seitenbühne 03.04 - Staatstheater Hannover

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Das Journal der Staatsoper Hannover
seitenbühne 03.04
01
oper
Proszenium
Ob man anders kann,
als man denkt?
Über 100 Dramaturgen, Regisseure, Komponisten, Musiktheaterpädagogen und Künstler aus
ganz Deutschland diskutierten im November 2009 in Mannheim bei einer Tagung mit dem
Titel »Erstes Symposium zum zeitgenössischen Musiktheater für Kinder« zwei Tage lang die
Frage: »Welches Musiktheater brauchen Kinder?« Aufbruchstimmung auch bei der Gründung
des Ausschusses »Musiktheaterpädagogik« unter der Schirmherrschaft des »Bundes­verbandes
Theaterpädagogik« oder bei der Initiative »Musikland Niedersachsen«, angestoßen vom Ministerium für Wissenschaft und Kultur in Niedersachsen, die sich vor allem auch die Musikvermittlung auf ihre Fahnen geschrieben hat. Zudem »sprießen« bundesweit neue Angebote
und eigenständige Sparten unter der Rubrik »Junge Oper« aus dem Boden, wobei auch die
etablierten Einrichtungen beständig wachsen.
Die Floskel, dass Musikvermittlung eigentlich jeder nötig hat oder keiner, ist allgemein bekannt. Optimistischer ausgedrückt: Musikvermittlung schärft die Sinne. Wenn es um Musikvermittlung geht, denkt man gerne in erster Linie an Kinder und Jugendliche. Doch gerade
die besonders jungen Kinder bedürfen mitunter viel weniger einer speziellen Vermittlung,
da sie ungewohnten Klängen oft viel unbefangener gegenüber treten. Brauchen und wünschen sich nicht auch viele Erwachsene musikvermittelnde Projekte?
Die große Nachfrage an unserem Hause nach einem generationsübergreifenden Projekt in
der Jugendclubszene in der vergangenen Spielzeit, das stets ausgebuchte tanzpädagogische
Projekt »Die Spätbewegten« und auch der überbelegte VHS-Kurs zu Wagners Das Rheingold
bezeugen diesen Wunsch.
Musikvermittlung kann Ohren öffnen für moderne und klassische Werke. Aber vor allen
Dingen kann Musikvermittlung das nicht analytisch rational erklärbare Element der Musik
– die Emotion – erfahrbar machen.
Musik lässt einen intuitiven Zugang zu, sie ist eine Sprache jenseits der Sprache. Musik kann
direkt in den Körper eindringen. Musik ist ein Gestaltungsmittel, das Szene und Text vorausgreift, unterwandert, niemals nur illustriert, sondern vielmehr erweitert.
Es wird immer wieder behauptet, dass Oper durch ihre Art, Geschichten zu erzählen – Menschen singen in den unmöglichsten Situationen eine höchst komplizierte Musik – artifiziell
ist, nicht jugendtauglich und fremd. Doch liegt in dieser Fremdheit nicht eine Chance für
junge Menschen, und eigentlich auch für uns alle? Michel Foucault schreibt in der Einleitung
zu Der Gebrauch der Lüste, Motiv seiner Arbeit sei die Neugierde, »nicht diejenige, die sich
anzueignen versucht, was zu erkennen ist, sondern die, die es gestattet, sich von sich selbst
zu lösen. Es gibt im Leben Augenblicke, da die Frage, ob man anders kann, als man denkt,
und anders wahrnehmen kann, als man sieht, zum Weiterschauen und Weiterdenken unentbehrlich ist.«
Als Musiktheaterpädagogin möchte ich Sie alle immer wieder dazu anregen, sich neugierig
auf das Abenteuer Musiktheater mit all seinen spannenden und fremden Seiten einzulassen.
Um gemeinsam herauszufinden, »ob man anders kann, als man denkt«!
Ihre
Gundel Gebauer
Musiktheaterpädagogin
o
02.03
oper
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Blue
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Fotografen Marek Kru
Impressionen unseres
oper
Wir danken unseren Hauptsponsoren
04.05
Ballett
»Die alten Frauen darf man
nicht reizen: den Ruf der
jungen machen ja sie.«
Madame de Merteuil
Brigitte Knöss
DIE FRAUEN UND DIE TUGEND
Zur Uraufführung des Balletts Gefährliche Liebschaften von Jörg Mannes
Der Briefroman war die populäre literarische Form im 18. Jahrhundert. Wenn – wie
in Les Liaisons dangereuses von Choderlos
de Laclos – eine sozusagen mehrstimmige
Variante gewählt wird, können die geschilderten Ereignisse von diversen, sogar
gegensätzlichen Standpunkten aus betrachtet werden. Unvermittelt nebeneinander gestellt ergeben sich daraus überraschende Veränderungen der Perspektive
und der individuellen Wertung. Der Leser
wird mit der Subjektivität der Wahrnehmung und Deutung diverser Briefschreiber
konfrontiert und muss sich daraus selbst
sein Bild der Gesellschaft und der Vorkommnisse zusammensetzen. Der Autor
bietet ihm keine Identi­fikationsfigur an,
nicht einmal eine eindeutige Perspektive
der handelnden Personen. Die Absender
wechseln – je nach Adressat – ihre Haltung
und schildern dieselben Ereignisse mit völlig
unterschiedlichen Intentionen. Mit diesem
erzählerischen Kunstgriff spiegelt Laclos einen grundsätzlichen Zug der Gesellschaft
seiner Zeit: Hinter der Fassade zur Schau
gestellter Moral verbirgt sich ein Geflecht
aus Falschheit und Verderbtheit. Tugend ist
ein zentrales Thema dieser Epoche, im Roman dargestellt an den beiden kontrastie-
renden weiblichen Hauptfiguren der Marquise de Merteuil und der Präsidentin de
Tourvel.
Drahtzieherin und Zentrum des Geschehens
ist die Marquise de Merteuil. Nach außen
eine schöne und moralische, von der Gesellschaft geachtete Frau, ist sie in Wirklichkeit
äußerst frivol. Gleich zu Beginn will sie ihren
ehemaligen Liebhaber, den Comte de Gercourt, zum Gespött von Paris machen und
zwar mit Hilfe eines weiteren Ex-­Geliebten,
dem Vicomte de Valmont. Er soll die Pläne
Gercourts durchkreuzen, eine jungfräuliche
Klosterschülerin zu heiraten, indem er der
Braut vor der Hochzeit die Unschuld raubt.
Der Vicomte hat allerdings andere Prioritäten, denn sein derzeitiges Interesse gilt der
Präsidentin de Tourvel, deren legendärer
Ruf der Tugendhaftigkeit seine Verführungskünste reizt. Trotzdem gibt er aber zu erkennen, dass ihn eine Wiederaufnahme der
intimen Beziehungen zu Merteuil durchaus
interessiert. Dies macht sich die Marquise
zunutze, indem sie Valmont eine Liebesnacht in Aussicht stellt, wenn er die spröde
Tourvel zum Ehebruch bewegen kann. Indem sie einen schriftlichen Vollzugsbeweis
von ihm fordert, gelingt es ihr, in das folgende Geschehen einbezogen zu werden.
Valmont berichtet ihr laufend über seine
Fortschritte – und Rückschläge, und so wird
die Marquise zur Zeugin dieser Eroberung.
Merteuil versteht es, die Spielregeln ihrer
Gesellschaft zu akzeptieren und sie gleichzeitig zu unterlaufen. Dabei ist sie sich immer bewusst, dass sie als Frau nie offen gegen das Gebot der Tugend verstoßen darf.
Sie ist einerseits so emanzipiert, gleiches
Recht wie die Männer zu beanspruchen,
und andererseits so raffiniert, dass es ihr
gelingt, insgeheim ihre Leidenschaften auszuleben. Gleichzeitig reicht ihr Kalkül auch
noch dafür, sich der nötigen Druckmittel gegen ihre Liebhaber zu versichern, um einer
öffentlichen Bloßstellung zu entgehen.
Ganz anders ist die empfindsame Präsidentin de Tourvel, die ihre Seelenruhe in einem
Leben ohne Höhen und Tiefen gefunden
hat. Ehrlich und aufrichtig ist sie ihrem –
geschäftlich abwesenden – Mann treu verbunden und sucht die Zurückgezogenheit
auf dem Land bei ihrer mütterlichen Freundin Madame de Rosemonde. Diese alte, immer noch bezaubernde Dame »hat noch ihr
volles Gedächtnis und ihre Munterkeit. Nur
ihr Körper ist vierundachtzig Jahre alt; ihr
Geist nur zwanzig«. Als Tante Valmonts fällt
es Rosemonde zu, Tourvel mit ihrem Neffen
Ballett
zusammenzuführen. Der Vicomte, von der
Idee besessen, die tugendhafte Schöne zu
gewinnen, quartiert sich ebenfalls auf dem
Landgut ein. Als Spieler und Meister der
Verstellung gelingt es ihm, sich – konträr zu
seinem Ruf der Verderbtheit und Skrupellosigkeit – als mildtätig und reuevoll zu präsentieren. Trotz eindringlicher Warnungen
ihrer Freundin Madame de Volanges erliegt
Tourvel schließlich seinen Verführungskünsten. Sie entdeckt die Leidenschaft und erfährt so eine bisher nicht gekannte Form der
Liebe. Hin und her geworfen zwischen der
Unbeherrschbarkeit ihrer Gefühle und der
Reue sucht sie den Beistand Rosemondes,
die sich nicht nur als verständnisvoll, sondern auch als abgeklärt erweist. Vermutlich
hat die alte Dame selbst einmal Leidenschaft
erfahren, aber sie ist überzeugt, dass die
Liebe statt des erhofften Glücks letztlich immer Unglück bringt und deshalb nie den
Ausschlag im Leben einer Frau geben dürfe.
Auch wenn sie glaubt, dass wahre Gefühle
nur vor Gott verantwortet werden müssen,
weiß Rosemonde, dass die Aufrechterhaltung der weiblichen Tugend oberstes gesellschaftliches Gebot bleibt.
Am Ende des Romans, nachdem Merteuil
verschwunden und Tourvel tot ist, gerät Rosemonde ins Zentrum des Briefromans. Alle
Korrespondenz läuft bei ihr zusammen,
doch ihre in einem langen Leben geschulte
Diskretion gebietet ihr, gewisse Informationen für sich zu behalten, die zur endgültigen Klärung der Geschehnisse beitragen
könnten.
Gefährliche Liebschaften
Ballett von Jörg Mannes (Uraufführung)
nach dem gleichnamigen Briefroman von Pierre
Ambroise François Choderlos de Laclos
Musik von Mark Polscher (UA), Georg Friedrich Händel
und Antonio Vivaldi
Musik alische Leitung
ographie
Jörg Mannes
Fischer-Dieskau
maturgie
Toshiaki Murakami
Bühne und Video
Chore-
Mathias
Alexandra Schiess
Kostüme
Dra-
Brigitte Knöß
Ballett der Staatsoper Hannover, Niedersächsisches
Staatsorchester Hannover,
Mezzosopran
Julia Fay-
lenbogen / Khatuna Mikaberidze / Monika Walerowicz
Öffentliche Generalprobe
Premiere
3. März 2010, 18.30 Uhr
4. März 2010, 19.30 Uhr
06.07
Ballett
Jörg Mannes suchte für die Besetzung der Madame de Rosemonde eine reife Frau mit Ausstrahlung und Bühnenerfahrung – und fand Ingrid Laski-Witt. Mit neun Jahren begann Ingrid Laski-Witt zu tanzen, seit ihrem 14.
Lebensjahr stand sie auf der Bühne, mit 18 bekam sie ihr erstes Solo, ihre letzte Rolle war Effie in La Sylphide. »Ab
dreißig machte der Körper nicht mehr so mit, und ich wünschte mir ein Kind.« Zwei Gründe, sich ohne Reue von
ihrer Tänzerinnenkarriere zu verabschieden. Ihr Sohn wurde geboren, sie machte eine Pädagogen-Ausbildung und
gründete ein paar Jahre später – zusammen mit ihrem Mann – ihre Ballettschule in Laatzen, die sie bis heute mit
Begeisterung leitet. Jetzt kehrt Ingrid Laski-Witt auf die Bühne zurück, »staunend«, wie sie sagt, »darüber, dass ich
die alltäglichen Anstrengungen des Tänzerlebens vergessen hatte, und auch über die große Energie, über die ich
wohl einmal verfügt haben muss, um all das zu meistern«. Sie liebt die schöne und harmonische Atmosphäre im
Ballettsaal, die fließenden Bewegungen in Jörg Mannes’ Choreographie und die Herausforderung, die berühmte literarische Vorlage durch Bewegungssprache auszudrücken.
Musikalisch wollte Jörg Mannes für Gefährliche Liebschaften die Synthese zwischen Alter und Neuer Musik. Zu
Orchesterwerken und Arien von Georg Friedrich Händel und Antonio Vivaldi entstand eine Auftragskomposition von
Mark Polscher, in der sich Konkrete und Elektronische Musik, Live-Aufführung und Einspielung zu einem komplexen
musikalischen Ereignis verbinden. Mark Polscher studierte Fagott, er konzertierte als Saxophonist und Flötist
mit internationalen Jazz- und Rockbands, leitete verschiedene Ensembles, unterrichtete an Musikschulen, gründete
seine eigene Schallplattenfirma, realisierte Musik für 500 Folgen einer täglichen Fernsehshow, wirkte als Studiomusiker bei zahlreichen Schallplatten- und Rundfunkaufnahmen mit und veröffentlichte seine eigenen Werke auf
Tonträger. Polscher studierte Komposition bei Karlheinz Stockhausen. Darüber hinaus hat er über 60 Theater- und
Filmmusiken komponiert die sich in konzertanter Fassung im Repertoire verschiedener internationaler Ensembles
finden. Ein großer Teil seiner Werke ist als Szenische Musik mit elektroakustischer Aufführungspraxis konzipiert. Im
März 2010 erscheint seine CD Anakoluth. Weitere Informationen unter www.markpolscher.de.
Oster-tanz-tage 2010
26. März. bis 5. April 2010 im Opernhaus
Zum siebten Mal finden die Oster-Tanz-Tage an der Staatsoper Hannover statt und verwandeln Hannover für eine Woche in eine Tanzstadt. Am Anfang des Festivals steht eine Ausstellungseröffnung:
Ab dem 26. März wird im Opernhaus die zweite Folge der Ausstellung »Tanzstadt Hannover« gezeigt, die die Tanzgeschichte Hannovers anhand von Plakaten dokumentiert.
Am Karfreitag findet traditionell ein renommiertes internationales
Gastspiel statt. Am 2. April 2010 tanzt eine der jüngsten und aufregendsten europäischen Compagnien in Hannover: die Dansgroep
Amsterdam. Anfang 2009 wurde sie von den beiden renommierten
Choreographen Krisztina de Châtel und Itzik Galili als Compagnie für
zeitgenössischen Tanz gegründet. In Hannover zeigen sie ihre neueste Produktion Raak, mit drei Choreographien von Châtel, Galili
und der Israelin Liat Waysbort.
Karsamstag und Ostersonntag (3./4. April) veranstaltet die Ballett
Gesellschaft Hannover e.V. den 24. Internationalen Wettbewerb
für Choreographen und bringt den Choreographen-Nachwuchs aus
der ganzen Welt in die niedersächsische Landeshauptstadt.
Zwei Vorstellungen des Balletts der Staatsoper mit dem neuen Ballett Gefährliche Liebschaften von Jörg Mannes am 26. März und 3.
April und der Ballett-Kindertag am Ostermontag, den 5. April mit
einer Kindervorstellung von Jörg Mannes’ Nussknacker und Mausekönig runden das Programm ab.
Freitag, 26.03.10, 18.00 Uhr
Eröffnung der Ausstellung »Tanzstadt Hannover II: Pla-
katieren verboten!« 19.30 Uhr Gefährliche Liebschaften Ballett von Jörg Mannes
K arfreitag, 02.04.10, 19.30 Uhr
Dansgroep Amsterdam (Gastspiel)
Karsamstag, 03.04.10, 14.30 Uhr 24.
Internationaler Wettbewerb für Choreographen:
Vorrunde I 20.30 Uhr Gefährliche Liebschaften Ballett von Jörg Mannes
Ostersonntag, 04.04.10, 24.
14.30 Uhr Vorrunde
Ostermontag, 05.04.10
15 Uhr
Internationaler Wettbewerb für Choreographen
II 19 Uhr Finale
Ballettkindertag: Präsentationen der Ballettworkshops
Öffentliches Training
16 Uhr
Nussknacker und Mausekönig für Kinder
anschließend: Schneeflockentanz mit 200 Kindern auf der Bühne
abend im Opermhaus: Singin’ in the Rain (USA 1952)
20 Uhr
Film-
oper
Neue Presse, 01.02.10
»Packende Parabel auf den alles zerstören­
den, verbrecherischen Willen zur Macht.«
Hannoversche Allgemeine
Zeitung, 01.02.10
Brigitte Hahn »zeichnete mit großer Intensität in Klang und Darstellung die zunehmend
in ihrem Wahn gefangene Lady Macbeth.«
www.opernnetz.de, 01.02.10
»Brian Davis gibt den Macbeth mit überzeugenden Zwischentönen [...]. Shavleg Armasi
nutzt die relativ kurze Partie des Banco, um
seinen klangschönen, voluminösen Bass in
absoluter Bestform zu präsentieren und sich
einen verdienten persönlichen Triumph zu
ersingen.«
Macbeth
Oper von Giuseppe Verdi
in italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln
Musik alische Leitung
Lutz de Veer
Inszenierung
Frank Hilbrich
Volker Thiele
Kostüme
Bühne
Olaf
Habelmann Chor Dan Ratiu Dramaturgie Sylvia Roth
Macbeth
Stefan Adam/Brian Davis
Brigitte Hahn
Banco
Lady Macbeth
Shavleg Armasi/Young Myoung
Kwon Macduff Young-Hoon Heo/Latchezar Pravtchev
Malcolm
Bogdan Secula/Ivan Turšić
Anke Briegel /Vera Balzer
Arzt
Kammerfrau
Young Myoung
Kwon/Peter Michailov
Chor und Extrachor der Staatsoper Hannover
Niedersächsisches Staatsorchester Hannover
Vorstellungen 5.,
9., 25., 28. und 31. März, 11., 14.
und 23. April, 8. Mai 2010
08.09
oper
Ulrich Lenz
Gefangen in der Warteschleife
Eine absurde Oper über eine gescheiterte Reise
Dorothea Hartmann
Lost in travelling ...
»Sehr geehrte Fahrgäste! Aufgrund unvorhergesehener Störungen im Betriebsablauf
verschiebt sich die Weiterfahrt aller Züge
auf unabsehbare Zeit. Wir bitten um Ihr Verständnis!« – Schon mal irgendwo gehört,
oder? Und dann sitzt man da in der Kälte,
der Heimat ebenso fern wie dem Zielort seiner Reise, und grübelt mangels anderer Beschäftigung über die Art jener mysteriöser
Störungen, von denen da die Rede war und
die so unvorhergesehen, einer unbekannten
höheren Fügung Folge leistend, über uns
hereingebrochen sind und die Zeit zu einem
endlosen und gleichförmigen, weil unabsehbaren Kontinuum gemacht haben. Nicht
nur die Züge, auch die Zeit scheint still zu
stehen oder sich in einem endlosen Kreis zu
drehen. »Und täglich grüßt das Murmeltier«
– »Lost in travelling«!
Ganz ähnlich ergeht es den Protagonisten in
Gioacchino Rossinis Il viaggio a Reims: Nach
Reims soll die Reise gehen – doch kommt
keiner der Reisenden je dort an! Ein Stück
surrealistisches Theater ist das, was Rossini
da im Jahre 1825 im Théâtre-Italien in Paris
zur Uraufführung brachte, des Komponisten
letzte italienische Oper, geschrieben aus
Anlass der Krönungsfeierlichkeiten für König
Charles X. von Frankreich.
Der besondere Anlass rechtfertigte auch einen besonderen Plot, und so stand weniger
eine herkömmliche Handlung im Mittelpunkt
des Interesses von Rossini und seinem Librettisten Giuseppe Ballochi als vielmehr
die Absicht, den Gesangsstars des ThéâtreItalien ihre jeweiligen Rollen auf den Leib
zu schreiben und aus der »Krönungsoper«
nicht zuletzt ein Fest der Stimmen zu machen. Und da also auf einen Handlungsverlauf keine Rücksicht genommen werden
musste, konzentrierten sich Rossini und sein
Textdichter mit all ihrem Witz und ihrer Ironie auf die Charakterisierung der spleenigen
Reisenden aus ganz Europa, die letztlich nur
eines verbindet: dass sie alle nach Reims
wollen, aber nicht dorthin kommen – »Lost
in travelling«!
Mit den breit angelegten, höchste stimmliche Anforderungen stellenden Arien, in
denen die Protagonisten ihre (angesichts eigentlich unbedeutender Lappalien reichlich
übertriebenen) Emotionen mit großem Pathos ausstellen, schrieb der für seinen Humor weithin bekannte Rossini eine BuffaOper, die sich auf den zweiten Blick auch als
Parodie auf Starallüren und Diventum begreifen lässt. So stimmt die modebewusste
französische Gräfin von Folleville gleich zu
Beginn der Oper eine Klagearie an, die einer
griechischen Tragödin würdig wäre – und
das einzig und allein, weil ihr gesamtes Gepäck verloren ging und sie sich ihrer gesamten Garderobe beraubt sieht! »Reisen, o
Himmel, will ich«, singt die verzweifelte
Gräfin, »nun kann ich es nicht mehr. Das
verbietet mir meine Ehre! Ihr Frauen, ihr allein könnt meinen Schmerz verstehen!«
Welch Glück, dass der bemitleidenswerten
oper
Frau dann doch noch ein Hut, ein einziger
Hut geblieben ist, den sie mit demselben
Überschwang preist, mit dem sie zuvor ihr
Leid beklagt hat.
Lost in love!
Wer viel mit Bahn oder Flugzeug unterwegs
ist, der kennt nicht nur das Gefühl, ein Gefangener in der Warteschleife zu sein, sondern auch die seltsame zwischenmenschliche Dynamik, die eine Gruppe Wartender
bei zunehmender Aussichtslosigkeit auf eine
baldige Auflösung der Situation entwickelt:
Auf einmal kommt man mit wildfremden
Menschen ins Gespräch, fühlt sich angesichts der gemeinsam erduldeten Qualen zu
einer Leidensgemeinschaft zusammengeschweißt, je nach Situation – gerne fällt bei
derlei Gelegenheiten ja auch mal die Heizung aus! – kommt man sich vielleicht sogar
körperlich näher ...
Gleich zwei Mitwartende sind es, die in Rossinis Oper die polnische Marquise Melibea
mit dem Feuer ihrer Herzen wärmen wollen:
der russische Graf von Libenskof und der
Spanier Don Alvaro. Genauso feurig wie ihre
Herzen lodert allerdings auch ihre Eifersucht, und so kann eine Eskalation der Situation nur durch Opernstar Corinna verhindert werden, deren bloßes Erscheinen die
Aufmerksamkeit aller auf sich zieht. Tja,
auch Stars sind manchmal »lost in travelling«! Anders aber als Claudia Schiffer, die
unlängst als eine der ersten aus dem Eurotunnel gerettet wurde, während die meisten
anderen Passagiere bis zu 16 Stunden in
Eises­kälte ausharren durften, ist die Corinna
in Rossinis Il viaggio a Reims zum gleichen
Schicksal wie alle anderen Reisenden verdammt. Und hat wie die Marquise Melibea
ebenfalls alsbald zwei ganz besonders innige, wenn auch nicht ganz so ungestüme
Verehrer: Während sich der französische
Cavalier Belfiore der Angebeteten unter dem
Motto »Wahre Liebe leidet lustvoll« zu nähern versucht, verhindert die mit der Muttermilch eingesogene »feine englische Art«,
dass Lord Sidney anders als in entsagungs-
voller Ferne um seine Corinna schmachtet.
Bisweilen jedoch agiert ein solches Kollektiv
von Wartenden in der allgemeinen Verzweiflung völlig überraschend und ohne
vorherige Absprache auch als homogene
Gruppe, formiert sich zum Kampf gegen das
blinde, ungerechte Schicksal, will den »mysteriösen Störungen« auf den Grund gehen
und stellt dazu Flugpersonal oder Bahnschaffner – bisweilen auch unsanft – zur
Rede! Die Reisenden in Rossinis Il viaggio a
Reims hingegen haben sich längst in ihr
Schicksal ergeben und versuchen, das Beste
aus ihrer Situation zu machen. Wer weiß
schon, wann man die Reise wird fortsetzen
können! Besser, man macht es sich erst einmal gemütlich (So eine Nacht auf dem kalten
Boden einer Abflughalle kann mörderisch
sein!) und sucht nach einem unterhaltsamen
Zeitvertreib (Hat jemand Spielkarten dabei?
Oder kennen wir ein Lied, das wir gemeinsam singen können?). Die Reise nach Reims
– die ist auf jeden Fall »auf unbestimmte Zeit
verschoben«!
10.11
oper
Lost in library?
Auch Rossinis Partitur von Il viaggio a Reims
hat eine abenteuerliche Reise hinter sich, in
deren Verlauf sie für sehr lange Zeit in der
Warteschleife hing: Da sich der Komponist
bewusst war, dass dem Werk der besondere
Anlass seiner Entstehung und Uraufführung
– also die Krönung Charles‘ X. – in einer außergewöhnlichen Art und Weise eingeschrieben war, zog er die Oper nach nur vier
Aufführungen zurück und übernahm etwa
die Hälfte davon in die zwei Jahre später uraufgeführte Oper Le Comte Ory. Erst in den
70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts
fand man in Bibliotheken über ganz Europa
verteilt die fehlenden Quellen, um Il viaggio
a Reims wieder rekonstruieren zu können.
Federführend bei dieser Rekonstruktions­
arbeit waren die amerikanischen RossiniSpezialisten Janet Johnson (Herausgeberin
der Kritischen Ausgabe von Il viaggio a
Reims) und Philip Gossett. Dank ihrer unermüdlichen Recherche-Arbeit konnte die
verschollen geglaubte Oper 1984 beim Rossini-Festival in Pesaro unter der Leitung von
Claudio Abbado in ihrer originalen Gestalt
quasi ein zweites Mal uraufgeführt werden
– und das mit einem Erfolg, der bis heute
ungebrochen ist.
Der besondere Anlass seiner Entstehung,
der uns auch innerhalb des Werkes auf
Schritt und Tritt begegnet, war schon zu
Rossinis Lebzeiten historisch überholt. In
seiner humorvollen Schilderung der Absurditäten des Lebens und des Reisens (als Abbild des Lebens) und der Verrücktheiten von
willkürlich zusammengeworfenen Menschen aus ganz Europa, in einem surrealistisch anmutenden Tableau auf die Opern-
bühne gestellt, war der Meister aus Pesaro
jedoch seiner Zeit weit voraus – so dass er
alle Anschlusszüge bis heute locker erreicht.
»Bitte zurückbleiben! Türen schließen selbsttätig! Vorsicht bei der Abfahrt! Wir entschuldigen uns noch Mal für die Ihnen entstandenen Unannehmlichkeiten und wünschen
Ihnen eine gute Reise!«Kaiser A
Rossini-Spezialist zu Gast
in Hannover!
tlantis
Il viaggio a Reims
(Die Reise nach Reims)
von Gioachino Rossini
Dramma giocoso in un atto (1825)
in italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln
Gregor Bühl
Musik alische Leitung
Matthias Davids
Leo Kulaš
Bühne
Dramaturgie
Inszenierung
Marina Hellmann
Kostüme
Ulrich Lenz
Corinna
Karen Frankenstein/Dorothea Maria Marx
La Marchesa Melibea
Wale­rowicz
Julia Faylenbogen/Monika
La Contessa di Folleville
valier/Hinako Yoshikawa
Fuggiss/Ania Vegry
Il Cavaliere Belfiore
Il Conte di Libenskof
Tobias Schabel
Modestina
Carmen
Ivan Turšić
Lord Sidney
Frank Schneiders
Il
Shavleg Armasi Don Alvaro Jin-
Ho Yoo/Stefan Zenkl
Delia
Sung-Keun Park
Don Profondo
Barone di Trombonok
Kwon
Nicole Che-
Madama Cortese
Don Prudenzio
Anke Briegel
Young Myoung
Maddalena
Mareike Morr
Sandra Fechner Antonio Marek Durka/Pe-
ter Michailov
Chor der Staatsoper Hannover
Niedersächsisches Staatsorchester Hannover
Einführungsmatinee
28. März 2010, 11 Uhr
Öffentliche Generalprobe
Premiere
8. April 2010, 18.30 Uhr
10. April 2010, 19.30 Uhr
Der amerikanische Musikwissenschaftler
Philip Gossett ist einer der weltweit führenden Forscher auf dem Gebiet der italienischen Oper. Er war maßgeblich an der
Wiederentdeckung von Gioacchino Rossinis
Il viaggio a Reims beteiligt. Am Sonntag,
den 28. März, nimmt er an der Einführungsmatinee zur Neuproduktion teil. Einen Tag
zuvor (27. März, 17 Uhr) hält er in der Hochschule für Musik (Raum 202) einen Vortrag
(in englischer Sprache) über neu aufgefundene authentische Musik für ein scheinbar
bekanntes Werk: Giuseppe Verdis La forza
del destino (Die Macht des Schicksals). Der
Eintritt ist frei!
Kantinenplausch
Sylvia Roth
Der schönste Beruf der Welt
Kantinenplausch mit Carola Rentz
Sie ist die Seele des Ensembles. Nicht nur,
weil Carola Rentz seit über 30 Jahren an der
Staatsoper Hannover engagiert ist, sondern
auch, weil die sympathische Wolfsburgerin
vielen Kollegen eine wichtige Vertrauensperson in Fragen und Nöten aller Art ist.
Dabei träumte Carola Rentz eigentlich davon, Archäologin zu werden, denn nichts
faszinierte sie als Jugendliche so sehr wie
Völkerwanderungen und prähistorische
Funde. Doch da in ihrer Familie viel musiziert und gesungen wurde, kam alles anders. Ein Lehrer wurde beim Theaterspiel in
der Schule auf ihre Stimme aufmerksam und
fortan lief’s wie am Schnürchen: Ersten sporadischen Gesangsstunden folgte das Studium an der Musikhochschule in Hannover,
von wo aus sie noch als Studentin an die
Staatsoper engagiert wurde. Seit 1977 gehört sie zum hiesigen Ensemble und hat in
dieser Zeit nicht nur vier Intendanzen erlebt,
sondern weit über 100 Partien gesungen.
»Ich hatte immer das Glück, dass ich sehr
gefördert wurde und mich mit jeder Partie
weiterentwickeln konnte«, resümiert Carola
Rentz rückblickend ihre Laufbahn.
Es ist beeindruckend, welch immenser Erfahrungsschatz aus ihr spricht, denn viele
Opern kennt sie aus verschiedenen Perspektiven: Im Rheingold etwa hat sie zwei
Rheintöchter sowie Fricka und Erda gesungen, in Hänsel und Gretel sieben Jahre lang
den Hänsel und weitere fünfzehn Jahre lang
dessen Mutter. Bei alledem hat sie sich ihre
große Begeisterung für die Oper bewahrt,
und man glaubt es ihr sofort, wenn sie sagt:
»Wir haben den schönsten Beruf der Welt!«
Seit einigen Jahren gibt Carola Rentz ihr
Wissen weiter, indem sie Sprachcoaching
für die ausländischen Sänger des Ensembles
macht. Unermüdlich paukt sie den Umgang
mit Konsonanten, die unterschiedlichen Färbungen der Vokale oder die verschiedenen
Nuancen eines »chs«. Dabei hat sich Carola
Rentz die Disziplin und Gründlichkeit, die
sie von ihren Schützlingen fordert, immer
auch selbst abverlangt. Eine Partie erarbeitet sie sich, indem sie zunächst sehr genau
den Text liest, ehe sie sich ans Klavier setzt.
Nach und nach entsteht in ihrem Kopf ein
Bild von der Rolle, das bei den Proben durch
die szenischen Anregungen des Regisseurs
bereichert wird. Wenn eine Interpretation
ihren eigenen Vorstellungen zu sehr konträr
läuft, scheut sie sich aber nicht, sich abzugrenzen, denn, so sagt sie dezidiert: »Ich
bin keine Marionette.«
Glücksfälle bei der Arbeit mit Regisseuren
waren für sie in jüngerer Zeit Bernd Mottl, in
dessen Inszenierung von My Fair Lady sie
mit viel Humor das Fräulein Pearce spielt,
und Matthias Davids, mit dem sie die Rolle
der strengen Heilsarmee-Generalin Cart­
wright in Guys and Dolls entwickelte. Da sie
eine Sängerin ist, die das Darstellen ver-
schiedener Charaktere und das Sich-Verwandeln liebt, hat sie jede Figur gerne interpretiert. Besonders wichtig waren ihr
aber die Mignon aus Ambroise Thomas’
gleichnamiger Oper, die sie 1981 als ihre
erste große Partie sang, die Iokaste in Strawinskys Oedipus Rex und die Octavia in
Monteverdis L’incoronazione di Poppea.
So gewissenhaft sie ihren Beruf ausübt, so
experimentierfreudig ist Carola Rentz beim
Kochen. Am liebsten probiert sie verschiedene Gewürze aus, um ein- und demselben
Gericht dadurch eine völlig andere Note zu
geben. Für die orientalische Küche hat sie
ein besonderes Faible, sie isst gerne indisch,
chinesisch, neuerdings auch koreanisch.
Und wenn sie auf Reisen ist, dann flaniert
sie am liebsten durch Gewürz- oder Parfumstraßen, um die fremde Welt über den Geruchssinn zu erfahren. Beides, sowohl Singen als auch Kochen, hat für Carola Rentz
eben viel mit Genuss zu tun.
Spanische Hähnchenpfanne
Zutaten (für 4 Personen):
2 Brathähnchen__Salz, Paprika, weißer Pfeffer,
Oliven­öl (10 EL)__400 g kleine Schalotten__500 g
kleine, festkochende Kartoffeln__500 g Zucchini__
1 TL Thymian__1 Knoblauchzehe__1 Prise Zucker_
_½ EL trockener Weißwein__1 unbehandelte Zitrone__250 g Zuckermais
Hähnchen vierteln, waschen, trocknen, mit den Gewürzen einreiben. In einer ofenfesten Pfanne mit
der Hälfte des Öls braun anbraten, herausnehmen
und die geschälten Schalotten bräunen. Kartoffeln
schälen, halbieren, Zucchini in 2 cm dicke Scheiben schneiden und beides in die Pfanne geben. Mit
Salz, Pfeffer, Thymian und zerdrücktem Knoblauch
abschmecken. Wein und Hähnchenfleisch zufügen.
Zitrone abwaschen, in Scheiben schneiden und auf
die Fleischteile legen, mit restlichem Öl beträufeln.
Die Pfanne mit Alufolie abdecken, im heißen Ofen
(225 Grad) auf mittlerer Schiene 45 Minuten garen.
Dann Folie und Zitronenscheiben entfernen, abgetropften Mais dazugeben und weitere 10-15 Minuten überdeckt garen.
12.13
konzert
Hokusai: Die große Welle
Debussy verwendete diesen Holzschnitt
als Titelbild für eine Ausgabe von La Mer.
Dorothea Hartmann
Triumph der Farbe
Zwei Komponisten als Farbkünstler: Claude Debussy und Arnold Schönberg
Paris 1905
Im Rahmen der »Concerts Lamoureux« fand am 15. Oktober die Uraufführung eines neuen Orchesterwerks von Claude Debussy statt:
La Mer. Das Publikum war größtenteils enttäuscht, mehr noch: verwirrt und verärgert. Man hatte sich auf in Töne gefasste Wellen
gefreut, leicht kräuselnde oder vom Sturm gepeitschte. Doch: »Ich
höre das Meer nicht, ich sehe und rieche es nicht.« Ähnlich wie
dem Kritiker Pierre Lalo ging es vielen. Vergeblich suchte man in
Debussys Meereskomposition eine naturalistische, programmmusikalische Wiedergabe des Wassers, ja man suchte gar vergeblich
nach einer festen Gestalt, nach charakteristisch geformten Ideen
oder Melodien, an denen das Ohr sich hätte orientieren können.
Vielleicht lag es daran, dass der Verfasser bei der Komposition mitnichten Meersalz in den Haaren hatte, sondern ihn die Muse für
sein Wasserstück Hunderte Kilometer entfernt vom Strand im Burgund küsste? Der Komponist war sich dessen bewusst: »Sie werden
einwenden, dass der Ozean nicht gerade die burgundischen Hügel
umspült …! Aber ich habe unzählige Erinnerungen; meiner Ansicht
nach ist das mehr wert als eine Wirklichkeit, deren Zauber die
Phantasie gewöhnlich zu stark belastet.«
Debussy versuchte sich also erst gar nicht an einer Reproduktion
der Wirklichkeit. Dennoch liegen die Naturkräfte des Meeres der
Komposition strukturell zugrunde. Der erste Satz Von der Morgendämmerung bis zum Mittag auf dem Meer lebt von einer derartigen
Verflüchtigung des Klangs, dass das musikalische Tempo kaum
noch zu erfassen ist. Übergeordnete Formabschnitte scheinen nicht
vorhanden zu sein, stattdessen entstehen mit virtuoser Leichtigkeit
und unbekümmerter Spontaneität immer wieder aufs Neue Motivfetzen, Arabesken und glitzernde Girlanden, die sich überlagern
und vermischen. In unaufhörlichem Wechsel werden musikalische
Ideen geboren, hervorgehoben, zerstört und wieder aufgenommen
– die Bewegungen des Meeres sind in klangliche Äquivalente umgesetzt.
Mit den üblichen (analytischen) Begriffen lässt sich diese Musik nur
schwer in Worte fassen, und bis heute tut sich die Wissenschaft
schwer damit. »Sinfonische Skizzen« hat Debussy das Triptychon im
Untertitel genannt und damit zugleich seine Abwendung von der
traditionellen sinfonischen Form dokumentiert. »Ich möchte, dass
man – dass ich – zu einer Musik komme, die wirklich frei von musikalischen Motiven ist oder aus einem einzigen kontinuierlichen
Motiv gebildet ist, das durch nichts unterbrochen wird und niemals
zu sich selbst zurückkehrt.«
Im zweiten Satz Jeux des vagues – Spiel der Wellen ist Debussy
dieser Vorstellung wohl am nächsten gekommen: Es sind keine festen Themen oder Tonalitäten mehr auszumachen, stattdessen treibt
der Komponist sein Spiel mit dahinhuschenden Klängen. Selten
scheint diese Musik fixierbar. Kaum aufgeblitzt, entgleiten die
kurzen Motiv-Fetzen schon wieder. Schnelle Läufe, Harfen-Arpeggien, Triller, flirrendes Tremolo, Repetitionen, Wechselnoten – alles,
was einen Klang uneindeutig und instabil machen kann, ist konstitutiv für dieses musikalische Wellenspiel.
»Musik hat der Malerei voraus, dass sie alle Variationen von Farbe
konzert
und Licht auf einmal darstellen kann«, schrieb Debussy kurz nach
der Komposition von La Mer. Man könnte also auf den Komponisten
selbst zurückführen, dass die der Malerei entlehnten Kategorien
von Farbe und Licht immer wieder zur Analyse von Debussys Werken herangezogen werden: Mit Begriffen wie Totalmischung, Setzungsfarbe, Offene Farbe oder Gegenfarbe versucht man, die Musik
beschreibbar zu machen.
Das gesamte Orchester als Farbkasten des Komponisten: Klangfarbe und Instrumentation sind nicht mehr akzessorische Mittel zur
Verdeutlichung von Melodik oder Harmonik, sondern das Orchester
selbst wird mit seinen unendlichen Mischungsmöglichkeiten von
Farben und Klängen virtuos eingesetzt. Wie Lichtreflexe auf Monets
Seerosen-Bildern oder die unterschiedlichen Stimmungen von dessen Zyklus der Kathedrale von Reims erscheinen die musikalischen
Schattierungen. Diese Assoziationen mit den französischen Impressionisten liegen ebenso nahe, wie Debussy sich aufs Heftigste gegen
die Katalogisierung wehrte: Er habe versucht – schrieb er 1908 –
»etwas anderes zu machen, etwas, was die Dummköpfe ›Impressionismus‹ nennen.« Das griffige Etikett haftete dem französischen
Komponisten dennoch schnell an; vielleicht auch ein Mittel der Zeit­
genossen, der neuartigen Klänge besser Herr werden zu können.
Impressionismus
Versteht man unter »Impressionismus« einen atmosphärischen, zerfließenden, malerischen Charakter, wäre der Begriff in Bezug auf
Debussys Musik in der Tat zu kurz gegriffen und verfehlte ihren
Kern, der mitnichten vage ist, sondern sich aus – wenn auch molekül­
ähnlich kleinen – konstruktiven Elementen und Debussys berühmter »clarté« speist. Dennoch sind La Mer und andere Kompositionen des Franzosen zutiefst impressionistische: im Sinne des
veränderten Realitätsbegriffs jener Jahre. Seine deutlichste Formulierung erfuhr diese neue Form der Wirklichkeitsauffassung in den
Schriften des Wiener Philosophen und Physikers Ernst Mach, dessen Hauptwerk Die Analyse der Empfindungen die »Philosophie des
Impressionismus« genannt wurde – ein »Buch, das unser Gefühl der
Welt, die Lebensstimmung der neuen Generation auf das Größte
ausspricht« (Hermann Bahr). Nach Ernst Mach ist die »impressionistische« Welt eine, in der »das Ich sich auflöst. Alles ist nur eine
ewige Flut, die hier zu stocken scheint, dort eiliger fließt, alles ist
nur Bewegung von Farben, Tönen, Wärmen, Drücken, Räumen und
Zeiten, die auf der anderen Seite, bei uns herüben, als Stimmungen, Gefühle und Willen erscheinen.« Diese Vorstellung von der
Atomisierung des Menschen und der Welt in eine löchrige Kette
subjektiver Wahrnehmungen von »Farben, Tönen und Zeiten« – also
das Welt- und Menschenbild der beginnenden Moderne – findet
seinen Ausdruck auch in den »impressionistischen« Kompositionen
eines Claude Debussy, in denen Gestalten aufblitzen, ohne dass sie
sich mit anderen Gestalten zu einem Kontinuum zusammenschließen würden. Übergeordnete Formen und Strukturen zerfallen, und
Musik ist für Claude Debussy nichts anderes als »rhythmisierte Zeit
und Farbe«. (»Elle est de couleurs et de temps rythmés.«)
Wien 1909
Von einer völlig anderen Seite kommend wiederholte – nahezu
wörtlich – ein Wiener diese Worte wenige Jahre später: »Ich verspreche mir kolossal viel davon, insbesondere Klang und Stimmung.
Nur um das handelt es sich – absolut nicht symphonisch, direkt das
Gegenteil davon, keine Architektur, kein Aufbau. Bloß ein bunter,
ununterbrochener Wechsel von Farben, Rhythmen und Stimmungen.« Das enfant terrible des Wiener Musiklebens, Arnold Schönberg, berichtete hier von seiner jüngsten Komposition, den Fünf
Orchesterstücken op. 16. Die fünf Miniaturen, allesamt zwischen
zwei und fünf Minuten lang, bilden eine hochkomplexe Partitur, vor
der sogar Richard Strauss zurückschreckte: Die Uraufführung könne
14.15
konzert
er nicht dirigieren, weil diese »Stücke inhaltlich und klanglich so
gewagte Experimente sind, daß ich vorläufig es nicht wagen kann,
sie einem mehr als conservativen Berliner Publikum vorzuführen.«
In der Tat sind die Orchesterstücke von radikaler Neuartigkeit:
Schönberg eroberte mit diesem Werk klangliche Räume, die allen
– vom Dirigenten über Instrumentalisten bis zum Hörer – ein unbekanntes Terrain boten: »Ich strebe an: Vollständige Befreiung von
allen Formen. Von allen Symbolen des Zusammenhangs und der
Logik. Also: weg von der ‚motivischen Arbeit’. Weg von der Harmonie, als Zement oder Baustein einer Architektur.« Ähnlich wie wenige Jahre zuvor in Paris, wirft nun auch in Wien ein Komponist alle
traditionellen Bausteine über Bord, um eine einzige Kategorie zu
emanzipieren und ins Zentrum zu rücken: die musikalische Farbe.
Extreme und unerhörte Klänge schweben Schönberg vor. Er denkt
etwa an ein Pizzicato in vierfachem pianissimo, das er zudem präzisiert durch die Angabe »so schwach wie möglich«, oder an Kontrabässe in hoher Violinlage im fortissimo, die diese grellen Töne
zusätzlich »am Steg spielen« sollen. Mit Vortragsanweisungen ist
diese Partitur geradezu übersät, der Komponist kümmert sich mit
äußerster, ja penibelster Sorgfalt um die Farbschattierungen nahezu jeder einzelnen Note.
Die eigentliche musikalische Revolution findet im 3. Satz statt, den
der Komponist mit einem schlichten Farben übertitelte – und dieser
Titel ist wahrlich Programm: Zu hören ist nichts als Farbe, ein permanenter Wechsel des Klangs. Ein fünftöniger Akkord ändert in
immer neuen Beleuchtungen beständig die Schattierung.
Schönberg sei zu diesem Werk angeregt worden durch das Flimmern des Lichts auf der Wasserfläche des Traunsees, berichtet der
Schönberg-Schüler Egon Wellesz später. Schönberg widersprach
nicht, im Gegenteil: In einer Ausgabe von 1950 betitelte er den
Satz mit Sommermorgen am See. Diesen feinsten Farb-Klangabstufungen einer oszillierenden (Wasser-)Oberfläche sind Harmonik,
Rhythmus und Motiv untergeordnet, mehr noch: Schönbergs Traum
einer regelrechten »Klangfarbenmelodie«, einer Folge von Klangfarben, »deren Beziehung untereinander mit einer Art Logik wirkt, die
uns bei der Melodie der Klanghöhen genügt«, scheint in dieser
Komposition verwirklicht. In völlig neuartiger Weise fordert Schönberg – ebenso wie Claude Debussy – zu Beginn des 20. Jahrhunderts das musikalische Hören heraus: Die Reize für das Ohr werden
feiner, sensibel will jeder einzelne Klang, der sich in raffinierter
Abstufung vom vorherigen unterscheidet, wahrgenommen werden.
Und, um mit Arnold Schönberg zu schließen: »Welcher hoch entwickelte Geist, der an so subtilen Dingen Vergnügen finden mag!«
Farbkünstler im 6. und 7. Sinfoniekonzert
Von Berlioz bis Ravel und von Strauss bis Korngold: Den französischen Farbkünstlern des 6. Sinfoniekonzerts folgen die Wiener Klangfetischisten im April-Konzert. In die Farbpalette des
Niedersächsischen Staatsorchesters greifen zwei Dirigentinnen
der jüngeren Generation: Anu Tali, die von ihrer Heimat Estland
aus eine Aufsehen erregende Karriere startete, und die in Hannover bereits mehrfach gefeierte Amerikanerin Karen Kamensek,
die nach Stationen in Wien, Freiburg (Generalmusikdirektorin)
und Maribor zur Zeit Stellvertretende Generalmusikdirektorin
der Staatsoper Hamburg ist.
6. Sinfoniekonzert
Hector Berlioz Ouvertüre
Maurice Ravel
zu Benvenuto Cellini (1837)
Klavierkonzert G-Dur (1931)
Olivier Messiaen Le
Claude Debussy
Tombeau resplendissant (1931)
La Mer (1905)
Solistin
Evgenia Rubinova (Klavier)
Dirigentin
Karen Kamensek
Niedersächsisches Staatsorchester Hannover
Sonntag, 14. März, 17.00 Uhr
Montag, 15. März, 19.30 Uhr
7. Sinfoniekonzert
Franz Schreker Vorspiel
Arnold Schönberg
Franz Lehár
zu Die Gezeichneten (1915)
Fünf Orchesterstücke op. 16 (1909)
Fieber für Tenor und Orchester (1915)
Erich Wolfgang Korngold
Richard Strauss
Violinkonzert D-Dur op. 35 (1945)
Don Juan (1888)
Solisten
Herbert Lippert (Tenor), Sophia Jaffé (Violine)
Dirigentin
Anu Tali
Niedersächsisches Staatsorchester Hannover
Sonntag, 18. April, 17.00 Uhr
Montag, 19. April, 19.30 Uhr
Kurzeinführungen jeweils eine halbe Stunde vor Konzertbeginn
Orchester
Kerstin Dietl
Reingehört!
Die Streichinstrumente haben es ihm angetan. Schon im
Kindesalter wurde diese Faszination durch seinen Vater
geprägt. Peter Meier wuchs gemeinsam mit drei Brüdern
auf. Alle Jungen spielten ein Streichinstrument - drei
Geigen und ein Cello. Peter Meier gehörte zu den drei
Geigen, merkte jedoch bald, dass diese nicht das Instrument seiner Wahl ist. Und so begann er mit ca. 12 Jahren, seine Geige mit Bratschensaiten zu bespannen, um
mit seinen Brüdern Streichquartette spielen zu können.
Auf die Frage, wann für ihn fest stand, dass er sein Hobby zum Beruf machen möchte, antwortete er: »Den ersten
Flash hatte ich mit ungefähr 13 Jahren, als ich zum ersten Mal richtige Kammermusik spielte.« Etwa zwei Jahre
später war dann endgültig klar, dass er Berufsmusiker
werden würde. Es folgte ein Musikstudium in Hamburg
und Prag.
Musik spielt natürlich eine große Rolle im Leben eines
Musikers, privat hört Peter Meier allerdings eher wenig
Musik, da er unabhängig von dem Niedersächsischen
Staatsorchester Hannover noch viele Kammerkonzerte
gibt.
Wenn er aber doch mal eine CD auflegt, dann am liebsten eine Aufnahme der späten Beethovenquartette, gespielt vom Smetana-Quartett. Er beschreibt diese Aufnahme als »sehr genau und herrlich ausgearbeitet. Man
hört, dass sie viel Zeit investiert haben, als sie die Stücke
gearbeitet haben.« Dieses führt zu einer, wie Peter Meier
begeistert erzählt, perfekt aufeinander abgestimmten Interpretation mit blitzsauberer Intonation. »Es ist unglaublich edel und ehrlich musiziert. Es ist großartig, wie sie
alle Charaktere der Musik treffen.«
Probejahr
bestanden
bloggen über das
Staatsorchester
Lukas Klingler wurde 1986 geboren und studierte ab
2002 am Mozarteum Salzburg bei Daniel Bonvin. Klingler sammelte erste Orchestererfahrungen als Soloposaunist beim European Philharmonic Orchestra, bei der Internationalen Orchesterakademie Bayreuth, als Substitut
im Mozarteum Orchester Salzburg sowie als Aushilfe
beim Radio-Sinfonieorchester Wien und bei den Bamberger Symphonikern. Ab 2006 war er Stipendiat der
Orchesterakademie Münchner Philharmoniker und der
Herbert von Karajan-Akademie Berliner Philharmoniker.
Seit 2008 ist Lukas Klingler im Niedersächsischen
Staatsorchester Hannover engagiert – und er hat jetzt
sein Probejahr bestanden. Wir gratulieren sehr herzlich.
Zum dritten Mal begleiten Jugendliche aus Hannover
und Umgebung das Niedersächsische Staatsorchester
Hannover durch die Konzertsaison. audiamus – »Lasst
uns hören!« – heißt das Stipendium, in dessen Rahmen
15 Jugendliche Konzertproben besuchen, über Stücke
diskutieren, Dirigenten und Solisten kennen lernen und
eine Opernvorstellung im Orchestergraben verfolgen
können. Ihre Eindrücke schreiben sie auf und veröffentlichen sie im Blog des Staatsorchesters auf musiklandniedersachsen.de. Fünf Beiträge sind bisher zu lesen
unter:
www.musikland-niedersachsen.de/index.php?id=209
&uid=111&cHash=923fcd685d.
Die Aufnahme
Ludwig van Beethoven Streichquartette op. 95, 127,
130, 131, 132, 135; Smetana-Quartett (Supraphon, Reihe: Archiv)
16.17
Kinder
Ein grosses
Himmelsfest
Die Besucher der Macbeth-Premiere am 30. Januar
wunderten sich über die intergalaktische Ausstattung
der Opernfoyers ... aber nicht für das schottische Königsdrama aus der Feder von Giuseppe Verdi, sondern für das
Kinderfest »Planetenzauber« am darauffolgenden Tag hatte
sich das Opernhaus in eine Welt aus Himmelskörpern und
Raumfahrzeugen verwandelt.
2.400 große und kleine Gäste wurden in den zwei Vorstellungen des Kinderfests am 31. Januar in himmlische Weiten entführt: zunächst im Kinderkonzert des Niedersächsischen Staatsorchesters mit Heini, dem kleinen Vampir, dann beim großen Fest
in allen Foyers.
Da wurde gebastelt, gepuzzelt, getanzt und um die Wette gehüpft,
wurden Raumschiffe gestartet und Himmelsklänge erzeugt, unter
Sternbildern Instrumente ausprobiert, Frau Holle und der Schneekönigin ein Besuch abgestattet. Mit Hilfe aller Abteilungen des
Hauses entstand so ein üppiges, unvergessliches Fest im
Opernhaus, das mit der Ausstattung von Pablo
Mendizábal und unter der Produktionsleitung
von Cornelia Kesting-Then-Bergh alle Besucher begeistert hat. Eigentlich gab es
nur ein einziges Problem: Das Kinderfest
war schon im November ausverkauft.
Alle Interessenten für das Kinderfest
2011 sollten sich schon im Herbst 2010
um Karten kümmern!
Mit freundlicher Unterstützung
Kinder
Eva Bessert-Nettelbeck
Hinako Yoshikawa als Bubikopf, ein Soldat
Schüler entdecken Ullmann
Fünfzig Jugendliche warten im Zuschauerraum ehrfürchtig auf den Beginn der Probe.
Leise flüsternd machen sie sich gegenseitig
auf Details des Bühnenbildes aufmerksam:
All die Seile, die von der Decke baumeln, an
deren Enden Sänger in Fluggeschirren, wie
eben in der Vorbesprechung gesagt wurde,
hängen, geben dem Ganzen etwas von
einem Marionettentheater. Und was haben
die vielen Kartoffeln zu bedeuten, die die
Umrandung der Bühne säumen?
Da erscheint der Regisseur der Kammeroper
Der Kaiser von Atlantis Stefan Otteni am
Bühnenrand, der zu Beginn der Probenzeit in
Hannover den Wunsch äußerte, Jugendliche
für dieses sehr sensible Stück zu begeistern.
So entstand die Idee der heutigen, mit einem
Probenbesuch gekoppelten Matinee exklusiv
für Schüler. Bevor die Probe beginnt, richtet
der Regisseur noch einführende Worte an
die jungen Zuschauer: Geprobt wird in der
heutigen Bühnenorchesterprobe in Probenkostümen und ohne Maske. Auch an den
Lichtstimmungen kann sich bis zur Premiere
in sechs Tagen noch einiges ändern.
Dann wird es dunkel im Zuschauerraum und
das vereinzelte Geflüster weicht der Aufmerksamkeit auf das Bühnengeschehen. Die
Szene in der Mitte des Stücks ist einem Teil
der Jugendlichen bereits bestens bekannt,
denn Stefan Otteni besuchte kurz vor Weihnachten eine Probe des Jugendclubs der
Staatsoper, um mit den Teilnehmern gemeinsam eine Szene zu erarbeiten. Zufällig
steht genau jene Szene auch heute auf dem
Probenplan, für welche die in kleine Gruppen aufgeteilten Teilnehmer des Club XM
Wochen zuvor mittels szenischer Improvisation ganz individuelle Darstellungsformen
erfunden haben.
Aufmerksam verfolgen die jungen Zuschauer das Geschehen, die achtzehn Club-Mitglieder unter ihnen stellen sich insgeheim
die Frage, ob ihre eigene Szene Stefan Otteni vielleicht inspiriert haben könnte, während Hinako Yoshikawa und Jörn Eichler
sich den Kämpfenden am Boden entziehen
und, ihr Liebesduett singend, Richtung
(Bühnen-)Himmel entschweben. »Das muss
so irre anstrengend für die Sänger sein«,
entfährt es einer Zuschauerin anerkennend,
»echt krass!« Als am Ende der Probe der Tod
sein Versprechen einlöst, das Sterben wieder zuzulassen und sein erstes Opfer, der
Kaiser von Atlantis, die Augen schließt, kann
man im Zuschauerraum eine Stecknadel fallen hören. Nachdem das Ende der Probe
verkündet wird, dauert es eine Weile, ehe
die Zuschauer sich zögernd von ihren Plätzen erheben, um sich für das an die Probe
anschließende Gespräch mit dem Regisseur
hinter die Kulissen zu begeben.
Während Regisseur Stefan Otteni noch mit
seinem Team den Ablauf der nächsten Probe
bespricht, weicht die feierliche Ergriffenheit
der Zuschauer indes einem regen Gedankenaustausch zu dem eben Erlebten. Dann
kommt endlich der Regisseur dazu. In der
einstündigen Matinee werden nicht nur erste Eindrücke sondern auch sehr private Erfahrungen mit dem Tod ausgetauscht, die
betroffen machen und zum Nachdenken anregen. Als dann gegen Ende des Gesprächs
doch noch die Frage nach der Bedeutung
der Kartoffeln gestellt wird, spielt Stefan
Otteni den Ball zurück an die Jugendlichen:
»Was meint Ihr denn, was die Kartoffeln bedeuten?« Die Antwort kommt prompt: »Naja,
ich dachte, die Kartoffeln stehen für die
Menschen, die – wie ein paar der Kartoffeln
am Rand – versuchen, aus diesem System
auszubrechen oder zu fliehen.« Diese Antwort gefällt dem Regisseur sichtlich, und er
lässt sie gerne so stehen, denn letztlich »macht
erst die eigene Interpretation es so besonders, ein Stück auf der Bühne zu erleben.«
Der Kaiser von Atlantis
Oder Die Tod-Verweigerung
Spiel in einem Akt von Viktor Ullmann (1943)
Musik alische Leitung
rung
Toshiaki Murakami
Inszenie-
Stefan Otteni Bühne und Kostüme Anne Neuser
Choreographie
Emma Jane Morton
Dramaturgie
Dorothea Hartmann
K aiser Overall
Jin-Ho Yoo Der Lautsprecher Bryan
Boyce
Frank Schneiders
Der Tod
Eichler
Ania
Harlekin
Ivan Turšić
Vegry / Hinako
Ein Soldat
Jörn
Bubikopf, ein Soldat
Yoshikawa
Der Trommler
Mareike Morr. Statisterie der Staatsoper Hannover
Niedersächsisches Staatsorchester Hannover
Vorstellungen am 17.
2010, Ballhof Eins
und 28. März, sowie 11. April
18.19
Aus den Abteilungen
Sylvia Roth
Meister der vielen Knöpfe
Der Beruf des Inspizienten
Man kann sie als die heimlichen Chefs des
Opernhauses bezeichnen. Denn ohne sie findet keine Aufführung statt. Solange Iris an
Haack und Rudolf Jahn ihr O.K. vom Inspizientenpult aus nicht gegeben haben, darf
keine Vorstellung beginnen.
So, wie der Dirigent das Orchester leitet, koordinieren die Inspizienten die Geschehnisse
auf der Bühne. Im Dunkel der Seitenbühne
verborgen, hinter einem sperrigen, mit unzähligen Knöpfen bestückten Pult verschanzt,
drücken sie leuchtende Schalter oder sprechen mit gedämpfter Stimme geheimnisvolle
Anweisungen ins Mikrofon. Abend für Abend
setzen Iris an Haack und Rudolf Jahn hochkonzentriert die künstlerischen Ideen des
Regieteams um, indem sie dem Klavierauszug folgen, in den alle Verwandlungen, Versenkungs- und Podienfahrten auf die Achtelnote genau eingezeichnet sind. Dabei tragen
sie eine große Verantwortung: Nicht nur,
weil sie dafür da sind, die Sänger und Orchestermusiker rechtzeitig zu ihrem Auftritt
einzurufen – weshalb Iris an Haack ihren Beruf gerne mit den Worten »Ich bin die Stimme
aus dem Kasten an der Wand« beschreibt.
Sondern vor allen Dingen auch, weil sie da-
für sorgen müssen, dass alle Verwandlungen
so reibungslos passieren, dass keine Person
zu Schaden kommt. Und wenn es dennoch
Pannen gibt, gilt es, sie gemeinsam mit dem
Bühnenmeister und der Abendspielleitung
so schnell zu lösen, dass kein Zuschauer es
merkt. »Wir sind die Feuerwehr, wenn’s
brennt«, bringt Rudolf Jahn es auf den
Punkt.
Manchmal aber sind die Katastrophen so
groß, dass sie sich nicht unauffällig aus dem
Weg räumen lassen. Auf die Frage nach den
schweißtreibendsten Erlebnissen ihres Berufslebens erzählt Iris an Haack von einem
geistig umnachteten Mann, dem es gelungen
war, während einer Aufführung von Giselle
unbemerkt bis auf die Bühne vorzudringen,
von dort aus ins Parkett zu rennen, über die
Brüstung in den Orchestergraben zu klettern
und dem Dirigenten den Taktstock aus der
Hand zu nehmen, bis er endlich von einem
Notarzt gebremst werden konnte. Und Rudolf
Jahn erinnert sich, dass er Blut geschwitzt
habe, als es vor vielen Jahren in einer Meistersinger-Vorstellung eine Bombendrohung
gab: In der Pause suchte die Polizei mit Spürhunden den Zuschauerraum ab und stellte
fest, dass es glücklicherweise »nur« ein
falscher Alarm war ...
Aber nicht nur für den organisatorischen Ablauf sind die beiden Inspizienten von großer
Bedeutung – nein, auch für das Psychologische. Während der Vorstellung mutiert das
Inspizientenpult zum Ruhe- und Kraftzen­
trum der Bühne, die beiden Kollegen strahlen auch dann noch stoische Gelassenheit
aus, wenn es in ihrem eigenen Innern längst
tobt, sie beruhigen die Darsteller vor ihrem
Auftritt, haben immer ein ermutigendes Wort,
eine Umarmung und manchmal auch süße
Nervennahrung parat. Und wenn Rudolf
Jahn einen guten Tag hat, geht schon mal
seine poetische Ader mit ihm durch und die
Sänger erhalten ihre Einrufe in Versform ...
Für den Beruf des Inspizienten gibt es keine
Ausbildung, aber man kann diese Arbeit
nicht professionell ausführen, wenn man
nicht hautnah mit dem Theaterbetrieb vertraut ist. Während Iris an Haack lange als
Tänzerin auf der Bühne stand, sang Rudolf
Jahn im Opernchor. Wie sehr sie ihren neuen, zweiten Beruf mögen, wird im Gespräch
deutlich spürbar. »Ick liebe meine Sänger«,
berlinert Rudolf Jahn und witzelt weiter:
»Außerdem ist es doch Luxus, dass ich eine
komplette Vorstellung gratis kriege – wenn
auch nur von der Seite.« Und Iris an Haack ist
ebenfalls glücklich, dass ihr bei diesem Beruf
die Nähe zur Bühne geblieben ist. Vor allem
dann, wenn sie Ballettvorstellungen betreut
und in ihre »alte Welt« zurückkehrt, fühlt sie
sich bei der Arbeit »wie zu Hause«.
»Es ist 19.15 Uhr. Nur noch 15 Minuten bis
zum Beginn der Vorstellung«, meldet die
Stimme aus dem Kasten an der Wand. Wenn
um 19.30 Uhr der Vorhang hochgeht, dann
steckt bestimmt ein wacher Inspizientenkopf
dahinter.
Foyer
Swenja Schum / Steven Markusfeld
Wie wird man süchtig nach Ballett?
Zwei Schwestern, eine Leidenschaft: Marita
und Sylvia Kadlec schwärmen für Ballett.
Signierte Fotos, Plakate, Kostüme und Ballettschuhe mit persönlichen Widmungen
der Tänzer zieren die Wände ihrer Wohnung
in der Südstadt – alles Schätze, die sie über
die letzten Jahrzehnte gesammelt haben.
Und auch die Regale im Wohnzimmer sind
voll von Hunderten von Ballettbüchern,
Bildbänden und internationalen Ballettzeitschriften. »Auch wenn wir nicht alles verstehen, was da geschrieben steht – die tollen Bilder sind ja das Wichtige. Es geht ums
Schauen und Fühlen.«
Der große Stolz der Schwestern sind die
prachtvollen Ballettkostüme, die sie über
die letzten Jahrzehnte bei Kostümbasaren
erworben haben. »Ein richtiger Nahkampf!
Man musste bei den Basaren die Ellbogen
einsetzen und boxen können!«, erinnert sich
Sylvia Kadlec, die 1992 bis 2009 in der Personalabteilung der Staatstheater die Gäste
des Hauses betreut hat. »Meine Schwester
hat die ergatterten Kostüme mit ihren Armen umschlungen, damit sie niemand wegreißt, während ich nach weiteren Schätzen
gesucht habe.« Und weil die Kostüme in den
80er und 90er Jahren noch aus viel
schwereren Stoffen genäht worden seien
als heutzutage, sei ein Kostümbasar für beide körperlich anstrengend und erschöpfend
gewesen. Doch alle Mühe hat sich für die
Schwestern gelohnt – jedes Mal sei es ein
besonderes Erlebnis, wenn sie heute ein
Kostüm aus ihrem Fundus herausholen. »Da
bekommt man jedes Mal eine Gänsehaut. Es
ist, als wäre das Kostüm verschüttet gewesen und würde jetzt wieder zum Leben erweckt.«
Geweckt wurde ihre Leidenschaft schon in
der Jugend, als die Schwestern eine Tanzvorstellung im Ballhof besuchten, in der
Richard Adama als Tänzer mitwirkte. »An
den 5. März 1963 erinnern wir uns, als
wäre es gestern gewesen. Wir waren 14
und 15 Jahre alt und zunächst etwas skeptisch, aber nach der Vorstellung war es um
uns geschehen.« Aus dieser Mädchenschwärmerei für den späteren Ballettdirektor entwickelte sich in den folgenden Jahren eine Passion für Tanz, die ihr Leben
verändern sollte. »Damals haben wir nach
Vorstellungen oft lange in dünnen Kleidchen in der Kälte vorm Bühneneingang ge-
wartet, um ein Autogramm der Tänzer zu
bekommen. Heute stehen wir in den Autogrammpausen im Foyer Schlange, um eine
Unterschrift von unseren Lieblingstänzern
aus Jörg Mannes’ Ensemble zu ergattern!«
Um die Arbeit ihrer Idole hautnah verfolgen
zu können, scheuen die Kadlecs keinen
Aufwand: Sogar ins Ausland sind sie schon
gereist, um Stücke live zu erleben. »Als
Mehmet Balkan als Ballettdirektor nach Portugal gewechselt ist, haben wir uns trotz
unserer riesigen Flugangst zum ersten Mal
in ein Flugzeug gesetzt und sind zu seiner
ersten Premiere nach Lissabon gereist.« Von
den Choreographien der Ballettchefs an der
Staatsoper Hannover und international renommierter Gastchoreographen haben die
Kadlecs keine verpasst. »Es ist fantastisch,
dass man einmal im Jahr Werke von Künstlern wie Nacho Duato, Mats Ek oder William
Forsythe auf der Opernhausbühne sehen
kann!« Und auch wenn sich die Schwestern
nicht über alle Werke einig sind, gehen sie
doch immer zusammen zu Vorstellungen.
»Wir erfreuen uns an der Vielfalt des Balletts. Man muss einfach da sein, sonst verpasst man womöglich ein Meisterwerk!«
20
fundus
Zungenbrecher
Niedersachsens größter Poetry Slam!
Erstmals messen sich Dichter und Dichterinnen aus ganz Deutschland live und rasant
im Opernhaus. Was in anderen Städten
schon gang und gäbe ist, hat im Jahr 2010
im Opernhaus Hannover Premiere. Und das
gleich mit einem Superlativ: Niedersachsens
größter Poetry Slam ruft an die Mikrofone! Zu
einem Live-Wettbewerb, bei dem es Zungenbrecher, Textstakkatos und Silbensalti
hagelt und das Publikum über den besten
Beitrag des Abends entscheidet. Getreu dem
derzeit im Opernhaus gezeigten Musical My
Fair Lady, dessen Protagonistin Eliza Doolittle
an dem Zungenbrecher »Es grünt so grün,
wenn Spaniens Blüten blühn« verzweifelt.
Poetry Slam ist eine literarische Wettbewerbsform, bei der schlagfertige Poeten mit
selbst verfassten Texten innerhalb eines
Zeitlimits gegeneinander antreten. Die Textform ist frei wählbar: ob Geschichte, Gedicht,
A-Cappella-Rap, dadaistisches Lautpoem oder
gänzlich improvisiert – allein das gesprochene Wort zählt. Das Publikum bildet die
Jury und entscheidet darüber, wessen Beitrag
am mitreißendsten war. Ja, Literatur kann
man nicht bewerten. Aber wir tun‘s trotzdem.
Hannoveraner
unterwegs
Opernrätsel
Nicht nur Sänger können gastieren, auch
unsere Künstler hinter der Bühne sind an
anderen Theatern gefragt. Die Leiterin der
Beleuchtungsabteilung der Staatsoper, Su­
sanne Reinhardt, hat im Januar 2010 Monique Wagemakers Inszenierung von Verdis
Un ballo in maschera im holländischen Enschede beleuchtet und wird im Oktober
2010 mit Regisseur Christof Nel Elektra von
Richard Strauss am Grand Théâtre de Genève herausbringen.
Regieassistent Karsten Barthold, der im
Sommer 2009 von der Oper Köln an die
Staatsoper Hannover engagiert wurde, führt
derzeit am Theater Vorpommern Regie. Am
20. März hat seine Inszenierung der Zwanziger-Jahre-Revue Das gibt’s nur einmal in
Stralsund Premiere.
Mit Sebastian 23 (Bochum), Philipp Scharrenberg (Stuttgart), Julius Fischer (Leipzig),
Florian Cieslik (Köln), Nora Gomringer (Bamberg), Marlene Stamerjohanns (Wilhelmshaven), Dominik Bartels (Helmstedt) sowie
Tobias Kunze, Kersten Flenter, Henning
Chadde, Jan Egge Sedelies, Hauke Voß, Klaus
Urban und Kai Nesau (Hannover) u.a.
Sonntag, 21. März, 19.30 Uhr
Eintritt: 7 Euro
Für alle Besucher der Vorstellung My Fair Lady um
16 Uhr: 4 Euro
Eine Oper. Allen bekannt. Die Stoffvorlage verfasst von einem Schriftsteller, der überall in
der Welt bekannt ist, dessen Leben aber vielen Mythen unterliegt. Seien es Jahre, von denen niemand weiß, wo er war und was er machte, seien es Gerüchte darüber, dass er nie
gelebt habe und seine Werke von Dritten geschrieben wurden.
Die Oper selbst wurde fast eine Generation nach ihrer Premiere abgeändert und 1865 in
einer neuen Fassung uraufgeführt. Sie beginnt mit einer Schlacht, aus der der Protagonist
als Sieger hervorgeht. Doch bevor er nach Hause zurückkehren kann, begegnet er seinem
Wegweiser des Schicksals. Grenzgängerinnen bringen die Handlung in unsichere – und vor
allen Dingen blutige – Gewässer. Die Leichen häufen sich. Am Ende stürzt der Tyrann sich
in ein Blutbad von biblischen Ausmaßen.
In die Top Ten des von 3sat ausgestrahlten Programms hat sie es zwar nicht geschafft, doch
würde man die Oper in einschlägigen TV-Zeitungen wohl wie folgt bewerben: packender
Psychothriller mit kolossalem Tiefgang, i.d.R. mit viel Blut inszeniert, wortgewaltig, doch
auch mit gänzlich stummen Rollen, nicht geeignet für Zuschauer unter 16 Jahren.
Unsere Frage Wie heißt die Oper und wer hat sie komponiert? Ihre Lösung schicken Sie
bitte auf einer Postkarte bis Freitag, den 09.04.10 an die Staatsoper Hannover, Presse- und
Öffentlichkeitsarbeit. Opernplatz 1 . 30159 Hannover. Vergessen Sie nicht Ihren Absender!
Unter allen richtigen Einsendungen verlosen wir 5 x 2 Karten für die Premiere des Chorkonzerts Carmina Burana am Sonntag, den 25.04.10, 18.30 Uhr im Opernhaus.
Die Lösung des Opernrätsels aus der seitenbühne 01/02 2010: Wolfgang Fortner Die Bluthochzeit
Impressum Herausgeber Niedersächsische Staatstheater Hannover GmbH, Staatsoper Hannover, Opernplatz 1, 30159 Hannover Intendant Dr. Michael Klügl RedakDramaturgie, Öffentlichkeitsarbeit Gestaltung María José Aquilanti, Birgit Schmidt Druck Steppat Druck Fotos Christian Brachwitz (Titel, 17), Dorothea Hartmann
(18), Thomas Huppertz (15), Jörg Landsberg (7), Marek Kruszewski (2/3, 11), André Nieter (16), Swenja Schum (19), Gert Weigelt (5) und privat Titelbild Der Kaiser
von Atlantis, Frank Schneiders (Tod)
tion
»Hallo« heisst »Annyeong«
Sung-Keun Park, Jin-Ho Yoo, Young Myoung Kwon, Young-Hoon
Heo – häufigen Besuchern der Staatsoper Hannover werden diese
fernöstlichen Namen mit größter Leichtigkeit über die Lippen gehen, sind es doch die Namen der wertvollen koreanischen Stützen
unseres Ensembles.
Für Europäer ist es immer wieder ein Phänomen, dass die hiesige
Musiktradition so viel Begeisterung in Ländern wie Korea und Japan
weckt. Die Folgen dieser Begeisterung sind in ganz Europa augenscheinlich: kaum ein Orchester, kaum ein Opernensemble, in dem
nicht ein Musiker oder Sänger aus Fernost mitmusiziert. So liegt es
durchaus im Interesse europäischer Opernhäuser, die Beziehungen
zu Hochschulen in Korea und Japan zu intensivieren.
Auf eine Initiative von Sung-Keun Park, seit 2006 als Tenor im Ensemble der Staatsoper, hat nun Hannover einen ersten großen
Schritt in dieser Richtung getan und gemeinsam mit der Yon-Sei
University in Seoul ein Stipendiaten-Programm ins Leben gerufen,
das vorerst auf drei Jahre angelegt ist. So trafen am 9. Januar 2010
sechs Gesangsstudentinnen und vier Gesangsstudenten aus Seoul
in Hannover ein, um für drei Wochen das deutsche Opernsystem
genauer kennen zu lernen. Auf dem dicht gedrängten Stundenplan
standen nicht nur Besuche der Endproben von Macbeth, sondern
vor allem auch Unterrichtsstunden mit erfahrenen Sängerinnen und
Sängern des Hauses: Arantxa Armentia und Monika Walerowicz, Tobias Schabel und Frank Schneiders unterrichteten die Studierenden
in Gesang und Interpretation. Daneben gab es Sprachunterricht bei
Kammersängerin Carola Rentz und szenischen Unterricht bei Regieassistent Charles Ebert. Unermüdlichen Einsatz zeigte auch Korrepetitorin Min-Kyong Kim, die zehn Tage lang als Dolmetscherin einen
reichhaltigen Gedankenaustausch ermöglichte.
Die Ergebnisse ihrer 20-tägigen Arbeit präsentierten die Studentinnen und Studenten dann am 29. Januar im Rahmen eines kleinen
Abschlusskonzertes, zu dem auch die Professoren der Yon-Sei Uni-
versity, Herr Kwan-Dong Kim und Frau Hyun-Joo Chang, aus Seoul
angereist waren. Arien des italienischen Belcanto und viel Mozart
standen auf dem Programm. Und als am Ende des Konzerts die Universitätshymne mit viel Inbrunst angestimmt wurde, machte sich
ein wenig Wehmut breit, dass diese intensiven Tage nun schon
wieder vorbei waren. Die Studentinnen und Studenten beteuerten
immer wieder, wie viel sie gelernt haben und mit welcher Wärme
und Herzlichkeit sie in Hannover aufgenommen wurden. Für einen
der zehn gibt es sogar noch eine Fortsetzung: Er oder sie wird ab
Beginn der kommenden Spielzeit für ein Jahr zum Ensemble der
Staatsoper gehören und das deutsche Opernleben aktiv miterleben
und auch bereits mitgestalten können!
Und im kommenden Jahr werden erneut zehn Studenten nach Hannover kommen, um drei Wochen lang den deutschen Opernbetrieb
hautnah kennen zu lernen. Ensemblemitglied Sung-Keun Park
träumt indes schon ein bisschen weiter ... dass solche besonderen
Projekte nicht nur den Studenten einer Privat-Universität wie der
Yon-Sei University zugute kommen ... und dass sich die Verbindungen mit der Staatsoper eines Tages vielleicht auch auf Nordkorea ausdehnen lassen und so Sung-Keuns Leidenschaft, die Musik
und die Oper, einen kleinen Beitrag zur Völkerverständigung in seiner geteilten Heimat leisten kann.
Falls Sie die Staatsoper und die Yon-Sei University bei ihren ersten
Schritten auf diesem Weg unterstützen möchten, können Sie 2011
einen Studenten oder eine Studentin als Gastfamilie für drei Wochen bei sich aufnehmen. Wir werden rechtzeitig in der Presse darauf hinweisen. Interessenten können sich schon heute daran machen, ein wenig Koreanisch zu lernen: »Hallo« heißt »Annyeong«,
»Willkommen« »Eoseooseyo«. Ansonsten sollten Sie als treuer Opernbesucher zumindest die Namen der koreanischen Stützen unseres
Ensembles richtig aussprechen könnten: »Söng-Gön Park«, »TschinnHo Jo«, »Jang Mjong Kwon«, »Jung-Hun Heo«!
seitenbühne . März / April 2010
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