(10) Philosophische Begründungstypen der Umweltethik 1

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(10) Philosophische Begründungstypen der Umweltethik
1. Fragebogen: „Entdecken Sie Ihre umweltethische Position!
(siehe Anlage)
2. Typen umweltethischer Begründung
Ein Ausgangspunkt für die Suche nach fundamental neu ansetzenden Begründungsmodellen in der ökologischen Ethik war eine radikale Kritik am christlichen Naturverhältnis: Die im biblischen Schöpfungsbericht grundgelegte „anthropozentrische“ Vorstellung, dass der Mensch mit einem Herrschaftsauftrag über die Natur ausgestattet sei
(Gen 1, 26-28), wird von Lynn White, Carl Amery u.a. als zentrale geistesgeschichtliche Ursache des neuzeitlich-instrumentellen Naturverhältnisses und damit der
abendländischen Umweltkrise gedeutet (Amery 1972). Als alternative Ausgangspunkte
gewinnen die Vorstellungen „Vermeidung von Leid“, „Gleichberechtigung aller Leben“
und „Rechtsgemeinschaft der Natur“ eine ethische Schlüsselbedeutung. In diesen Auseinandersetzungen lassen sich folgende Begründungsmodelle unterscheiden:
Anthropozentrischer Ansatz: Als zentraler ethischer Maßstab gilt hier die Würde des
Menschen (griechisch: anthropos = Mensch). Ökologische Forderungen werden in Bezug die Bedürfnisse und Lebensbedingungen des Menschen begründet, wobei in neuerer
Zeit insbesondere globale Zusammenhänge sowie die künftigen Generationen ins Blickfeld gekommen sind. In seiner klassischen Ausformung bei Kant erkennt die anthropozentrische Ethik allein den Angehörigen der menschlichen Gattung den Anspruch zu,
nie nur als Mittel, sondern stets auch als Zweck an sich selbst behandelt zu werden
(Kant BA 66f). Darauf aufbauend geht die methodische Anthropozentrik davon aus,
dass jede Begründung ethischer Sollensansprüche auf den Menschen Bezug nehmen
muß, weil nur er sittliches Subjekt und damit möglicher Adressat moralischer Appelle
ist (Irrgang 1992, 9-110; Lochbühler 1996, 201-320). Die inhaltlich-materiale
Anthropozentrik sieht darüber hinaus den Menschen als „Spitzengeschöpf“ an, in dem
die Evolution ihren höchsten Sinn findet und der mit einem Gestaltungs- und
Herrschaftsauftrag über die Natur ausgestattet ist.
Pathozentrischer Ansatz: Als ethischer Maßstab gilt die Empfindungsfähigkeit (griechisch: pathein = leiden, empfinden). Ziel ist es, Leid zu vermeiden, wobei alle Lebewesen, die Freude und Schmerz empfinden können, als Träger eigener moralischer
Rechte berücksichtigt werden. Der pathozentrische Ansatz entfaltet sein Anliegen vor
allem im Bereich der Tierethik, in der bezogen auf die jeweilige Empfindungsfähigkeit
Kriterien für artgerechte Tierhaltung definiert werden. Angesichts der Erfordernisse des
Pflanzenschutzes sowie der Berücksichtigung ökologischer Gesamtzusammenhänge
hilft das Kriterium der Leidensfähigkeit jedoch kaum weiter.
Biozentrischer Ansatz: Als ethischer Maßstab gilt der Wille zu leben (griechisch: bios =
Leben). Jedes Lebewesen hat danach ein prinzipiell gleichrangiges Recht auf die Achtung seiner zum Überleben und zur Entfaltung notwendigen Grundbedürfnisse. Der biozentrische Ansatz geht wesentlich auf Albert Schweitzer zurück, der als allgemeines
ethisches Leitprinzip formuliert: "Die Ehrfurcht vor dem Leben gibt mir das Grundprinzip des Sittlichen ein, dass das Gute in dem Erhalten, Fördern und Steigern von Leben
besteht und das Vernichten, Schädigen und Hemmen von Leben böse ist" (Schweitzer
1990, 17). Der Gedanke, dass alle Lebewesen in einer einzigen Lebensgemeinschaft
miteinander verbunden sind, wird zunehmend auch von der Whiteheadschen Prozeßphilosophie her begründet. Der biozentrische Ansatz erkennt keinen grundsätzlichen
Vorrang der menschlichen Interessen an. Um im Konfliktfall zwischen verschiedenen
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Lebewesen entscheiden zu können, werden teilweise Differenzierungen eingeführt, z.B.
der Grad an Fähigkeit, nach selbstgesetzten Zielen zu streben, was ein wichtiges
Merkmal von Leben ist (Ricken 1987).
Physiozentrischer Ansatz (auch ökozentrisch oder holistisch genannt): Ethischer Maßstab ist hier die Zugehörigkeit zur Natur in ihrer Gesamtheit (griechisch: physis = Natur). Das physiozentrische Modell knüpft in seinem Naturverständnis an religiös-mythische und romantische Traditionen an und sucht auf dieser Basis nach einem „Frieden
mit der Natur“ (Meyer-Abich 1986). Im Rahmen einer umfassenden „Rechtsgemeinschaft der Natur“ soll nicht nur den Menschen, sondern allen Lebewesen sowie Flüssen,
Wäldern und anderen Ökosystemen der Status von Rechtssubjekten mit eigenen, von
Vertretern einklagbaren Rechten zugestanden werden. Das hat zur Konsequenz, dass
eine radikale Reform des gesamten Rechtssystems gefordert wird.
3. Ökologische Aufklärung der Anthropozentrik
Ohne die vielschichtigen Auseinandersetzungen um diese unterschiedlichen ethischen
Ansätze hier im einzelnen zu entfalten, sollen im folgenden als eine Art Resümee für
die Begründung des Nachhaltigkeitsprinzips einige wichtige Gesichtspunkte festgehalten werden:
1. Die Natur hat einen Eigenwert. Sie hat den Menschen hervorgebracht und wird ihn
überdauern; die Frage nach ihrem Nutzen betrifft von daher nur einen relativ eng
umgrenzten Teilaspekt des menschlichen Naturverhältnisses. Die Wahrnehmung ihrer Schönheit, die Erhaltung ihrer Vielfältigkeit und die Achtung ihrer Entfaltungsbedingungen sind für den Menschen zugleich eine Frage der Übereinstimmung mit
sich selbst, also seiner Identität und Selbstachtung.
2. Die ästhetische, mystische oder ontologische Qualität, die für die Natur als solche
reklamiert wird, ist nie aus ihrer Bezogenheit auf die kulturell vermittelten Wahrnehmungsformen des menschlichen Subjekts zu lösen (Höhn 1997, 271-274). Insofern ist die Feststellung des Eigenwertes der Natur strikt an ihren (erkenntnistheoretischen und ethischen) Bezug zum Menschen gebunden. Sie ist ein kulturspezifisches Phänomen.
3. Nur der Mensch kann Subjekt sittlicher Verantwortung und damit Adressat moralischer Appelle sein. Ihm kommt eine unbedingte Würde zu, und zwar nicht aufgrund
bestimmter natural faßbarer und auch anderen Lebewesen oder Naturdingen zuschreibbarer Eigenschaften, sondern als Person und damit als einem zu Freiheit und
Verantwortung berufenem sittlichen Subjekt (Vogt 1997, 333-368). In dieser personal-transzendentalphilosophischen und methodischen Hinsicht ist die Anthropozentrik unhintergehbar: Jede Begründung ethischer Imperative muß zentral auf den
Menschen als Person Bezug nehmen.
4. Christliche Ethik kann der umweltethischen Kritik entgegenhalten, dass nicht die
Anthropozentrik als solche, sondern vielmehr der Verlust ihrer theologischen Rückbindung im säkularen Anthropozentrismus der Neuzeit zu einem einseitig instrumentellen Naturverhältnis geführt hat (Irrgang 1992, 17). Dies wird durch eine differenzierte Kulturgeschichte bestätigt (Rappel 1996).
5. Die Kantsche Auffassung, dass Tierquälerei nur deshalb ethisch verwerflich sei,
weil der Mensch dadurch in seinem Einfühlungsvermögen auch gegenüber
Menschen verrohe (Kant A 108f), ist unzureichend. Nicht als Bedürfniswesen,
sondern als Verantwortungssubjekt steht der Mensch im Zentrum ethischer
Argumentation. Dabei bleibt er strikt an eine Grundorientierung gebunden, die den
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Eigenwert seiner Mitgeschöpfe achtet und riskante Eingriffe in ökologische Systeme
meidet. Personale Anthropozentrik ist also nicht zu verwechseln mit einer
Begründung des Ethischen allein vom menschlichen Nutzen her.
6. In Bezug auf inhaltliche Kriterien des Naturumgangs bedarf die Anthropozentrik
einer „ökologischen Aufklärung“ (Höhn 1994, 16; Hasted 1991, 9-24.151-203.283292): Für den Tierschutz gewinnt dabei das Kriterium der Empfindungsfähigkeit
eine grundlegende Bedeutung; für den Umweltschutz das der Grundfunktionen
übergreifender ökologischer Zusammenhänge. Wenn man dies auf der Ebene der
Kriterien und nicht auf der Ebenen der alternativen Letztbegründung einordnet,
kann die Umweltethik in vieler Hinsicht konstruktiv an die Ethik Aufklärung anknüpfen. Die Intention einer (zweiten) Aufklärung entspricht der Grundausrichtung
des Nachhaltigkeitsprinzips, das in seinen Ursprüngen von aufklärerischen Impulsen
getragen war (Schanz 1996, 18-36).
7. Das stärkste Argument für politische Initiativen zum Umweltschutz ist nicht der
Hinweis auf Eigenrechte der Natur, sondern der Nachweis, dass Naturschutz heute
Voraussetzung für existentielle Lebenschancen künftiger Generationen ist. So begründet der 1994 eingefügt Artikel 20a des deutschen Grundgesetzes die Verankerung des Umweltschutzes als Staatsziel mit dem zunächst auf den Menschen bezogenen Grundsatz intergenerationeller Gerechtigkeit. Auch die Dokumente von Rio
führen das Nachhaltigkeitsprinzip von einem anthropozentrischen Bezug her ein:
„Human beings are at the center of sustainable development“ lautet der Beginn des
ersten Grundsatzes der Rio-Deklaration (BMU 1992, 45). Das Nachhaltigkeitskonzept ist seinem Ursprung nach ein Naturnutzungskonzept und schon von daher auf
den Menschen bezogen.
8. Die ökologischen Erfordernisse werden im Rahmen des Nachhaltigkeitskonzeptes
vor allem durch einen langfristigen und globalen Bewertungshorizont eingebracht,
wobei es gerade systematisch auf die Zusammenhänge zwischen menschlichen und
naturalen Interessen ankommt. Dieser integrative Ansatz wird von einer Ethik, die
von der Kritik anthropozentrischer Letztbegründung ausgeht, verstellt.
9. Das Nachhaltigkeitsprinzip relativiert nicht die ethische Unterscheidung zwischen
personalem und naturalem Bereich. Seine Forderung nach einer umfassenden Berücksichtigung ökologischer Faktoren zielt vielmehr auf eine natur- und gesellschaftstheoretisch fundierte Analyse der kritischen Gefährdungsfaktoren zivilisatorischer Entwicklung. Durch diese Ausrichtung bleibt das Nachhaltigkeitsprinzip sowohl mit den normativen Grundlagen der Demokratie (die unbedingte Würde der
menschlichen Person als Angelpunkt des gesamten Rechtssystems) als auch mit den
naturwissenschaftlich-nüchternen Zugangsweisen des technischen Umweltschutzes
vermittelbar.
4. Vernetzung als Schlüsselprinzip der Umweltethik
In der Ökologie geht es nicht nun um die Schonung einzelner knapp gewordener
Naturressourcen, sondern grundlegender um eine neue Denkweise: Gefordert ist vernetztes Denken, und damit eine systematische Beachtung der vielschichtigen Beziehungszusammenhänge zwischen Mensch und Umwelt. Dies entspricht dem methodischsystemtheoretischen Verständnis von Ökologie als Beziehungswissenschaft, nämlich als
Wissenschaft der Beziehungsgefüge zwischen Lebewesen und ihrer Umwelt.
Eine solche ökologische Betrachtungsweise fordert Denk- und Handlungsansätze, deren
Grundmaxime sich als "Vernetzung" umschreiben lässt: Die Einbindung der Zivilisati72
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onssysteme in das sie tragende Netzwerk der Natur muss zur Leitmaxime des individuellen und gesellschaftlichen Handelns werden.
Wegweisend, um das Ziel einer solchen Rückbindung zu erreichen, ist die kommunikative Vernetzung zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen. Dabei
muss die Ausdifferenzierung moderner Gesellschaft in relativ autonome Subsysteme
beachtet werden (vgl. Luhmann 1990, 202-217; Luhmann 1994).
Ökologische Imperative sind in die jeweilige Handlungslogik der unterschiedlichen
Teilsysteme zu „übersetzen“. D.h. beispielsweise für das ökonomische System: Es kann
ökologische Knappheiten nur dann „wahrnehmen“, wenn sie in Kosten beziffert und
durch entsprechende wirtschaftliche Rahmenbedingungen geschützt werden (Schramm
1994, 132-147).
Solche Übersetzungsleistungen zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen
Subsystemen geschehen bisher nur unzureichend: Wir leben in einer „segmentierten“
Gesellschaft, in der Teilbereiche optimiert werden, in der das Gesamtwohl aber zunehmend aus dem Blick geraten zu sein scheint (Anders 1987). Die Sicherung des
Gesamtwohls kann jedoch in einer offenen, demokratischen und pluralistischen Gesellschaft nicht durch eine zentrale Steuerungsinstanz geleistet werden, sondern nur
durch eine dynamische und vielschichtige Vernetzung (Vogt 1996a, 174-179).
Gemäß dem Leitgedanken der Vernetzung sind ökologische Themen deutlicher als
Querschnittsthemen auszugestalten und in die Handlungslogik der unterschiedlichen
gesellschaftlichen Teilsysteme hineinzuvermitteln. „Vernetzung“ kann dabei sehr
vielfältiges bedeuten. Zum Beispiel: Verknüpfung von ökonomischer Rationalität und
ökologischem Wissen, von technischem Können und kulturellen Wertorientierungen,
von religiösem Ethos und politischer Bildungsarbeit. Nur durch eine intensive
Bündelung solcher unterschiedlicher Handlungsfelder und Kompetenzen können die
Ziele nachhaltiger Entwicklung erreicht werden.
Die Strategie dauerhaft-umweltgerechter Entwicklung durch eine Vernetzung unterschiedlicher Handlungsfelder zielt darauf, die Grenzen der Natur in Chancen zu wandeln, nämlich in Chancen für einen strukturellen Wandel, der sich auf Dauer auch in sozialer und ökonomischer Hinsicht als sinnvoll erweist. So eröffnen sich bisweilen durch
Einschränkung im einen Bereich zugleich neue Entfaltungsmöglichkeiten in einem anderen (vgl. BUND/Misereor 1996, 153).
Für das ethische Postulat einer „Gesamtvernetzung“ und Rückbindung der Zivilisationsentwicklung an die Entfaltungsbedingungen der Natur hat Wilhelm Korff – auf das
lateinische rete, das Netz, zurückgreifend - den Begriff Retinität geprägt (Korff 1993,
25). Der Sachverständigenrat für Umweltfragen bezeichnet ihn als Schlüsselprinzip der
Umweltethik (SRU 1994, 54; vgl. dazu Ausführungen oben zu den Strategiekernen von
Nachhaltigkeit).
Gemäß dem Retinitätsprinzip ist Umweltethik nicht als Bereichsethik zu konzipieren,
sondern als ein umfassendes Integrationskonzept für die komplexen Entwicklungsprobleme neuzeitlicher Gesellschaft. Orientierungsmaßstab ist dabei nicht das Paradigma
der Natur als absolut vorgegebener Wachstumsgrenze, sondern das Leitbild einer dynamischen Stabilisierung der komplexen Mensch-Umwelt-Zusammenhänge.
Das erfordert eine verstärkte Berücksichtigung systemtheoretischer Analysen über die
Möglichkeiten und Grenzen der Steuerung vernetzter, also komplexer dynamischer Systeme für Politik und Ethik in moderner Gesellschaft. Es geht um einen grundlegenden
Paradigmenwechsel, der sowohl die Natur- als auch die Sozialwissenschaften umfasst
und der für die Sozialethik von hoher Relevanz ist.
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Warum genügt nicht der deutsche Begriff „Vernetzung“?
Der lateinische Begriff „Retinität“ ist zunächst fremd und ungewohnt. Insbesondere im
Hinblick auf die pädagogische Vermittlung ist dies ein großer Nachteil. Warum soll
man nicht besser auf den deutschen Begriff „Vernetzung“, der sich hoher Beliebtheit
erfreut, zurückgreifen? Gerade diese Beliebtheit ist jedoch für die Ethik ein Problem:
Sie beruht auf einer schillernden Vieldeutigkeit, die den damit verbundenen Gehalt des
ethisch Verbindlichen nicht hinreichend zu fassen vermag.
Normative Aussagekraft gewinnt der Ansatz erst dann, wenn man ihn in ein ethisches
Bezugssystem einordnet, von dem her man zwischen einer zielführenden Vernetzung
und einer, die eher zu erhöhter Unübersichtlichkeit führt, unterscheiden kann.
„Retinität“ unterscheidet sich von dem allgemeinen Begriff „Vernetzung“ durch die
Einordnung in einen ethischen Begründungszusammenhang. Sie ist ein spezifisch
ethischer Begriff und bezieht sich auf die Handlungsimperative einer Rückbindung der
Zivilisationsentwicklung an die langfristigen Erhaltungs- und Funktionsbedingungen
der sie tragenden ökologischen Systeme.
Die notwendige Vernetzung umfasst also weit mehr als durch systemtheoretische Optimierungen erreicht werden kann. Denn die wesentlichen „Knotenpunkte“ des Netzes
sind Menschen, die humane Ziele und Werte in die unterschiedlichen Handlungssysteme einbringen. Demgemäß sind ökologische Themen mit grundlegenden ethischen
Fragen der individuellen und gesellschaftlichen Lebensführung zu verknüpfen. Nur auf
der Grundlage einer Verbindung von systemtheoretischen und ethisch-personalen
Reflexionen können Grundprinzipien und Entscheidungskriterien verantwortlichen
Handelns angesichts komplexer Mensch-Umweltzusammenhänge gefunden werden.
Genau auf eine solche Verknüpfung ist das Retinitätsprinzip angelegt.
Retinität ist kein ethisches Letztprinzip. Sie ist begründungsbedürftig durch die Angabe
des eigenen Standpunkts und der eigenen Perspektive. Diese sind beim Menschen
gewöhnlich durch die eigenen Bedürfnisse und die jeweiligen kulturellen Deutungsmuster von Mensch, Natur und Gesellschaft geprägt. Dabei stellt sich für die Umweltethik
die grundlegende Frage, welcher Stellenwert der Natur im Verhältnis zu den menschlichen Zwecken zukommt. Darauf gibt es sehr unterschiedliche Antworten, die zu entsprechend unterschiedlichen Begründungsansätzen in der Umweltethik führen (dazu
oben, letzte Vorlesung).
Retinität als Leitprinzip für eine „ökologische Aufklärung“ der Anthropozentrik
Der Sinn des Retinitätsprinzips ist es, die hier geforderte ökologische Aufklärung der
Anthropozentrik genauer zu entfalten. In seiner Begründungslogik hält es am klassischen Ausgangspunkt der Kantischen Ethik fest und versteht die unverletzliche Würde
des Menschen als Vorraussetzung und Ziel verantwortlichen Handelns. Es entfaltet die
ökologischen Imperative nachhaltiger Entwicklung wesentlich von diesem Bezugspunkt
her. Als Kriterien für den Naturumgang beachtet es jedoch auch Leidensfähigkeit,
Lebenswillen und ökologische Systembedeutung.
Die Zuordnung des Retinitätsprinzips zu einer ökologisch aufgeklärten Anthropozentrik
ergibt sich schon aus seinem forstwirtschaftlichen Ursprung als Naturnutzungskonzept:
Der Begriff des Nutzens ist hier auf die menschlichen Interessen bezogen und bringt die
ökologischen Interessen durch die schlichte Forderung nach einem langfristigen
Zeithorizont ein.
Das Retinitätsprinzip relativiert nicht die strikte ethische Unterscheidung zwischen
personalem und naturalem Bereich. Aufgrund der anthropozentrischen Rückbindung
kann sich Retinität in seiner operationalen Entfaltung auf eher nüchterne Weise funktio74
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naler und systemtheoretischer Analysen über die komplexen Mensch-Umwelt-Zusammenhänge bedienen. Seine Forderung nach einer umfassenden Berücksichtigung
ökologischer Faktoren zielt nicht auf ein mystisches Sich-Einfühlen in die Natur,
sondern auf eine natur- und gesellschaftstheoretisch fundierte Analyse der kritischen
Gefährdungsfaktoren. Ökologische Aufklärung ist das Ziel, nicht der Rückzug auf einen
vormodernen mystisch-religiösen Naturbegriff.
Viele berechtigte Anliegen des Tierschutzes sind mit dem Retinitätsprinzip nicht
hinreichend zu begründen. Sein Schwerpunkt liegt in einem anderen Bereich: Es
formuliert die Anliegen des Umweltschutzes in einer konzeptionell erweiterten und
zukunftsorientierten Perspektive. Dabei bleibt es bewusst sowohl mit den normativen
Grundlagen der Demokratie (die unbedingte Würde der menschlichen Person als
Angelpunkt des gesamten Rechtssystems) als auch mit den praktischen Anforderungen
des technischen Umweltschutzes vermittelbar.
Trotz der prinzipiellen Zuordnung zum anthropozentrischen Ansatz überschreitet das
Retinitätsprinzip jedoch dessen traditionelle Ausformulierung: Es konzentriert sich auf
die systemischen Wechselwirkungen zwischen Zivilisation und Natur und leitet
Handlungskonsequenzen aus den hier auftretenden Gefährdungen ab. Retinität zielt auf
ein Denken in Zusammenhängen, das sich der natur- und sozialwissenschaftlichen
Analysen über komplexe Systeme für eine Abschätzung der Handlungsfolgen und damit
auch für eine ethische Entscheidungstheorie bedient und möglichst ausgewogene
Zuordnungen von ökologischen, sozialen und individuellen Erfordernissen anstrebt.
Im gemeinsamen Wort der Kirchen zur sozialen und wirtschaftlichen Lage in Deutschland „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ (1997) wird eine Erweiterung
der sozialethischen Begrifflichkeit angemahnt. Das gemeinsame Wort umschreibt die
notwendige Erweiterung mit den Begriffen „Nachhaltigkeit“ und „Vernetzung“ (vgl.
Textziffern 122-125). In der Erklärung „Handeln für die Zukunft der Schöpfung“ der
Arbeitsgruppe für ökologische Fragen der Bischofskonferenz wird dies aufgegriffen und
im Sinne des Retinitätsprinzips präzisiert.
Zusammenfassend kann man den Begriff Retinität als Grundforderung ökologischer
Ethik unter folgenden Aspekten charakterisieren:
-
Rückbindung der menschlichen Zivilisationsentwicklung in das sie tragende
Netzwerk der ökologischen Regelkreise
-
Vernetzung der Bemühungen um ökologisches Bewahren und technische Innovationen
-
Vernetzung von ökonomischen und ökologischen Stoffkreisläufe
-
Vernetzung sozialer und ökologischer Rhythmen (z.B. jahreszeitgemäße
Nahrungsmittel)
-
Vernetzung ökonomischer, ökologischer und sozialer Indikatoren im Verständnis von Wohlstand
-
Demokratische Erneuerung der Zivilgesellschaft durch vielfältige Netzwerke
gesellschaftlicher Initiativen
-
Vernetzung der zunehmend von Spezialistentum geprägten Einzelbereiche in
Wissenschaft und Gesellschaft
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