Kommunikation für Nahrungsergänzungsmittel Foto: © Thomas Jansa - Fotolia.com Chancen und Herausforderungen in Zeiten der Health-Claim-Verordnung Jahrbuch Healthcare Marketing 2013 E 50 motionales Branding oder wissenschaftliche Argumente als Basis der Markenführung? Loyalisierung von bestehenden Käufergruppen oder Erschließung ganz neuer Zielgruppenpotenziale? Die GIM Gesellschaft für Innovative Marktforschung hat untersucht, wie Anbieter von Nahrungsergänzungsmitteln die Konsumenten trotz der vom Gesetzgeber auferlegten Werbebeschränkungen überzeugen können. Healthcare ist einer der aktuellen Megatrends: Immer mehr Menschen interessieren sich für die vielfältigen Facetten des Themas Gesundheit und sind folglich auch motiviert, ihr körperliches und geistiges Wohlergehen selbst und eigeninitiativ zu steuern und zu managen. Die unmittelbare Konse- quenz: Der Markt der Gesundheitsprodukte boomt, speziell der Bereich OTC, also frei verkäufliche Präparate, zu denen auch das Segment der Nahrungsergänzungsmittel (NEM) zählt. Diese Aussichten für die NEM-Hersteller werden allerdings getrübt durch erhebliche Werbebeschränkungen: Die Health-Claim-Verordnung der European Food Safety Authority (EFSA) schreibt vor, dass Aussagen zur Wirkungsweise der Produkte wissenschaftlich belegbar sein müssen. Allerdings, das hat die GIM Gesellschaft für Innovative Marktforschung in zahlreichen Studien beobachtet, bergen die Beschränkungen der EFSA auch Chancen: Durch eine saubere, seriöse Positionierung kann sich ein NEM-Produkt im vielschichtigen Markt Der Markt der Nahrungsergänzungsmittel ist durch eine Vielzahl von Anbietern geprägt. In diesem fragmentierten Markt sind nach Angaben des Bundes für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde e. V. (BLL) 19 Hersteller für die Hälfte des NEM-­Umsatzes verantwortlich; die Top-AchtHerstellermarken steuern ein Drittel des Umsatzes bei. Laut BLL und Nielsen entfällt 2012 im Markt der Gesundheitsprodukte auf Nahrungsergänzungsmittel ein Umsatz von 953 Millionen Euro – das sind 7,8 Prozent des Gesamtbereichs OTC, der insgesamt auf eine Größenordnung von 12,3 Milliarden Euro kommt. Gemessen an den Packungen halten die Nahrungsergänzungsmittel mit rund 160 Millionen Einheiten einen Anteil von 21,6 Prozent am OTCMarkt. Die wichtigsten Warengruppen bei Nahrungsergänzungsmitteln sind Vitamine und Mineralstoffe. � Gesetzgeber verlangt Beweise für Claims Was sich Nahrungsergänzungsmittel nennen darf oder nicht, ist per Gesetz definiert. Die Verordnung über Nahrungsergänzungsmittel (NemV) definiert Nahrungsergänzungsmittel als „Lebensmittel, das 1.) dazu bestimmt ist, die allgemeine Ernährung zu ergänzen, 2.) ein Konzentrat von Nährstoffen oder sonstigen Stoffen mit ernährungsspezifischer oder physiologischer Wirkung allein oder in Zusammensetzung darstellt und 3.) in dosierter Form (...) in den Verkehr gebracht wird. Nährstoffe im Sinne dieser Verordnung sind Vitamine und Mineralstoffe, einschließlich Spurenelemente“. Auch hinsichtlich Verpackung und Bewerbung eines NEM-Produktes trifft die NemV eine Aussage: „Die Kennzeichnung und Aufmachung eines Nahrungsergänzungsmittels sowie die Werbung dafür dürfen keinen Hinweis enthalten, mit dem behauptet oder unterstellt wird, dass bei einer ausgewogenen, abwechslungsreichen Ernährung im Allgemeinen die Zufuhr angemessener Nährstoffmengen nicht möglich sei.“ Seit Dezember letzten Jahres dürfen Lebensmittelhersteller in Europa 222 gesundheitsbezogene Angaben verwenden, die von der EFSA in ihrer Claims-Verordnung freigegeben wurden – voraus- PRODUKTE + DISTRIBUTION � Nahrungsergänzungsmittel – ein dynamischer Markt gesetzt, die Werbeaussage ist wissenschaftlich belegbar. Da es schon früher für die NEM-Hersteller schwierig war, die potenziellen Konsumenten vom Nutzen ihrer Präparate zu überzeugen, behalfen sich viele Anbieter mit großen Werbeversprechungen. Diesen Claims hat der Gesetzgeber, wie dargelegt, einen Riegel vorgeschoben. Viele Hersteller wichen daher auf eine eher emotional geprägte Markenführung aus. Doch das reicht aus Sicht der GIM nicht aus, um heutige Zielgruppen zu überzeugen: Sind lediglich diffuse Benefits wahrnehmbar, erwartet der Konsument glaubwürdige Beweise dafür, dass das Produkt tatsächlich Wirkung zeigt. � Hoher Forschungsbedarf Angesichts des großen und heterogenen Marktes mit vielen Neuproduktentwicklungen und ProduktRange-Erweiterungen besteht für Anbieter im Segment der Nahrungsergänzungsmittel hoher Forschungsbedarf – mit den unterschiedlichsten Fragestellungen: Wie muss eine Marke im Wettbewerbsumfeld positioniert werden? Welche Angebotsnischen sind ein vielversprechendes Betätigungsfeld? Mit welcher Kommunikationsstrategie lassen sich bestehende und potenzielle Kunden überzeugen? Übrigens: Im Bereich Markenpositionierung hat das Segment der Nahrungsergänzungsmittel noch viel Potenzial. Denn die Mehrheit der Kunden fragt – etwa beim Kauf in der Apotheke – nicht nach einer bestimmten Marke. Hersteller von Nahrungsergänzungsmitteln können, wie erwähnt, die gesetzlichen Vorschriften durchaus als Chance begreifen, ihre Produkte als glaubwürdige, leistungsfähige Angebote zu positionieren. Das ist auch dringend nötig: Da die Verbraucher selbst die Wirkung (inklusive Nebenwirkungen) der NEM in den seltensten Fällen überprüfen oder spüren können, herrscht Verunsicherung über die Sinnhaftigkeit von NEM-Produkten. Und: Der Konsument von heute ist weitaus kritischer als früher. Als mündiger Patient hinterfragt er die Vorschläge des Arztes oder des Apothekers wie auch die Werbeaussagen von Anbietern. Im Zusammenhang mit Nahrungsergänzungsmitteln wird der Begriff Gesundheit übrigens gar nicht so häufig genannt, wie die GIM in mehreren Studien beobachtet hat. Erwähnt werden eher Begriffe, die Teilfacetten des großen Bereichs Gesundheit abdecken, also beispielsweise Energie, Wohlfüh- Jahrbuch Healthcare Marketing 2013 hervorheben und glaubwürdig die potenziellen Verwender überzeugen. 51 Abb. 1: Beispielhafte Auszüge: „Laddering“ zu Effekten von NEM Energie Sich wohlfühlen Gutes Gewissen Attraktivität Fitness Folgen des Älterwerdens vorbeugen Dem Körper etwas Gutes tun „Für die Nerven“ Gegen Krämpfe Immunsystem stärken Cholesterin senken Quelle: NEM – Ein Rädchen im Getriebe der Gesundheit, Seite 6 len, gutes Gewissen, Attraktivität und Schönheit, Fitness oder Vorbeugung gegen Auswirkungen des Älterwerdens (� Abb.1). Gesundheit ist zu einem gewissen Grad zum Konsumgut geworden. Viele Menschen haben ein analytisches und funktionales Körperbewusstsein: Bestimmte Körperregionen oder Gesundheitsprozesse glauben sie – auch ohne Ingredient-Wissen – beeinflussen zu können. Jahrbuch Healthcare Marketing 2013 � Bestehende und potenzielle Zielgruppen 52 Die erfolgreiche Positionierung eines NEM-Angebots erfordert profunde Zielgruppen-Insights und Erkenntnisse darüber, wie die Menschen generell mit dem Thema Gesundheit umgehen. Viele Konsumenten sehen sich als Gesundheitsmanager, die ihr Wohlbefinden in die eigene Hand nehmen, selbst zu Wirkungsweisen recherchieren und im Zuge dessen andere, als wirkungsvoller wahrgenommene, Produktalternativen finden. Und sie sagen: Wer sich bewusst ernährt, braucht im Grunde genommen keine Nahrungsergänzungsmittel. Konsumenten treffen ihre Kaufentscheidungen bei Nahrungsergänzungsmitteln häufig kurzfristig und spontan, selbst wenn bereits seit längerem ein entsprechendes Bedürfnis besteht. Das bedeutet: Ausführliche Wissensprüfungen oder Produktvergleiche werden kaum angestellt – oder man glaubt, über manche Wirkstoffe wie etwa Vitamin C oder Calcium schon alles zu wissen. Davon profitieren jedoch vor allem NEM-Produkte, die schon länger auf dem Markt sind, weil sie – auch ohne Claim – vom Allgemeinwissen der Zielgruppen zehren können. Zusätzlicher Forschungsbedarf besteht für NEMAnbieter, weil sich das Feld der potenziellen Verwender stark erweitert hat. Dies hängt mit dem allgemeinen Umdenken beim Thema Gesundheit zusammen. Waren es früher vor allem ältere Konsumenten, die Nahrungsergänzungsmittel anwendeten – etwa als Präventivmaßnahme zur Stärkung der Knochen oder als Abwehrmaßnahme gegen Alterserscheinungen –, so zählen bei heutigen NEM-Zielgruppen auch Aspekte wie Fitness, Körperoptimierung, Leistungsfähigkeit oder Schönheit. In jüngster Zeit versuchen Hersteller, über neue Formate wie Tonics, Vitamin-Shots oder VitaminGummis die Zielgruppe der bisherigen Nicht-Verwender zu knacken. Abhilfe schafft hier, so die Erkenntnis der GIM, eine klar nachvollziehbare und glaubwürdige Darstellung dessen, was ein Produkt leistet. Damit vermeidet der Anbieter nicht nur Konflikte mit der Health-Claim-Verordnung, sondern erhöht auch die Chancen, Ärzte und Apotheker zu überzeugen: Diese Multiplikatoren empfehlen in der Regel ein Nahrungsergänzungsmittel nur, wenn es einen echten Beweis für dessen Wirksamkeit gibt. � Die erfolgreiche Positionierung von NEM-Marken Nahrungsergänzungsmittel müssen nicht nur aufgrund der Health Claims der EFSA ihre Wirkungsweise wissenschaftlich untermauern und damit unter Beweis stellen, sondern auch deshalb, weil die Konsumenten einen klar erkennbaren Benefit wünschen. Um eine Marke im Bereich Nahrungsergänzungsmittel erfolgreich zu positionieren, gibt die GIM folgende Handlungsempfehlungen: Sicherheit vermitteln: Die Chancen der Zwischenposition von Nahrungsergänzungsmitteln in Abgrenzung zu Lebensmitteln, Functional Food und Arzneimitteln kann für eine medizinisch-wissenschaftliche, seriöse Positionierung genutzt werden. Marken stärken: Analog zu OTC-Produkten sollten Nahrungsergänzungsmittel als vertrauensbildende, starke Marke positioniert werden. Testimonials können hier die Glaubwürdigkeit von Werbeaussagen untermauern. Transparenz schaffen: Frühzeitig sollten alle beteiligten Interessengruppen wie Konsumentenzielgruppen, Rechtsexperten, Forschung & Entwicklung und Marketing integriert werden, um einen gemeinsamen Nenner zu finden. Klar kommunizieren und Zielgruppen-Insights nutzen: Der Konsument sollte sich in der Marke wiederfinden, ein NEM-Angebot sollte also den User abholen und ihm Orientierung, Hilfestellung und einen klaren Benefit vermitteln. Das bedeutet: Claims so gestalten, dass die Kunden den zielgruppenspezifischen Benefit quasi im Vorbeigehen erkennen, etwa durch visuelle Elemente und relevante, kulturell verankerte Zeichen. PRODUKTE + DISTRIBUTION Sich vom Markt abheben: Enthält ein NEM-Produkt neue oder verbesserte Inhaltsstoffe, sollten neue Produktformate entwickelt werden – um damit aktuelle Zielgruppentrends wie etwa Convenience auf neue Art und Weise zu bedienen. Dr. Sigrid Schmid leitet in der GIM Gesellschaft für Innovative Marktforschung, Heidelberg, den Gesamtbereich Health und ist im Management Board der GIM für Forschung & Entwicklung zuständig. *[email protected] Patricia Blau leitet bei der GIM, Gesellschaft für Innovative Marktforschung, Heidelberg, den Bereich Consumer Health. Seit vielen Jahren unterstützt sie Kunden aus der NEM-Branche mit Forschung und Beratung. Innovationsmanage­ ment und Konzeptentwicklung sind ihre Schwerpunkte. *[email protected] Jahrbuch Healthcare Marketing 2013 Fest steht allerdings: In der Wahrnehmung der Konsumenten verschwimmen die Grenzen zwischen Nahrungsmitteln, Functional Food oder Medizinprodukten – angesichts einer riesigen Zahl von Multivitaminsäften, probiotischen Milchprodukten oder mit Mineralstoffen angereicherten Drinks. Ein Problem, das sich in diesem großen Feld immer wieder stellt: Wenn etwa Kampagnen für Functional-Food-Produkte von Verbraucherorganisation als Werbelüge“bezeichnet werden, geraten auch Nahrungsergänzungsmittel in Gefahr, mit am Pranger zu stehen. 53