„Alla turca“ revisited oder Nachhaltige Friedenserziehung von Wolfgang Martin Stroh Mozarts „alla turca“, jenes Rondo aus der A-Dur-Klaviersonate KV 331, gehört zu den Lieblingen deutscher Musikpädagogik. Bruno Bermes und Wulf Dieter Lugert haben 1996 diesem attraktiven Stück eine ausführliche Abhandlung gewidmet, den musikalischen Hintergrund der Janitscharenmusik rekonstruiert und Schulklassen aufgefordert, das Klavierstück „alla giannizzari“ zu musizieren1. 1998 veröffentlichte Vladimir Ivanoff eine CD mit dem Titel „Alla Turca - L’ Orient Imaginaire“2, auf der nicht nur Mozarts Melodie auf türkischen Instrumenten gespielt (Hörbeispiel 6), sondern auch jene türkische Musik dargeboten wird, die im 18. Jahrhundert von Demetrius Cantemir (1673-1723) und Wojciech Bobowsky (1610-1675) am osmanischen Hofe gesammelt und (in einer eigenartiger Transkription) in Mitteleuropa bekannt gemacht wurde. Im April 2003 produzierte Ivanoff bei der Deutschen Grammophon eine CD mit dem Titel „dream of the orient“, um seine Botschaft moralisch zu verdeutlichen. Es spielen das Kammerorchester „Concerto Köln“ zusammen mit der multiethnischen Gruppe „Sarband“ im Wechsel „alla turca“Kompositionen okzidentaler Komponisten (Gluck, Kraus, Mozart, Abbildung 1: "Touristische" Janitscharenkapelle 1970 in Istanbul Süssmayr) und Rekonstruktionen der orientalischen Aufzeichnungen vom Schlage Demetrius Cantemirs. Dabei erscheint die abendländische Türkenmode als militant, klischeehaft und grob, während die türkische Kunstmusik mit Titeln wie „Einzug des Sultans“, „Marsch der Janitscharen“, „Tanz der Derwische“ friedfertig, vergeistigt und fein klingt. Es ist auch nichts von den martialischen Klänge zu hören, die Touristen in Istanbul von als Janitscharen verkleideten Big-Bands (Abbildung 1, Hörbeispiel3) vorgeführt bekommen. Bereits 1967 hatte Tilo Müller-Medek mit seiner „Battaglia alla turca“ für 2 Klaviere auf eine dritte Art Mozarts „alla turca“ musikalisch kommentiert, indem er versuchte, Mozarts verspielte Musik „auf ihre gesellschaftliche Wahrheit zurückzuführen“3. Müller-Medek: 2 „Hätte Mozart gewusst (er hätte es eigentlich wissen müssen), wie viele hunderttausend Menschen unter den Klängen derjenigen Musik, die er verniedlicht, im Laufe der Janitscharen-Raubzüge ermordet wurden, er hätte ihr sicherlich nicht jenen freundlichen Charakter verliehen“. Und Müller-Medek überlagert im Zuge seiner historisch-kritischen Rekonstruktion Mozarts Orientalismen zu einer dissonanten Collage (Abbildung 2). Abbildung 2: Tilo Müller-Medek "Battaglia alla turca" (1967) Diese drei Arten, sich mit der „alla turca“-Mode des 18. Jahrhunderts aus heutiger Sicht auseinander zu setzen, die lustvolle Rekonstruktion der janitscharischen Intonation von Mozarts Klavierstück ohne weitere Hinterfragung des polit-militärischen Kontextes im Klassenmusizieren, die Konfrontation des martialischen „alla turca“ der Wiener Klassiker mit einer verfeinerten „Originalmusik“ am osmanischen und die aufklärende Entlarvung des Ideologiegehalts von Mozarts „Verniedlichung“ der tatsächlichen politischen Umstände, die er „eigentlich“ gekannt haben muss, scheinen sich zu widersprechen. Oder verfehlen alle drei den musikpsychologischen Kern jener „alla turca“-Mode des 18. Jahrhunderts und geraten deshalb in Widerspruch zueinander? 3 Sensibilisiert durch den Ideologiegehalt des aktuellen „Orientbildes“ nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 und angesichts der psychologischen Kriegsvorbereitung und durchführung in den Jahren 2002 und 2003 bin ich zu der These gelangt, dass zwischen dem Orientbild des 18. Jahrhunderts wie es sich in der musikalischen „alla turca“-Mode widerspiegelt und dem aktuellen Bild des islamischen Terrorismus und der anti-christlichen „Achse des Bösen“ bzw. der „Schurkenstaaten“ auffallende Parallelitäten bestehen und der Kern dieser Parallelitäten die Tatsache ist, dass sich hier kollektive Prozesse neurotischer Angstverarbeitung abspielen, wie sie für Kriegvorbereitung, die Verfestigung von Feindbildern und die gewalttätige Absicherung eines psychologisch schwachen oder gekränkten Ichs charakteristisch sind. Im folgenden möchte ich die Plausibilität dieser These demonstrieren und die Konsequenzen aufzeigen, die sich hieraus für Friedenserziehung und den Musikunterricht ergeben. Drei Arten musikalischer Angstverarbeitung 1683 haben türkische Truppen - inclusive mehrerer Janitscharenkapellen - 2 Monate lang Wien belagert und dabei dieser Stadt, die bereits 1529 schon einmal von Suleiman dem Großen belagert worden war, recht übel mitgespielt. Der mühsame Sieg deutscher und polnischer Truppen (Abbildung 3) konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Türken noch das ganze 18. Jahrhundert hindurch in Ungarn, Siebenbürgen und bei Belgrad die Österreicher stark bedrängten. So folgte beispielsweise einem in dem populären Flugblattlied von 1719 („Prinz Eugen, der edle Ritter“) verherrlichten Sieg von 1717 bei Belgrad, eine Rückeroberung dieser Stadt nach wenigen Jahren. Das Ende der türkischen Belagerung Wiens durch den Sieg am Kahlenberg kann zwar als Wendepunkt in der Geschichte der Türkenkriege angesehen werden, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der türkische Schock tief in der kollektiven Erinnerung der Österreicher saß. Obgleich im Laufe des 18. Jahrhunderts die „reale“ Türkengefahr ein paar hundert Kilometer weit weggezogen war, kursierten in der Bevölkerung doch noch alle nur denkbaren Symptome von „neurotischer Angst“ - einer Angst, die sich nicht mehr explizit auf eine konkret sichtbare Gefahr, sondern weitgehend auf die Imagination von Gefahren bezog. In diesem Klima hat Mozart gelebt - und mit ihm sein Kollege Haydn Abbildung 3: Die Schlacht am Kahlenberg 16834 und Gluck sowie sein Schüler Süssmayr. (unten ein Ausschnitt dieses Bildes) 4 Kurz nach 1683 entstanden zahlreiche Lieder, die in handfesten Versen die vertriebenen Türken mit Hohn und Spott belegten5: Flugblattlied zu 1683: Hertz- und Magen-Vomitiv6 zur Kühlung Packe dich Bluthund, du Primo-Vezier Nichts verfanget dein hundisches Pochen! Laufe nach Hause, du Mahomets-Thier An dem die Christen sich rühmlich gerochen! Frage den Mahomet, deinen Propheten Warumb Er lasse Sein Ebenbild tödten? Schäme dich Wüterich, Christen-Tyrann, Daß du bey Vierzigmal-Tausend verlohren; Sage, was Starenbergs Helden-Faust kan, Hat er dich, Bluthund, nicht tapfer geschohren? Die Janitscharen und Spahi zusammen Wurden vertilget durch Schwerdter und Flammen. Aus solchen Worten spricht kein souveräner Sieger wie ihn Mozart den Wiener Bürgern 1782 mit seinem Bassa Selim in der „Entführung aus dem Serail“ vorgeführt hat. Aus solch einem Lied hört man eher den Versuch heraus, mit drastischen Beschwörungsformeln „das Böse“ bannen zu wollen. Dass dabei der handfeste politische Machtkampf zwischen Osmanen und Habsburgern um den Einfluss auf dem Balkan auch noch als Religionskrieg dargestellt wird, steht in guter mittelalterlicher Tradition (Abbildung 4). Nicht nur die schmähende „Verkleinerung“ des Feindes und des Bösen (Anti-Christ) gehört zu den bekannten Mechanismen der Verarbeitung neurotischer Ängste. Auch das Gegenteil, die „Vergrößerung“ der Gefahr kann demselben Zweck dienen. Hier wird eine Art Katharsis angestrebt. Die Gefahr wird überproportional vergrößert, mit allen psychologischen Tricks wird Angst geschürt und kleinste Vorkommnisse werden zum Anlass genommen, eine virtuelle Gefahrenquelle als reale Bedrohung darzustellen. So ist zum Beispiel erklärlich, warum fast alle Komponisten des 18. Jahrhunderts von Gluck und Hasse über Mozart bis Süssmayr, Kraus und Perez, wenn sie Opernsujets verAbbildung 4: Türkenkriege als Glaubenskriege tonten, in denen gütige Sultane auftreten, die Musik dennoch mit türkischem Janitscharen-Militarismus aufblähten. Der Einsatz von Becken, großer Trommel, Triangel und Schellen darf in seiner damaligen Wirkung nicht unterschätzt werden: er muss heute mit der Dolby-Surround-Verwendung von detonierenden Bomben in der Filmmusik verglichen werden. Eine dritte Art von Verarbeitung neurotischer Angst, bei der die Gefahr nicht real vorhanden sondern lediglich imaginiert ist, ist Aufklärung. „Gespenster gibt es doch nicht“, sagt die große Schwester zum kleinen Bruder, der sich im Dunkeln ängstigt. Eine solche Beruhigungs- 5 formel waren die zahlreichen Opernsujets des 18. Jahrhunderts, in denen die Osmanischen Herrscher als aufgeklärt, weise und gütig dargestellt wurden - in bewusstem Gegensatz zur volkstümlichen Vorstellung des barbarischen, grausamen und frauenfeindlichen Sultans. Allein über Suleiman II, der seiner französischen Sklavin die Freiheit schenkte, nachdem sie ihm die Lektion erteilt hatte „Lieben ist nicht gleich Beherrschen“, erschienen 25 Opern im 18. Jahrhundert. Derartige Sujets sollten beruhigen und von der militärischen Bedrängnis, in der sich der edle Ritter Prinz Eugen bei seinen Balkanfeldzügen befand, ablenken. Zugleich konnten die Autoren ihrem eigenen Potentaten das Bild eines aufgeklärten Herrschers vor Augen führen, ohne gleich aus dem Hofdienst entlassen zu werden. Abbildung 5: Der Janitscharenchor aus Mozarts "Entführung" Ein Beispiel für die Kombinationen aller drei Arten von Angstverarbeitung zeigt der „Janitscharenchor“ aus Mozarts Oper „Die Entführung aus dem Serail“ (Abbildung 5, Hörbeispiel 1). Neben den harmonisch-melodischen „Orientalismen“ (Bordun, fis statt f, Oktavparallelen) fällt hier das martialisch wirkende Schlagzeugensemble auf. Zunächst also erkennt das Wiener Publikum, dass die siegreichen Österreicher den Türken ein wichtiges psychologisches Kampfmittel, die Janitscharen-Instrumente, entrissen und in den eigenen Dienst gestellt haben. Sodann soll die Musik nach Aussage des Komponisten das Wiener Publikum belustigen: „der Janitscharen Chor ist für einen Janitscharen Chor alles was man verlangen kann. kurz und lustig; - und ganz für die Wiener geschrieben. -“ (Brief Mozarts an seinen Vater vom 26.9.17817) Dies bedeutet eine schmähende „Verkleinerung“ der osmanischen Gefahr. Zugleich jedoch wird die Gefährlichkeit des Sultans akustisch mit allen janitscharischen Mitteln „vergrößert“, so dass dem kollektiven Wiener Volksgedächtnis nochmals kathartisch ein historischer Schauer der Belagerung über den Rücken laufen kann. Dessen ungeachtet wird Bassa Selim als guter Herrscher besungen - eine Aussage, die sich im weiteren Verlauf der Oper ja nicht als rhetorische Floskel, sondern als die Wahrheit herausstellt. Militärmusik in der Schule - Nein Danke! Die bisherige Interpretation der musikalischen „alla turca“-Mode im 18. Jahrhundert drängt einen Vergleich mit der aktuellen Situation nach dem 11. September 2001 auf. Jede Facette von musikalischer Angstverarbeitung des 18. Jahrhunderts wird uns Deutschen heute dosiert 6 in der „Tagesschau“, scharf analytisch in Filmen wie „Bowling for Columbine“ oder kindlich naiv in Musiktiteln wie „We want Peace“8, direkt oder indirekt vorgeführt. Da ist zunächst das traumatische Erlebnis des 11. September 2001, das der Belagerung Wiens von 1683 analog ist. Da ist die „Achse des Bösen“ und die Etikettierung ausgewählter Länder als „Schurkenstaaten“. Da ist die Definition des ökonomisch-politischen Interessenskonflikts als „Religionskrieg“. Da ist die systematisch reproduzierte Angsthysterie, die nach dem 11. September in jedem weißen Pulver einen Terroranschlag sieht. Da ist die Häme, mit der Politiker das Gefahrenobjekt projektiv beschimpfen, schlecht machen und verspotten (Abbildung 6 zeigt eine entsprechende Collage der Illustrierten STERN). Und da ist die Rechtfertigung jeglicher Kriegshandlungen als Präventivmassnahmen gegen imaginierte Gefahren (wie beispielsweise nicht auffindbare Massenvernichtungswaffen). Angesichts solcher Parallelen fällt es schwer, das handlungsorientierte Musizieren von Janitscharenmusik durch Schülerinnen und Schüler zu propagieren. Dass „spannende“ und un-deutsche Rhythmen dieser Art Militärmusik zugrunde liegen können, mag ein „aufklärerischer“ Musizieranlass sein9, doch ohne weitergehende inhaltliche Interpretation auch des religiösen Mantels dieser Militärmusik sind hier Missverständnisse vorprogrammiert. Der „Schnittstellenansatz“ interkultureller Musikerziehung von Irmgard Merkt10 mit seiner Forderung zunächst interkulturell verständliche Musik zu machen, um nachträglich die kulturellen Differenzen zu besprechen, gerät an seine Grenzen. Hier verhält es sich gerade umgekehrt. Die Musik ist zwar unterschiedlich, jedoch: „Soldaten sind sich alle gleich lebendig und als Leich“ (Wolf Biermann). Abbildung 6: Collage aus dem STERN ... und „alla turca“? Nimmt man als „Schnittstelle“ Mozarts „alla turca“ aus der Sonate KV 331 und versucht, im Sinne von Irmgard Merkt als „Gesprächsanlass“ den militärischen Hintergrund musikpraktisch zu rekonstruieren wie es Bermes und Lugert getan haben11, so würde das Fazit einer solchen Lektion bestenfalls lauten: der Reiz von „alla turca“ der Wiener Klassiker liegt darin, dass Mozart die „Dialektik von Angst vor dem Fremden und Reiz durch das Fremde“ auskomponiert hat. Mozarts Klavier geht mit dem bedrohlichen Gestus des Militärischen spielerisch um, als ob es in der Lage wäre, die imaginierte Bedrohung in einen musikalischen Exotismus verwandeln und dadurch aufarbeiten zu können. Nimmt man an, Mozarts Publikum habe an „neurotischer“ (Türken-)Angst gelitten, so wäre dies verspielte „alla turca“ also eine Form von effektiver psychoanalytischer Musiktherapie. Die meisten „alla turca“-Musiken des 18. Jahrhunderts können aber nicht nur in diesem, sondern in einem tiefer gehenderen Sinne als Musiktherapie interpretiert werden. Die Musik stellt ja die Verarbeitung der Türkenangst auch inhaltlich und nicht nur formal dar, in den Opern am 7 deutlichsten als Handlung und Begleitmusik, in den raffinierteren Instrumentalwerken als Psychogramme: (1) Die meisten Türken-Opern des 18. Jahrhunderts betten „alla turca“-Elemente nur sporadisch als Märsche und Chöre in eine ansonsten okzidentale Tonsprache ein. Solche Einsprengsel sind meist recht plakativ: zum Beispiel die auf der bereits erwähnten CD „dream of the orient“ eingespielten Märsche aus der Ballett-Oper „Solimano II“ von Josef Martin Kraus (UA 1789 in Stockholm, Hörbeispiel 4) oder auch in „Die Pilgrime von Mekka“ von Chrisoph Willibald Gluck (UA 1780 in Wien). (2) Anders die Psychogramme der elaborierten Instrumentalmusik, für die wir als Beispiel den „alla turca“-Teil des Menuett-Schlusssatz im 5. Violinkonzert A-Dur von Mozart (komponiert 1775) heranziehen können. Abbildung 7: Aus dem „alla turca“ im 3. Satz des 5. Violinkonzertes KV 219 von W. A. Mozart Psychogrammatische Beschreibung: Das Menuetthema (hier nicht abgebildet) stellt die unbeschwerte Lebensart der Wiener Aristokratie dar. Dieser unbeschwerte Teil verhallt in der Ferne als ob die musikalische Kamera vom Tanzsaal woanders hinschwenkte (Abbildung 7, die ersten beiden Takte). Die „Bedrohung“ setzt mit sforzato (= alla turca-Merkmal 1) abrupt und in Moll (= alla turca-Merkmal 2) mit neuem Tempo „Allegro“ und Metrum 2/4 statt 3/4 ein (= 8 alla turca-Merkmal 3). Die Windung des Motivs in Halbtonschritten tut ein Übriges, um das Gefühl von Bedrohung darzustellen und zu erzeugen (= alla turca-Merkmal 4). Der folgende Bordunklang (= alla turca-Markmal 5) wird von der Violine genutzt, eine mutig-beschwingte Antwort auf die Bedrohung zu finden. Nachdem sich dies Spiel einige Male in einer sich steigernden und variierter Form wiederholt, rafft sich die „Armee der Guten“ endgültig auf, den Präventivschlag zu führen: „Alla Turca“ nach janitscharischer Vorschrift erklingt (Abbildung 7 unten - Percussion = alla turcaMerkmal 6, sforzato = alla Turca Merkmal 1), diesmal aber nicht als Drohung des Bösen, sondern als Siegesgewissheit der Guten. Die Guten stoßen jedoch bei ihrem Vormarsch auf unerwarteten Widerstand, überall lauert das Böse: Crescendo mit abruptem Dynamikwechsel (= alla turca-Merkmal 8) und eine übel heraufziehende Chromatik (= alla turca-Merkmal 9) zeigen, dass der Sieg der Guten noch nicht besiegelt ist. Fazit: Verfolgt man Mozarts Musik vor diesem programmatischen Hintergrund als Psychogramm weiter, dann scheinen zahlreiche Ereignisse der Aprilwochen 2003 am inneren Ohr vorüber zu ziehen: die latente, imaginierte und reale Bedrohung, der Truppenaufmarsch, der stockende Vormarsch und unerwartete Widerstand der Bevölkerung, kurze Zweifel an der eigenen, guten Mission, dann die überraschend gelungene Eroberung der Hauptstadt und schließlich die Unsicherheit darüber, wie es nach dem militärischen Sieg weiter gehen kann und wird. Die Möglichkeit, das Psychogramm dieser „alla turca“-Musik auf aktuelle Ereignisse zu projizieren, ist ein „Beweis“ für die historische Tatsache, dass Mozart im „alla turca“ nicht nur formal mit Orientalismen gespielt, sondern auch ein inhaltliches Programm dargestellt hat. Ganz offensichtlich kämpfen hier zwei musikalisch als unterschiedlich gekennzeichnete Instanzen miteinander - man mag dies nun real als die kaiserlichen Truppen gegen das Osmanische Heer, imaginiert als das Christentum gegen den Islam, virtuell als die Bedrohten gegen die Bedroher, neurotisch als die Guten gegen das Böse interpretieren. Soweit die Sachanalyse. Wie steht es nun mit den Konsequenzen für den Musikunterricht? Apropos Friedenserziehung 2003 Friedenserziehung ist nicht nur in Kriegszeiten ein wichtiges Ziel von Musikunterricht. In Kriegszeiten jedoch wird das Bedürfnis, Friedenslieder zu hören, spielen, singen und zu besprechen offensichtlich besonders drängend12. Die aktuellen Lieder zeigen, dass sich Musiker gegen den Einsatz von Gewalt bei der Lösung von Konflikten äußern. Solche Lieder dienen einerseits der Artikulation von Widerstand, stellen andererseits durch ihren Masseneffekt eine wirksame Form von Angstverarbeitung dar. Widerstand mittels Musik zu artikulieren ist sinnvoll und wirksam bei Demonstrationen, Platzbesetzungen oder anderen symbolischen Aktionen, wirkt im Klassenzimmer aber eher aufgesetzt und unglaubwürdig. Die Angstverarbeitung durch Musik jedoch kann und sollte im Musikunterricht behandelt werden (wo denn sonst?). Sie kann bewusst gemacht, reflektiert, geübt, verbessert und gegebenenfalls auch kritisiert werden. Dabei spielt als Ausgangspunkt eine Rolle, dass Kinder und Jugendliche „gegen Kriege“ sind, weil sie schlicht Angst haben - Angst vor Gewalt (durch alle Stärkeren wie Eltern, Lehrer, Mitschüler, Polizei), Angst vor Eskalation von Konflikten, Streitigkeiten oder auch Spielen, Angst vor physischem und psychischem Schmerz und vor „Heimatlosigkeit“ (Verlust von Geborgenheit und sicheren Zufluchtsorten)13. Diese Angst ist auch dann bedeutsam, wenn Kinder und Jugendliche „Krieg spielen“. Es ist meines Erachtens da- 9 her die effektivste Friedenserziehung, wenn Musiklehrerinnen und -lehrer die Angstverarbeitung durch Musik im Unterricht behandeln14. Wie kann dies vonstatten gehen? Eine erste Möglichkeit ist sicherlich die Besprechung und Bearbeitung aktueller Friedenslieder sowie gegebenenfalls das angeleitete Herstellen neuer Lieder im Falle einer anstehenden Schüler-Demo. Dieser Möglichkeit sind aber enge Grenzen gesetzt - und sie wird bei der handlungsorientierten Bearbeitung von Friedensliedern auch selten genutzt. Eine zweite Möglichkeit besteht darin zu besprechen, wie mit Musik Kriegsängste oder allgemein Ängsten bearbeitet werden (können): zum Beispiel in der szenischen Interpretation der Oper „Wozzeck“, die unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs geschrieben worden ist. Aber auch die außer Kontrolle geratene, von niemandem gewollten Eskalation eines Jugendkonflikts in der „West Side Story“ ist eines jener Themen, die bei Kindern und Jugendlichen im Zentrum von Kriegsängsten stehen. Eine eventuell weniger deutliche, aber mutmaßlich nachhaltigere dritte Möglichkeit ist eine Auseinandersetzung mit den Ideologemen, die auch beim heutigen Kriegsszenario eine Rolle spielen und die (musik-)psychologisch aufgearbeitet werden können. Man nehme zum Beispiel die sehr differenzierte Bearbeitung der Türkenangst durch Mozart im erörterten Violinkonzert, projiziere diese auf den Zeitgeist im Wien des 18. Jahrhunderts, rekonstruiere mittels szenischer Interpretation das Psychogramm des Konzerts und versuche, dies in aktuellen Bildern darzustellen oder auf aktuelle Bilder anzuwenden. Dabei braucht die musikalische Ebene nicht verlassen, die Politik nicht künstlich auf die Musik aufgesetzt zu werden. Die Politik entsteht aus dem Zusammentreffen von Friedenssehnsucht und Kriegsangst der Schülerinnen und Schüler und Mozarts Musik mit Hilfe eines geeigneten musikpädagogischen Arrangements. Zu Mozarts Psychogramm als einem die Angst verarbeitenden „Kampf“ des Guten gegen das Böse gibt es kein aktuelles musikalisches Pendant. Es gibt auch noch kaum eine Sublimierung des Terrorismus in eine ästhetische Mode so, wie es die Türkenmode des 18. Jahrhunderts gewesen ist. Die aktuellen Friedens- bzw. Antikriegslieder sind primär massenwirksame Bekenntnisse, die die tiefenwirksamen Möglichkeiten von Musik nicht ausschöpfen. Es ist daher durchaus denkbar, die Mechanismen musikalischer Angstverarbeitung anhand eines historischen Beispiels zu behandeln. Dass sich das „alla turca“ von Mozarts Violinkonzert dafür anbietet, dürfte aufgrund der zahlreiche Parallelitäten zwischen der Türkenangst im 18. und der aktuellen Terrorismus-Angst einleuchten. Bleibt die methodologische Frage: Wie kann ein derart fremdes Psychogramm wie dasjenige Mozarts von Schülerinnen und Schülern „rekonstruiert“, durchlebt und erfahrungsorientiert vor dem Hintergrund aktueller Terror- oder Kriegsängste aufgearbeitet werden? Die Methoden der szenischen Interpretation15 sind als Antwort auf derartige Fragen entwickelt worden. Ursprünglich ging es dieser Methode darum, historische und fremde Opernstoffe erfahrungsorientiert zu aktualisieren. Dabei sollte das Fremde nicht „vermittelt“, sondern als Rollenschutz und Projektionsfläche verwendet werden, um aktuelle Ängste, Gefühle und Phantasien frei setzen und öffentlich diskutieren zu können. Eine psychogrammatisch fremde Instrumental-Musik kann aber genauso wie ein fremdes Opernsujet erarbeitet werden. Hier einige Andeutungen, in welchen Schritten dies geschehen kann: 10 Voraussetzungsloses Hören von Mozarts „alla turca“ (Hörbeispiel 5) mit der anschließenden Aufgabe, zur Musik Bilder zu assoziieren: Unter „Bilder“ können visuelle Bilder, aber auch kleine Geschichten oder Ereignisse verstanden werden („Guided Imagery of Music“). Erfahrungsgemäß unterscheiden sich die assoziierten Bildinhalte erheblich, während auf der Ebene der strukturellen Aspekte und der allgemeinen psychologischen Prozesse und Gefühle (Bedrohung, Angst, Freude, Überlegenheit usw.) große Übereinstimmungen bestehen. Musikimmanente Reflexion: Ausgangspunkt ist die Sachinformation über die Tatsache, dass in der gehörten Musik der Wiener Komponist Mozart sich der aktuellen „Türkenmode“ bedient hat. Es gibt dann mehrere Wege, die auch parallel beschritten werden können.(1) Intuitives Erkennen von „Orientalismen“ in der Musik der Wiener Klassik (Hörbeispiele 1 und 4) unter der Frage: was soll hier „türkisch“ sein, was ist aber „normale Klassik“? (2) Information über die türkische Musik, die Mozart wohl gekannt hat (Hörbeispiel 2 - zum genaueren Hören der Vierteltonschritte: Midifile 1). Diskussion, ob und welche dieser Elemente Abbildung 8: Motivisches Material der Janitscharenmu- von Mozart aufgegriffen worden sind. (3) sik "Genc Osman" Erkennen von „Orientalismen“ in weiteren Musikstücken (Hörbeispiel 1 und 4 Janitscharenchor aus der „Entführung aus dem Serail“ von Mozart (1782) und JanitscharenMarsch aus der Oper „Soliman II“ von Kraus (1787)). Zusammenstellung der alla turcaMerkmale 1 bis 9 von oben. Szenische Improvisation: Bewegungsimprovisation zu Mozarts „alla turca“ zwecks szenischer Erarbeitung der musikalischen Gesten. Die Bewegungen werden durch „Stop!“ eingefroren und szenisch diskutiert (Standbildarbeit: Ummodellierung, Hilfs-Ich, Befragung). Prägnante Bewegungsbilder („Haltungen“) werden fotografisch oder in der Erinnerung festgehalten. Diese „Haltungen“ werden anschließend durch eine Geschichte miteinander verbunden. Hieraus entsteht ein „Drehbuch“, für das Mozarts „alla turca“ die Filmmusik darstellt. Merkmale türkischer (Kunst-)Musik (Hörbeispiel 3): Melodik beruht auf ungewöhnlicher Skala, es werden einfache Motive ständig wiederholt und umspielt („Improvisation“), die Melodietöne werden oft „verzogen“. Es gibt keine Harmonie, keine Begleitung, alles ist einstimmig (in Oktaven). Der gesamte Klangeindruck resultiert aus Oktavierungen in verschiedenen Klangfarben und Umspielungen der Melodie. „Kontrapunktisch“ zur Melodie wird ein komplizierter Rhythmus eingesetzt, der auf mehreren Instrumenten gespielt wird und nicht unmittelbar zum Tanzen einlädt. - Abschließend kann erwähnt werden, dass die hier analysierte Musik ein „Janitscharen-Marsch“ ist, wie er von dem rumänischen Prinzen Demetrius Cantemir (1673-1723), der als Geisel mehrere Jahre in Istanbul festgehalten wurde, überliefert wurde. Historisch präzisiertes und zugleich verfremdendes szenisches Spiel: Information über die Türkenangst im 18. Jahrhundert und einige prägnante politische Ereignisse. Die Einführung der Kategorien „gut“ und „böse“. Erneute „Haltungs“-Übungen mit den Vorgaben: die Guten haben Angst vor dem Bösen, die Guten fühlen sich überlegen, die Guten siegen, die Guten 11 zweifeln, das Böse ist stark, das Böse ist unsicher, das Böse ist nur eingebildet usw. Daraufhin erneutes Entwickeln einer Geschichte. Handlungsorientierte Auswertung und Diskussion: Die Auswertung der szenischen Interpretation von Mozarts „alla turca“ kann damit beginnen, dass die Schülerinnen und Schüler aktuelle Bilder (Fotos, Zeitungsberichte, Meldungen vom Fernsehen) mitbringen, sammeln oder die von der Musiklehrerin bzw. dem Musiklehrer mitgebrachten Bilder sortieren. Den im szenischen Spiel gezeigten „Haltungen“ werden Bilder zugeordnet. Dadurch entsteht ein Dreick von Bedeutungsverweisen, das abschließend besprochen und auch als Fazit (und Stoff für eine Klausur oder Prüfung) festgehalten werden kann. Türkenangst im 18. Jahrhundert „alla turca“ als Angstverarbeitung Psychogramm von Mozarts Musik aktuelle Angst vor Terror und Krieg Spiegel: Haltungen des szenischen Spiels Bilder zur aktuellen Situation Hörbeispiele 1 „Janitscharenchor“ aus der „Entführung aus dem Serail“. 2 „Genc Osman“, Mehter Band of the Asker Müze Istanbul. Nach Merkt: Türkische Musik (Klett-Verlag). 3 Tatar Han Gazi Giray (1554-1607): „Mahur pesrevi“ (Marsch der Janitscharen). Überliefert durch Demetrius Cantemir (1673-1723), gespielt von Sarband (2003). 4 Joseph Martin Kraus: „Marcia dei Giannizzari“ aus der Oper „Soliman II“ (1789), gespielt von Concerto Köln mit Percussionsunterstützung durch Sarband (2003). 5 Mozart: Violinkonzert Nr. 5, A-Dur KV 219 (1775), 3. Satz (Trio des Menuetts). 6 „Rondo alla turca“ gespielt auf türkischen Instrumenten aus der CD „L’ Orient Imaginaire - Alle Turca“, gespielt von der multi-ethnischen Gruppe Sarband unter Leitung von Vladimir Ivanoff. Midifile 1 Motivfloskeln aus „Genc Osman“ mit Vierteltonschritten (via Pitchbend realisiert). Hintergrundinformation (soweit im Artikel implizit verwendet) Peter Gradenwitz: Musik zwischen Orient und Okzident. Heinrichhofen’s, Wilhelmshaven 1977. Martin Greve: Die Musik der imaginären Türkei. Berlin 2002 (TU Berlin) und Metzler, Stuttgart 2003. Vladimir Ivanoff: Die Musik im Osmanischen Reich in europäischen Reiseberichten des 16.–18. Jahrhunderts. Vorabdruck einer Habilschrift München/Oldenburg 2003. Wolfgang Martin Stroh: Friedenserziehung und Musikunterricht. Versuch einer Orientierung. In: Die Grünen Hefte 30, 3/1991, S. 25-31. 12 Anmerkungen 1 „Alla Turca. Materialien zum Rondo aus der Sonate KV 331 von W. A. Mozart und zur Musik der Janitscharen“. In: Die Grünen Hefte 45, 2/1996, S. 9-20. 2 Teldec LC 60190, CD 3984-24573-2. Die Aufnahmen wurden in Istanbul und München gemacht. 3 Zitat und alle folgenden Hinweise bei Konrad Boehmer: „Zwischen Reihe und Pop“. Jugend und Volk, Wien/München 1970, S. 148-150. 4 Franz Geffels: „Die Entsatzschlacht vor Wien“ (Historisches Museum Wien, 1688 gemalt). Gesamtbild aus dem Brockhaus multimedial 2002. Hintergrund: Donauauen, davor das befestigte Wien. Im Vordergrund (siehe den Ausschnitt) Kampf zwischen türkischen und deutsch-polnischen Truppen auf dem Kahlenberg. 5 Aus Bertrand M. Buchmann: „Türkenlieder“. Böhlhaus Nachf., Wien 1983, S. 87. 6 Brechmittel. 7 In: Hermann Abert: „W.A. Mozart“, Band 1, Breitkopf & Härtel, Leipzig 1919 (10. Auflage 1983), S. 785. 8 Siehe Wulf Dieter Lugert: „We Want Peace!“. In: Praxis des Musikunterrichts. Die Grünen Hefte 74, 4/2002. 9 Siehe Die Grünen Hefte 45, S. 11. 10 Irmgard Merkt: Interkulturelle Musikerziehung. In: Musik und Unterricht 9/1993. 11 Siehe Die Grünen Hefte 45, S. 16-17. 12 Vgl. das Themenheft von Praxis des Musikunterrichts. Die Grünen Hefte 74, 4/2002 (erschienen im Mai 2003) und die Internet-Seite www.musikpaedagogik-online.de, auf der Thomas Münch seit Beginn des Irakkrieges im April 2003 Lieder und Texte zum Krieg zusammengestellt hat. 13 Hans Zulliger: Die Angst unserer Kinder. Fischer, Frankfurt/Main 1989. Jan-Uwe Rogge: Kinder haben Ängste. Rowohlt, Reinbek 1997. 14 Wolfgang Martin Stroh: Musik und Angst. Begründung eines neuen Ansatzes von Friedenserziehung im Musikunterricht. In: Zeitschrift für Musikpädagogik 43, 1/1988, S. 26-36. 15 Zu den einzelnen hier angeführten Methoden siehe Rainer O. Brinkmann, Markus Kosuch und Wolfgang Martin Stroh: Methoden-Katalog der szenischen Interpretation von Musiktheater. Lugert-Verlag, Oldershausen 2001.