ÜBER DEN ZUSAMMENHANG VON KUNST, KREATIVITÄT, ROLLE

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ÜBER DEN ZUSAMMENHANG VON KUNST, KREATIVITÄT,
ROLLE, HERRSCHAFT, GRUPPENBILD UND GRUPPENDYNAMIK
Kunst soll in diesem Kontext als eine Form des Sozialverhaltens verstanden werden,
das nicht wieder Kunst ist und seinen speziellen Aktionsraum hat (Malerei,
Bildhauerei usw.), sondern als eine Qualität des Verhaltens des Individuums
gegenüber den gesellschaftlich präformierten Rollen. Von engagierter Kunst – in
unserer Terminologie von sozialer Kreativität im emanzipatorischen Sinn wäre nur
dann zu sprechen, wenn es sich um Kreativität handelt, die unterdrückte Bedürfnisse
artikuliert, sie sozusagen zu interpretierten Bedürfnissen macht und die in jeweils
konkreten historischen Situationen einer Gruppe zeigt, dass das Integrationstheorem,
das eine Gruppe von sicht hat, nämlich dass der Komplementarität der Erwartungen
auch eine Gegenseitigkeit der Leistung und der faktischen Befriedigung entspricht,
nicht stimmt. Doch davon später. Die Fähigkeit zu produktiver schöpferischer Arbeit
in den Berufsgruppen Wissenschaftler, Erfinder, Künstler, Kunstkritiker, Journalisten,
Werbetexter, Manager, Graphiker, Therapeut und Lehrer, die man in der
psychologischen Literatur immer häufiger als Kreativität bezeichnet, ist nicht – so die
These – einfach eine naturgegebene Eigenschaft, sondern unterliegt bei ihrer
Entstehung und Entwicklung spezifischer psychosozialer Bedingungen im Sinn von
spezifischen Systemeigenschaften von Gruppen.
Kreativität wird in dieser Arbeit deshalb von einem etwas anspruchsvolleren Begriff
der sozialen (=engagierten) Kreativität unterschieden, weil die Praxis der Anwendung
der Kreativitätstechniken (Brainstorming, Synectik, usw.) eher zu systemimmanenter
Schlaumeierei und Wendigkeit führte als zu emanzipatorischen Prozessen.
Das Gebiet der Kreativitätsforschung und –praxis ist ein Gebiet interdisziplinärer
Zusammenarbeit par excellence. Soziologie, Psychologie, Philosophie und Theologie
leisten diesem Forschungsgebiet ebenso Beiträge wie Anthropologie, Ökonomie,
Linguistik, Dramaturgie und die angewandten und bildenden Künste. In der neueren
Wissenschaftsgeschichte
können
vier
wesentliche
Ausgangspunkte
der
Kreativitätsforschung festgestellt werden.
1. Die amerikanische Heerespsychologie, die mit ihrer Kritik und Weiterentwicklung
herkömmlicher Intelligenztests, mit ihren Fragen nach den Strukturen von
Problemlösungsprozessen in kleinen Gruppen (z. B. Bombenbesatzungen) die
Erforschung dieses Gebietes vorantrieb;
2. Die Forschungssoziologie und –psychologie, die die Frage nach produktiveren
Strukturen des Wissenschaftsprozesses stellt; damit in engster Verbindung die von
der sogenannten
3. progressiv-education-Bewegung, ausgelöst durch den „Sputnikschock“, gestellte
Frage „Wie können die kreativen Potenzen der Vereinigten Staaten erhöht werden?“
Im deutschsprachigen Bereich können die bildungswissenschaftlichen Ergebnisse
dieser Bewegung möglicherweise dadurch leichter wirksam werden, weil es in der
Kunsterziehung eine Richtung gibt, die teilweise verwandte Ideen vertritt.
Und schließlich jener Ausgangspunkt der Kreativitätsforschung, der vielleicht am
besten mit dem Proben der dauernd
4.
„notwendigen“
ästhetischen
Innovation
auf
wirtschaftlichen
Gebiet
dingfestgemacht werden kann. Die erste Kreativitätstechnik wurde, wie ja sicher
bekannt von Osborn, einem Werbeagenturbesitzer, entwickelt und als
„brainstorming“ bezeichnet.
Diese vier Ausgangspunkte der Kreativitätsforschung geben auch gleichzeitig die
wesentlichen sozioökonomischen Bestimmungsfaktoren der Verwertung von
kreativer Produkten und Prozessen an. Mit der Fragestellung nach der derzeitigen
Situation kreativer Systeme, ihren konkreten Einengungen, ihren Abstrichen von
unserem in der Folgekurz umrissenen idealtypischen kreativen Rollensystem ist also
die
Analyse
kreativitätsplanender
und
–lenkender
Ausbildungsund
Verwertungssysteme verbunden. Wissen und Techniken, die zur Steigerung der
Kreativität in allen Gruppen eingesetzt werden könnten, sind auf eine umfassende
Wissenschafts- und Kunsttheorie angewiesen, die die Frage nach den richtigen
Fragen beantwortet. Brainstormings und andere Kreativitätstechniken könnten in
Familien und Betrieben angewandt werden und nicht nur zum Problem: Wo fahren
wir am Sonntag hin? Oder wie kann ein Produkt verbessert werden? Diese
Techniken, die den Möglichkeitssinn, den gedanklichen Spielraum der
Gruppenmitglieder erweitern, könnten auch auf die Frage der möglichen
Sozialbeziehungen und Organisationsformen dieser Beziehungen innerhalb der
Gruppe erfolgt beispielsweise dadurch, dass Trainingsgruppen aufgefordert sind, ihre
Situation zuerst einzeln und dann gemeinsam zu zeichnen. Die künstlerische
Kreativität wirkt, wie sich zeigt, auch nach der visuellen Artikulation der Situation auf
das Sozialverhalten kreativitätssteigernd.
Dass es sich bei diesen Bildern zur Selbstverständigung der Gruppe mehr um
Engagiertes als um Kunst handelt, braucht nicht betont werden, doch habe ich
dieses Beispiel gewählt, weil die Wechselwirkung unserer drei Begriffe Engagement,
Kunst und soziale Kreativität auch im Dreischritt Engagement in der
Selbsterfahrungsgruppe, visuelle Artikulation der erlebten Gruppengeschichte und
Rückwirkung auf die Fortsetzung der Gruppengeschichte im Hinblick auf ein
mögliches Freispielen von Rollen, die man im Bild spielt, eben durch die Artikulation
ermöglicht wird.
Das Verhältnis von Gruppe und Gesellschaft im Hinblick auf eine rollentheoretische
Behandlung soll nur angedeutet werden. Der harte Kern vieler Rollen wird – und
sofern ist Rollentheorie nicht nur Kleingruppentheorie – gesetzlich definiert. Zwar ist
eine Aufzählung der gesellschaftlichen Institutionen (Rollensysteme), in denen
Kreativität der Positionsinhaber gefördert oder unterdrückt werden kann, eine
Aufzählung der gesellschaftlichen Institutionen überhaupt, in der gegenwärtigen
historischen Situation kann jedoch gesagt werden, dass kreatives soziales Verhalten
und Denken jedoch nur in bestimmten Rollen als positiv bewertet und von ihnen
verlangt wird. Dreitzel bezeichnet in seinem Klassifikationsschema für soziale Rollen,
für die eine gewisse Kreativität normativ gefordert wird, als Rollen mit
Gestaltsnormen. Das heißt, dass für Künstler, Wissenschaftler und Politiker
tendenziell eine gewisse Gestaltungskraft für ihr Rollenspiel gefordert wird. Weiters
bedürfen Beziehungsrollen gewisser kreativer Fähigkeiten. Da aber gerade jüngere
Untersuchungen gezeigt haben, dass die Erlernung von Kreativität dann auch hohen
Transferwert, ja geradezu die Tendenz hat, die einmal geübte Kreativität (z. B. im
Bereich der Kunsterziehung oder im sexuellen Bereich – Ammon) auf andere Bereich
zu übertragen, ergeben sich zwei Probleme: Die eine Möglichkeit ist, dass Personen
zwar kreativ sind (bis zu einem gewissen Grad ist das jeder Mensch) und somit ihre
Beziehungsrollen gut und befriedigend spielen könne, zu kreativer Selbstrealisation
in anderen Bereichen die Möglichkeit aber nicht haben (Arbeitsrollen).
Die andere wahrscheinliche Möglichkeit ist, dass die kreativitätsunmöglichenden
Produktionsbedingungen auch den Bereich der Beziehungsrollen strukturiert und die
verdinglichten und verdinglichenden Kommunikationsformen der Berufswelt auf
Freundschafts- und familiale Beziehungen zurückwirken. Ist nämlich der
Produktionsprozess Stehende – und er steht in diesem Positionen auch wegen
seiner schichtspezifischen Sozialisation – nicht kreativ (wie es ihm der
Produktionsprozess teilweise nahe legt), sozusagen rein ausführend tätig, hat er die
Tendenz, seinen persönlichen Bereich ähnlich zu strukturieren und/oder seine
Erfüllung nur im Konsum zu suchen. Habermas zeigt detailliert in seinen
soziologischen Notizen vom Verhältnis von Arbeit und Freizeit wie stark
Freizeitverhalten vom Arbeitsverhalten her determiniert ist.
Im Zusammenhang mit rein ausführenden, nicht planenden Tätigkeiten scheint mir
die Wechselwirkung von „Befehl“ (z. B. am Arbeitsplatz) und seiner Auswirkung auf
den Sprachgebrauch Befehlsempfänger (Unterschichten) zu stehen. SelbstBewusstsein als Ziel und Kennzeichen von Gruppen und somit Rollensystemen wäre
eines der wesentlichsten Elemente von Selbstverständnissen von Personen und
Gruppen, die kreativ sein wollen. Selbstbewusst nennen wir ein System, das sich
nicht in bloßer Aktivität erschöpft, sondern sich dabei auch beobachtet und als
handelndes und selbstverwirklichendes System begreift. Rollenträger tragen zur
Selbstbewusstheit
der
Gruppe
bei,
wenn
sie
Kommunikation
und
Metakommunikation entwickelt, Vorstellungen über das Rollensystem und die
Gruppe, sowie ihre Beziehungen zu anderen Gruppen entfalten und diese
Vorstellungen anderen vermitteln. Sie steigern so die Information des Rollensystems
über seine Struktur, seine Prozesse und Grenzen. Die Realisierung dieser
Selbstbewusstheit von Individuen und Gruppen in der Geschichte sind im
wesentlichen
durch
die
sozio-ökonomische
Struktur
–
durch
die
kreativitätsermöglichenden oder –verunmöglichenden Produktionsbedingungen –
einer Gesellschaft bestimmt.
Die Formulierung des üblichen Rollenkonzeptes (z. B. Dahrendorf) entgeht nicht der
Gefahr des Soziologismus: sie lässt drei Dimensionen, die insbesondere für eine
Theorie der Kreativität zentral sind, unberücksichtigt. Es handelt sich um jene
Dimensionen, in denen das Verhältnis des handelnden Subjekts zu seinen Rollen
gefasst werden kann. Es ist dies die vernachlässigte Dimension der
Bedürfnisrepression, der Ich-Spontanität, der Selbstreflexion (Rollendistanz) und die
Summe kreativer Erfahrungen, die kreative Ich-Identität konstituieren halfen. Diese
Dimensionen umschreiben auch den Ort der Phänomene der sozialen Kreativität.
Wobei, wie Eingangs schon erwähnt wurde, die Fähigkeit Bedürfnisrepression zu
artikulieren, im besonderen der „engagierten Kunst“ nahe steht. Ja beide sind
sozusagen füreinander Übungsfelder.
Die in der Soziologie und der Kunsttheorie vernachlässigte Dimension der
Bedürfnisrepression ist in ihrer Aufhebung der Kernpunkt der emanzipatorischen
sozialen Kreativität. Der institutionell hergestellten Komplementarität der
Erwartungen und des Verhaltens entspricht meist keine Reziprozität der
Bedürfnisbefriedigung. Die Herrschaft des Menschen über den Menschen ist eine
alltägliche Erfahrung in Familie, Schule und Betrieb. Das Gleichgewicht einer
Interaktion ist zwar an die Bedingung der Gegenseitigkeit auf der kognitiven Ebene
der symbolischen Bedeutung (Komplementarität der Erwartungen) gebunden, das
heißt aber noch lange nicht, dass die Bedingungen einer Gegenseitigkeit auf der
motivationalen Ebene der Bedürfnisdispositionen (Reziprozität der Befriedigung)
gegeben sind. In beinahe allen Beziehungen ist eher das oft recht abgesicherte
(Familienrecht, Schulrecht, Handelsrecht) Gegenteil der Fall.
Rollen sind nämlich auch instituttionalisierte Wertorientierungen, und der absolute
Grad der Repression bemisst sich daran, wie weit sich die beteiligten Partner die
Gegenseitigkeit der Befriedigung vorenthalten. So erschließt sich hier bereits eine
soziologisch relevante Dimension kreativen, Herrschaft reduzierenden Verhaltens.
Die Fähigkeit der Bedürfnisartikulation unter jeweils vorgegebenen herrschaftlichen
Verhältnissen, die nach dem Stand der Produktivkräfte nicht mehr notwendig sind,
bedarf einer Bestandaufnahme dieser Kräfte einerseits und einer Einübung in die
Fähigkeit, konkret verspürte Herrschaft zu artikulieren und Rollensysteme
herrschaftsfreier zu entwerfen. Dieser sozialen Phantasie kann – wie am Beispiel der
Bilder von Selbsterfahrungsgruppen deutlich wurde – durch engagierte Kunst
geholfen werden, ja es sind nur zwei Seiten desselben Phänomens.
Die Bedeutung der Selbstverwirklichung in der Kunsterziehung kann als eine
notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für politische Kreativität nicht
genug betont werden. Die in hohem Maße von drei weiteren noch zu
spezifizierenden Dimensionen sozialer Kreativität (Spontanität, Selbstreflexion, IchIdentität) abhängige emanzipatorische Kreativität bedarf der Fähigkeit zu
solidarischem Verhalten mit anderen Unterpriviligierten, will sie geschichtsmächtig
werden und herrschaftsfreie – besser identitätsermöglichende – Kommunikation
stiften.
Kommunikationstherapeutische Untersuchungen zum Problem der Aufhebung von
Herrschaft und der Artikulation der Bedürfnisrepression in Ehen zeigten, dass die
Fähigkeit zur Metakommunikation – also zum Gespräch über die Beziehung – einer
gewissen Flexibilität im sprachlichen Bereich bedarf. Damit ist gemeint, dass der
Wechsel vom reflektiven zum analytischen Sprachgebrauch und vice versa den
Interaktionspartnern möglich sein muss.
Interpretatorische soziale Kreativität.
Die vernachlässigte Dimension der Ich-Spontanität findet sich im Rollenspiel als
einübbare – ebenfalls engagierte – interpretatorische Kreativität wieder. Die
Annahme der jeweils Herrschenden, dass in stabil eingespielten Interaktionen auf
beiden Seiten eine Kongruenz zwischen Rollendefinition und Rolleninterpretation
besteht, kann nach verschiedenen Untersuchungen (Turner: role takings vs. role
making, Goffmann: diffuse Ausgangsposition – konkurrierende Rollenprojekte
arbeiten sich aneinander ab – vorläufiger Deutungskompromiss – siehe auch den
gruppendynamischen Prozess) nicht aufrechterhalten bleiben. Der Spielraum einer
gerochenen Intersubjektivität der Verständigung über gemeinsame Normen ist nötig,
damit die handelnden Subjekte, indem sie eine soziale Rolle übernehmen, zugleich
sich als unvertretbare Individuen darstellen können. Für das Auseinanderhalten der
Ebene der Rollendefinition und der Rolleninterpretation sprechen empirische,
sprachphilosophische und psychoanalytische Gesichtspunkte. Eine vollständige
Definition der Rolle, die die deckungsgleiche Interpretation aller Beteiligten
präjudiziert,
ist
allein
in
verdinglichten,
nämlich
Selbstrepräsentation
ausschließenden Beziehungen zu realisieren.
Auf der soziolinguistischen Ebene entsprechen diesen Versuchen, Rollendefinition
und
Rolleninterpretation
in
eins
zu
setzen,
die
verschiedensten
Herrschaftsinstrumente in Anrede, Titel, Verweise und Erfahrungen, Sachautorität,
Alter Selbstverständlichkeit, Zeitpunkt u.a. Die Artikulation der eignen Gefühle und
Assoziationen im Hier und Jetzt (Spontanität) bedarf eines künstlerischen-sozialen
Übungsraumes und der Erfahrung, mit Farben, Ton und Verhaltensweisen gespielt
zu haben. Die Förderung der Übertragbarkeit der Erfahrungen aus beiden Bereiche
ist m. E. bei einer Verfolgung des exemplarischen Lernens am ehesten möglich.
Die Fähigkeit zur Ich-Spontanität und Rolleninterpretation sei als interpretatorische
soziale Kreativität bezeichnet. Die wohl stärkste Bedrohung kreativen Verhaltens ist
auch auf dieser Ebene in der Struktur des Befehls zu erblicken. Hier ist auch der
Ausgangspunkt jener Überlegungen, die die Frage nach der Entstehung unkreativer
Mehrheiten stellen. Jene Stellungen im Produktionsprozess, die durch nur
ausführende und nicht auch planende und selbstbestimmende Tätigkeit
gekennzeichnet ist, prägt im hohen Maße auch die Familienstruktur und somit
späterhin die Stellung im Produktionsprozess. Der Kreis der Reproduktion von
unkreativen Mehrheiten ist somit, wie bereits umseitig angedeutet geschlossen.
Reflektorische Kreativität
Die vernachlässigte Dimension der Selbstreflexion als Gewinnung von Rolleninstanz
sei ebenfalls als eine Form sozialer Kreativität markiert.
In der Soziologie ging man von der Annahme aus, dass eine stabile eingespielte
Interaktion auf einer Kongruenz zwischen geltenden Normen und wirksamen
Verhaltenskontrollen beruht: eine institutionalisierte Wertorientierung (Rolle)
entspricht einem internationalisierten Wert (Motiv) in der Weise, dass geltende
Normen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auch faktisch erfüllt werden. Nicht
näher bedacht wird in dieser Konzeption, dass je nach dem Grad der Verinnerlichung
von Rollen sich das handelnde Subjekt selbst zu einer Rolle verhalten kann. Dieser
Aspekt ist für eine Theorie der Kreativität wichtig, weil Untersuchungen von Barron
gezeigt haben, dass ein zu starkes Über-Ich (und als Funktion des Über-Ichs übt das
Gewissen Verhaltenskontrollen je nach der Struktur des im frühen
Sozialisationsprozess erworbenen Über-Ichs aus) hinderlich für eine kreative Peson
ist.
Man ist versucht, das herkömmliche Rollenkonzept der Soziologie als das
soziologische Abbild einer sozialen Welt zu bezeichnen, in der jeder in seiner Rolle
ein je gesellschaftlich sanktionierter Neurotiker ist, sozusagen ein soziales Plätzchen
für seine Zwangshandlungen gefunden hat. Eine Theorie engagierter Kunst wäre
somit gerade für die Klärung des Verhältnisses von Subjektivität und sozialen
Objektivationen (Sprache, Religion usw.) wünschenswert. Die spezifische Form der
im Erziehungsprozess verinnerlichten Verhaltenskontrolle bestimmt das Maß
möglicher Rollendistanz und somit das Maß reflektorischer sozialer Kreativität. Malen
und Zeichnen – so ist beispielsweise anfängliche gänzlich frei gelassen, werden wie
bei Kindermalaktionen – können einen Teil von Selbstwertgefühl und Angstfreiheit
auch im späteren Leben ausmachen. Die Hauptschwierigkeit ist auch, dass die
künstlerische Bestätigung oft nur als „Ausleben“ verstanden wird. Die für die
Entwicklung kreativer Verhaltensweisen notwendige Sozialisationsplanung, die im
herkömmlichen Begriff der Bildungsplanung nicht unterzubringen ist, weil sie die
Planung von Fähigkeiten, Einstellungen, und Systemen in allen gesellschaftlichen
Bereichen meint, ist an der Errichtung eines „Familien“-systems interessiert, das eine
Erziehung gewährleistet, die in verständnisvoller Interpretation kindlicher Intentionen
an einer vorweggenommenen Individuierung ausgerichtet ist und die
Selbstständigkeit des Kindes – einschließlich kreativer Abweichung – prämiert.
Systemeigenschaften von sozialer Kreativität ermöglichenden Gruppen:
Zusammenfassend kann gesagt erden, dass der nur psychologische Begriff der
sozialen Kreativität ergänzt und in einem gewissen Sinn auch grundgelegt werden
sollte. Die Subjektivität und Kreativität ermöglichenden Dimensionen des Rollenspiels
sind dafür bedeutend und wurden kurz angedeutet.
Eine wichtige Eigenschaft von Personen und Gruppen, die engagierte Kreativität
ermöglichen, ist die Fähigkeit, Bedürfnisrepression und somit auch (Herrschaft) zu
artikulieren (emanzipatorische Kreativität) und in offenem Rollenkonflikt auszutragen.
Ist dies nicht – oder noch nicht möglich, dann kann ein Individuum mit großer
Frustrationstoleranz der Situation trotzdem gewachsen sein. Frustrationstoleranz
ermöglicht es dem kreativen Individuum, Außenseiterollen, die bei der Durchsetzung
von Schöpferischem notwendig sind, durchzuhalten, sowie je konkrete
Herrschaftsverhältnisse im Hinblick auf ein „größeres“ Ziel zu ertragen.
Als interpretative soziale Kreativität wurde die Fähigkeit, Rollenambiguität durch ein
angemessenes
Verhältnis
von
Rollenübernahme
und
Rollenkreationen
(Rollenentwurf) zu balancieren, bezeichnet. Sie ist die Voraussetzung der
Selbstdarstellung im Rollenspiel. Die Fähigkeit zu relativ autonomen Rollenspiel auf
der Grundlage der reflexiven Anwendung (reflexive soziale Kreativität) einer flexiblen
Über-Ich-Formation zur Bewältigung neuer Lagen wurde als reflektorische soziale
Kreativität bezeichnet. Auf individueller Ebene sind es die drei Ausfaltungen sozialer
Kreativität, verbunden mit Ich-Stärke (Mut) und einer noch näher zu bestimmenden
Ich-Identität, auf Gruppenebene sind es die Systemeigenschaften: geringe
Repressivität, geringe Rigidität der Rollendefinition und Erziehungserfahrungen, die
eine flexible Über-Ich-Formation und somit autonomes Rollenspiel gewährleisten. Die
lebensgeschichtlichen Dimension sozialer Kreativität kann am Begriff der kreativen
Ich-Identität festgemacht werden. Ich-Identität ist bei Habermas ein Name für die
spezifische Fähigkeit, Krisen der Ich-Struktur durch Umstrukturierung zu lösen.
Die Entstehung der Ich-Strukturen, dem soziologischen Begriff der „Identität“
entspricht, kann nach dem Schema: ego growth through crisis resolution begriffen
werden – Reife-Schübe lösen eine Folge von Krisen im Verhältnis Person – Umwelt
aus und erzwingen eine Konfliktlösung durch Reorganisation der Ich-Strukturen auf
jeweils höherer Stufe. Ansammlungen gesellschaftlichen Wissens (im Unterschied
zum Geheimwissen) in der Erweiterung menschlicher Fähigkeiten und
Kreativitätspotentiale und im vergegenständlichten Reichtum zunehmender perfekter
Arbeitsinstrumente und Maschinerien manifestiert, ist vom Begriff des Kapitals nicht
zu trennen. Die Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Kapital, der
Zusammenhang von kapitalistischer Entwicklung und Struktur und Entfaltung der
Wissenschaften ist sowohl für den Entdeckungszusammenhang und seine konkreten
Einengungen als auch für den Anwendungszusammenhang von Wissenschaft
bedeutend.
Jene Überlegungen, die zur Verbindung des folgenden Gedankenganges über
ästhetische Kreationen auf dem Warensektor mit den hier ausgeführten über kreative
Systeme geführt haben, stehen mit der zentralen Thematik dieses Aufsatzes in
engen Zusammenhang. Gesetzt der Fall, eine Person wäre nach den optimalen
kreativen Bedingungen sozialisiert worden, so wären zum Zeitpunkt ihrer Berufswahl
natürlich die Frage nach der Verwertbarkeit ihrer Fähigkeiten im Wirtschaftsprozess
zu fragen. Neben den bereits erwähnten Berufsmöglichkeiten im wissenschaftlichen
Bereich sind jene Berufe der angewandten Kunst gemeint, die sich mit der
Herstellung der Warenschönen befassen. Sie decken den Bedarf der kapitalistischen
Wirtschaft an ästhetischen Innovationen, um den Absatz zu sichern.
Wie die Analyse der Umbildung von Ich-Identität von jenen Dimensionen ab, die wir
als Dimensionen sozialer Kreativität herausgearbeitet haben. Goffman unterscheidet
zwischen persönlicher Identität (Individualität) und sozialer Identität. Die persönliche
Identität kommt zum Ausdruck in einer unverwechselbaren Biographie (die auch als
das kreative Produkt betrachtet werden kann), die soziale Identität in der
Zugehörigkeit ein und derselben Person zu verschiedenen, oft widersprüchlichen
Bezugsgruppen (z.B. kreative Minderheit – Beruf). Das wesentliche Strukturen der
persönlichen Identität auch in der Kommunikation mit der Natur entstehen, braucht
hier ur erwähnt zu werden.
Ein Sozialisationsprozess, der die Folge von Reifekrisen als einen kumulativen
kreativen Lernprozess organisiert, ist für die Ausbildung einer kreativen Ich-Identität
günstig.
In einem gewissen Sinn war unser Gedankengang von in kreativen Systemen
sozialisierten und somit kreativen Individuen, die ihr Berufsschicksal auf dem
Arbeitsmarkt unter gewissen gesellschaftlichen Bedingungen der Entfaltung von
Kreativität erleben, unpräzise, da unser Begriff von Kreativität im wesentlichen ein
politischer, also Herrschaftsstrukturen aufhebender, ist. Dies zeigt auch, welche
Typen kreativer Systeme (Kunstgewerbeschulen, Akademien, Werbeagenturen)
erwünscht sind und welche nicht. Insofern wirkt nicht der gesellschaftlich gewünschte
Begriff von Kreativität, wie am Beispiel der wahren ästhetischen Kreation gezeigt
werden konnte, zurück auf diese sie sozialisierenden Rollensysteme. Neben anderen
genaueren Bestimmungen der wechselweisen Beeinflussung von engagierter Kunst
und sozialer Kreativität wären den Sozialisationsbereich die konkreten Gründen für
die Entfaltung und Einengung von sozialen, politischen und anderen Formen der
Kreativität in jener Richtung zu suchen, die von der Grundstruktur unserer Wirtschaft
bedingt sind.
Die Geschichte der Kunsterziehung hingegen müsste jene historischen Phasen
produktiv aufarbeiten, in denen die schöpferischen Kräfte im Menschen als zentrale
Bildungsaufgabe verstanden wurden. Sowohl die Epoche der Jugendbewegung als
auch die Ideen der Walddorf-Schulen sowie der Montessori-Schulen gehören in
diesen Zusammenhang gestellt.
Bei beiden handelt es sich um den in Deutschland misslungenen Versuch, das
Gefüge des kontinentaleuropäischen Bildungssystem des 19. Jahrhunderts, das bis
zum Ersten Weltkrieg auch in Amerika als Vorbild galt, zu erschüttern und seinen
Bildungsbegriff in Frage zu stellen.
Das gesellschaftliche Schicksal dieser kreativitätsorientierten Reformgruppen kann
nur dann für eine geschichtsmächtige Verbindung von Theorie der Kreativität und
Praxis der kreativitätsfördernden Bildung lehrreich sein, wenn wir die Gründe für ihr
Scheitern dort suche, wo sie waren – und sind, in den kreativitätsverunmöglichenden,
fremdbestimmten Produktionsverhältnissen, die unkreative Mehrheiten wesentlich
auch im Arbeitsprozess – dem prägendsten Sozialisationsprozess – bilden.
Aufgabe einer sozioökonomisch begriffen, an der Emanzipation von
undurchschauten Abhängigkeitsstrukturen interessierten engagierten Kunst und
Gruppendynamik könnte es sein, bei der Selbstanalyse und Selbstorganisation von
Rollen- und damit Sozialisationssystemen zu helfen, deren Ziel die zunehmende
Enthierarchisierung ihrer Struktur und die Einübung in emanzipatorische Kreativität
ist.
Helmut Stockhammer
Unter dem Titel „Engagierte Kunst als soziale Kreativität“ veröffentlicht in „Engagierte
Kunst“, Hg. Wiener Secession, Wien 1972, S. 137-143
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