort lautet: Ja, wenn man ihn in eine komisch-satirische Perspektive rückt, was dann in der Oper Die Marx Sisters geschah. Dieses Werk wurde am 20. April 1996 in Bielefeld uraufgeführt. Wiederholt dachten die Kritiker darüber nach, in welchem Verhältnis die Marx Sisters zu den legendären Marx Brothers stehen. Allerdings ließ sich eine überzeugende Beziehung eher mutmaßen als nachweisen. Schauplatz ist die Londoner Wohnung von Karl Marx. Diesem Vorkämpfer einer neuen 245 Weltordnung lässt sich mit der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung bescheinigen: „Auch Ideologen haben Lenden.“ Im Zentrum steht eine von Marx alptraumhaft erfahrene Abtreibung eines von ihm gezeugten Kindes, die seine Dienstmagd Marianne Creutz vornimmt. Dieser Vorgang wurde für den Zuschauer in Bielefeld als Schattenspiel inszeniert, in welchem eine Gartenschere der wichtigste Zeichenträger war. Das Stück sollte ursprünglich im Untertitel „Eine Störung“ heißen. Wie bereits bei Rathenau werden auch hier die landläufigen Erwartungen, die man vom konventionellen Opernbetrieb her kennt, massiv gestört. Mit Rathenau vergleichbar werden die Frauenrollen auch hier ausschließlich von Männern dargestellt und gesungen. Statt gefälliger Arien gibt es mehrstimmige Kakophonie. Der parodistische Zug überwiegt. Wie Stefan Keim von der Süddeutschen Zeitung mit sicherem Blick auf die kompositorische Leistung schrieb, verwertet Dreyfus in den zwölf Szenen der Oper „fast die gesamte europäische Musiktradition. Volkslieder zitiert er neben barocker Polyphonie, romantische Orchesterklänge treffen auf rhythmisch gegenläufigen Sprechgesang“ (Keim). Nach Albrecht Dümling hat Dreyfus allen Szenen eine stimmige, „flächig in sich gewobene, in sich kreisende Musik“ zugrunde gelegt (Dümling 1996). Bei der Uraufführung in Bielefeld reagierte die eine Hälfte der Besucher mit Buhrufen. Meine Frau und ich gehörten zur anderen Hälfte. Man würde über George Dreyfus nur die halbe Wahrheit sagen, wenn man in ihm ausschließlich einen Meister der ernsten Muse sähe. Als solcher wurde er aufgrund seiner beiden Opern vor allem in Deutschland wahrgenommen. Er ist jedoch ebenfalls ein Musensohn, der mit hohem Kunstverstand eingängige und unterhaltsame Musik hervorzubringen vermochte. In Australien eroberte er mit seiner Musik für Film und Fernsehen bereits in den 1970er Jahre die Herzen eines breitgestreuten Publikums. Die Klänge zur Fernsehserie Rush beispielsweise wurden in Australien zu einem allbekannten Evergreen, das phasenweise beinahe den Status einer zweiten Nationalhymne gewann und viele Jahre zu den australischen ‚Hits’ gehörte. Der erfreulichen Geschäftstüchtigkeit des Komponisten ist es zu verdanken, dass viele seiner für Film und Fernsehen geschaffenen Kompositionen auch über CDs zugänglich gemacht wurden und noch weiterhin mit Genuss gehört werden können. (Im März 2008 waren noch einige CDs über den Vertrieb Amazon Deutschland erhältlich.) Meiner Familie und mir hat es immer wieder große Freude bereitet, Stücke wie Let the Balloon Go, Marion, Lawson’s Mates und andere Titel zu hören, die unter seiner Leitung mit den Symphonieorchestern von Sydney und Melbourne aufgenommen wurden. Mit seiner Musik für Film und Fernsehen hat Dreyfus seinen australischen Zuhörern deren musikalischen Geschmack gekonnt aus der Hand gelesen und ihn gleichzeitig mitgeprägt. 246 Er könnte jedoch nicht als einer der bedeutendsten Komponisten des fünften Kontinents gelten, wenn er sich im weiten Spektrum der musikalischen Gattungen nicht ebenfalls bewährt hätte. Wie andere große Komponisten vor ihm erprobte er die herausfordernde Form der Symphonie. In seinem Werkkatalog sind zwei Symphonien erfasst, die auch auf CD zu erwerben sind; siehe dazu die Würdigung des Musikkritikers von Lewinski. Es zeugt von seinem verschmitzten Humor, dass er in seiner ersten Symphonie ein Motiv zitiert, das er vorher für eine Zigarettenreklame komponiert hatte. Seit Beginn seiner Kompositionstätigkeit widmete er sich außerdem der Kammermusik und dem Lied. Sein wohl bekanntestes kammermusikalisches Werk ist sein 1971 entstandenes „Sextet for Didjeridu and Wind Instruments“. Blasinstrumente aus der europäischen Musiktradition wie Flöte, Oboe, Klarinette, Horn und Fagott umspielen hier mit ihrer spezifischen Polyphonie das aboriginale Didjeridu, das nur einen Grundton kennt, aber ebenfalls variationsreich gespielt werden kann. Dieses Sextett markiert eine beachtliche Anerkennung der Musik der ersten Australier, die hier nicht mehr als völkerkundliche Sonderlinge betrachtet, sondern als gleichwertige Partner anerkannt werden. Mit Odyssey for a lone bassoon (1990) hat Dreyfus als konzertreifer Fagottist sich selbst ein Solostück auf den Leib geschrieben. – An Prokofjews Peter und der Wolf erinnert sein Erfolgsstück The Adventures of Sebastian the Fox. Dieses wurde ursprünglich für eine Fernsehserie des Jahres 1963 geschrieben und danach in vielen Bearbeitungen variiert. In der Variante eines Zeichentrickstummfilms, der von George Dreyfus’ Sohn erzählt und mit einem kleinen Instrumentalensemble untermalt wird, ist das schlaue Füchslein Sebastian inzwischen zu einem Exportschlager vorgerückt. 2007 wurde dieses Stück erfolgreich an mehreren deutschen Schulen und an der Berliner Oper aufgeführt. Für 2008 ist eine weitere Reprise im Berliner Raum geplant. Bereits 1957 vertonte Dreyfus Christian Morgensterns „Galgenlieder“, die inzwischen zu seinem Aufführungsrepertoire gehören, wenn er Deutschland bereist. Einige Gedichte von Erich Kästner und anderen Autoren wurden von ihm in origineller Weise ‚vertont’, indem sie rezitierend vorgetragen und mit einfallsreichen Klängen umwoben werden. Im Zentrum seines Vokalwerks Else (1994) stehen Gedichte von Else Lasker-Schüler, die wie Dreyfus ebenfalls in Wuppertal geboren ist. Die Gedichte wurden so ausgewählt, dass in ihnen die Judenverfolgung in Deutschland eindrucksvoll resümiert wird. Während z.B. in Teil II „die Dichterin die Schönheit ihrer Mutter beschwört, singt der Chor Worte wie ‚Volk’, ‚Blut’, ‚Macht’ und ‚Sieg’, die dann in ‚vaterländische’ Kampflieder übergehen. Es sind Lieder wie Deutschland, du Land der Treue, o du mein Heimatland, Wenn Judenblut vom Messer spritzt und Vorwärts, vorwärts, 247 schmettern die hellen Fanfaren (Dümling 2008). – Als Komponist hat Dreyfus sich verständlicherweise auch im Bereich der Chormusik hervorgetan. Hier finden sich neben weltlichen Hymnen auch Werke mit religiösem Bezug. Hervorgehoben sei neben Psalmenvertonungen in diesem Zusammenhang vor allem eine Messe – An Australian Folk Mass: For congregational use. George Dreyfus belegt mit seinem Leben und Schaffen, dass er ein Überlebenskünstler ist. Dank gelungener Planung von Seiten seiner Eltern überlebte er zunächst einmal den Holocaust. Im fernen, für anspruchsvolle Musik noch wenig sensibilisierten Australien gelang es ihm sodann, sich als selbständiger Komponist zu entfalten und von den Früchten seiner Arbeit zu leben. In Mitteleuropa wäre es für ihn gewiss nicht so leicht gewesen, ein derartig vielseitiges Oeuvre vorzulegen und freischaffend den angemessenen Lebensunterhalt zu verdienen. „Kunst braucht Gunst ... und Geld“, ist eine nachvollziehbare Formel, an der sich Künstler schon seit Jahrtausenden orientiert haben. Offensichtlich hat der Künstler Dreyfus es geschafft, die Gunst von Sponsoren und Auftraggebern zu gewinnen. Was ihm beim Erwerb von Gunst vor allem zugute kam, war seine Offenheit für sein Publikum. Ihm war immer daran gelegen, seinen Zuhörern verständlich zu machen, was er komponierte und wie er es tat. Sehr deutlich zeigt sich seine Aufgeschlossenheit gegenüber dem Publikum in seiner Praxis, eigene Konzertveranstaltungen unter dem Namen Open House anzukündigen. Dreyfus präsentierte sich hier gewissermaßen als Gastgeber. Seine Gäste konnten erleben, wie er– meist mit dem Fagott in der Hand – sich sein Publikum charmant geneigt machte. Ein unverkennbares Markenzeichen seiner Persönlichkeit ist sein Humor und seine Fähigkeit, sich selbst zu relativieren und in einem ironischen Licht zu sehen. Dies zeigt sich nicht zuletzt in seinen beiden Büchern The last frivolous book und Being George and liking it! Bereits diese Titel kündigen an, dass er daran Gefallen findet, sich selbst kritisch zu begegnen und mit dem Leser seine Freude an diesem humorvollen Selbstbezug zu teilen. George Dreyfus verdient Bewunderung für seine profilierte Vielseitigkeit. Auch aus internationaler Sicht hat er ein Stück Musikgeschichte geschrieben. Zwischen dem kulturellen Leben Australiens und Deutschland hat er viele tragende Brücken gebaut. Dafür ist die Gesellschaft für Australienstudien e.V. ihrem Ehrenmitglied zu großem Dank verpflichtet. 248 Bibliographie Brusten, Manfred (1993) „Mr New Music in Australien“, in: George Dreyfus, Being George … and Liking It: Reflections on the life and works of George Dreyfus on his 70th birthday, Richmond, Vic.: Allans, 1998, 69101. Dreyfus, George (1984): The last frivolous book. Sydney: Hale&Ironmonger. Dreyfus, George (1998): Being George and liking it. Richmond, Vic.: Allans, 1998. Dümling, Albrecht (1996): „Riesenbärte – kein Riesenspaß“, Der Tagesspiegel, 24.4. Dümling, Albrecht: „Mutterland und Vaterland: George Dreyfus und seine Vokalkomposition ‚Else’“ http://www.exil-archiv.de/grafik/biografien/lasker-schueler/duemling.pdf [22.3.2008] Keim, Stefan (1994) „Das ganze Leben ist ein Quiz“, Süddeutsche Zeitung, Nr. 93, 22.4., 11. Küster, Götz (1994) „Walther Rathenau – ein Opernheld?“ Mitteilungen der Rathenau-Gesellschaft, Nr. 4, März. von Lewinski, Wolf-Eberhard (1996): „Vom Orchestermusiker zum freischaffenden Komponisten: Porträt des Emigranten George Dreyfus“, Das Orchester, 44. Jahrgang, Heft 9, 14 Reininghaus, Frieder (1993): „Zerstückt und wieder ein Ganzes“, Berliner Zeitung, Nr. 144, 23. 6. ________________________________________________________________ Förderpreis der Gesellschaft für Australienstudien: Würdigung der Preisträger—GASt prize: judges’ comments Rewriting History: Peter Carey’s Fictional Biography of Australia. Diss. Mainz. Amsterdam: Rodopi, (voraussichtlich) 2008. Verfasst von Andreas Gaile, 2005. Wer sich mehrfach guten Willens und dennoch nur mühsam einen Zugang zu dem Romanwerk des hochdekorierten, in Amerika lebenden australischen Schriftstellers Peter Carey erkämpft hat, wird die vorzüglich gegliederte und in makellosem Englisch abgefasste Dissertation Gailes zu würdigen wissen, mit der der Verfasser einen Schlüssel zum Verständnis des oeuvres offeriert, indem er die