Leseprobe - Ferdinand Schöningh

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Werner Schüßler, Marc Röbel (Hg.)
LIEBE – mehr als ein Gefühl
Werner Schüßler, Marc Röbel (Hg.)
LIEBE – mehr als ein Gefühl
Philosophie – Theologie – Einzelwissenschaften
Ferdinand Schöningh
Umschlagabbildung:
Elisabeth Pawils, Liebe 1 (Ausschnitt)
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
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Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich
geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne
vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig.
© 2016 Ferdinand Schöningh, Paderborn
(Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)
Internet: www.schoeningh.de
Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen
Printed in Germany
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn
ISBN 978-3-506-78513-8
VORWORT
„Allein die Liebe zählt!“
Theresia von Lisieux
„Im Grunde gibt es nur die Liebe.“
Picasso
Unabhängig davon, wie die Liebe gedeutet wird, so scheint sie doch für den
Menschen die entscheidende Wirklichkeit in seinem Leben zu sein. Wir können auf alles Mögliche verzichten, aber wer von uns wollte schon auf Liebe
verzichten? Das haben nicht nur Mystiker zu allen Zeiten immer schon gewusst, sondern auch Künstler und Literaten.
Dem Geheimnis der Liebe etwas näher zu kommen, ist das Anliegen dieses
Bandes. Er ist hervorgegangen aus einer Vortragsreihe im Rahmen der „(Un-)
Glaubensgespräche“ zum Thema „Liebe – nur ein Gefühl?“, die im Jahr 2015
in der Katholischen Akademie Stapelfeld stattfand und die bei den Zuhörerinnen und Zuhörern auf eine rege Resonanz stieß. Durch die Gewinnung weiterer Beiträge ist so ein recht perspektivenreicher Band entstanden, der das Thema
von Seiten der Philosophie, der Theologie sowie der Einzelwissenschaften her
beleuchtet.
Unser Dank gilt an erster Stelle den Autorinnen und Autoren, die sich auf
dieses Projekt eingelassen und keine Mühe und Zeit gescheut haben, fachlich
kompetente Beiträge beizusteuern. Des Weiteren möchten wir dem Bischöflich Münsterschen Offizialat in Vechta, der Katholischen Akademie Stapelfeld, dem Bistum Trier sowie dem Verein zur Förderung der Theologischen
Fakultät Trier e.V. für die Gewährung namhafter Druckkostenzuschüsse danken.
Der Umschlag zeigt den Ausschnitt eines Diptychons, das die Künstlerin
Elisabeth Pawils (Osnabrück) uns für diesen Zweck zur Verfügung gestellt
hat. Dieser zeigt die unterschiedlichen Facetten der Liebe und lässt sowohl die
zwischenmenschliche als auch die transzendente Dimension aufscheinen.
Trier und Stapelfeld, im Juli 2016
Werner Schüßler, Marc Röbel
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT ...................................................................................................
5
EINFÜHRUNG .............................................................................................. 11
ERSTER TEIL: PHILOSOPHIE
WERNER SCHÜSSLER
Das Sein und die Liebe. Zur ontologischen Dimension
der Liebe bei Paul Tillich und Karl Jaspers ............................................... 17
MARC RÖBEL
Warum Liebe nicht (nur) blind macht. Philosophische Perspektiven
bei Max Scheler mit Blick auf Peter Wust und Viktor E. Frankl .............. 43
HANS-JOACHIM WERNER
„Mitleben als Sein ist Liebe.“ Die dialogische Perspektive
Martin Bubers ............................................................................................ 71
VERENA MAYER
Existentielle Liebe in der Philosophie der Emotionen ............................... 97
ANGELIKA KREBS
Liebe und Gerechtigkeit ............................................................................. 115
DENNIS SCHILLING
Vorstellungen von Liebe in der Antike Chinas .......................................... 135
8
INHALTSVERZEICHNIS
ZWEITER TEIL: THEOLOGIE
RENATE BRANDSCHEIDT
„Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt.“ (Jer 31,3) Dimensionen
der Liebe zwischen Gott und Israel im Zeugnis des Alten Testaments ..... 161
HANS-GEORG GRADL
Was Liebe ist. Neutestamentliche Einsichten ............................................ 183
JOHANNES SCHELHAS
Ohne Liebe keine Hoffnung – ohne Hoffnung keine Liebe ...................... 219
JOHANNES BRANTL
„Wem nie durch Liebe Leid geschah …“ Lieben und Leiden –
ein vermeidbarer oder unausweichlicher Zusammenhang? ....................... 233
ALEXANDRA PLESHOYANO
Die Liebe als „einzige Lösung“. Das spirituelle Erbe
der Etty Hillesum ....................................................................................... 249
MIRIJAM SCHAEIDT
„Ubi Caritas et Amor …“ Liebe – göttliche Quelle ................................... 273
DRITTER TEIL: EINZELWISSENSCHAFTEN
REINHARD UHLE
Liebe als Erziehungsmacht ........................................................................ 303
ELISABETH GRÖZINGER
Liebe: mehr als ein Trieb – auch bei S. Freud, C. G. Jung,
W. Reich und E. Fromm? .......................................................................... 327
ALOIS HAHN
Soziologie der Liebe .................................................................................. 353
SUSANNE F. SCHMEHL / ELISABETH OBERZAUCHER
Geboren, um zu lieben. Die evolutionsbiologischen Grundlagen
von Bindungsverhalten und romantischer Liebe ....................................... 373
INHALTSVERZEICHNIS
9
ANDREAS BARTELS
Die Liebe im Kopf. Zur Neurobiologie von Partnerwahl,
Bindung und Blindheit ............................................................................... 391
VERZEICHNIS DER AUTORINNEN UND AUTOREN ........................................ 423
PERSONENREGISTER ................................................................................... 425
SACHREGISTER ........................................................................................... 435
WERNER SCHÜSSLER / MARC RÖBEL
Einführung
Liebe – eine unendliche Geschichte
„Parler de l’amour est trop facile,
ou trop difficile.“
Paul Ricœur
Über Liebe zu sprechen, zieht an und schreckt ab. Das Thema zieht an, denn
jeder spricht von Liebe. Sie ist eine bewegende Kraft im Leben des Menschen,
und um das zu wissen, braucht man sich mit ihr weder philosophisch noch
theologisch, noch einzelwissenschaftlich auseinanderzusetzen. Das Thema
schreckt aber auch ab, denn der Begriff „Liebe“ wird in einer überwältigenden
Vieldeutigkeit verwendet. Hinzu kommt das, was schon seinerzeit Bernhard
Welte als „Inflation an Liebe“1 bezeichnet hat, und diese ist geradezu ein Beweis für die Liebesferne der heutigen Zeit. Die „Pandemie“ des Sexus,2 in der
wir heute leben, unterstreicht diese Sicht.
Liebe hat viele, sehr verschiedene Gesichter. Der reine Sex, der den Menschen zum „Es“ macht, ihn entpersönlicht und damit entmenschlicht, ist sicherlich ein abstoßendes Extrem. Demgegenüber ist der Mensch aber immer
auch zu einer Liebe fähig, die alle Grenzen überschreitet. Man denke nur an
Mutter Teresa! Es ist schwer, die wahren Beweggründe dieser Ordensfrau darzulegen. Vielleicht drücken diese sich am besten in der folgenden Antwort
aus, die Mutter Teresa auf die Bemerkung eines Journalisten hin, er würde so
etwas nicht einmal gegen ein Tageshonorar von tausend Dollar machen, gegeben hat: „Ich auch nicht.“3 Hier scheint ein Mitvollzug der göttlichen Liebe
vorzuliegen, wie er uns durch das inkarnatorische Geschehen gnadenhaft ermöglicht wird. Liebe, so wird hier deutlich, ist vielleicht das entscheidende
christliche Grundwort. Dass Gott im Christentum mit der Liebe im Sinne der
neutestamentlichen agape (lat. caritas) identifiziert wird (vgl. 1 Joh 4,8), ist ohne Zweifel eine Kernaussage seiner Botschaft, wenn dies auch innerhalb der
Theologie nicht selten in Vergessenheit geraten ist.
Liebe ist aber ein Begriff, der nicht nur theologisch von Bedeutung ist, sondern der spätestens seit Empedokles, Platon und Aristoteles auch philosophisch eine wichtige Rolle spielt,4 was aber leider im Rahmen der neuzeitlichen Philosophie in den Hintergrund geraten ist, wo die Liebe zumeist nur
1 B. Welte, Dialektik der Liebe. Gedanken zur Phänomenologie der Liebe und zur christlichen
Nächstenliebe im technologischen Zeitalter, Frankfurt/M. 1973, 50.
2 Vgl. dazu J. Evola, Metaphysik des Sexus, Frankfurt/M. 1983.
3 Zit. nach J. Pieper, Über die Liebe, München 1972, 176.
4 Vgl. H. Kuhn / A. Schöpf, Art. „Liebe“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5,
hg. von J. Ritter u. K. Gründer, Darmstadt 1980, Sp. 290-328.
12
EINFÜHRUNG
noch als „Affekt“ behandelt und das Unterscheidend-Menschliche nicht selten
allein im Begriff der Subjektivität gesehen wird. Aufgebrochen wird diese Engführung nicht zuletzt wieder dort, wo der „Einzelne“ in den Blick genommen
wird, also im Rahmen lebens- und existenzphilosophischen sowie personalistischen Denkens.
Philosophisch ist aber nicht nur der personale Aspekt der Liebe bedeutsam
(Beitrag H.-J. Werner), sondern ebenfalls deren ontologische (Beitrag W. Schüßler) und epistemologische Dimension (Beitrag M. Röbel). Gegenwärtig spielt
die Liebe auch innerhalb der Philosophie der Emotionen eine wichtige Rolle
(Beitrag V. Mayer), und im Bereich der praktischen Philosophie gewinnt sie
auch wieder an Bedeutung (Beitrag A. Krebs). Der philosophische Teil wird abgerundet mit einem Blick auf die östliche Tradition am Beispiel Chinas (Beitrag D. Schilling), was Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu westlichen Konzeptionen der Liebe deutlich werden lässt.
Die neutestamentliche Kernaussage, dass Gott die Liebe ist (Beitrag H.-G.
Gradl), ist selbst dem Alten Testament nicht fremd, ist doch auch dessen Offenbarungszeugnis wesentlich geprägt durch den Gedanken eines liebenden
Gottes (Beitrag R. Brandscheidt). Theologisch bedeutsam sind die Polaritäten
von Liebe und Hoffnung sowie von Liebe und Leiden. So stellt die Hoffnung
die Konkretion unserer Liebe zu Gott und zu den Menschen dar (Beitrag J.
Schelhas), und wer dem Leiden um jeden Preis ausweichen möchte, wird auch
kaum die Liebe erfahren (Beitrag J. Brantl). Letzteres leitet auch schon über
zum spirituellen Aspekt der Liebe, der am Beispiel der niederländischen Jüdin
Etty Hillesum verdeutlicht wird (Beitrag A. Pleshoyano). Der theologische Teil
wird durch eine „lectio divina“ zum ersten Johannesbrief (Beitrag M. Schaeidt)
beschlossen.
Neben der Philosophie und Theologie beschäftigen sich aber auch verschiedene Einzelwissenschaften mit dem Thema „Liebe“, und hier sind an erster Stelle die Pädagogik (Beitrag R. Uhle), die Psychologie (Beitrag E. Grözinger) sowie die Soziologie (Beitrag A. Hahn) zu nennen, also diejenigen
Wissenschaften, die noch recht nah an der Philosophie angesiedelt sind und
denen es auch darum geht, das menschliche Selbstverständnis aufzuhellen. In
jüngster Zeit ist die Liebe auch besonders in den Focus der Evolutionsbiologie
(Beitrag S. F. Schmehl / E. Oberzaucher) sowie der Neurobiologie (Beitrag A.
Bartels) geraten. Dabei wird deutlich, dass in Sachen Liebe auch beim Menschen so manches durch biologische Mechanismen gesteuert zu sein scheint,
was aber nicht bedeutet, dass er sich zu diesen Existenzbedingungen nicht
auch immer noch „verhalten“ könnte – aufgrund dessen, was sein Menschsein
und damit auch seine Liebe wesentlich auszeichnet, nämlich seine Freiheit.
Werden wir also nach der Lektüre dieses Bandes „wissen“, was Liebe ist?
Wir wissen dann sicherlich mehr, und doch bleibt die Liebe letztlich ein Geheimnis, worauf schon Plutarch hingewiesen hat. Man kann ein „Urwort“ wie
Liebe eben nicht definieren, ist sie doch letztlich nur aus sich selbst heraus zu
verstehen.
EINFÜHRUNG
13
Es ist uns sehr wohl bewusst, dass wir mit diesem Band das Thema in keiner Weise erschöpfend behandeln, was schon allein aufgrund seiner begriffsgeschichtlichen, historischen und systematischen Fülle und Komplexität ein
unmögliches Unternehmen wäre. Ohne Zweifel böte auch die Religions- und
Kulturgeschichte ein weiteres unerschöpfliches Feld, und bekanntlich ist die
Liebe immer auch ein zentrales Thema in der Literatur und der bildenden
Kunst, in der Musik und im Film, im Tanz und im Theater, was eine weitere
„unendliche“ Geschichte wäre. Allerdings verbindet sich mit diesem Band unsere Hoffnung, dass hiermit ein erster Überblick über die unerschöpflichen
Fülle dieses menschlichen „Urwortes“ geboten und so deutlich wird, wie der
Titel schon sagt, dass die Liebe immer schon mehr ist als „nur“ ein Gefühl.
ERSTER TEIL
PHILOSOPHIE
WERNER SCHÜSSLER
Das Sein und die Liebe
Zur ontologischen Dimension der Liebe
bei Paul Tillich und Karl Jaspers
1. Hinführung
Der renommierte Physiker und langjährige Direktor des Max-Planck-Instituts
für Physik in München, Hans-Peter Dürr, hat einmal in einem Dialog mit dem
indischen Jesuiten und Religionsphilosophen Raimon Panikkar gesagt:
„Liebe ist die Quelle. Sie wird nicht aus anderem geboren, sie ist es, die alles
durchdringt, umfasst und zusammenhält. Wenn ich ‚Liebe‘ sage, meine ich immer ‚lieben‘. Das hat schon Konsequenzen. Der Mensch ist nicht das Wesentliche und das Einzige, das in der Liebe ist, sondern eigentlich alles in dieser Welt,
was daran teilhat. […] Es ist die genuine Kreativität, die in der Essenz der Liebe
verborgen ist und sich als das Lebendige zeigt.“1
Und am Ende des Gesprächs fasst er seine Überlegungen noch einmal in dem
Satz zusammen: „Liebe ist für mich Urquell des Kosmos.“2
Solche Worte aus dem Munde eines Physikers zu hören, wird so manchen
sicherlich erstaunen, meint man doch, dass ein Vertreter dieser „hard science“
par excellence sich nur mit der „Materie“ beschäftigt. Aber was diese eigentlich ist, vermag bis heute kein seriöser Physiker mit Bestimmtheit zu sagen.
Der Philosoph und Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz hat bekanntlich gemeint, dass die Materie überhaupt keinen Substanzcharakter besitze,
sondern nur ein „phenomenon bene fundatum“, ein wohlbegründetes Phänomen sei.
Wenn Dürr die Liebe als „Urquell des Kosmos“ bezeichnet, dann ist mit
dieser Aussage natürlich der Rahmen einzelwissenschaftlicher Erkenntnis
überschritten in den Bereich des „Metaphysischen“ hinein, und die Liebe wird
quasi als eine kosmische, ja ontologische Qualität gedeutet. Das ist aber gar
nicht ganz so neu, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag, wenn man an
den Beginn philosophischen Denkens in der Vorsokratik zurückdenkt. Diesen
frühen Denkern ging es ja bekanntlich um die Frage nach der Arche, einem
ersten Prinzip, das alles andere erst begründet und verstehbar macht. Und einer dieser Denker, Empedokles von Akragas (495-435 v.Chr.), hat in diesem
Zusammenhang auch schon auf die Liebe, die philotes, verwiesen, die in einem ewigen Streit mit dem Hass, neikos, stehe, worin ihm zufolge die Dyna1
2
H.-P. Dürr / R. Panikkar, Liebe – Urquelle des Lebens. Ein Gespräch über Naturwissenschaft
und Religion, hg. von R. R. Ropers, Freiburg/Br. 2008, 142.
Ebd., 160.
18
WERNER SCHÜSSLER
mik alles Seienden begründet sei. Ist die Liebe auf Einheit gerichtet, so der
Hass auf Trennung und Vielheit.3 Die Liebe wird also auch schon hier als eine
kosmische Macht gesehen, die alles durchherrscht.
Nun könnte man einem solchen Denken entgegenhalten, dass dieses durch
die moderne Wissenschaft längst überholt sei. Eine solche Sicht verkennt aber
die Grenzen einzelwissenschaftlicher Erkenntnis, die keine Aussagen über die
Welt als Ganze zulassen, wäre das doch nichts anderes als Wissenschaftsaberglaube, um mit Karl Jaspers zu sprechen. Von daher liegt in dem zu Anfang
genannten Wort von Dürr ein Ernst, der nicht einfach mit einem Blick auf die
sogenannten „Fakten“ zu widerlegen ist. Zudem ist der sog. Naturalismus
nicht besser begründet als ein Theismus – ganz im Gegenteil! Wenn auch ersterer nicht in Erklärungsnot gerät,4 so erklärt er aber letztlich nicht genug und
ist zudem „trostlose“ Metaphysik.5 Denn auf die Frage des Boethius: „Bona
vero unde, si [Deus] non est?“ (Woher aber das Gute, wenn es ihn [sc. Gott]
nicht gibt?),6 weiß der Naturalismus keine zufriedenstellende Antwort zu geben. Zudem kommen wir ohne Seinsunterscheidungen nicht aus, das heißt,
dass der Monismus einer naturalistischen Position immer schon selbstwidersprüchlich ist.7
Es kommt ein weiterer Aspekt hinzu: Liebe ist ein Akt der Freiheit. Ja, vielleicht dokumentiert sich Freiheit in keinem Phänomen so deutlich wie in der
Liebe. Nun wird aber heute von Seiten prominenter Hirnforscher die These
vertreten, dass unsere Freiheit eine reine Illusion sei. Aufgrund der sogenannten Libet-Versuche stünde eindeutig fest, dass wir nicht das tun, was wir wollen, sondern dass wir das wollen, was wir tun.8 Mit einer solchen Position
steht aber unser Menschsein auf dem Spiel, und damit auch die Liebe.9 Hierzu
ist aber zu sagen: Allein dass eine solche These vertreten wird bzw. wir uns
mit einer solchen These auseinandersetzen, setzt immer schon voraus, dass
3
4
5
6
7
8
9
Vgl. Empedokles, Fragmente 17 u. 20f.
Vgl. W. Schüßler, Unfreiheit als Fiktion. Zum Menschenbild in der Existenzanalyse Viktor E.
Frankls und seiner Bedeutung für die gegenwärtige Diskussion um die Hirnforschung, in: E.
J. Bauer (Hg.), Freiheit in philosophischer, neurowissenschaftlicher und psychotherapeutischer Perspektive, München 2007, 89-106, bes. 101f.
Vgl. H. Tetens, Gott denken. Ein Versuch über rationale Theologie, Stuttgart 22015, bes. 87-90.
Boethius, De consolatione philosophiae, I 4.
Vgl. G. Martin, Allgemeine Metaphysik: ihre Probleme und ihre Methode, Berlin 1965, 15-17.
Vgl. B. Libet, Unconscious Cerebral Initiative and the Role of Conscious Sensory Experience, in: Behavioral and Brain Sciences 8 (1985) 529-566; ders., Subjective Antedating of a
Sensory Experience and Mind-Brain-Theories: Reply to Honderich, in: Journal of Theoretical
Biology 114 (1985) 563-570. Später hat aber Libet selbst betont, dass diese Versuche nicht
beweisen würden, dass die menschliche Freiheit eine reine Illusion sei. Vgl. ders., Haben wir
einen freien Willen? [1999], in: C. Geyer (Hg.), Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, Frankfurt/M. 2004, 268-289, 287: „Meine Schlussfolgerung
zur Willensfreiheit [...] besteht dann darin, dass die Existenz eines freien Willens zumindest
eine genauso gute, wenn nicht bessere wissenschaftliche Option ist als ihre Leugnung durch
die deterministische Theorie.“
Vgl. W. Schüßler, Freiheit als Illusion? Anmerkungen zur aktuellen Diskussion um die Hirnforschung, in: Trierer Theologische Zeitschrift 115/2 (2006) 85-98.
DAS SEIN UND DIE LIEBE
19
diese Freiheit, die hier geleugnet wird, vorausgesetzt wird. Freiheit, so hat der
Psychiater, Psychotherapeut und Philosoph Viktor E. Frankl im Anschluss an
Max Scheler und Karl Jaspers formuliert, ist wesentlich ausgezeichnet durch
die Fähigkeit zur Selbst-Distanzierung und zur Selbst-Transzendenz.10 Wissenschaft, Kunst, Philosophie, Religion – das sind alles Formen von SelbstTranszendenz, die Selbst-Distanz, also Freiheit, immer schon voraussetzen.
Platon hat das auch schon gewusst, und damit sind wir bereits mitten im Thema, ist er es doch, der die erste und wohl auch wichtigste philosophische Konzeption der Liebe entwickelt hat, die alle nachfolgenden Denker wesentlich inspiriert hat.
2. Ein kurzer philosophiehistorischer Abriss zum Thema „Liebe“
Platons Meisterdialog Symposion11 ist bekanntlich dem Thema der Liebe gewidmet. Verschiedene Redner versuchen sich hier an deren Begriffsbestimmung – mit mehr oder weniger großem Erfolg. Die ersten drei Redner bringen
wenig Interessantes: Nach Phaidros ist Eros der ehrwürdigste unter den Göttern; Pausanias möchte zwischen einem irdischen und einem himmlischen
Eros unterscheiden; Eryximachos weitet diese Unterscheidung in einen zweifachen Eros kosmologisch aus. Schon interessanter ist dagegen die vierte Rede
des Komödiendichters Aristophanes, dem zufolge die heilende Macht des Eros
aus der Entstehung des Menschen zu erklären sei: Ursprünglich gab es nur
sog. „Doppelmenschen“, die den Göttern aber zu stark erschienen, worauf diese sie jeweils geteilt haben, um so ihre Kraft zu schwächen. Seit dieser Zeit sei
die Liebe der Versuch, aus den zwei halben Menschen wieder einen ganzen zu
machen. Das Wort von der „besseren Hälfte“ hat hier seinen ursprünglichen
Ort. Philosophisch ist diese Rede recht aufschlussreich, weil damit die naturhafte Zugehörigkeit der Liebe in Bezug auf die Selbstidentität des Menschen
zum Ausdruck kommt.12
Nachdem in der fünften Rede des Agathon Eros mit dem Ursprung alles
Schöpferischen in Verbindung gebracht wird, kritisiert Sokrates alle Vorred10
11
12
Vgl. W. Schüßler, Was ist der Mensch? „Mensch sein“ und „Mensch werden“ aus philosophischer Sicht, in: R. Brandscheidt / J. Brantl / M. Overdick-Gulden / W. Schüßler, Herausforderung „Mensch“. Philosophische, theologische und medizinethische Aspekte, Paderborn
2012, 29-42.
A. Krebs, Zwischen Ich und Du. Eine dialogische Philosophie der Liebe, Berlin 2015, 24, bezeichnet diese Schrift zu Recht als „den Grundtext der Philosophie der Liebe“.
Vgl. Platon, Symposion 192 c-e. – M. Tiedemann, Liebe, Freundschaft und Sexualität. Fragen
und Antworten der Philosophie, Hildesheim 2014, 54, macht zwar zu Recht darauf aufmerksam, dass „Aristophanes der Urheber eines […] roten Fadens [sei], der uns unter anderem
zum Existenzialismus führt“. Wenn er dann aber meint, dass dieser bei Erich Fromm (Die
Kunst des Liebens [1956], Frankfurt/M. 1980) „seine volle Ausdifferenzierung erfährt“, so
scheint ihm entgangen zu sein, dass dieses Thema bei Tillich und Jaspers philosophisch wesentlich tiefer entfaltet wird. Übrigens greift Fromm u.a. auch auf Tillich zurück.
20
WERNER SCHÜSSLER
ner, bevor er seine eigene Konzeption entfaltet, wie sie ihm angeblich Diotima, die berühmte Seherin von Mantinea, gelehrt habe. Hiernach ist Eros überhaupt kein Gott, sondern ein großer Dämon, d.h. ein Mittleres zwischen Gott
und Mensch. Eros besitzt nicht das Schöne und Gute, sondern jagt diesem nur
nach. Und dieses gleiche Streben bewirkt er auch beim Menschen. Dabei geht
es darum, über die einzelnen schönen Körper weiter aufzusteigen zu allen
schönen Körpern, weiter zu den schönen Lebensformen, dann zu den schönen
Wissensgebieten, um schließlich zu jenem Wissen zu gelangen, das nichts anderes zum Gegenstand hat als jenes Schöne an sich, das man nun in seiner Absolutheit erkennt.13
Der Eros im platonischen Symposion umfasst somit alle Stufen des menschlichen Liebens. Dabei geht es letztlich um Verinnerlichung und Verwesentlichung des Eros. Der Mensch kann sich zwar immer auch auf einer niederen
Ebene festsetzen, doch widerstreitet er damit Platon zufolge der inneren Dynamik des Eros, dem es selbst mit Blick auf das Nächste doch immer um das
Höchste und Letzte geht. Die „platonische Liebe“ strebt somit selbst durch die
körperliche Liebe hindurch zur geistigen Liebe – bewusst oder auch unbewusst.14 Die entscheidende Charakteristik des platonischen Eros ist dabei der
Mangel.15 Liebe, so kann man zusammenfassend sagen, ist Aufstieg zum Göttlichen. Von daher wird auch verständlich, weshalb Platon nie hätte sagen können, dass Gott die Liebe ist (ho theos eros estin), da er unbedürftig ist, Liebe
aber Mangel bedeutet. Nach griechischem Verständnis kann Gott also nicht
lieben, denn er ist ja vollkommen, besitzt somit schon immer alles. Wonach
sollte er dann noch streben? Bei Gott gibt es keinen Mangel, kein unbefriedigtes Begehren. Wenn das Christentum demgegenüber später lehren wird, dass
Gott die Liebe ist (ho theos agape estin), so hat diese Liebe nichts mit Begehren zu tun. Sie trägt vielmehr den Charakter des Opfers und der Selbsthingabe.
Der christliche Gott liebt nicht, um dadurch etwas zu gewinnen, sondern lediglich, weil er seinem Wesen nach schenkende Liebe ist.
Es ist die Frage, ob Platons Konzeption der Liebe der anderen Person wirklich gerecht wird. Gregory Vlastos schreibt zu Recht:
„Wenn Personen nur als Konglomerat wertvoller Eigenschaften geliebt werden,
dann können sie nicht mit Abstraktionen von universeller Bedeutung wie Programmen für Sozialreformen und wissenschaftlichen und philosophischen Wahrheiten konkurrieren, erst recht nicht mit der Idee des Schönen in seiner sublimen
Transzendenz […]. Das hohe klimaktische Moment der Erfüllung – der Gipfel,
13
14
15
Vgl. Platon, Symposion 206 b-212 c.
Vgl. A. Badiou, Lob der Liebe, Wien 2011, 23: „Selbst wenn ich einfach einen schönen Körper betrachte, bin ich somit, ob ich es will oder nicht, auf dem Weg zur Idee des Schönen.“
Vgl. N. Hinske, Zwischen Armut und Reichtum. Zur Herkunftsgeschichte der menschlichen
Sehnsucht. Überlegungen zum Poros-Penia-Mythos des Platonischen Symposions, in: L. Honnefelder / W. Schüßler (Hg.), Transzendenz – Zu einem Grundwort der klassischen Metaphysik. FS Klaus Kremer, Paderborn 1992, 57-63.
DAS SEIN UND DIE LIEBE
21
dem alle niedrigeren Formen der Liebe nur als ‚Vorstufen‘ dienen – ist von der
Zuneigung für konkrete menschliche Wesen am weitesten entfernt.“16
Diesem Desiderat wird die Konzeption des Aristoteles in gewisser Weise gerecht, geht es ihm doch wesentlich um das einzelne Individuum und nicht
mehr so sehr um die „Idee“ im Sinne Platons. Dass Aristoteles’ Verständnis
der Liebe ein wesentlich anderes Gepräge hat als dasjenige von Platon, wird
schon deutlich mit Blick auf die Begrifflichkeit deutlich, spricht doch ersterer
nun vornehmlich von Philia, und einschlägig sind hierfür die Bücher acht und
neun seiner Nikomachischen Ethik.
Aber darüber hinaus spielt der Begriff der Liebe auch in die Metaphysik
und Naturphilosophie des Aristoteles hinein, wo das platonische Erbe wieder
handgreiflich wird. Den letzten Grund von aller Bewegung im Sinne der Veränderung ist für Aristoteles der „unbewegte Beweger“, den er im Sinne absoluter Lebensfülle versteht, wo also alles aktualisiert ist und es nichts Potentielles gibt.17 Der reine Akt (actus purus) ist aber auch reine Form, ohne Beimischung von Stoff oder Materie. Nun stellt sich allerdings die Frage: Wie kann
die reine Form den Weltprozess in Bewegung setzen? Auf diese Frage antwortet Aristoteles mit der bekannten Formel: „Jenes bewegt wie ein Geliebtes (kinei
hos eromenon), und durch das (von ihm) Bewegte bewegt es das übrige.“18
Das heißt, der unbewegte Beweger setzt also auf dieselbe Weise in Bewegung
wie der geliebte Gegenstand den Liebenden in Bewegung setzt, nämlich durch
die Sehnsucht, die er erweckt. Damit wird das platonische Eros-Motiv geradezu kosmisch ausgeweitet und zu einer allgemeinen Weltkraft erhoben.
In der Nikomachischen Ethik geht es demgegenüber um die wechselseitige
Liebe, die Aristoteles zufolge dem Menschen von Natur aus eingepflanzt ist.
Der Mensch, so würden wir heute mit Martin Buber sagen, ist notwendig auf
ein Du ausgerichtet.19 Diese Philia findet vielfältigen Ausdruck, bei Jungen
wie bei Alten, bei Eltern und Kindern und auch bei Eheleuten; sie hält darüber
hinaus auch die Gemeinschaft zusammen. Bedenkt man, dass nur das „Liebenswerte“ geliebt wird, so ergeben sich nach Aristoteles drei Arten der
Freundschaft, entsprechend dem dreifachen Unterschied des Liebenswerten in
das Gute, Angenehme und Nützliche,20 wobei aber das eigentlich Liebenswerte nur das Gute ist, wohingegen das Angenehme und das Nützliche nur als ein
solches erscheinen. Bedenkt man weiter, dass es bei der Liebe im Sinne der
Philia immer auch um Gegenliebe und Wohlwollen geht, dann wird sofort
16
17
18
19
20
G. Vlastos, Das Individuum als Gegenstand der Liebe bei Platon, in: D. Thomä (Hg.), Analytische Philosophie der Liebe, Paderborn 200, 17-44, 42. Vgl. auch A. Krebs, Zwischen Ich
und Du (s. Anm. 11), 26.
Von daher ist die Vorstellung eines wie auch immer verstandenen „werdenden Gottes“ ein
fragwürdiges Konzept, ist doch „Gott“ die Antwort auf das Werden (= Veränderung) der Welt.
Aristoteles, Metaphysik XII 7; 1072 b 3.
Siehe dazu den Beitrag von Hans-Joachim Werner in diesem Band.
Aristoteles, Nikomachische Ethik 1155 b 15ff.
22
WERNER SCHÜSSLER
deutlich, dass die eigentliche Liebe, im Gegensatz zur „Vorliebe“21, notwendig
auf den anderen Menschen geht. Dabei kann es nach Aristoteles eine „wahre
Freundschaft“ aber nur unter Tugendhaften geben, geht doch nur hier die Philia auf den anderen um seiner selbst willen.
Die aristotelische Philia in ihrer höchsten Form ist also auf die Person des
Anderen in seiner unvertretbaren Einmaligkeit gerichtet. Und doch ist dieses
Konzept noch nicht geeignet, die christliche Nächstenliebe zum Ausdruck zu
bringen, beruht die aristotelische Philia doch letztlich auf der Gleichheit der
Partner, wohingegen die christliche Agape im Sinne der Nächstenliebe – wie
das Gleichnis vom barmherzigen Samariter22 deutlich macht – auch die radikale Ungleichheit kennt. Und es ist auch die Gleichheit der Partner, die es für
Aristoteles als unmöglich erscheinen lässt, dass zwischen Gott bzw. den Göttern und dem Menschen eine Liebesbeziehung denkbar wäre.23
Mit diesen wenigen Andeutungen sind die großen Linien markiert; alles
Nachfolgende mag zwar den einen oder auch anderen Aspekt neu akzentuieren, bewegt sich aber weitgehend im Rahmen dieser beiden Ansätze. Einen
Wendepunkt markiert spätestens das Denken von René Descartes, dem Begründer neuzeitlicher Philosophie, wo die Liebe nicht mehr als Einigungsmacht verstanden wird, sondern nur noch als eine „émotion“ der Seele bzw.
des Geistes, wodurch diese auf den biologisch-psychologischen Begriff beschränkt wird, was nicht zuletzt auch damit zusammenhängt, dass der Mensch
jetzt wesentlich auf den Subjektbegriff reduziert wird. Von einigen wenigen
Ausnahmen einmal abgesehen,24 wird diese Engführung erst im 20. Jahrhundert wieder durchbrochen, und hier sind vor allem drei Denker zu nennen:
Max Scheler (1874-1928), Paul Tillich (1886-1965) und Karl Jaspers (18831969), die der modernen Philosophischen Anthropologie bzw. der Existenzphilosophie zuzurechnen sind. Wobei Scheler, der an die augustinische Tradition anknüpft,25 vornehmlich den epistemologischen und anthropologischen
Aspekt der Liebe herausarbeitet, Tillich und Jaspers deren ontologische Dimension betonen.26
21
22
23
24
25
26
Vgl. C. S. Lewis, Was man Liebe nennt. Zuneigung – Freundschaft – Eros – Agape, Basel
17-35.
Vgl. Lk 10,25-37.
Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik 1158 b 29-1159 a 6.
Hier wären u.a. an die sog. Vorläufer der Existenzphilosophie zu denken, wie Blaise Pascal
und Sören Kierkegaard, ebenfalls an den jungen Hegel.
Siehe dazu den Beitrag von Marc Röbel in diesem Band.
S. May, Love: A History, New Haven 2011, 250-254, spricht zwar auch davon, dass die Liebe ontologisch verwurzelt sei; was damit aber genauer gemeint ist, erschließt sich dem Leser
nicht.
61998,
DAS SEIN UND DIE LIEBE
23
3. Zur Ontologie der Liebe bei Paul Tillich
In seiner Schrift „Love, Power, and Justice“27 von 1954 geht es dem bekannten
deutsch-amerikanischen evangelischen Theologen und Philosophen Paul Tillich darum, die Grundbedeutung dieser drei Begriffe zu analysieren, was ihm
zufolge aber nur möglich ist, wenn zurückgegangen wird bis auf die letzten
Prinzipien und Strukturelemente des Seins, womit sich die Ontologie zu beschäftigen hat.28 Das heißt, er fragt hier ontologisch nach der Grundbedeutung
von Liebe, Macht und Gerechtigkeit. Nur so wird ihm zufolge sowohl die tiefere Bedeutung dieser drei Begriffe als auch ihre strukturelle Beziehung untereinander und auch zum Sein als solchen verständlich. Und eine solche ontologische Analyse ermöglicht es schließlich auch, die verschiedenen Auffassungen dieser Begriffe, wie sie uns in den unterschiedlichsten Wissenschaften begegnen, zu beurteilen. Und schließlich macht eine ontologische Analyse nach
Tillich auch deutlich, dass Eros und Agape keine sich ausschließenden Gegensätze darstellen, wie das von Seiten der Theologie zuweilen gesehen wird.
a) Liebe ist mehr als ein Gefühl
Das Wort „Liebe“ wird sowohl in der Literatur als auch im Alltag häufig
missbräuchlich verwendet, und doch hat es dadurch Tillich zufolge seine emotionale Kraft nicht verloren.
„Immer wenn es gebraucht wird, ruft es ein Gefühl von Wärme, von Leidenschaft, von Glück, von Erfüllung hervor. Es vergegenwärtigt vergangene, gegenwärtige oder vorweggenommene Gelegenheiten des Liebens oder des Geliebtwerdens. Seine Grundbedeutung scheint folglich ein gefühlsmäßiger Zustand zu
sein, der, wie das bei allen Gefühlen der Fall ist, nicht definiert, aber in seinen
Qualitäten und Ausdrücken beschrieben werden kann. Liebe kann zudem nicht
intendiert oder gefordert werden, sondern hat Ereignis- und Geschenkcharakter.“29
Wenn das aber auch schon alles wäre, würde es nach Tillich ausreichen, die
Liebe im Rahmen einer Affektenlehre zu erörtern, wie das beispielsweise bei
Descartes der Fall ist. Aber allein schon ein Blick auf Empedokles, Platon und
Aristoteles macht deutlich, dass eine solche Sicht dem Phänomen der Liebe in
keiner Weise gerecht wird.
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28
29
Vgl. P. Tillich, Gesammelte Werke, hg. von R. Albrecht, 14 Bde., Stuttgart 1959ff., XI 143225; der engl. Originaltext findet sich in: P. Tillich, Main Works / Hauptwerke, hg. von C. H.
Ratschow, 6 Bde., Bd. III, hg. von E. Sturm, Berlin/New York 1998, 583-650.
Vgl. P. Tillich, Gesammelte Werke (s. Anm. 27), XI 143. – Vgl. ausführlich dazu C. M. C.
Acapovi, L’Être et l’Amour. Une étude de l’Ontologie de l’Amour chez Paul Tillich (= Tillich-Studien, hg. von W. Schüßler u. E. Sturm, Bd. 22), Berlin 2010.
P. Tillich, Main Works (s. Anm. 27), III, 586 (Übers. von mir!); die dt. Übers. ist hier etwas
ungenau: P. Tillich, Gesammelte Werke (s. Anm. 27), XI 144.
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WERNER SCHÜSSLER
Dass Liebe aber kein Gefühl neben anderen ist, wird nach Tillich allein
schon deutlich, wenn wir uns daran erinnern, dass sie auch auf das Göttliche
geht und dass Gott nach christlichem Verständnis die Liebe ist. Liebe besitzt
also nicht nur eine emotionale, sondern immer auch schon eine ontologische
Bedeutung, das heißt, sie hat es mit dem Sein als solchem zu tun. Dass wir
heute mit einer solchen Betrachtungsweise in der Regel unsere Probleme haben, liegt nach Tillich nicht zuletzt daran, dass wir von Hause aus Nominalisten sind „und als solche sind wir geneigt, nur Dinghaftes in unserer Welt anzuerkennen“.30 Und doch ist die ontologische Fragestellung unerlässlich, wenn
es darum geht, zum „Wesen“ einer Sache vorzudringen.
Es spricht nach Tillich aber auch noch ein weiterer Grund gegen eine Reduzierung der Liebe auf die Ebene des Gefühls.
„In einem der entscheidenden Dokumente des Judentums und des Christentums,
ja, aller abendländischen Kultur überhaupt“, schreibt Tillich, „wird das Wort
‚Liebe‘ mit dem Imperativ ‚du sollst‘ verbunden. Das ‚vornehmste Gebot‘ fordert von jedem Menschen die ganze Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten
in einem Maße, daß sie nicht hinter seiner natürlichen Selbstbejahung zurückbleibt. Wenn aber Liebe nur Gefühl ist, wie kann sie dann gefordert werden?“31
Selbst in Bezug auf uns selbst scheint es ja schwierig zu sein, Liebe zu fordern. Und wenn wir dies tun, dann zeigt sich nach Tillich „etwas Künstliches,
hinter dem das sichtbar wird, was bei seiner Erzeugung unterdrückt werden
mußte“. Ähnlich wie bewusst erzeugte Reue letztlich „entartete Selbstzufriedenheit“ verdeckt, so verrät nach Tillich auch bewusst erzeugte Liebe „Gleichgültigkeit oder gar Feindseligkeit in pervertierter Form“. Das alles zeigt nur
eines, dass eben Liebe im Sinne eines Gefühls nicht befohlen werden kann.
Daraus folgt für Tillich, dass sie entweder in ihrem tiefsten Kern etwas anderes ist als ein bloßes Gefühl oder dass das „vornehmste Gebot“ sinnlos ist.32
b) Liebe als „das Verlangen nach der Einheit des Getrennten“
In Tillichs Ontologie spielt die Polarität von Individualisation und Partizipation eine wichtige Rolle, neben derjenigen von Dynamik und Form sowie Freiheit und Schicksal.33 Individualisation ist nach Tillich kein Charakteristikum
30
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33
P. Tillich, Gesammelte Werke (s. Anm. 27), XI 154; dazu M. Röbel, „Wir sind von Hause aus
Nominalisten.“ Paul Tillichs Existenzialontologie als Antwort auf das „Nominalismus-Syndrom“, in: C. Danz / M. Dumas / W. Schüßler / M. A. Stenger / E. Sturm (Hg.), Ethics and
Eschatology (= International Yearbook for Tillich Research, Vol. 19), Berlin/Boston 2015,
207-239.
P. Tillich, Gesammelte Werke (s. Anm. 27), XI 145.
Ebd.
Vgl. P. Tillich, Systematische Theologie, Bd. I, Stuttgart 21956, 206-218; ders., Ontologie
(1951), in: Ders., Ergänzungs- und Nachlasswerke zu den Gesammelten Werke, Bd. XVI, hg.
von E. Sturm, Berlin/New York 2009, 1-168, 48-87.
DAS SEIN UND DIE LIEBE
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einer Sondersphäre des Seienden, sondern ein ontologisches Element und deshalb eine Qualität alles Seienden: „Individualisation ist in jedem Selbst enthalten und konstituiert es. Und da Analogien zu Selbstheit in jedem Seienden
vorliegen, so ist Individualisation ein Charakter alles Seienden.“34 In der Person erreicht diese allerdings ihre vollkommene Form, wohingegen die Partizipation ihre vollkommene Form in der Gemeinschaft erlangt. Zwar partizipiert
der Mensch an allen Schichten des Lebens, „aber er partizipiert völlig nur an
jener Schicht des Lebens, die er selbst ist – er hat Gemeinschaft nur mit Personen“. 35
Entsprechend dieser Polarität vereinigt jeder Lebensprozess eine Tendenz
zur Trennung mit einer Tendenz zur Wiedervereinigung. Für Tillich besteht
nun das ontologische Wesen der Liebe in der ununterbrochenen Einheit dieser
beiden Tendenzen. „Liebe“, so schreibt Tillich, „ist das Verlangen nach der
Einheit des Getrennten (drive towards the unity of the separated). Wiedervereinigung aber setzt Trennung dessen voraus, was seinem Wesen nach zusammengehört.“36 Damit ist eine Bestimmung der Liebe erreicht, die ontologisch
und damit universal ist. In allen Formen der Liebe gibt es nach Tillich somit
„einen Punkt der Identität, der es gestattet, sie alle mit dem einen Wort ‚Liebe‘
zu bezeichnen: dies ist der ‚Drang nach Wiedervereinigung des Getrennten‘
(urge toward the reunion of the separated) […]. Liebe in diesem Sinne ist eine, und sie ist unteilbar.“37
c) Die verschiedenen Qualitäten der einen Liebe
Ist die Liebe aber eine, dann kann es keine verschiedenen Typen der Liebe geben, die einander entgegen gesetzt sind, wie Anders Nygren meint,38 sondern
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37
38
P. Tillich, Systematische Theologie I (s. Anm. 33), 206.
Ebd., 208.
P. Tillich, Gesammelte Werke (s. Anm. 27), XI 158.
P. Tillich, Systematische Theologie, Bd. III, Stuttgart 1966, 163.
Der lutherische Theologe und spätere Bischof von Lund, Anders Nygren, hat in den 1930er
Jahren sein vielbeachtetes zweibändiges Werk „Eros und Agape. Gestaltwerdung christlicher
Liebe“ vorgelegt (Gütersloh 1930/37; schwedisch: 1930/36). Nygren deutet hier Eros und
Agape als sich ausschließende Gegensätze, zwischen denen „ein Abgrund“ besteht, der keinen unmittelbaren Übergang zulässt (ebd., I 15). Den platonischen Eros charakterisiert er
durch die folgenden drei Merkmale: Erstens ist Eros begehrende Liebe, zweitens ist er der
Weg des Menschen zum Göttlichen, und drittens ist er egozentrische Liebe (vgl. ebd., I 153158). Bedeutet somit Eros den Weg des Menschen zu Gott, so steht Agape zuerst einmal für
den genau entgegen gesetzten Weg: Agape ist der Weg Gottes zum Menschen. Aus diesem
Grunde wertet Nygren auch eine Synthese zwischen Eros und Agape grundsätzlich als „Verrat“ an der Agape. Für ihn bedeutet nämlich Eros, dass der Mensch durch eigene Anstrengung
Erlösung sucht, wohingegen bei der Agape deutlich wird, dass wir alles der gnadenvollen
Liebe Gottes zu verdanken haben. Letztlich geht es hierbei Nygren zufolge um die Alternative „Platon oder Paulus“ und nicht um rein geschichtliche Positionen. Es geht „um prinzipiell
verschiedene Einstellungen, die ihr Gepräge dem ganzen Leben geben, es handelt sich um
zwei konkurrierende Grundmotive, zwei entgegen gesetzte ideale Sinngebilde“, um zwei ver-
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WERNER SCHÜSSLER
immer nur verschiedene Qualitäten der einen Liebe.39 Diese verschiedenen
Qualitäten der Liebe gehören nach Tillich zusammen, und nur wenn sie sich
verselbständigen, treten sie in einen gewissen Gegensatz.40 Tillich unterscheidet näherhin die folgenden vier Qualitäten der Liebe: Epithymia oder Libido,
Eros, Philia und Agape.
Unter der Liebe als Libido versteht er „die Bewegung des Bedürftigen zu
dem hin, was das Bedürfnis erfüllt“.41 Es geht hier letztlich um den Wunsch
nach Vereinigung mit der materiellen Wirklichkeit durch die Sinne42 – sei dies
der Wunsch nach Nahrung, Trank, Sexus oder ästhetischem Genuss. Entscheidend ist nach Tillich für die Libido, daß sie auf ein bestimmtes Objekt gerichtet ist und nach der Einigung mit diesem befriedigt ist. Allein die existentiell
entstellte Libido ist nach Tillich auf die Lust als solche ausgerichtet. Das treibt
sie grenzenlos weiter von Objekt zu Objekt. Demgegenüber erfüllt sich die essentielle Libido, sobald die Einigung mit einem bestimmten Objekt erreicht
ist. Hier liegt für Tillich der Unterschied zwischen dem wahrhaft Liebenden
und dem Don Juan-Typ bzw. „zwischen der agape-bestimmten libido und der
richtungslosen libido“.43 Ziel ist somit nicht die Unterdrückung der Libido, sondern ihre Beherrschung durch die Agape.
Sigmund Freud beschreibt nach Tillich demgegenüber immer nur eine entartete Form der Libido, wenn er sie als das Verlangen des Individuums versteht, sich von seinen Spannungen zu befreien. Eine solche Beschreibung verfehlt aber Tillich zufolge den Sinn der Libido als des natürlichen Triebes zu
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43
schiedene „Lebenseinstellungen“ (ebd., I 184). Die Konsequenzen eines solchen Verständnisses, wie es Nygren vertritt, fasst Paul Tillich in seiner Schrift „Biblische Religion und die
Frage nach dem Sein“ so zusammen: „Wenn agape und eros sich ausschließen, ist es hoffnungslos, eine Synthese zwischen biblischer Religion und Ontologie zu suchen.“ (P. Tillich,
Gesammelte Werke [s. Anm. 27], V 164) Eine solche Synthese hält er aber für unerlässlich,
denn schon der Begriff „Theo-logie“ macht deutlich, dass es hier um zwei verschiedene Momente geht, die es zu verbinden gilt, nämlich zum einen um das kerygma, zum anderen um
die menschliche Vernunft (vgl. ebd., 111). In den Begriffen Eros und Agape kulminieren diese beiden Momente aber geradezu. – Eine ähnliche Position wie Nygren vertritt auch der Begründer der sog. Dialektischen Theologie, Karl Barth (vgl. ders., Die Kirchliche Dogmatik,
Bd. IV/2: Die Lehre von der Versöhnung, Zürich 1955, 825-953). – Vgl. W. Schüßler, Eros
und Agape. Ein Beitrag zum Verhältnis von Philosophie und Theologie am Beispiel von Anders Nygren und Paul Tillich, in: Ders., „Was uns unbedingt angeht“. Studien zur Theologie
und Philosophie Paul Tillichs (= Tillich-Studien, hg. von W. Schüßler u. E. Sturm, Bd. 1),
Berlin 4. erweiterte Aufl. 2015, 273-286.
Die diesbzgl. Position von Tillich ist hier derjenigen von Benedikt XVI. in seiner Enzyklika
„Deus caritas est“ von 2005 ähnlich, wo auch die Einheit der Liebe betont wird. Vgl. ebd., Nr. 7:
„In Wirklichkeit lassen sich Eros und Agape – aufsteigende und absteigende Liebe – niemals
ganz voneinander trennen. Je mehr beide in unterschiedlichen Dimensionen in der einen
Wirklichkeit Liebe in die rechte Einheit miteinander treten, desto mehr verwirklicht sich das
wahre Wesen von Liebe überhaupt.“ Vgl. dazu ausführlich C. M. C. Acapovi, L’Être et l’Amour
(s. Anm. 28), 298-312.
Vgl. P. Tillich, Gesammelte Werke (s. Anm. 27), III 37.
P. Tillich, Systematische Theologie I (s. Anm. 33), 322.
Vgl. P. Tillich, Gesammelte Werke (s. Anm. 27), III 36.
Ebd., III 52f.
DAS SEIN UND DIE LIEBE
27
vitaler Selbsterfüllung. Die Libido ist für Tillich eine Qualität, die in keiner
Liebesbeziehung fehlt; ihr kommt geradezu eine schöpferische Bedeutung zu,
denn ohne Libido würde das Leben stillstehen. Libido gehört darum für Tillich
zu der von Gott geschaffenen guten Natur des Menschen. Allerdings erscheint
sie im Stande der Entfremdung in verzerrter und zweideutiger Form.44
Unter Eros versteht Tillich die mystische Qualität der Liebe.45 Mit diesem
Verständnis weiß er sich mit der platonisch-neuplatonischen Tradition verbunden. „Liebe als eros ist die Bewegung dessen, was geringer in Sein und
Sinn ist, zu dem, was höher ist.“46 Wenn Agape und Eros in einen unvereinbaren Gegensatz gebracht werden – wie das bei Anders Nygren der Fall ist –,
dann beruht das nach Tillich gewöhnlich auf der Gleichsetzung von Eros und
Libido. Libido ist nach Tillich ohne Zweifel in jeder Form des Eros enthalten.
Und doch ist Eros immer mehr als Libido. „Der eros strebt nach Vereinigung
mit einem Wesen, das Werte verkörpert, und zwar um dieser Werte willen.“47
Natürlich wird die Liebe als Eros abgelehnt von Theologen, die jedes mystische Element im Verhältnis des Menschen zu Gott leugnen. Für Tillich gehört die Eros-Qualität der Liebe aber unbedingt zum Verhältnis zu Gott, denn
anderenfalls führte das dazu, dass an die Stelle der Eros-Qualität der Gehorsam gegenüber Gott treten würde. „Aber Gehorsam“, schreibt Tillich, „ist
nicht dasselbe wie Liebe. Er kann sogar das Gegenteil von Liebe bedeuten.
Ohne die Sehnsucht des Menschen nach Wiedervereinigung mit seinem Ursprung wird die Liebe zu Gott zu einem leeren Wort.“48 Die Gefahr des sich
isolierenden Eros-Elementes der Liebe sieht Tillich in dem rein ästhetischen
Genuss ohne letzten Ernst. Diese kann nur dadurch gebannt werden, dass Eros
mit Agape durchdrungen wird. Agape zwingt zur Verantwortung und zur Gemeinschaft von Person mit Person.49
Die Liebe als Philia im aristotelischen Sinne versteht Tillich als die „Bewegung von Gleichem zur Vereinigung mit Gleichem“.50 Stellt Eros den transpersonalen Pol der Liebe dar, so repräsentiert Philia den personalen Pol. Aber
auch hier gehören beide Qualitäten notwendig zusammen, keiner von beiden
ist ohne den anderen möglich. So ist für Tillich in der Philia immer auch ErosQualität und im Eros Philia-Qualität enthalten. Denn „wer zu einer Ich-DuBeziehung unfähig ist, hat kein Verhältnis zum Wahren und Guten und zum
Grund des Seins, in dem sie verwurzelt sind“.51 Einfach ausgedrückt: Wer den
Freund nicht lieben kann, der kann nach Tillich auch Gott nicht lieben.
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47
48
49
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51
Vgl. ebd., XI 219f.
Vgl. ebd., III 35.
P. Tillich, Systematische Theologie I (s. Anm. 33), 322.
P. Tillich, Gesammelte Werke (s. Anm. 27), XI 161f.
Ebd., XI 162.
Vgl. ebd., XI 220.
P. Tillich, Systematische Theologie I (s. Anm. 33), 322.
P. Tillich, Gesammelte Werke (s. Anm. 27), XI 162.
28
WERNER SCHÜSSLER
Nicht anders als Eros enthält nach Tillich auch Philia ein Element der Libido. Das trifft nicht nur da zu, wo eine Philia- und Erosbeziehung mit geschlechtlicher Anziehung oder Erfüllung verbunden ist. Denn „das natürliche
Verlangen eines jeden Wesens, sich durch die Vereinigung mit anderen Wesen
zu erfüllen, ist universal und liegt sowohl der Eros- wie auch der Philia-Qualität der Liebe zugrunde. Selbst in den höchsten Formen geistiger Freundschaft
oder asketischer Mystik ist ein Element der libido enthalten. Ein Heiliger ohne
alle libido würde aufhören, Geschöpf zu sein. Aber einen solchen Heiligen
gibt es nicht.“52
Wie die anderen Qualitäten der Liebe, so ist aber auch die Philia der Zweideutigkeit ausgesetzt. Philia ist die Liebe unter Gleichen; damit ist aber nach
Tillich die Gefahr gegeben, dass einige begünstigt werden. Werden aber nur
bestimmte Personen ausgewählt, so bleibt die Mehrheit ausgeschlossen. „Die
ausgesprochene oder unausgesprochene Zurückweisung all derer, denen keine
Zuneigung geschenkt wird“, ist nach Tillich ein „negativer Zwang und kann
ebenso grausam sein wie jeder andere Zwang. Aber solche Zurückweisung ist
eine unvermeidbare Tragik. Niemand kann sich der Notwendigkeit solcher
Zurückweisung entziehen.“53
Aus diesem Grunde ist es nach Tillich auch hier notwendig, dass die Agape
die Philia durchdringt. Agape verneint nicht die auswählende Liebe der Philia,
„aber sie befreit sie von einer würdelosen Knechtschaft und erhebt sie zur allumfassenden Liebe“:
„Die agape lehnt eine auswählende Freundschaft nicht ab; aber es widerspricht
ihr, wenn in einer Art aristokratischer Absonderung alle anderen von vornherein
ausgeschlossen werden. Nicht jeder kann zum Freund werden, aber jeder ist als
Person zu bejahen. Agape hebt die Scheidung zwischen gleich und ungleich, Zuneigung und Abneigung, Freundschaft und Gleichgültigkeit, Begehren und Widerwille auf. Sie bedarf keiner Sympathie, um zu lieben; sie liebt dort, wo die
philia abweist. Agape liebt in jedem und über jeden einzelnen hinaus die Liebe
selbst.“54
Damit wird auch schon deutlich, dass der Agape eine Sonderstellung gegenüber den anderen Qualitäten der Liebe zukommt, denn sie steht nicht einfach
„neben“ Libido, Eros und Philia. „Agape“, schreibt Tillich in seiner „Systematischen Theologie“, „ist unzweideutige Liebe, und darum kann sie der menschliche Geist nicht aus eigener Kraft herbeiführen. Wie der Glaube ist auch die
agape die ekstatische Teilhabe des endlichen Geistes an der transzendenten
Einheit unzweideutigen Lebens. Derjenige, der im Stande der agape ist, ist in
diese Einheit hineingezogen.“55
52
53
54
55
Ebd., XI 163.
Ebd., XI 221.
Ebd.
P. Tillich, Systematische Theologie III (s. Anm. 37), 160.
DAS SEIN UND DIE LIEBE
29
Alles Endliche ist nach Tillich beherrscht von der „Zweideutigkeit“, allein
das Transzendente ist eindeutig. Das Endliche dagegen leidet unter dem Riss
von Existenz und Essenz, platonisch gesprochen: von Wirklichkeit und Idee.
Eine Liebe, die unzweideutigen Charakter hat, kann darum immer nur aus der
Transzendenz selbst kommen. Agape ist in diesem Sinne das religiöse Element in der Liebe, das heißt, sie ist unbedingt, damit immer aber schon
menschlich unmöglich, sie ist ein Werk des göttlichen Geistes.56
Als eine unzweideutige Liebe ist Agape immer auch das Kriterium, dem die
drei anderen Qualitäten der Liebe – Libido, Eros und Philia – unterstellt werden müssen. Tillich sieht die Größe der Agape darin, dass sie den andern annimmt und erträgt, selbst wenn dieser unannehmbar und nur schwer zu ertragen ist. Das Ziel der Agape „ist eine Vereinigung, die mehr ist als Einigkeit
auf Grund von Sympathie und Freundschaft. Sie kann Vereinigung trotz
Feindschaft sein. Seine Feinde lieben ist keine Sentimentalität, die Feindschaft
bleibt bestehen. Aber trotz ihrer nehme ich den anderen nicht nur als Person
an, sondern ich vereine mich mit ihm in etwas, das über ihm und mir steht,
nämlich in dem letzten Grund seines und meines Seins.“57
In Libido, Eros, Philia liegt nach Tillich ein Element des Begehrens. Agape
aber ist eine Qualität der Liebe, die die bisher genannten Qualitäten transzendiert; sie ist nämlich „das Begehren nach der letzten Erfüllung“. Weiter ist alle
Liebe – außer der Agape – „abhängig von zufälligen Eigenschaften. Sie ist abhängig von Abneigung und Anziehung, von Leidenschaft und Sympathie.“
Demgegenüber ist die Agape von all dem unabhängig: „Sie bejaht den anderen
bedingungslos, das heißt, sie sieht ab von seinen edleren oder niedrigeren, angenehmen oder unangenehmen Eigenschaften. Die agape vereint den Liebenden und den Geliebten um des Bildes willen, das Gott von beiden in ihrer
Vollendung hat. Daher ist die agape allumfassend.“58
Tillich bezeichnet die Agape darum auch als „die Tiefendimension der Liebe oder Liebe in der Bezogenheit auf den Grund des Lebens“. In der Agape
offenbart sich die letzte Wirklichkeit, und in ihr verwandelt sich das Leben
und die Liebe. „Agape“, schreibt Tillich, „ist Liebe, die in die Liebe einbricht,
gerade so wie Offenbarung Vernunft ist, die in die Vernunft einbricht, und das
Wort Gottes das Wort ist, das in alle Worte einbricht.“59 Damit will Tillich sagen, dass die Agape die Zweideutigkeiten der Liebe auf eine neue Ebene hebt.
Ja, die Agape überwindet die Zweideutigkeiten der Liebe60 – wenn auch nur
fragmentarisch.
56
57
58
59
60
Vgl. P. Tillich, Gesammelte Werke (s. Anm. 27), III 82.
P. Tillich, Absolute und relative Faktoren in der Begegnung des Menschen mit der Wirklichkeit, in: Ders., Ergänzungs- und Nachlasswerke zu den Gesammelten Werk, Bd. IV, hg. von
I. C. Henel, Stuttgart 1975, 57.
P. Tillich, Systematische Theologie I (s. Anm. 33), 322.
P. Tillich, Gesammelte Werke (s. Anm. 27), XI 163f.
Vgl. ebd., XI 222.
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WERNER SCHÜSSLER
Aber es ist nicht nur so, dass die drei anderen Qualitäten der Liebe – Libido, Eros, Philia – auf die Agape-Qualität angewiesen sind, um nicht zu entarten, denn es gilt auch das Umgekehrte: Auch die Agape ist notwendig auf
die anderen Qualitäten der Liebe bezogen. So schützt nach Tillich beispielsweise das Libido-Element in der Liebe die Agape davor, zur rationalen Überlegung zu werden, wie dem anderen am besten geholfen werden kann.61
Mit seiner ontologischen Konzeption der Liebe wendet sich Tillich gegen
einen absoluten Gegensatz von Eros und Agape,62 denn ein solcher Gegensatz
reduziert letztlich die Agape auf einen Moralbegriff und profanisiert, ja sexualisiert den Eros-Begriff. Und doch sieht Tillich auch, dass die Betonung des
Gegensatzes zwischen der Agape und den anderen Qualitäten der Liebe eine
wichtige Wahrheit enthält: nämlich dass die Agape „eine ekstatische Manifestation des göttlichen Geistes“ ist. Aus diesem Grunde ist sie für ihn auch immer nur möglich „in Einheit mit dem Glauben“.63
d) Liebe und Macht sind keine sich ausschließenden Gegensätze
Eine Frage ist aber noch offen geblieben, die auch mit der zu Anfang erörterten Reduzierung der Liebe auf das Gefühl zusammenhängt: Wie ist das Verhältnis von Liebe und Macht zu denken?64 Schließen sich Liebe und Macht
nicht aus? Verzichtet Liebe nicht notwendig auf Macht? Verneint Macht nicht
notwendig Liebe?65
Mit seiner ontologischen Analyse der Begriffe Liebe, Macht und Gerechtigkeit will Tillich ja gerade aufzeigen, dass diese letztlich eine Einheit bilden,
dass also auch Liebe und Macht sich ihrem Wesen nach nicht widersprechen.
Wird Liebe aber nur als Gefühl und Macht rein negativ als Zwang oder Gewalt verstanden,66 so ist eine Entgegensetzung natürlich unvermeidbar.67 In einem solchen Fall wird „machtlose Liebe […] liebloser Macht gegenübergestellt“.68 Aber eine solche Auffassung ist nach Tillich irrig und falsch, da sie
61
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63
64
65
66
67
68
Vgl. ebd., III 36.
Wobei in diesem Zusammenhang Eros die beiden anderen Formen der Liebe, nämlich Libido
und Philia, mit umfasst.
P. Tillich, Systematische Theologie III (s. Anm. 37), 163.
Zum Verhältnis von Liebe und Gerechtigkeit siehe den Beitrag von Angelika Krebs in diesem
Band. Vgl. zum Verhältnis von Liebe und Gerechtigkeit bei Tillich: W. Schüßler / E. Sturm,
Paul Tillich: Leben – Werk – Wirkung, Darmstadt 22015, bes. 121-124.
Vgl. P. Tillich, Gesammelte Werke (s. Anm. 27), XI 149.
Vgl. W. Schüßler, Zwang – das „fremde Werk“ der Liebe. Zu Paul Tillichs Ontologie der
Macht, Gerechtigkeit und Liebe, in: J.-P. Ernst / M. Kehl / M. Thal / D. Groß (Hg.), Medizin –
Zwang – Gesellschaft (= Schriftenreihe Humandiskurs – Medizinische Herausforderungen in
Geschichte und Gegenwart, hg. von D. Groß), Berlin 2012, 19-34.
Vgl. P. Tillich, Gesammelte Werke (s. Anm. 27), XI 150, 158, 173; P. Tillich, Gesammelte
Werke (s. Anm. 27), IX 227.
P. Tillich, Gesammelte Werke (s. Anm. 27), XI 149.
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