Seitenüberschrift: SCHALLPLATTEN UND PHONO Ressort

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Seitenüberschrift:
SCHALLPLATTEN
UND PHONO
Ressort:
Schallplatten und
Phono
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.09.2008, Nr. 227, S. 36
Schön kräuselt sich der Trauerflor
In der Trutzburg des Escorial, abgeschieden von der Welt, schrieb Padre Antonio Soler
Hunderte wundersam weltlich-sinnliche, originelle Sonaten, die heute moderner wirken denn
je.
Fast alle Operngänger haben schon Musik eines Komponisten gehört, den sie nicht einmal
dem Namen nach kennen: Im zweiten "Don Giovanni"-Finale servieren die Musiker ihrem
Herrn ein Tafelstückchen, auf das Leporello eilfertig entzückt reagiert: "Bravi! ,Cosa rara'!".
Es entstammt der Oper "Una cosa rara" des Erfolgskomponisten Vicente Martín y Soler, die,
1786 in Wien uraufgeführt, dort sogar Mozarts "Figaro" verdrängte. Und dann gibt es noch,
nicht zu verwechseln (und noch nicht mal verwandt), einen zweiten spanischen Komponisten
dieses Namens: Padre Antonio Soler. Er lebte von 1729 bis 1783, trat in den HieronymitenOrden ein, wurde 1752 Organist im Escorial, vollzog seine täglichen Riten und verblieb bis
zuletzt in dem monumentalen Kloster-Palast.
Wie fromm Antonio Soler wirklich war, wissen wir (ähnlich wie bei Bach) nicht. Zumal die
Abgeschiedenheit die Nähe zum Madrider Hof nicht ausschloss, wo er, als Schüler von
Domenico Scarlatti beeinflusst, prominent wurde. Beide, Scarlatti und Soler, konzentrierten
sich aufs Tasteninstrument, durchaus virtuos, integrierten vielfältige iberische Folklore. Und
beide bevorzugten die einsätzige zweiteilige Sonate.
Historisch gehören Solers Sonaten noch weitgehend ins Cembalo-Repertoire. Aber
selbstverständlich funkeln sie auch auf dem Klavier - und so ist, verglichen mit dem
Opernkomponisten Soler, Fra Antonio zumindest in der Klavierwelt heute nicht ganz
unbekannt. Der Augustinerpater Samuel Rubio gab bereits in den fünfziger Jahren das Gros
seiner über zweihundert Sonaten heraus, auch den fast populär gewordenen, virtuos
ausgedehnten "Fandango", der in einer der beiden vorliegenden Neuaufnahmen (von Davide
Cabassi) an den Anfang gestellt wird. Folgte in den Siebzigern eine mehrbändige Edition des
amerikanischen Pianisten Frederick Marvin.
Gleichwohl geben Person wie Werk einige Rätsel auf. Im Escorial war Soler vor allem
Organist, er komponierte viel für dieses Instrument (Konzerte sogar für zwei Orgeln),
daneben auch sakrale Chorwerke. Dem Bild der düster-klobigen allerkatholischsten Trutzburg
entspricht dies durchaus, mag die Wucht der Glaubens-Weltmacht Spanien in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts auch schon stark gemindert sein. Solers Sonaten aber sind
weltlich, virtuos, expressiv, sinnlich und mitsamt manchen Exotismen suggestive Spielmusik
im besten Sinne, ja, im finster-schwarzen "hispanischen" Habit kommt diese Musik
keineswegs daher. Zwei Vergleiche bieten sich an: Liszt, der Klavierzauberer in der Soutane,
und Bruckner, seinerzeit gefeierter Orgelimprovisator - allerdings weniger wegen seiner
klerikal-klösterlichen Komponente. Denn so weit Soler und Bruckner auseinanderliegen eines verbindet sie: das Moment des mitunter manisch repetitiven Insistierens.
Genau darin liegt nicht zuletzt die Attraktivität Solers begründet: im Brückenschlag zwischen
historischem Vorbild und Gegenwart. Es mag mit der Abgeschiedenheit im Escorial zu tun
haben, dass er sich von den Modellen seines Lehrmeisters Scarlatti zumindest nicht eklatant
entfernt hat. Und es war sicher kein Zufall, dass nicht wenige seiner Sonaten zunächst für
solche des italienischen Hofkomponisten gehalten wurden. Die Abhängigkeit bleibt spürbar,
auch wenn evident ist, dass Soler eben doch später komponierte, die Empfindsamkeit noch in
manch ornamentalen Kräuselungen, harmonisch kühnen Rückungen deutlicher für sich
spricht. Hält man hörend oder spielend Scarlattis und Solers Sonaten nebeneinander, so sind
die Analogien kaum überhörbar.
Wundersam bleibt, dass dennoch der Eindruck des Epigonalen, sonst oft tödlich, nie entsteht.
Stets klingt Solers Musik originell, inspiriert und - wie bei bedeutenden Komponisten fast
immer - leicht melancholisch umflort. Da wiederholt sich, auf ganz eigenständiger Stufe, ein
lange überhörtes Charakteristikum auch und gerade Scarlattis: ein meditatives, fast
depressives Kreiseln in Motiven, Spielfiguren und harmonischen Kombinationen. Manche
Stimmungs- und Bewegungsmuster der "Minimal Music" wirken da vorweggenommen.
Dass man der Kühnheit und "Modernität" dieser Stücke erneut so eindringlich gewahr wird,
ist auch das Verdienst der Pianistin Marie-Luise Hinrichs, die nunmehr schon die zweite
Soler-CD vorgelegt hat. Ihre Auswahl der zehn Sonaten bietet einen überaus plastischfarbigen Fächer von Solers Spiel- wie Ausdruckswelten, die sich als höchst kontrastreich
erweisen, dabei nicht selten in grüblerisch-rembrandtschem Hell-Dunkel vagieren. Vor allem
die ungewöhnlich langen Sonaten in fis- und cis-Moll führen in harmonisch verschattete
Ausdrucks-Labyrinthe, während die konzis-rapide f-Moll-Sonate dramatischen Drive
entfacht, die in Es-Dur in ihrem beschwingt-flächigen Duktus schon nach klassizistischem
Arkadien klingt. Eine weite Musiklandschaft tut sich da auf.
GERHARD R. KOCH
Antonio Soler, Zehn Klaviersonaten. Marie-Luise Hinrichs. cpo 777 200 (www.jpc.de)
Antonio Soler, Fandango & Sonatas. Davide Cabassi. col legno WWE 1 CD 60012 (harmonia
mundi)
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