GOTTHARD JASPER Improvisierte Demokratie? Die Entstehung der

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GOTTHARD JASPER
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Improvisierte Demokratie?
Die Entstehung der Weimarer Verfassung
Einführung
Gerne stellt man sich die Entstehung von Staatsverfassungen als einen freien
Vertragsschluss zwischen allen Staatsbürgern vor, in dem diese sich nach vernünftiger
Beratung auf einen idealen Staatsaufbau einigen. In der wirklichen Geschichte jedoch
gibt es diesen Staatsgründungsakt gleichsam auf der grünen Wiese keineswegs. Auch in
revolutionären Umbruchsituationen bleibt die Freiheit zu politischer Gestaltung eng
begrenzt durch historische Traditionen und die Machtkonstellationen sowohl der
gesellschaftlichen Großgruppen als auch des internationalen Staatensystems, dem jedes
politische Gemeinwesen eingeordnet ist. Die Vorstellung eines harmonisch sich
einigenden Staatsvolkes, das sich in völliger Unabhängigkeit eine Verfassung gibt,
erweist sich in der Realität als utopisches Ideal, an das man zwar appellieren kann, das
in der Wirklichkeit jedoch lediglich in absoluten Ausnahmesituationen - und auch dann
meist nur kurzfristig - in Erscheinung tritt oder andernfalls gewaltsam hergestellt und
damit pervertiert wird.
Für die Weimarer Nationalversammlung und die von ihr zu erstellende neue
Verfassungsordnung galt in besonderer Weise, dass wichtigste Vorentscheidungen
schon anderswo gefallen waren. Ein einheitlicher, gemeinsamer Wille der
Verfassungsgeber lässt sich nur schwer erkennen. Die Revolution war das Ergebnis des
militärischen Zusammenbruches im Ersten Weltkrieg und eben nicht der Sieg einer
machtvollendemokratischen Verfassungsbewegung, die der neuen Ordnung ihren
Stempel aufdrückte. Die demokratische Republik wurde von weiten Teilen der
Bevölkerung als Voraussetzung für die Beendigung des Krieges akzeptiert, weil klar
war, dass die Alliierten mit dem Kaiser keinen Frieden schließen wollten.
Den Friedensvertrag zu verhandeln und abzuschließen, war denn auch die zweite, wenn
nicht sogar die entscheidendere Aufgabe der Nationalversammlung, durch die ihr
Verfassungswerk geprägt und - wie sich später herausstellte - belastet wurde.(1) Nicht
weniger als die außenpolitische Konstellation begrenzte die politische Tradition des
deutschen Föderalismus und das überkommene Muster des Parteiensystems mit seinen
vielfältig sich überschneidenden Konfliktlinien2 die Arbeit der Nationalversammlung.
Eine tief gespaltene Nation hat es schwer, sich in der Stunde der Niederlage und des
Zusammenbruchs eine neue Ordnung zu geben. Die von ihr verabschiedete Verfassung
ist darum ein Spiegelbild dieser konfliktreichen Situation. Ihre einzelnen
Bestimmungen sind darum auch nur verständlich, wenn man sie in ihrer Entstehung
detailliert nachzeichnet. Erst aus den Debatten der Verfassungsgeber mit ihren
Konflikten und Kompromissen erschließt sich der Sinn des Verfassungstextes.
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Chronik
15. November 1918
Ernennung von Prof. Hugo Preuß zum Staatssekretär des Innern mit dem Auftrag, einen
Verfassungsentwurf zu erarbeiten.
9.-12. Dezember 1918
Beratung im Reichsamt des Innern, an der neben Referenten der verschiedenen Ministerien
auch einige Wissenschaftler (unter ihnen Max Weber) teilnahmen.
3. Januar 1919
Vorlage eines ersten Entwurfs zusammen mit einer Denkschrift von Preuß an den Rat der
Volksbeauftragten
20. Januar 1919
Veröffentlichung des überarbeiteten 1. Entwurfes und der Denkschrift.
25. Januar 1919
Tagung der Staatenkonferenz zur Beratung des Verfassungsentwurfs.
6. Februar 1919
Eröffnung der Nationalversammlung.
10. Februar 1919
Verabschiedung des "Gesetzes über die Vorläufige Reichsgewalt".
11. Februar 1919
Wahl Friedrich Eberts zum Reichspräsidenten.
13. Februar 1919
Ernennung der Regierung Scheidemann.
18.-21. Februar 1919
1. und 2. Lesung des endgültigen Regierungsentwurfs im Staatenausschuss.
28. Februar-4. März 1919
1. Lesung in der Nationalversammlung.
4. März-2. Juni 1919
3.-18. Juni 1919
1. und 2. Beratung im Verfassungsausschuss der Nationalversammlung.
2.-22. Juli 1919
2. Lesung in der Nationalversammlung.
29./30. Juli 1919
Verabschiedung der Verfassung mit 262 gegen 75 Stimmen bei einer Enthaltung.
11. August 1919
Ausfertigung der Verfassung durch den Reichspräsidenten unter Gegenzeichnung des gesamten
Reichskabinetts.
14. August 1919
Verkündung der Verfassung im Reichsgesetzblatt und damit Inkrafttreten.
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Vorbereitungen und Vorentscheidungen
Als die Nationalversammlung am 6. Februar 1919 erstmals in Weimar zusammentrat,
beanspruchte sie als echte Konstituante (verfassunggebende Versammlung) die
alleinige Entscheidungsgewalt über die auszuarbeitende Verfassung. Gleichwohl war
sie keineswegs völlig frei in der Ausgestaltung der neuen staatlichen Grundordnung:
Für zahlreiche wichtige Problemkomplexe waren schon vor dem" 6. Februar die
Weichen gestellt. Dass die Regierung einen Verfassungsentwurf ausgearbeitet und mit
den Ländern abgestimmt hatte, prägte die Arbeit der Nationalversammlung
entscheidend vor. Auch war durch die revolutionären Ereignisse und den ersten
Rätekongress vom Dezember 1918 die Entscheidung für die republikanische Staatsform
und das Prinzip der Volkssouveränität als Quelle aller staatlichen Gewalt faktisch
gefallen, zumal die Nationalversammlung selbst diesem Prinzip und dem auf ihm
beruhenden allgemeinen Wahlakt ihre Entstehung verdankte. Mit dem Gesetz über die
"Vorläufige Reichsgewalt", das ohne gründliche Diskussion in den ersten
Sitzungstagen verabschiedet wurde, legte sich die Nationalversammlung nochmals fest,
wurde doch durch dieses Gesetz das Zusammenspiel zwischen Reichspräsident,
Reichsregierung, Parlament und Ländern geregelt, bevor man die Verfassungsberatung
überhaupt eröffnete. Trotz aller Vorläufigkeit fielen hier schon außerordentlich
wichtige Fixierungen für das künftige Regierungssystem.
Ehe wir die eigentlichen Verfassungsberatungen, in Weimar und ihre Ergebnisse näher
betrachten, ist es daher notwendig, auf die genannten Vorentscheidungen einzugehen.
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Hugo Preuß, der Vater der Verfassung
Die erste wichtige Vorentscheidung fiel schon wenige Tage nach der Revolution am 15.
November 1918 mit der Ernennung des Berliner Staatsrechtlers und
Kommunalpolitikers Professor Hugo Preuß zum Staatssekretär des Innern. Der Rat der
Volksbeauftragten erteilte ihm - den Auftrag, vor allem die neue Verfassung
vorzubereiten. Diese Ernennung war deshalb so bedeutsam, weil die Person Preuß
gleichsam, für ein Programm stand. Preuß, ein angesehener Wissenschaftler, war als
politischer Publizist und liberaler Kritiker, des alten Obrigkeitsstaates mit viel
Verständnis für die Belange der SPD hervorgetreten. Schon 1917 hatte er einen
Entwurf zur parlamentarischen Verfassungsreform ausgearbeitet. Eine sozialistische
Amtsführung war von ihm jedoch nicht zu erwarten.(3)
In einem programmatischen Aufsatz, der am Tag vor seiner Ernennung im Berliner
Tageblatt erschien, hatte er-- ganz im Sinne der neugegründeten DDP, der er sich
zurechnete .- das Bürgertum zur Mitarbeit am neuen "Volksstaat" aufgerufen und den
Rat der Volksbeauftragten ermahnt, sofort Wahlen für eine Nationalversammlung
auszuschreiben und nicht einen "verkehrten Obrigkeitsstaat", eine sozialistische
Diktatur, zu errichten.(4) Als "Volksstaat". galt ihm - in der Tradition der
Genossenschaftstheorie seines Lehrers Otto von Gierke - die "Selbstorganisation der
Gesellschaft im demokratischen Rechtsstaat", "die Identität des Staates und des
politisch organisierten Volkes". Allgemeines, gleiches Wahlrecht und politische
Parteien als Träger der politischen Willensbildung waren für ihn seit langem
selbstverständlich.
Preuß stand insofern für das Konzept einer liberalen und demokratischparlamentarischen Verfassung. Dass der rein sozialistische Rat der Volksbeauftragten
ihn auswählte, lässt erkennen, dass die neue Regierung von vornherein die
Zusammenarbeit mit den bürgerlich-liberalen Kräften anstrebte, obwohl im Moment
der Revolution die politische Macht allein bei den Partien der Arbeiterschaft
konzentriert war. Freilich drückt sich in dieser Ernennung auch die Tatsache `aus, dass
die sozialdemokratische Arbeiterbewegung offensichtlich weder über eigene
verfassungspolitische Konzeptionen noch über entsprechend; vorgebildete juristische
Experten verfügte. Man hatte zwar immer den Sozialismus als Endziel verkündet, im
Alltag des Kaiserreichs jedoch Sozialpolitik betrieben und das gleiche Wahlrecht
gefordert. Nun war dieses durchgesetzt und die Monarchie beseitigt. - Doch wie der
Sozialismus,' wie die sozialistische Republik im einzelnen eingeführt werden sollte, das
wusste man im Grunde nicht. Die seit Jahrzehnten erhobenen demokratischparlamentarischen Forderungen enthielten kein sozialistisches Programm, sondern
ließen jetzt konsequenterweise nur den Appell an den Wähler und die
Nationalversammlung zu. Die weiteren Details vertraute man voller Respekt vor dem
Sachverstand den bürgerlichen Experten an. Über konkrete Vorstellungen etwa zur
Heeresverfassung oder über die Neuordnung' der Verwaltung, die Reform von Bildung
und Justiz sowie die Neugliederung des Reiches verfügte die Sozialdemokratie kaum.
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Der erste Entwurf
Preuß ging sogleich ran die Arbeit. Mit, Billigung der Volksbeauftragten berief er einen
kleinen Beirat, der mit den Vorarbeiten für den Entwurf einer deutschen Verfassung
betraut werden sollte. Auf einer Konferenz vom 9. -12. Dezember 1918 tagte der von
Preuß ausgewählte kleine Kreis hoher Beamter der Reichsbehörden und einiger freier
Experten.(5) Unter ihnen ragte, insbesondere der Soziologe Max Weber. hervor, der
sich in seinen Aufsätzen über "Deutschlands künftige Staatsform" mit den anstehendenverfassungspolitischen Problemen auseinandergesetzt hatte und als einer der geistigen
Väter der neuen DDP anzusehen war .(6)
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Von den 13 Teilnehmern gehörten nur zwei dem sozialistischen Lager an: die beiden
"Beigeordneten" beim Reichsamt des Innern Dr. Max Quarck (SPD) und Dr. Joseph
Herzfeld (USPD). Es war bezeichnend für die Einschätzung der Wichtigkeit der
Verfassungsarbeit, dass die Regierungsparteien eher Leute aus dem zweiten Glied zu
dieser Konferenz abordneten. Ein sozialistisches Gegengewicht gegen den geballten
Sachverstand altgedienter Bürokraten und liberaler Professoren ließ sich so nicht
aufbauen. Doch die Vorstellungen in dem Kreis waren relativ einheitlich. Alle
Teilnehmer gingen gemeinsam davon aus, dass die Alternative "Rätesystem oder
parlamentarische Demokratie" nicht eigentlich zur Debatte stand. Man diskutierte nur
über die Grundlagen eines parlamentarisch-demokratischen Staatsaufbaus.
Die intensivsten und längsten Debatten gab es über die Frage der Gliederung des
Reiches. Preuß plädierte für eine Neueinteilung und den Aufbau eines dezentralisierten
Einheitsstaates. Von daher forderte er die "Zerschlagung" oder "Aufgliederung"
Preußens in mehrere Einheiten zur Sicherung eines organischen ausgeglichenen
Reichsaufbaus. Andernfalls hätte der preußische Staat, der zwei Drittel des Reiches und
vier Siebtel der Reichsbevölkerung umfasste, kraft seines Gewichtes eine
Vorrangstellung gegenüber den anderen Ländern des Reiches behaupten und zum
Konkurrenten oder Gegenspieler der Reichsregierung werden können.
Hier unterstützten die beiden Sozialdemokraten den Staatssekretär. Schon Engels hatte
1891 die Beseitigung der deutschen Kleinstaaterei und die Auflösung Preußens
gefordert, weil "das Proletariat nur die Form der einen und unteilbaren Republik
gebrauchen" kann.(7) Der Unitarismus lag also in der Konsequenz
sozialdemokratischer Programmatik. Max Weber vor allem, aber auch andere
Teilnehmer, widersprachen hier den Unitariern. Zwar vertraten sie keine grundsätzlich
föderalistischen Positionen - auch sie wollten das Reich stärken -, aber sie schätzten die
politischen Widerstände in den Bundesstaaten höher ein und glaubten infolgedessen
kaum an die Durchsetzbarkeit der weitergehenden Pläne von Preuß.
Noch heftigere Auseinandersetzungen entbrannten über die Frage der Reichsspitze.
Hier war es insbesondere Max Weber, der für einen starken vom Parlament
unabhängigen, vom Volk direkt gewählten Reichspräsidenten eintrat(8), wobei ihn
Preuß unterstützte, während die beiden Sozialdemokraten energisch widersprachen. Sie
plädierten gegen einen mächtigen, vom Reichstag unabhängigen Präsidenten.. Dabei
stand offenkundig "das Modell des sozialdemokratischen Parteivorstandes mit seinem
Kollegialprinzip, aus dem sich gleichwohl kraft ihrer Persönlichkeit einzelne Personen
hervorheben konnten" im Hintergrund ihrer Argumentation(9) Der spätere Entwurf ließ
davon allerdings nichts spüren. Dazu war das Konzept zu unklar. Die
Ausschussmehrheit setzte sich durch. Sie favorisierte den starken Präsidenten, nicht
zuletzt aus Sorge und Misstrauen gegenüber dem parteipolitisch gespaltenen Parlament,
dem sie einen plebiszitär legitimierten politischen Führer als Verkörperung des
Staatsganzen gegenüberstellen wollte, der im Konflikt- und Ausnahmefall auch ohne
und gegen das Parlament sollte handeln können.
Auf der Grundlage der Beratungen des Ausschusses legte Preuß am 3. Januar 1919 dem
Rat der Volksbeauftragten einen ersten Entwurf vor. Dieser war deutlich vom
Gedanken des dezentralisierten Einheitsstaates beherrscht. Die bisherigen Bundes-
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staaten verloren ihre Staatsqualität durch umfangreiche Kompetenzabgaben - sowohl
nach unten an die Kommunen,, deren Selbstverwaltung Preuß stärkte, als auch nach
oben an das Reich. Aus den Bundesstaaten wurden ."potenzierte
Selbstverwaltungskörper". Preuß schlug vor, das Reichsgebiet in 14-16 Gebiete zu
gliedern und Preußen aufzulösen. Im übrigen beschränkte sich der Entwurf auf ein
relativ knappes Grundkonzept von 68 Paragraphen in drei Abschnitten: "Das Reich und
die deutschen Freistaaten", "Der Reichstag" und "Der Reichspräsident und die
Reichsregierung".(10)
Die Diskussion im Rat der Volksbeauftragten
In einer Beratung am 14. Januar 1919 stimmte der Rat der Volksbeauftragten dem
Entwurf zwar insgesamt zu, jedoch setzte er wichtige Modifikationen durch.(11)
Zunächst kritisierte vor allem Friedrich Ebert das Fehlen von Grundrechten, auf die
Preuß verzichtet hatte, weil er befürchtete, die Diskussion über Grundrechte werde die
Verfassungsberatungen ähnlich wie 1848/49 unangemessen verzögern. Auf Eberts
Intervention hin entschloss er sich, nunmehr - in Anlehnung an Formulierungen der
Paulskirchen-Verfassung - die klassischen liberalen Freiheitsrechte, allerdings unter
Hinzufügung der von den Gewerkschaften geforderten Koalitionsfreiheit, in seinen
Entwurf zu übernehmen.
Ebert war es auch, der an den zu großen Machtbefugnissen des Präsidenten Anstoß
nahm und Preuß zu einer Verkürzung der Amtszeit und Beschneidung allzu großzügig
bemessener Kompetenzen veranlasste. Die Volksbeauftragten wollten einen Schutz vor
präsidialer Willkür und fürchteten eine potentielle Vorherrschaft über das Parlament.
Sehr umstritten war auch bei den Volksbeauftragten die Frage der Neugliederung des
Reiches und der Auflösung Preußens. Drastisch formulierte der Volksbeauftragte Otto
Landsberg:
"Preußen hat seine Stellung mit dem Schwert erobert, und dieses Schwert ist
zerbrochen. Wenn Deutschland leben soll, muss Preußen in der bisherigen Gestalt
sterben."
Aber man erkannte hier realistischer als Preuß, dass die Bewahrung der Reichseinheit
nur auf "föderativer Grundlage" möglich war. Der Auflösung Preußens von oben her
widersprach zum einen der Gedanke des Selbstbestimmungsrechtes auch des
preußischen Volkes; zum andern schreckten- die unübersehbaren Folgen eines solchen
Schrittes angesichts laut werdender separatistischer Strömungen in den Grenzgebieten
des Reiches. Unter diesen Umständen und angesichts der Tatsache, dass die SPD in
Preußen über eine sichere Machtposition verfügte, verlangten die Volksbeauftragten die
Erhaltung der Einheit Preußens - zumindest für die nächste Zukunft. Die aktuelle
Situation zwang dazu, die Schwerkraft Preußens zu erhalten, um die zentrifugalen
Kräfte zu bremsen. So wurde Preuß veranlasst, zumindest die Vorschrift über die
zwingende Neugestaltung des Reiches in 14 -16 Gebiete fallen zu lassen.
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Am 10. November 1918 wählte im Zirkus Busch in Berlin die Vollversammlung der Berliner Arbeiterund Soldatenräte die neue republikanische Regierung der "Volksbeauftragten", je drei
Mehrheitssozialisten und drei Unabhängige. Von links: Emil Barth (USPD), Otto Landsberg (SPD),
Friedrich Ebert (SPD), Hugo Haase (USPD), Wilhelm Dittmann (USPD) und Philipp Scheidemann
(SPD). Nach dem Aufstand der roten Volksmarinedivision im Schloss am 20. Dezember 1918 und seiner
Niederschlagung verließen die USPD-Delegierten die Regierung und wurden durch Noske und Wissell
ersetzt, beide Ebert-Gefolgsleute der SPD.
Der Widerstand der Länder
Der aufgrund der Beratungen mit den Volksbeauftragten überarbeitete Entwurf wurde
zusammen mit einer Denkschrift von Hugo Preuß,(12) in der er die grundlegenden
Gedanken der neuen Verfassung erläuterte, am 20. Januar 1919, dem Tag nach der
Wahl der Nationalversammlung, veröffentlicht. Schon zuvor hatten die
Volksbeauftragten den Entwurf an die Regierungen der Einzelstaaten versandt und sie
zu einer gemeinsamen "Staatenkonferenz" auf den 25. Januar 1919 nach Berlin
eingeladen.(13)
Noch vor Beginn dieser Konferenz wurde allerdings klar, dass mit erheblichen
Widerständen seitens der Einzelstaaten zu rechnen war. Protest erregte vor allem der
Art. 11 des Entwurfes, der vorsah, dass durch Staatsvertrag mehrere Gliedstaaten zu
einem neuen Freistaat sich vereinigen konnten, bzw., dass die Bevölkerung eines
Landesteiles aus dem bisherigen Staatsverbande zur Bildung eines neuen selbständigen
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Freistaates bzw. zum Anschluss an einen anderen deutschen Freistaat innerhalb des
Reiches durch Volksabstimmung sich loslösen könne. Preuß verteidigte diese
Regelungen mit dem Hinweis auf den Ehrenkodex der Republik, in der die einzelnen
republikanischen Freistaaten nicht einfach Erben des "Souveränitätsschwindels der,
alten Teilfürsten" sein dürften. In der Tat hatte ja die buntscheckige Karte deutscher
Klein- und Kleinstfürstentümer m thüringischen Raum oder auch im Bereich von
Schaumburg-Lippe, Lippe-Detmold und Waldeck-Pyrmont leicht pittoreske Züge. Aber
in diesen Vorschriften steckte eben auch die Idee, der Aufteilung oder zumindest
Verkleinerung Preußens. Energisch protestierte die sozialdemokratische preußische
Regierung: Alle Minister waren sich einig,
"dass es geradezu ein Unglück für das ganze Reich wäre, wollte man den ohnehin schon
bestehenden Partikularismus durch eine Aufteilung Preußens noch vergrößern. Für die
wirtschaftlich zurückgebliebenen Landesteile wäre es, wenn sie auf eigenen Füßen stehen
sollten, unmöglich, ihren kulturellen Aufgaben gerecht zu werden, die sie nur als Glied eines
geschlossenen Ganzen erfüllen könnten. . . Von einer bedrohlichen Hegemonie Preußens
könne schon dann nicht mehr die Rede sein, wenn sie in demokratischem Sinne ausgeübt
würde: es würde dann für die anderen Bundesteile die Gefahr eines übermächtigen Preußens
völlig verschwinden... Auch nach außen hin wäre diese Zergliederung außerordentlich
gefährlich, da sie dem Feinde die Möglichkeit bieten würde, einen Staat gegen den anderen
auszuspielen. . ."(14)
Auch die süddeutschen Länder machten sich für die Erhaltung Preußens stark. Sie
sahen hinter der Zerschlagung Preußens eine Gefahr für ihre eigene Selbständigkeit
heraufziehen. Im Zusammenhang mit den umfangreichen Kompetenzerweiteiterungen
des Reiches bei der Gesetzgebung erschienen ihnen die Neugliederungsvorschläge ;e
als eine "Verpreußung des Reiches". Schon Ende' Dezember hatten die Regierungen in
Bayern, Württemberg und Baden "auf einer Sonderkonferenz in Stuttgart vor
Bestrebungen
gewarnt,
die
Landesregierungen
zu
untergeordneten
Provinzialregierungen herabzudrücken. Die Tendenz des amtlichen Entwurfes war
ihnen also nicht entgangen. Schärfster Widersacher war der Bayerische
Ministerpräsident Kurt Eisner (USPD), der in einem -Schreiben vom 23: Januar 1919
formulierte:
"Ich fasse die Zerschlagung Preußens, sowie sie in dem mir unmöglich scheinenden deutschen
Verfassungsentwurf versucht wird, nicht als eine tatsächliche Aufteilung Preußens auf - sonst
hätte man sich mit der natürlichen Dreiteilung begnügt sondern vielmehr als den Versuch,
Deutschland zu unitarisieren, und die Widerstände im Süden durch die scheinbare Aufteilung
Preußens zu überwinden, die in Wirklichkeit nichts weiter ist, als eine provinziale Gliederung
unter Aufrechterhaltung der preußischen Einheit und Vormacht" (15)
So wuchs - nur scheinbar paradox - Preußen aus dem revolutionären Bayern Hilfe zu.
In dem Beharren auf der Selbständigkeit ihrer Länder fanden sich die revolutionären
süddeutschen Regierungen in schönster Eintracht mit den alten Behörden. Auf der
Konferenz in Berlin erschienen denn auch neben Ministern und Volksbeauftragten fast
doppelt so viele hohe und höchste Beamte, die zu einem großen Teil ihr Land
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schon im alten Bundesrat des Kaiserreiches vertreten hatten. Sie entstammten der
Monarchie und verkörperten Tradition und Kontinuität. Ihr Anliegen war die Erhaltung
der Selbständigkeit der Bundesstaaten, die Sicherung insbesondere des Einflusses der
Landesregierungen und damit der Landesbürokratien auf die Reichspolitik und
Reichsverwaltung. In diesem Bestreben trafen sie sich mit ihren neuen revolutionären
Regierungen, auch der Sozialdemokraten, trotz deren unitarischer Lippenbekenntnisse.
Sarkastisch schrieb damals General Wilhelm Groener an seine Frau:
"Ich habe zwei Verbindungsleute in Württemberg, die die blödsinnigen Schwaben aus ihrem
1866er Partikularismus aufrütteln sollen. Es ist dies aber sehr schwierig, weil selbst die Sozi in
Württemberg, die sonst immer den Einheitsstaat gepredigt haben, jetzt Partikularisten sind, weil
sie fürchten, ihre Felle würden ihnen wegschwimmen".(16)
Das Nachgeben der Reichsregierung
Der geschlossenen Front, die sich unter Bayerns Führung den Plänen von Hugo Preuß
entgegenstellte, war die Reichsregierung nicht gewachsen. Zu groß war der Druck,
möglichst rasch zu einem gemeinsamen Verfassungsentwurf zu kommen, der in der
Nationalversammlung nicht nur als Material behandelt würde, sondern die Beratungen
dort deutlich vorstrukturieren könnte und Aussicht auf Annahme hätte. Angesichts der
Gefahr, dass der Entwurf von Preuß auch die republikanischen Parteien zu spalten
drohte - das machten die Kontroversen unter den sozialdemokratischen und deutschdemokratischen Vertretern auf der Staatenkonferenz deutlich - war das Risiko einer
unkontrollierbaren Entwicklung in der Nationalversammlung zu groß. Nur durch
Kompromisse und Nachgeben ließen sich die weitergehenden Anträge der
süddeutschen Länder verhindern. Diese verlangten auf der Staatenkonferenz, lediglich
ein vorläufiges Reichsgrundgesetz" zu erarbeiten, das nur mit Zustimmung eines zu
bildenden Staatenausschusses von der Nationalversammlung zu verabschieden sei.
Die endgültige Verfassung wäre damit auf die lange Bank geschoben worden. Auch ihr
Inkrafttreten sollte nach Eisners Vorstellungen an die "Zustimmung der Vertretung der
Bundesstaaten", d. h. der im Staatenausschuß vertretenen Regierungen gebunden sein.
Die Reichsregierung hätte dadurch genauso ihren Handlungsspielraum verloren wie die
Nationalversammlung. Die, von Preuß im Rat. der Volksbeauftragten angestrebte
Verstärkung der Kompetenzen des Reiches - von der "Verreichlichung" der
Eisenbahnen bis zur Beseitigung des Vertretungsrechtes der Einzelstaaten in der
Außenpolitik - wäre unmöglich geworden. Kurt Eisner dachte nicht daran, die
sogenannten Reservatrechte Bayerns, die Bismarck 1871 dem Bayerischen König
zugestanden hatte, aufzugeben. Der von den Regierungen der Einzelstaaten bestellte
Staatenausschuss hätte bedeutendes Gewicht erlangt, und die Entwicklung in den
einzelnen Ländern wäre zunächst vom Reich her nicht zu kontrollieren gewesen. Dem
Konzept der durch die Nationalversammlung zu errichtenden "nationalen Demokratie",
die in der Tradition von 1848 die Leitidee des Preußischen dezentralisierten
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Einheitsstaates war, stellten die Süddeutschen in ihrem Gegenantrag einen
entschiedenen Föderalismus entgegen, der schon fast staatenbündlerische Züge trug; Ihr
erster Grundsatz hieß: "Die Vereinigten Republiken Deutschlands -bilden auch
fernerhin einen Bund." Der Kern der Souveränität lag hier also nicht bei der Weimarer
Nationalversammlung, sondern beim Selbstbestimmungsrecht der Einzelstaaten.
Das Gesetz über die Vorläufige Reichsgewalt
Da angesichts dieser Konfrontation der ursprüngliche Verfassungsentwurf nicht zu
halten war; einigte man sich auf die Bildung eines vorläufigen Staatenausschusses, der
zunächst mit der Reichsregierung ein vorläufiges Grundgesetz auszuarbeiten hatte.
Auch im Rat der Volksbeauftragten hatte man schon entsprechende Überlegungen
angestellt, um für die Zeit bis zum Abschluss der Verfassungsgebung einigermaßen
sichere und verbindliche Grundlagen zu schaffen, wozu auch die außenpolitischen
Zwänge der laufenden Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen nötigten. In dem
Gesetzentwurf, den Preuß zu diesem Zwecke vorlegte,(17) war vorgesehen, dass die
Nationalversammlung
neben
den
Verfassungsberatungen
zugleich
die
Gesetzgebungsbefugnis haben sollte.(18) Die von der Nationalversammlung zu
verabschiedenden Gesetze sollten von der Reichsregierung nach Anhörung eines
kleinen Staatenausschusses eingebracht werden.
Die Nationalversammlung sollte außerdem einen Reichspräsidenten wählen. Als
Kompetenzen für diesen waren vorgesehen: die Geschäftsführung des Reiches und
dessen völkerrechtliche Vertretung sowie die Berufung der Reichsregierung, welche
ihrerseits zu ihrer Amtsführung des Vertrauens der Nationalversammlung bedurfte. Mit
dieser Konzeption waren die Landesvertreter keinesfalls einverstanden. Sie verlangten,
dass der Staatenausschuss nicht nur angehört werden, sondern voll gleichberechtigt bei
der Gesetzgebung mitwirken sollte. Außerdem kritisierten sie die Zusammensetzung
dieses Ausschusses; nach ihren Vorstellungen sollte jedes Land vertreten sein, während
Preuß für die kleineren Länder einen gemeinsamen Vertreter vorgesehen hatte. Damit
griffen die Länder auf die Regelungen der alten Bismarckschen Reichsverfassung
zurück. Bayern verlangte darüber hinaus, dass dieser Staatenausschuss auch der
Verfassung sollte zustimmen müssen.
Schweren Herzens musste die Reichsregierung nachgeben. Man rettete zwar praktisch
die Alleinzuständigkeit der Nationalversammlung für die Verfassung. Lediglich
Änderungen im Gebietsstand der Gliedstaaten sollten nicht gegen deren Willen möglich
sein, falls die Verfassung derartige Regelungen vorsehen würde, ansonsten sollte die
Verfassung nicht an die Zustimmung der Länder gebunden sein. Gesetzesbeschlüsse
der Nationalversammlung allerdings waren nur mit Einverständnis des
Staatenausschusses möglich; für den Konfliktfall wurde vorgesehen, dass der
Reichspräsident die Entscheidung durch Volksabstimmung herbeiführen könne.
Mit dieser Regelung war schon für die Übergangszeit der Traum vom Einheitsstaat
ausgeträumt. Neben das zentrale Parlament trat eine zweite Gesetzgebungskörperschaft,
127
die nicht - wie in den ersten Preuß'schen Entwürfen - aus von den Landtagen gewählten
Vertretern mit freiem Mandat zusammengesetzt war, sondern die aus
Regierungsbevollmächtigten bestand, die das Gewicht und die Interessenlage der
Landesregierungen ins Spiel bringen konnten und damit jede Neugliederung des
Reiches wenig wahrscheinlich machten. Hier wurde offenkundig, dass der
Zusammenbruch und Umsturz eben keine zentrale Aktion, sondern eine Summe von
Revolutionen in den einzelnen Ländern war. Der Wegfall der Dynastien beseitigte die
Lebenskraft dieser Länder keineswegs, gab ihr mancherorts sogar neue Impulse, trotz
aller historisch zufälligen' Grenzziehungen.
Vor diesen Tatsachen musste der Rat der Volksbeauftragten resignieren. Voller
Unbehagen akzeptierte man in einer Beratung am 28. Januar die Ergebnisse der
Verhandlungen mit den Ländern, es gab keinen Ausweg.(19) Preuß plädierte selbst für
ein Einlenken:
"Die Hauptidee, die uns bei diesem Entwurf leitete, ist die, möglichst etwas zu schaffen, was
die Nationalversammlung glatt annehmen soll. Möglichst schnell eine geordnete Regierung zu
bilden, damit wir nach außen hin verhandeln können; das muss uns bewegen, auch einen
schlechten Entwurf anzunehmen. Ich glaube, dass auch Bayern zuletzt nicht dagegen stimmen
wird. Der ärgste Fehler ist der Paragraph 2, der die Restitution des Bundesrates enthält. Die
Staaten versteifen sich nicht auf die restlose Wiederherstellung des Bundesrates, aber man
hängt eben doch so an dem Althergebrachten, dass es nicht zu vermeiden ist. Es ist kein
Zweifel, dass man das als reaktionär bezeichnen wird. Es wird einen heftigen Ansturm geben.
Vielleicht aber hilft uns das, den Bundesrat im definitiven Verfassungsentwurf zu vermeiden...
Es kommt jetzt darauf an, dass wir die Zügel in der Hand behalten, deshalb dürfen wir keinen
Gegenentwurf einbringen. Für das Ausland ist das ein sehr schlechtes Bild. Wir könnten ja
einen Gegenentwurf einbringen, wenn die Mehrheitssozialisten sich über diesen Entwurf einig
wären. Die Süddeutschen sind aber leider nicht unserer Ansicht. Ich sehe leider keine
Möglichkeit einer Änderung des Entwurfes."
Ebert schloss sich diesen Äußerungen an:
"Der Gedanke eines einheitlichen Reichs ist unmöglich. Die föderalistische Verfassung ist
notwendig, wenn es nicht zum Konflikt in der Nationalversammlung kommen soll. Der erste
Entwurf, der die Bundesstaaten nur hören wollte, war nicht durchzubringen. Ich bedauere die
Zusammensetzung, aber es ist doch nicht ganz der alte Bundesrat. Wir haben das Recht der
Einbringung von Gesetzentwürfen, die schwierige preußische Vorbereitung ist fortgefallen."
(Nach der Reichsverfassung von 1871 hatte die Reichsregierung kein Gesetzesinitiativrecht.
Die Vorlagen wurden durch Preußen im damaligen Bundesrat eingebracht.)
Auch Philipp Scheidemann, der vom
"absolut rückschrittlichen Entwurf" sprach, den, man "vor der Geschichte nicht verantworten"
könne, meinte zum Schluss: "Man wird den Kompromiss, wenn man ihn uns aufzwingt, eben
schlucken müssen."
128
Der Sieg der Länder
Die Hoffnung von Preuß, den Bundesrat im definitiven Verfassungsentwurf vermeiden
zu können, erwies sich sehr rasch als trügerisch. Neben dem Gesetz über die Vorläufige
Reichsgewalt beriet der von der Staatenkonferenz eingesetzte, Ausschuss sogleich auch
den Verfassungsentwurf. Zwar tolerierte man en Souveränitätsanspruch der
Nationalversammlung bei der Verfassungsgebung, aber man bestritt doch, dass die
Nationalversammlung die gesamte Nation und die einzelnen Staatsvölker vertreten
könne. Darum sollte zumindest der Entwurf der Reichsregierung mit Zustimmung des
vorläufigen Staatenausschusses der Nationalversammlung vorgelegt werden. Über die
Köpfe der nach wie vor bestehenden Einzelstaaten hinweg sollte die Verfassung nicht
beschlossen werden.
Auch bei diesen Beratungen wahrten die Regierungen ihre Position, indem sie das von
Preuß konzipierte, indirekt durch die Landtage gewählte Staatenhaus zu einem
Reichsrat aufwerteten, in dem die Landesregierungen durch Bevollmächtigte vertreten
wurden. Dieser Reichsrat sollte nicht nur bei der Gesetzgebung mitwirken, sondern
auch an der Reichsverwaltung teilhaben. Er verkörperte damit eine Konstruktion, der
auch der heutige Bundesrat des Grundgesetzes im Prinzip entspricht. Vom Zentralismus
des ursprünglichen Entwurfes blieben nur die umfangreichen Kompetenzverlagerungen
zugunsten des Reiches erhalten. Hier wollten die Volksbeauftragten keine
Konzessionen machen, wo sie dennoch dazu gezwungen wurden, ließen sie es
geschehen in der Hoffnung auf eine reichsfreundliche Revision in der
Nationalversammlung. (20)
Außerdem war man sich in der Reichsregierung sicher, dass die seit 1871 eingetretenen
wirtschaftlichen und sozialen Änderungen und insbesondere die Notlage nach dem
verlorenen Krieg die Zentralisierung zwangsläufig befördern müssten. Die bayerische
Maximalposition, die für die neue Verfassung an die Vertragssituation von 1871
anknüpfen wollte, verkannte demgegenüber die seither schon eingetretene
Gewichtsverlagerung zugunsten des zentralen Reichsparlamentes, die jetzt - noch dazu
unter dem Zwang der allgemeinen wirtschaftlichen Lage - der Nationalversammlung
zugute kam.
Die Beratungen in der Nationalversammlung
Wahl des Reichspräsidenten und Regierungsbildung
Während Preuß noch mit den Vertretern der Länder über die Einzelheiten der neuen
Verfassung verhandelte, wurde in Weimar die Nationalversammlung durch Friedrich
Ebert mit einer eindrucksvollen Rede eröffnet:
"Meine Damen und Herren, die Reichsregierung begrüßt durch mich die Verfassunggebende
Versammlung der deutschen Nation. Besonders herzlich begrüße ich die Frauen, die zum
erstenmal gleichberechtigt im Reichsparlament erscheinen. Die provisorische Regierung
verdankt ihr Mandat der Revolution; sie wird es in die Hände der Nationalversammlung
zurücklegen. In der Revolution erhob sich das deutsche Volk gegen eine veraltete,
zusammenbrechende Gewaltherrschaft. Sobald das Selbstbestimmungsrecht des deutschen
Volkes gesichert ist, kehrt es zurück auf den Weg der Gesetzmäßigkeit. Nur auf der breiten
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Heerstraße der parlamentarischen Beratung und Beschlussfassung lassen sich die
unaufschiebbaren Veränderungen auch auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiete vorwärts
bringen, ohne das Reich und sein Wirtschaftsleben zugrunde zu richten. Deshalb begrüßt die
Reichsregierung in dieser Nationalversammlung den höchsten und einzigen Souverän in
Deutschland. Mit den alten Königen und Fürsten von Gottes Gnaden ist es für 'immer vorbei.
Wir verwehren niemandem eine sentimentale Erinnerungsfeier. Aber so gewiss diese
Nationalversammlung eine große republikanische Mehrheit hat, so gewiss sind die alten
gottgegebenen Abhängigkeiten für immer beseitigt. Das deutsche Volk ist frei, bleibt frei und
regiert in aller Zukunft sich selbst. Diese Freiheit ist der einzige Trost, der dem deutschen Volke
geblieben ist, der einzige Halt, an dem es aus dem Blutsumpf des Krieges und der Niederlage
sich wieder herausarbeiten kann."(21)
130
Gleichzeitig verhandelten SPD; DDP und Zentrum über die Regierungsbildung. Jetzt
traten die Parteiführer und Parlamentarier als Akteure der Verfassungsbildung
deutlicher hervor. Zuvor freilich verabschiedeten sie mit lediglich redaktionellen
Änderungen nach kurzer Beratung das Gesetz über die Vorläufige Reichsgewalt. Dieses
Gesetz
`enthielt
faktisch
eine
Vorwegentscheidung
für
den
demokratischparlamentarischen Staat auf föderalistischer Grundlage mit einem vom
Parlament unabhängigen starken Präsidenten. Mit, seinem Inkrafttreten am 11. Februar
1919 endete die revolutionäre Herrschaft des Rates der Volksbeauftragten, der bei sich
die legislative und exekutive Gewalt vereinigt hatte: Schon am 4. Februar hatte auch
der "Zentralrat der Deutschen Sozialistischen Republik" die ihm vom Reichskongress
der Arbeiter- und Soldatenräte übertragene Macht an die Nationalversammlung
weitergegeben. Er verband das mit der Empfehlung, in der künftigen Verfassung
Deutschland zum_ Einheitsstaat umzugestalten, die preußische Hegemonie zu
beseitigen- und Arbeiter- und Soldatenräte in die Verfassung einzufügen.
Die Rückkehr zu normalen, gesetzlich geordneten Zuständen war nunmehr frei. Schon
am 11. Februar 1919 wählte die Nationalversammlung Friedrich Ebert zum vorläufigen
Reichspräsidenten. Als stärkste Fraktion und Trägerin des revolutionären Umbruchs
hatte die SPD dieses Amt ebenso wie das des ersten Reichsministerpräsidenten für sich
beansprucht. Ihr bedeutendster Mann, Friedrich Ebert, entschied sich für das Amt des
Staatsoberhauptes, wodurch Scheidemann die Rolle des Chefs der ersten Regierung
zufiel. Faktisch war mit dieser Personalentscheidung, nochmals eine Vorentscheidung
für die spätere Verfassungsberatung getroffen, da Eberts persönlicher Entschluss, sich
für das höchste Staatsamt zur Verfügung ;zu stellen, die Tendenz, einen starken
Präsidenten zu institutionalisieren, weiterhin bekräftigte. Zu sehr war in den letzten
Wochen und Monaten Eberts Autorität und seine Funktion als Vermittler - gerade auch
in den schwierigen Verhandlungen zwischen Reich und Einzelstaaten - gewachsen, als
dass man jetzt noch- ein rein repräsentatives Präsidentenamt hätte konzipieren können.
Mit klaren Worten bekräftigte Ebert nach seiner Wahl seinen Willen, das Amt als der
Beauftragte des ganzen deutschen. Volkes zu führen; "nicht als Vormann einer
einzelnen Partei". Er versprach,
"die Freiheit aller Deutschen zu schützen, mit dem äußersten Aufgebot von Kraft und Hingabe,
dessen ich fähig bin, das ist der Schwur, den ich in dieser Stunde in die Hände der
Nationalversammlung lege. Den Frieden zu erringen, der der deutschen Nation das
Selbstbestimmungsrecht sichert, die Verfassung auszubauen und zu behüten, die allen
deutschen Männern und Frauen die politische Gleichberechtigung verbürgt, dem deutschen
Volke Arbeit und Brot zu verschaffen, sein ganzes Wirtschaftsleben so zu gestalten, dass die
Freiheit nicht Bettlerfreiheit, sondern Kulturfreiheit werde, das sei unseres Strebens Ziel."(22)
Am 13. Februar ernannte der neue Reichspräsident gemäß dem. Gesetz über die
Vorläufige Reichsgewalt Scheidemann zum Ministerpräsidenten und die weiteren
Minister: sieben Sozialdemokraten, je drei aus dem Zentrum und der DDP - jetzt wurde
Preuß Innenminister sowie zwei Parteilose. Die "Weimarer Koalition" war gebildet; sie
verfügte in der Nationalversammlung über eine satte Mehrheit und trug in den
folgenden Monaten die wesentlichen Entscheidungen.
131
Inzwischen war im Reichsinnenministerium aufgrund der Verhandlungen mit den
Ländern ein neuer Verfassungsentwurf erarbeitet worden, der nach kurzer Beratung im
Kabinett nun vorschriftgemäß vom 18. bis 21. Februar im neugebildeten offiziellen
Staatenausschuss behandelt wurde. Ausgiebig stritt man hier nochmals über die
Zuständigkeitsverteilung zwischen Reich und Einzelstaaten, doch verteidigte die
Reichsregierung hartnäckig ihre Positionen. Hinsichtlich der Bestimmungen über die,
Aufteilung und, den Zusammenschluss von Gliedstaaten (später Art. 18 (23)) kam man
zu keiner vollständigen Einigung, weil die Länder versuchten, dem Reich keinerlei
Einfluss auf diese Neugliederungen zu gewähren. Offen blieb auch die endgültige
Stimmenverteilung im Reichsrat (später Art. 60). In diesen Punkten wurden der
Nationalversammlung jeweils die unterschiedlichen Vorschläge der Reichsregierung
und es Staatenausschusses vorgelegt.
Die erste Lesung des Verfassungsentwurfes: Grundpositionen der Parteien
Erst jetzt konnte die Nationalversammlung mit ihrer Beratung der. Verfassung
beginnen. Noch am 21. Februar brachte Reichsinnenminister Preuß den Entwurf
offiziell ein. Am 24. Februar eröffnete er die Beratung mit einer, ausführlichen
Begründung, in der er seine Bedenken gegen die "partikularistischen Verankerungen
und Verflechtungen" nicht verhehlte.(24) In den folgenden Tagen nahmen dann die
Vertreter der Parteien zu den Grundgedanken des Entwurfs Stellung.
Diese Generaldebatte ließ die Hauptstreitpunkte über die neue Verfassung unter den
Parteien erkennbar werden. Eine gewisse Übereinstimmung - wenn auch mit
unterschiedlichen Begründungen und Zielrichtungen - zeigte sich bei fast allen Parteien
indem Bestreben, den Partikularismus zu beschränken und die Reichseinheit wieder zu
stärken. Nur der Sprecher der Deutsch-Hannoverschen Parteiforderte die Zerschlagung
Preußens und die Wiederherstellung eines selbständigen Gliedstaates Niedersachsen,
doch er fand hierin keine Unterstützung. Die Mehrheit zielte eher auf eine Stärkung der
Reichskompetenzen und endgültige Beseitigung der Reservatrechte, die sich die Länder
im Staatenausschuss wieder ausgehandelt hatten. Sie kam darin den Hoffnungen und
Erwartungen der Reichsregierung entgegen.
Einigkeit bestand auch hinsichtlich des Ausbaus des Grundrechtsteils, hier jedoch aus
deutlich unterschiedlichen Motivationen heraus:
- Der Sprecher der SPD kritisierte, dass jede Verbürgung sozialistischer
Errungenschaften fehle. Er protestierte gegen die Garantie des Eigentums und das
Verbot entschädigungsloser Enteignung und, forderte statt dessen eine
Reichskompetenz zur Sozialisierung sowie eine verfassungsmäßige Absicherung der
Mitwirkungsrechte von Arbeiterräten bei der Gestaltung der Lohn- und
Arbeitsverhältnisse im. Betrieb.
- Seine Position wurde von dem oppositionellen Sprecher der USPD verschärft. Er hielt
dem Verfassungsentwurf entgegen, dass er das Ziel der Revolution, den sozialistischen
Volksstaat zu errichten, verraten habe.
132
- Maßvolle Unterstützung fand die SPD bei der DDP, deren Sprecher die Garantie
wirtschaftlicher und sozialer Freiheitsrechte insbesondere deshalb vermisste, weil diese
zur Fundierung der politischen Demokratie notwendig seien. Der große soziale
Gedanke müsse stärker in der Verfassung betont werden.
- Das Zentrum setzte hier andere Akzente. Die Betonung der Grundrechte gedieh dem
Sprecher dieser Partei zum Argument, die Staatsgewalt zu begrenzen und die
Sozialisierungsmöglichkeiten einzuschränken. Vor allem: aber ging es ihm um
Erweiterung der Vorschriften über die Religionsfreiheit zugunsten auch einer Garantie
der kirchlichen Rechte, insbesondere im Bereich des überlieferten Verhältnisses von
Kirche und Schule.
- Genau in diesem Punkt fand das Zentrum lebhafteste Unterstützung von den Rednern
der rechten Oppositionsparteien, von DVP und DNVP, die u. a. die Garantie für die
Staatsleistungen an die Kirchen, den Schutz kirchlicher Feiertage
und die Erhaltung der Militär- und Anstaltsseelsorge verlangten. Diesen Positionen
entsprach die Forderung nach Erweiterung der Reichskompetenzen im Bereich der
Kirchen- und Schulangelegenheiten.
Dass das Zentrum - trotz grundsätzlich föderalistischer Programmatik - zentralistische
Kompetenzerweiterungen im Bereich der Kultur- und Schulbestimmungen forderte,
erklärte sich nur aus der politisch-taktischen Überlegung, auf diese Weise wegen der
stärkeren Position des Zentrums im Reich allzu weitgehende Schulreformen in rein
sozialdemokratisch oder durch SPD/DDP-Koalitionen beherrschten Ländern verhindern
zu können.
Die Kooperationsmöglichkeiten mit den oppositionellen Rechtsparteien, die sich dem
Zentrum in diesen Fragen boten, erweiterten sich noch in der Kontroverse um die
Ausgestaltung des Reichspräsidentenamtes. Obwohl die präsidialen Kompetenzen verglichen mit der Endfassung - noch eingeschränkt waren, kritisierte der Sprecher der
SPD-Fraktion die Volkswahl des Präsidenten und warnte hellsichtig vor möglichen
Gefahren bei den Notstandsartikeln: Der Reichspräsident werde
"geradezu mit Diktaturgewalt ausgerüstet. Er hat dann allerdings unverzüglich die
Genehmigung des Reichstags einzuholen und die Anordnungen aufzuheben, wenn er diese
Zustimmung des Reichstages nicht findet. Wie steht die Sache aber, wenn der Reichstag zu
einer solchen Zeit nicht versammelt ist? Der Reichspräsident kann aber auch den Reichstag
auflösen, freilich nur einmal aus gleichem Anlag. Wann ist dieser Anlag gegeben, welche
Voraussetzungen sind dafür notwendig? ... Die jetzige Verfassungsvorlage gibt also dem
Reichspräsidenten eine höhere uneingeschränkte Macht, als sie früher der Kaiser besaß... Wir
dürfen uns hierbei auch nicht von dem Gedanken beeinflussen lassen, dass jetzt auf dem
Posten des Reichspräsidenten ein Sozialdemokrat steht. War die frühere Reichsverfassung auf
den Leib des Kanzlers Bismarck zugeschnitten, die jetzige Verfassung soll nicht auf den Leib
des Reichspräsidenten Ebert zugeschnitten sein. Wir müssen mit der Tatsache rechnen, dass
eines Tages ein anderer Mann aus einer anderen Partei, vielleicht aus einer reaktionären,
staatsstreichlüsternen Partei an dieser Stelle stehen wird. (Hört! Hört! rechts.) Gegen solche
Fälle müssen wir uns doch vorsehen, zumal die Geschichte anderer Republiken höchst
lehrreiche Beispiele in dieser Beziehung geliefert hat."(25)
Diese Anspielung auf Napoleon III. war, ebenso zutreffend, wie die Sorge vor
zukünftigen Entwicklungen berechtigt war. In den Spätjahren der Republik
133
bestätigten sich die gefährlichen Missbrauchsmöglichkeiten des präsidialen Amtes.
Doch 1919 stand die SPD mit diesen Warnungen in der Koalition allein. Ihre Partner,
Zentrum und DDP, forderten vielmehr eine weitere Stärkung der
parlamentsunabhängigen präsidialen Gewalt, und sie wurden darin unterstützt von den
oppositionellen bürgerlichen Parteien.
Hier deuteten sich Querfronten zur Weimarer Koalition an, die im Verlauf der
Verfassungsdebatten manche Belastungen verursachten, zumal wenn die bürgerliche
Mehrheit sich gegen die SPD durchzusetzen versuchte. Die Voraussetzung für solche
Frontbildungen hatte die sehr sachkundige und maßvoll konstruktive Kritik
insbesondere des DNVP-Fraktionsvorsitzenden Clemens von Delbrück geschaffen, der
trotz grundsätzlicher Bedenken den Entwurf als Grundlage für- eine Mitarbeit gelten
lassen wollte.
In der ersten Debatte gab es neben der Präsidentenfrage noch weitere Indizien für
solche Frontbildungen aller bürgerlichen Parteien gegen die Arbeiterparteien. So blieb
die SPD zusammen mit der USPD in der eher symbolischen Frage des Namens:
"Deutsche Republik" statt "Deutsches Reich" allein. Hier hatte allerdings schon der
Regierungsentwurf unter dem Einfluss von Preuß für die Beibehaltung des
traditionellen Namens plädiert. In der sehr unterschiedlichen Bewertung der jüngsten
deutschen Geschichte und der Verfassung des Bismarck-Reiches blitzten stellenweise
ähnliche Konstellationen auf, die die Gemeinsamkeiten der Koalitionspartnerin Frage
stellten. In gleichet Weise deutete sich in der Sozialisierungsfrage Zündstoff an. Von
den Konzessionen, die in den ersten Wahlaufrufen auch bürgerliche Parteien in diesem
Punkt gemacht hatten, war jetzt kaum noch etwas zu spüren.
Doch die sich ankündigenden Konflikte und Konzepte zum Ausbau der
Reichsverfassung blieben dem Charakter einer Generaldebatte entsprechend - zunächst
offen und ohne Präzisierung im Detail. Die eigentliche Arbeit wurde einem
Verfassungsausschuss unter dem Vorsitz von Conrad Haußmann (DDP) übertragen. In
diesem Gremium erhielt die Verfassung nahezu ihre endgültige Gestalt. Nur in sehr
wenigen, allerdings nicht unwesentlichen Punkten, fiel die Entscheidung erst in der
zweiten bzw. dritten Lesung im Plenum der Nationalversammlung.
Kontroversen und Kompromisse
abschließenden Plenardebatten
im
Verfassungsausschuss
und
in
den
Der Verfassungsausschuss beriet den Entwurf vom 4. März bis 2. Juni in erster Lesung
und dann vom 3. bis 18. Juni 1919 in zweiter Lesung. Jetzt bekam die spätere
Verfassung ihre eigentliche Gestalt. Die Beratungen waren im Unterschied zu den
Plenardebatten freier von politisch-taktischen Rücksichtnahmen. Es herrschte in dem
mit
hervorragenden
Fachleuten
besetzten
Gremium
eine
sachliche
Arbeitsatmosphäre.(26) Andererseits war der politische Druck, der auf dem Ausschuss
lastete, außerordentlich groß. Die innere Lage forderte rasches Arbeiten. Die
Verfassung sollte sobald als möglich in Kraft treten, um die aufgewühlte Atmosphäre
zu beruhigen. Im März/April 1919 erreichten die politischen Unruhen und Streik-
134
bewegungen neue Höhepunkte. Die einen erwarteten daher von der Verfassung die
Sicherung der revolutionären Errungenschaften, während die anderen mit ihr ein
Bollwerk gegen weitergehende gesellschaftsumwälzende Dynamik zu errichten hofften.
Hinzu kam, dass die außenpolitische Lage möglichst rasch die Etablierung einer
endgültigen Verfassungsordnung erzwang. Seit Anfang Mai waren die harten
Friedensvertragsbedingungen bekannt geworden, kurz nach Ende der zweiten Beratung
des Verfassungsausschusses mussten sie in der Nationalversammlung verabschiedet
werden. Sie belasteten die neu zu errichtende Republik aufs schwerste und ließen die
Weimarer Koalition für die Endphase der Verfassungsberatungen zerbrechen, was den
Entscheidungsprozeß nochmals komplizierte. Man muss diese äußeren Umstände
bedenken, wenn man das Werk der Nationalversammlung und ihres
Verfassungsausschusses recht würdigen will.
Dem sachlichen Klima der Ausschussberatungen konnten und wollten sich auch die
Vertreter der Oppositionsparteien auf der rechten und linken Seite nicht entziehen. Sie
sicherten sich so Einfluss auf die Gestaltung der Verfassung. Bei den grundlegenden
Regeln für das Reichskabinett:
- Richtlinienkompetenz des Kanzlers,
- Selbständigkeit der Minister in der Führung ihrer Ressorts,
- kollegiale Mehrheitsentscheidung bei Gesetzentwürfen
folgte der Verfassungsausschuss z. B. einstimmig einem Vorschlag des DNVPAbgeordneten Delbrück, der dabei seine reichen Erfahrungen in der
königlichpreußischen Regierung und in der Regierung des Reiches fruchtbar
verarbeitete. Auf der anderen Seite kam es in manchen wichtigen Punkten zu einer
Zusammenarbeit zwischen USPD und SPD, der sich streckenweise die DDP anschloss
und dann zum Erfolg verhalf,(27) während umgekehrt . sich wiederholt auch eine Front
aller bürgerlichen Parteien gegen die Arbeiterparteien formierte. In anderen Punkten
wiederum kooperierten die Weimarer Koalitionspartner. Die fließenden Fronten; die
schon die erste Debatte im Plenum offenbart hatte, bestätigten sich also auch hier. Dass
der Ausschuss - trotz aller Souveränität der Nationalversammlung nicht gleichsam im
luftleeren Raum arbeiten konnte, bewiesen von außen kommende Interventionen, als er
sich mit den Problemen der föderalistischen Struktur- und der Wirtschafts- und
Sozialverfassung beschäftigte.
Föderalismusproblematik
Die Kontroversen und Probleme, die der Ausschuss einer Lösung zuführen musste,
waren zunächst dieselben, die' schon die Vorgeschichte des Entwurfs bestimmt hatten:
das Verhältnis zwischen Reich und Gliedstaaten und die Position des
Reichspräsidenten. Im ersten Punkt schlug das Pendel nun Wieder zurück. Der
Ausschuss präzisierte, systematisierte und erweiterte die Reichskompetenzen erheblich.
Die Unitarier, vor allem aus DDP, SPD und- USPD führten das Wort. Der spätere
Reichsminister Erich Koch-Weser (DDP) war es, der jetzt den Begriff "Länder“ statt
135
Glied- der Freistaaten erfolgreich in die Debatte einführte, um damit die
"Staatsqualität" dieser politischen Einheiten herabzumindern und die übergeordnete
Souveränität des Reiches zu betonen, das eben mehr als ein Bund sein sollte.
Damit war exakt die Gegenposition zu der bayerischen These bezogen, die für die
Verfassunggebung 1919 die einvernehmliche Entscheidung der staatlichen
Vertragspartner von 1871 verlangte. Der Ausschuss scheute sich nicht, die Reste der
Reservatrechte im Militär-, Eisenbahn- und Postbereich, die Preuß in den
Verhandlungen mit den Ländern hatte widerstrebend einräumen müssen, wieder zu
beseitigen. Um das Übergewicht Preußens im Reichsrat auszuschalten, legte der
Ausschuss ferner - gegen den Protest der preußischen Regierung -- fest, dass nur die
Hälfte der preußischen Stimmen von der Regierung, die andere Hälfte aber von den preußischen Provinzialverwaltungen gestellt werden sollte.
In der Neugliederungsproblematik jedoch könnte sich der Ausschuss nicht durchsetzen.
Er beschloss, dass Länderneubildungen durch Zusammenschluss oder
Gebietsabtretungen bei Zustimmung der betroffenen Bevölkerung auch gegen den
Willen der beteiligten Länder, d. h. hier vor allem Preußens, durch einfaches
Reichsgesetz möglich sein sollten. Das kam Wünschen aus dem Zentrum nach
Errichtung einer rheinisch-westfälischen Republik und der Forderung nach der
Wiederherstellung Niedersachsens entgegen. Jetzt intervenierte jedoch die preußische
Regierung. Zusammen mit den süddeutschen' Ländern, denen die Unitarisierung
generell zu weit ging, veranlasste sie die Reichsregierung zu einem Vermittlungsschritt.
Nach Verhandlungen mit den Fraktionsvorsitzenden der drei Regierungsparteien
wurden die Steine des Anstoßes beseitigt. Nur mit verfassungsändernder Mehrheit
sollte nunmehr gegen den Willen eines Landes eine Neugliederung oder Abtretung
verfügt werden können. Dieses Kompromissergebnis -wurde trotz leichter
Modifikationen auch- in der zweiten und dritten , Lesung des Plenums, bestätigt.
Im Klartext bedeutete dieser Kompromiss, dass Preußen mit seinem Stimmengewicht
im Reichsrat verfassungsändernde Gesetze und Gebietsabtretungen blockieren konnte.
Die Neugliederung war gescheitert, denn ohne preußische Gebietsabtretungen waren
die norddeutschen Kleinstländer, wie etwa die beiden Lippe, Waldeck, Oldenburg,
Braunschweig und die beiden Mecklenburg- kaum zu lebensfähigen Gebieten
zusammenzufassen. Ihnen blieb allenfalls das Aufgehen in Preußen. Ein solcher Schritt
aber hätte das preußische Übergewicht im Reich so gestärkt, dass auch die
süddeutschen Länder daran kein Interesse haben konnten.
So starben die Preuß'schen Ideen einer umfassenden Neugliederung "um des lieben.
Friedens willen", wie er selbst sarkastisch bemerkte. Auch der. eher unitarisch
gesonnene Verfassungsausschuss konnte hier nicht helfen. Das Reich blieb mit einer
völlig unausgewogenen Struktur der einzelnen Länder belastet, die auch durch den
1919/20 vollzogenen Zusammenschluss der acht Kleinstaaten im thüringischen Raum
und den Anschluss Coburgs an Bayern. nur unwesentlich ausgeglichen wurde.
„Reichsreform" war darum ein ständiger Streit- und Problempunkt in allen Weimarer
Jahren.
136
Reichstag, Reichspräsident und Volksentscheid
In der Frage der Stärkung der Reichskompetenzen hatte vor allem die Linke im
Verfassungsausschuss von USPD bis DDP kooperiert; in der Frage der
Machtbefugnisse des Reichspräsidenten kam es dagegen zu einer Konfrontation
zwischen bürgerlicher Mehrheit und sozialistischer Minderheit:
- Die USPD versuchte erfolglos, statt des Reichspräsidenten ein kollegiales
Direktorium durchzusetzen.
- Die SPD ihrerseits verlangte - ebenfalls ohne Erfolg -, dass der Reichspräsident das
Ausnahmerecht nur mit Zustimmung des Reichstags ausüben. sollte.
- Die bürgerliche Mehrheit jedoch erweiterte statt dessen den Handlungsrahmen des
Präsidenten. Sie wollte an seiner Funktion, Gegengewicht gegen einseitige Partei- und
Parlamentsherrschaft zu sein, nicht rütteln lassen.
Erfolgreicher waren die linken Parteien wiederum bei der Ausgestaltung des
Referendums zu einem selbständigen Volksgesetzgebungsverfahren, das auch durch ein
Volksbegehren - unabhängig von der Ausschreibung durch den Präsidenten in Gang
gebracht werden konnte. Dieses entsprach ihren radikal-demokratischen Konzeptionen
ebenso wie das Festhalten an einer nur dreijährigen Wahlperiode für den Reichstag, die
jedoch von der bürgerlichen Mehrheit auf fünf Jahre erhöht wurde. Erst in den
Schlussdebatten im Plenum legte man, um den Konflikt mit der Linken nicht zu sehr zu
verschärfen, vier Jahre fest.
Die sog. Flaggenfrage
Eine für die Zerklüftung der politischen Kultur der Weimarer Republik ebenso
aufschlussreiche wie verhängnisvolle Kontroverse entzündete sich an der sog.
Flaggenfrage. Hugo Preuß hatte als Farben der Republik Schwarzrotgold vorgesehen,
die Farben der Freiheits- und Einheitskämpfe im frühen 19. Jahrhundert bis hin zur
Revolution von 1848. Zu diesem Rückgriff auf die demokratische Tradition kam die
aktuelle Hoffnung auf eine Einlösung der 1848 erfolglos angestrebten großdeutschen
nationalen Einigung. Nach dem Zerfall des Habsburger Vielvölkerstaates schienen die
Aussichten für eine Vereinigung mit Osterreich Anfang Januar 1919 günstig zu stehen.
Die SPD begrüßte die neuen Reichsfarben, weil für ein neues politisches System in
Deutschland auch ein neues politisches Symbol notwendig sei. Die USPD dagegen
plädierte für das revolutionäre Rot. Die Rechtsparteien verlangten die Beibehaltung der
schwarzweißroten Farben des Bismarckschen Kaiserreiches: Wer an der alten Ordnung
festhielt, sah keinen Anlass, die Fahne zu wechseln, auch und gerade nicht in der
militärischen Niederlage, die man dem "Dolchstoß" in den Rücken des kämpfenden
Heeres zuschrieb und nicht dem selbstverschuldeten Scheitern des kaiserlichen
Deutschland. Der Streit um die Reichsfarben wurde vielfach zum Streit um die
Bewertung der Vergangenheit. Zentrum und insbesondere DDP waren in diesem Punkt
in sich gespalten.
137
Von den Demokraten kam schließlich der Kompromissvorschlag, als Handelsflagge
Schwarzweißrot vorzusehen. In modifizierter Form wurde diese Lösung im Plenum
akzeptiert (Art. 3). Der neue Reichsinnenminister David (SPD) warb für die neuen
Farben als einen Versuch, "ein Symbol zu haben, zu dem sich mit Freuden das ganze
Volk bekennt". Rot sei ungeeignet, weil es eine Parteifarbe sei, und auch
Schwarzweißrot sei vor 1914 "von einem großen Teil des Volkes als eine Parteifahne
betrachtet worden"; auch jetzt wieder sei Schwarzweißrot "als ein Parteibanner entfaltet
worden mit der Devise: Gegen Demokratie, gegen die Republik". Schwarzrotgold sei
dagegen ein "Symbol der großdeutschen nationalen Zusammengehörigkeit"(28)
Davids Hoffnungen auf eine Einigung über dieses Symbol sollten sich nicht erfüllen,
Der Streit um die Reichsfarben blieb bis 1933 eine ständige Belastung für die Republik,
zumal die Kompromisslösung, beide Farben, wenn auch in einer bestimmten
Hierarchie, gelten zu lassen; in sich widersprüchlich war. Mit dem Einspruch aus
Frankreich gegen den österreichischen Anschluss wurden die großdeutschen
Hoffnungen von Schwarzrotgold zudem enttäuscht. Eine wichtige Legitimation für den
Flaggenwechsel war damit -entfallen. - Den Gegnern der Republik auf der Rechten
überließ man andererseits ein zugkräftiges Symbol, mit dem sich die Erinnerung an die
glorreiche Vergangenheit vor 1914 und das heroische Kriegserlebnis verbinden ließ. Zu
blass blieben demgegenüber die historischen Bezüge auf das frühe 19. Jahrhundert, in
denen Schwarzrotgold als demokratisches und nationales Symbol lebt. Die Republik
des Kompromisses musste selbst eines einenden Symbols entbehren. Der Versuch, ein
solches zu schaffen, ließ die Gegensätze eher bewusst und virulent werden, statt den
politischen Zusammenhalt zu stärken.
Kompromisse beim Grundrechtsteil
Allen Parteien waren die Grundrechtsartikel des Regierungsentwurfes unzureichend
erschienen. Darum setzte der Verfassungsausschuss einen Unterausschuss ein, der unter
der Leitung des DDP-Vorsitzenden Friedrich Naumann den Grundrechtsteil völlig neu
erarbeitete und zu einem zweiten Hauptteil der Verfassung mit über fünfzig Artikeln
ausbaute. Auch hier wurde mit den unterschiedlichsten Mehrheiten abgestimmt; so
gelang kein in sich schlüssiges einheitliches Werk, sondern ergaben sich - wie in der
Flaggenfrage - kompromißhafte Lösungen mit mancherlei Widersprüchen, eine
einheitliche Tendenz war gleichwohl erkennbar. Friedrich Naumann hatte ursprünglich
versucht, in diesem Teil der Verfassung gleichsam die ethische Grundlage des Staates
zu formulieren. Dem Volk sollten, über das Symbol der Reichsfarben hinausgehend,
gemeinsame Werte und Ziele, denen alle Bürger zustimmen könnten, vor Augen
gestellt werden. Die Garantie der klassisch-liberalen Freiheitsrechte des Individuums,
auf die der Regierungsentwurf sich beschränkt hatte, erschien Naumann dafür
unzureichend. Es gehe darum, volksverständliche Grundrechte in die Verfassung
aufzunehmen, dem abstrakten Rechtsstaatsbegriff neue Elemente „nationalsozialer" Art
hinzuzufügen. Auf diese Weise müsse man einen Beitrag zum "Verständigungsfrieden
138
zwischen Sozialismus und Kapitalismus" leisten und der neuen Verfassung einen Platz
zwischen rein sozialistischem und rein individualistischem Staatsrecht zuweisen.
Naumann verfolgte volkspädagogische Absichten. Darum formulierte er im Stil eines
staatsbürgerlichen Katechismus reit sprichwortartigen Prägungen, die Formelsprache
der Juristen vermeidend:
"Volkserhaltung ist Staatszweck, Kinderzuwachs ist Nationalkraft. Das Vaterland steht über der
Partei. Einigkeit und Recht und Freiheit sind des Deutschen Vaterland. Ordnung und Freiheit
sind Geschwister. Freie Bahn dem Tüchtigen. Volkswirtschaft steht über Privatwirtschaft. Wald
bleibt erhalten. Bergschätze sind Volkswerte. Zum demokratischen Industriestaat gehört
Industrieparlamentarismus. Verstaatlichung ist eine Nützlichkeitsfrage. Wir leben im Zeitalter
des Verkehrs. Weltverkehr ist Lebenslust. Geheimpolitik gibt es nicht mehr. Wir achten alle
Völker, die uns achten."(29)
Der moralisierende Ton und die unjuristische Fassung dieser Sentenzen ließen
Naumann schon im Unterausschuss scheitern. Der Vorschlag entfernte sich zu weit von
den üblichen Erwartungen an Verfassungstexte und überforderte diese. Aber in
Naumanns Anliegen druckte sich das berechtigte Verlangen aus, die klassischliberalen
Grundrechte, die lediglich das Verhältnis zwischen Individuum und Staat regelten, zu
sozialen Grundrechten auszubauen, die dem einzelnen Anspruch auf Schutz und
Fürsorge durch den Staat gewährleisten; außerdem sollte der Zusammenhang zwischen
Grundrechten und Grundpflichten deutlich gemacht werden. Naumann wollte darauf
hinweisen, dass gerade der neu zu errichtende demokratische Staat eine gemeinsame
ethische Basis, einen Konsensus über Ziele und Werte brauchte, der durch diese
Verfassungsartikel ins Bewusstsein gehoben werden sollte.
Wirtschaftsverfassung
So wenig man den Naumannschen Formulierungen folgte, die Wendung zum Sozialen
vollzog die Ausschussmehrheit eindeutig mit. Aus dem, was Naumann den
"Industrieparlamentarismus" nannte, entstand der Art. 165 über die Arbeiter- und
Wirtschaftsräte. Dazu gehören ferner die Artikel zur Wirtschaftsordnung,
Sozialisierung und Sozialpflichtigkeit des Eigentums sowie zum Schutz der Arbeit (Art.
151 ff.). Bei diesen Bestimmungen handelte der Verfassungsausschuss unter einem
erheblichen Druck. Die in den Massenbewegungen des Frühjahrs 1919, in Streiks,
Arbeiterunruhen und Aufständen sich ausdrückende Unzufriedenheit in er
Arbeiterschaft über den Verlauf der Revolution hatte Parteien und Gewerkschaften,
Reichsregierung und Nationalversammlung zu, einer Doppelstrategie veranlasst.
Hartes- militärisches Zuschlagen wurde mit sachlichem Entgegenkommen verknüpft.
Reichsregierung und Koalitionsparteien bekämpften diese Unruhen nicht nur mit
Militär und Verboten, sondern suchten sie durch positive Regelungen in der
Sozialisierungsfrage und durch die Eingliederung der Räte in die Verfassung
aufzufangen.(30)
139
Anfang März verabschiedete die Nationalversammlung in Vorwegnahme des späteren
Sozialisierungsartikels der Verfassung ein Sozialisierungsgesetz. Gleichzeitig kündigte
die Reichsregierung eine Initiative zum Einbau der Räte in die Verfassung an, wobei
sie auf Vorstellungen zurückgriff, die in Besprechungen mit streikenden
Arbeitervertretungen fixiert worden waren. Nach weiteren Verhandlungen brachte die
Reichsregierung Anfang April über den Staatenausschuss einen Ergänzungsartikel zum
Verfassungsentwurf mit folgendem Wortlaut ein:
Die Arbeiter und Angestellten sind dazu berufen, gleichberechtigt in Gemeinschaft mit den
Unternehmern an der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie an der gesamten
wirtschaftlichen Entwicklung der produktiven Kräfte mitzuwirken. Die beiderseitigen
Organisationen und ihre Vereinbarungen werden anerkannt. Die Arbeiter und Angestellten
erhalten zur Wahrnehmung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Interessen gesetzliche
Vertretungen in Betriebsarbeiterräten sowie in nach Wirtschaftsgebieten gegliederten
Bezirksarbeiterräten und in einem Reichsarbeiterrat.
Die Bezirksarbeiterräte und der Reichsarbeiterrat treten zur Erfüllung der gesamten
wirtschaftlichen Aufgaben und zur Mitwirkung bei der Ausführung der Sozialisierungsgesetze
mit den Vertretungen der Unternehmer und sonst beteiligter Volkskreise zu
Bezirkswirtschaftsräten
und
zu
einem
Reichswirtschaftsrat
zusammen.
Die
Bezirkswirtschaftsräte und der Reichswirtschaftsrat sind so zu gestalten, dass alle wichtigen
Berufsgruppen entsprechend ihrer wirtschaftlichen und sozialen Bedeutung darin vertreten
sind.
Sozialpolitische und wirtschaftspolitische Gesetzentwürfe von grundlegender Bedeutung sollen
von der Reichsregierung vor ihrer Einbringung dem Reichswirtschaftsrat zur Begutachtung
vorgelegt werden. Der Reichswirtschaftsrat hat das Recht, selbst solche Gesetzesvorlagen zu
beantragen. Stimmt ihnen die Reichsregierung nicht zu, so hat sie trotzdem die Vorlage unter
Darlegung ihres Standpunktes beim Reichstag einzubringen. Der Reichswirtschaftsrat kann die
Vorlage durch eines seiner Mitglieder vor dem Reichstag vertreten lassen.
Den Arbeiter- und Wirtschaftsräten können auf den ihnen überwiesenen Gebieten Kontroll- und
Verwaltungsbefugnisse übertragen werden.
Aufbau und Aufgabe der Arbeiter- und Wirtschaftsräte sowie ihr Verhältnis zu anderen sozialen
Selbstverwaltungskörpern zu regeln, ist ausschließlich Sache des Reichs.
Im Verfassungsausschuss wurde diese Regelung - der spätere Art. 165 - von der
Weimarer Koalition gemeinsam getragen. Auch nach Abklingen der Streikbewegung
hielt man .daran fest, gegen den Widerstand der Rechten, die aus dem
Reichswirtschaftsrat, einem Gremium, in dem Arbeit und Kapital kooperieren sollten,
ein umfassendes berufsständisches Organ machen wollte. Erbittert war der Protest der
USPD: am politischen Kern der Räte, als einem Instrument der Herrschaft der
Arbeiterklasse wollte sie nicht rütteln lassen, den Gedanken der Gleichberechtigung
von Kapital und Arbeit, der diesen Artikel prägte, brandmarkte sie als Verrat am
Sozialismus.
In der Tat waren die Artikel zur Wirtschaftsverfassung, die die Ausschussmehrheit
formulierte, kein sozialistisches Programm im eigentlichen Sinne, aber sie enthielten
eindeutig die Überwindung des wirtschaftsblinden bürgerlichen Rechtsstaates
zugunsten eines sozialen Rechtsstaates. Die Weimarer Verfassung war keineswegs nur
eine liberal-demokratische Verfassung, sondern eben auch und in sehr starkem Maße
eine sozial-demokratische Verfassung.
140
Allerdings wurde dieses Konzept durch zahlreiche Schutz- und Förderversprechungen
verwässert, die die unterschiedlichen Parteien für ihre jeweilige Wählerschaft in Form
von Programmsätzen in die Verfassung hineinbrachten. Art. 164 versprach zum
Beispiel, den Mittelstand in Landwirtschaft, Gewerbe und Handel zu fördern und vor
Aufsaugung zu schützen. Art. 158 sicherte Künstlern und Erfindern die Fürsorge des
Reiches zu, während Art. 157 den Arbeitern besonderen Schutz und ein einheitliches
Arbeitsrecht in Aussicht stellte. Daher kritisierte man diese Abschnitte der Verfassung
auch als ein "interfraktionelles Parteiprogramm". Der DNVP-Abgeordnete Delbrück
polemisierte gegen die "Hypertrophie" der Grundrechte.
Der Ausbau des sozialen Rechtsstaates, der in Weimar vollzogen wurde, darf freilich
nicht vergessen machen, dass man zunächst die klassisch-liberalen Freiheitsrechte
verankerte und erweiterte. Fast energischer noch als die liberalen Parteien verstand sich
hier die Sozialdemokratie als Vollstreckerin des liberal-demokratischen Programms der
bürgerlichen Revolution von 1848. So wurde die Gleichberechtigung von Mann und
Frau im politischen Bereich grundsätzlich verankert und im Familienrecht zumindest
als Richtlinie proklamiert. Die Chancengleichheit für uneheliche Kinder zu
verwirklichen, machte ein Verfassungsauftrag dem Gesetzgeber zur Pflicht.
Standesvorrechte - insbesondere des Adels - wurden abgeschafft und die
Gewissensfreiheit auch insofern respektiert, als niemand gegen seinen Willen zur
Teilnahme an religiösen Handlungen gezwungen werden konnte. Die weltanschauliche
Neutralität des Staates wurde damit verankert. Weitergehende Anträge der
sozialdemokratischen Parteien auf Abschaffung der Todesstrafe scheiterten jedoch am
Widerspruch der bürgerlichen Parteien, obwohl auch hier die Tradition der
Paulskirchenverfassung schon in die gleiche Richtung. gewiesen hatte.
Der Schul- und Kirchenartikel
Kooperierten bei der Wirtschafts- und Sozialverfassung vor allem die Weimarer
Koalitionsparteien, bei den bürgerlichen Freiheits- und Gleichheitsrechten eher die
Linken und die Liberalen, so kam es bei den Schul- und Kirchenartikeln zu massiven
Konflikten und zu häufig wechselnden Mehrheiten. Die Linken setzten das Verbot der
Staatskirche durch, aber die Rechten machten daraus eine "hinkende Trennung von
Staat und Kirche", indem , sie die Garantie zahlreicher überkommener kirchlicher
Rechtspositionen und Institutionen festzuschreiben wussten. Das Zentrum unterlag mit
der DNVP zunächst in der Frage der Konfessionsschule einer linken Mehrheit von
USPD bis DDP, während die SPD erfolglos gegen die Gewährleistung des
Religionsunterrichtes kämpfte. Erst in der zweiten Lesung im Plenum kam es zum
Kompromiss zwischen SPD und Zentrum, wobei das Zentrum seine nach dem
Ausscheiden der DDP gestärkte Position als alleiniger und darum unverzichtbarer
Koalitionspartner der SPD wirkungsvoll ins Spiel bringen konnte. Freilich wurde dieses
Ergebnis in der dritten Lesung nochmals modifiziert, um auch der DDP die
Zustimmung zu ermöglichen. Insgesamt trugen so die entsprechenden Abschnitte des
Grundrechtsteils über "Religion und Religionsgesellschaften" (Art. 135ff.) sowie über
141
"Bildung und Schule" (Art. 142ff.) die unterschiedlichsten Handschriften. Sie
vereinigten in sich reformerische Intentionen und die Absicherung revolutionärer
Errungenschaften ebenso wie die Verbürgung von althergebrachten Vorrechten und
Bestandsgarantien für historische Institutionen. Der Kompromisscharakter der
Weimarer Verfassung wird gerade hier besonders deutlich.
Die dritte Lesung und Verabschiedung im Plenum
Durch die intensiven Beratungen im Verfassungsausschuss hatte die Verfassung
praktisch ihre endgültige Gestalt gewonnen. Die Mitwirkung aller Parteien sicherte
jedoch keineswegs eine breite Zustimmung. Die vielfältigen, z. T. in sich
widersprüchlichen Kompromisse, die zahlreichen Kann- und Sollvorschriften und die
Sperrklauseln verstärkten eher das Unbehagen an dem Verfassungswerk, das man nur
reit halbem Herzen trug. Es hatte in den Beratungen weder Sieger noch Besiegte
gegeben. Nur so konnte die Verfassung zustandekommen. Zwar fand sich, als es am 31.
Juli 1919 zur Schlussabstimmung kam, eine eindrucksvolle Zustimmungsmehrheit von
262 gegen 75 Stimmen bei einer Enthaltung. Auch gab es manch hochgestimmte Rede
aus diesem Anlas, in der Stolz und Freude über das vollbrachte Werk anklangen. Aber
trotz aller Geschlossenheit der Weimarer Koalition bei der Zustimmung - nur der
bayerische Abgeordnete Heim aus der Zentrumsfraktion hatte gegen die Verfassung
gestimmt - blieb dieses Parteienbündnis doch äußerst zerbrechlich. . In der dritten
Lesung setzten die bürgerlichen Parteien die Streichung einer antidynastischen Klausel
durch, die den Mitgliedern ehemals regierender landesherrlicher Familien die
Möglichkeit nehmen sollte, zum Reichspräsidenten gewählt zu werden; entgegen
weitergehender Anträge der SPD erschwerten sie die Sozialisierung und erweiterten
darüber hinaus wiederum gegen einen einschränkenden Antrag der SPD die Machtfülle
des Reichspräsidenten im Notstandsfall auf Kosten des Reichstages. Angesichts dieser
Entscheidungen sah sich die SPD-Fraktion zu einer offiziellen 'Protesterklärung gegen
die Blockbildung der bürgerlichen Parteien veranlasst. Man wertete: sie als partielle
Aufkündigung der gemeinsamen Koalition. Diese Abstimmungsergebnisse hätten - so
formulierte der sozialdemokratische- Sprecher - bei der SPD schwerste Bedenken
gegen die Annahme der Verfassung hervorgerufen. Nur im Vertrauen darauf, dass die
lebendige Entwicklung stärker sein werde als die ihr entgegenstehenden "papierenen
Hindernisse", gäben die Sozialdemokraten der Verfassung ihre Zustimmung.
So traf die Verfassung nicht nur bei USPD, DNVP und DVP auf die offene
Gegnerschaft, die bei der Schlussabstimmung nochmals bekräftigt wurde, sondern auch
auf mancherlei Vorbehalte bei den sie tragenden Parteien. War sie den einen eher das
Instrument, um Schlimmeres zu verhüten, so den anderen nur Etappe auf dem Weg zu
weiteren Zielen. Dennoch bot das Werk von Weimar, um die Formulierung des
Reichsinnenministers David nochmals aufzunehmen und zu verschärfen, die einzige
Chance zu einer "gesetzlich friedlichen Entwicklung". Darin lag sein Wert und seine
Würde.
142
Inwiefern die Verfassung den Weg einer solchen Entwicklung vorzeichnete, ihr einen
festen Rahmen gab und Richtung wies oder infolge der ihr eigenen
Kompromissstruktur und inneren Widersprüchlichkeiten die Einwurzelung der
Demokratie eher erschwerte, wird erst eine genauere systematische Analyse der
einzelnen Verfassungsbestimmungen und ihrer zeitgenössischen Interpretation
erkennen lassen.
Anmerkungen
1 Vgl. zum Friedensvertrag und zu den Debatten' in der Nationalversammlung unten
Kapitel 8, S. 296 ff.
2 Zur Kontinuität und Umformung des Parteiensystems vgl. unten Kapitel 5
3 Siehe zu Preuß und seinem politischen Konzept, sowie seiner Rolle bei der
Verfassunggebung G. Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur, 1963, 5.123 ff. und
W. Elben, Das Problem der Kontinuität . . ., 1965 S. 45 ff. mit weiteren Nachweisen
4 Dieser Aufsatz ist abgedruckt in: Ursachen und Folgen, Bd. 3, S. 421 ff., auch in H.
Preuß, Staat ,.Recht, Freiheit, Tübingen, 1926 sowie in S. Miller/G. A. Ritter (Hrsg.),
Die deutsche Revolution 1918-1919, Frankfurt/M. 1968
5 Zu diesen Beratungen vgl. Schulz, a. a. 0., S. 130ff. und H. Potthoff, Das Weimarer
Verfassungswerk und die deutsche Linke, 1972, S. 455ff.
6 Zu Max Webers Verfassungsvorstellungen vgl. Schulz, a. a. O:, S. 115ff. und vor
allem W. J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik, 1959, S. 326ff.
7 Friedrich Engels in seiner Kritik des Erfurter Programms 1891; zitiert nach W.
Mommsen, Deutsche Parteiprogramme, München 1960, S. 347
8 Zum Hintergrund dieses Konzeptes bei Max Weber vgl. vor allem den Aufsatz von
W., J. Mommsen, Zum Begriff der "plebiszitären Führerdemokratie". 1974
9 Potthoff, 1972, S. 455
10 Der Entwurf ist zusammen mit dem späteren amtlichen Entwurf abgedruckt in: Die
Regierung der Volksbeauftragten 1918/1919, Bd. 2, S. 249 ff., der amtliche Entwurf
auch in: Ursachen und Folgen, Bd. 3, S. 429 ff.
11 Das Protokoll der Sitzung ist abgedruckt in: Regierung der Volksbeauftragten, Bd.
2, S. 327ff.
12 Die Denkschrift ist abgedruckt bei H. Preuß, Staat, Recht und Freiheit, 1926,
auszugsweise auch in: Ursachen und Folgen, Bd. 3, S. 424 ff.
13 Zu dieser Konferenz vgl. Schulz, a. a. 0., S. 142 ff.
14 Sitzung der preußischen Staatsregierung vom 24. 1. 1919. Zitiert nach G. A. Ritter:/
S. Miller, Die deutsche Revolution ,1918/1919, 1975, S. 410f.
15 Zitiert nach Elben, a. a. O., S. 55
16 Zitiert ebenda
17 17 Zusammen mit der Fassung nach den Ergebnissen der Verhandlungen mit den
Ländern abgedruckt in: Regierung der Volksbeauftragten, Bd. 2 S. 334 ff.
18 Zum Vergleich sei darauf hingewiesen, dass der Parlamentarische Rat 1948/49 keine
Gesetzgebungsbefugnis hatte. Währender das Grundgesetz beriet, fehlte jedoch auch
noch eine verantwortliche Regierung auf Bundesebene. Der nur indirekten Legitimation
des Parlamentarischen Rates (Wahl durch die Landtage) entsprach die Notwendigkeit,
das Grundgesetz durch die Landesparlamente ratifizieren zu lassen, was die souveräne
nationale Konstituante von Weimar entschieden ablehnte
19 Regierung der Volksbeauftragten, Bd. 2, S. 323 ff
20 Vgl. dazu das Protokoll der Kabinettssitzung vom 31.1..1919, ebd., S. 355 ff.
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21 Verhandlungen der Nationalversammlung, Bd.325; S.1ff. (auch in: Ursachen und
Folgen Bd 3, S. 247 ff.)
22 Ebd., S. 40.
23 Den Wortlaut der Weimarer Reichsverfassung (WRV) siehe unten S. 176ff.
24 Verhandlungen der Nationalversammlung, Bd. 325, S: 284ff. und 371ff. (Die Rede
von Preuß auch n: Ursachen und Folgen, Bd. 3, S. 440ff.)
25 Ebd., S. 374
26 Die Debatten des Verfassungsausschusses sind veröffentlicht. ebd., Bd. 336. Vgl.
ferner Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, 1964, S. 86-121
27 Dazu insbesondere Potthoff, 1972, S. 461ff.
28 Verhandlungen der Nationalversammlung, Bd.., 327, S. 1224ff. Zur Haltung der
SPD vgl. auch Potthoff, 1972, S. 462f.
29 Vgl. dazu neben Apelt, a. a. Q., S. 108 ff. vor allem G. Anschütz, Die Verfassung
des Deutschen Reiches, 1965, S. 508ff. Dort auch das Zitat von Naumann
30 Vgl. dazu vor allem Potthoff, 1972, S. 476ff.
Literatur
Gerhard Anschütz: Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919. Ein
Kommentar. Nachdruck der 14. Aufl. 1933, Darmstadt 1965
Willibald Apelt: Geschichte der Weimarer Verfassung, München 1964
Wolfgang Elben: Das Problem der Kontinuität in der deutschen Revolution. Die Politik
der Staatssekretäre und der militärischen Führung vom November 1918 bis Februar
1919, Düsseldorf 1965
Ulrich Kluge: Die deutsche Revolution 1918/19. Staat, Politik und Gesellschaft,
zwischen Weltkrieg und Kapp-Putsch, Frankfurt/Main 1985
Susanne Miller/Gerhard A. Ritter (Hrsg.): Die deutsche Revolution 1918/1919.
Dokumente. 2. erweiterte Auflage, Hamburg 1975
Wilhelm Mommsen: Deutsche Parteiprogramme, München 1960
Wolfgang J. Mommsen: Max Weber und die deutsche Politik 1890 -1920, Tübingen
1959
Wolfgang J. Mommsen: Zum Begriff der "plebiszitären Führerdemokratie" in: ders.,
Max Weber. Gesellschaft, Politik und Geschichte, Frankfurt 1974, S. 44 - 71
Heinrich Pottboff: Das Weimarer Verfassungswerk und die deutsche Linke, in: Archiv
für Sozialgeschichte XII, 1972, S. 433 - 483.
Hugo Preuß: Staat, Recht und Freiheit, Tübingen 1926 (Neudruck 1964)
Gerhard Schulz.: Zwischen Demokratie und Diktatur. Verfassungspolitik und
Reichsreform in der Weimarer Republik, Berlin 1963, 2. Aufl. Berlin 1987
144
Susanne Vestring: Die Mehrheitssozialdemokratie und
Reichsverfassung von Weimar 1918/1919. Münster 1987
die
Entstehung
der
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