Dinu Lipatti Die vielerorts kursierenden Listen der „größten Pianisten aller Zeiten“ (zu ergänzen wäre: von denen Tondokumente vorliegen) führen auf den vorderen Plätzen üblicherweise Sergei Rachmaninow, Vladimir Horowitz, Arthur Rubinstein, Alfred Cortot und Swjatoslaw Richter auf. Neben der Absenz des Polen Josef Hofmann (1876–1957), den kein Geringerer als Rachmaninow für den größten Pianisten hielt (Hofmann selbst sprach jedoch Rachmaninow diesen Titel zu), überrascht das Fehlen des Rumänen Dinu Lipatti, den viele Klaviermusikkenner als den größten Klavierzauberer aller Zeiten betrachten, und der auch von zahlreichen großen Künstlerkollegen mit wahren Lobeshymnen bedacht wurde. Karajan sagte einmal über Lipattis Spielkunst: „Es war nicht mehr Klavierspiel, es war Musik, losgelöst von jeder Erdenschwere, Musik in ihrer reinsten Form“. Als Artur Schnabel zum ersten Mal Aufnahmen von Lipatti hörte, schwärmte er: „Das ist nicht nur wunderbares Klavierspiel, sondern ein ganz neuer Weg Klavier zu spielen“. Für den musikbegeisterten Hermann Hesse, der sich in vielen Gedichten, Betrachtungen und Briefen mit Musik auseinandergesetzt hat, war er der beste Klavierspieler, den er je gehört habe, und der „auf dem Klavier habe Klänge hervorbringen können, die kaum mehr Klaviermusik zu sein schienen, etwas ganz anderes“; nach dem Zeugnis seines Sohnes Bruno fügte er noch hinzu, dass „diese ganz besonderen Klänge […] außer Lipatti wohl noch keiner fertiggebracht [habe]“ (aus: Bruno Hesse, Vater im Gespräch). Der bekennende „Pianomane“ Michael Klonovsky schrieb: „Immer, wenn ich Dinu Lipatti spielen höre, entsteht in mir das Bedürfnis, die Hände zu falten. So ungefähr muss es den Alten ergangen sein, wenn sie einem Menschen begegneten, von dem sie annahmen, ein Gott habe ihn gezeugt“. Das klar von Barock und Romantik dominierte Repertoire Lipattis ist vergleichsweise schmal: Bach, zwei Sonaten von Scarlatti, Schubert-Impromptus, einzelne Werke von Liszt, Ravel, Mozart und Enescu, dem großen rumänischen Komponisten, Geiger und Dirigenten (der Lipattis Taufpate war und ihn auch musikalisch prägte), die Klavierkonzerte von Schumann und Grieg und vor allem Chopin. Das „Neue Testament“ der Klavierliteratur hingegen, also die Sonaten von Beethoven, fehlt in seinen Einspielungen erstaunlicherweise ganz. Lipatti, der Schüler von Alfred Cortot war, galt als Perfektionist, der jede einzelne Note verstehen wollte, um so zum innersten Wesen eines Werks vorzudringen – erst dann fühlte er sich bereit, das jeweilige Stück auch (öffentlich) zu spielen. Für die Erarbeitung von Beethovens Klavierkonzert Nr. 5 Es-Dur, op. 73 soll er vier Jahre eingeplant haben, wozu es aufgrund seines frühen Todes jedoch nicht mehr kam: Er starb am 2. Dezember 1950 im Alter von gerade einmal 33 Jahren an einer Krebserkrankung. Bei seinen Auftritten zeigte sich Lipatti 1 stets äußerst bescheiden und nahm sich gerne zurück; Clara Haskil, die zweite rumänische Klavierlegende des 20. Jahrhunderts, mit der Lipatti in den 1930er Jahren gemeinsam in Paris auftrat, sagte einmal über ihn: „Dinu Lipatti scheint sich wegen seiner Genialität zu genieren“. Doch diese echte Bescheidenheit kam seiner Musik zugute: Er musste sich bei einem Klavierkonzert nicht in den Vordergrund spielen, wozu es so viele Pianisten treibt, sondern er liebte das einfühlsame und intelligente Interagieren mit dem jeweiligen Orchester, wie etwa bei der 1948 gemeinsam mit Herbert von Karajan in London gestalteten Aufnahme von Schumanns Klavierkonzert, von dem gemeinhin gesagt wird, dass es nie so überzeugend und glanzvoll interpretiert wurde (hierzu sei jedoch angemerkt, dass die Einspielung dieses Konzerts mit der oben bereits erwähnten Clara Haskil aus dem Jahre 1955, die erst Anfang 2012 erstmals veröffentlicht wurde, für so manchen Klaviermusikliebhaber wohl beinahe ebenbürtig sein dürfte). Doch Lipatti war nicht nur ein Klavierspieler von Gottes Gnaden, er betätigte sich auch als Komponist. Dass er auch in diesem Metier über ein außergewöhnliches Talent verfügte, zeigt die 2012 erschienene Doppel-CD Piano Music of Dinu Lipatti, die sowohl eigene Werke als auch Bearbeitungen von Lipatti enthält, darunter drei Weltersteinspielungen. Sämtliche Stücke werden von der international renommierten rumänischen Pianistin Luiza Borac interpretiert, die sich vor allem mit Aufnahmen von Werken des bedeutendsten rumänischen Komponisten George Enescu einen Namen gemacht hat. Die Tonaufnahmen erfolgten in Berlin und London jeweils auf einem Bechstein-Flügel, da Lipatti Instrumente dieser Firma bevorzugte; in Berlin wurde als Aufnahmeort die Jesus-Christus-Kirche in Dahlem gewählt, die für ihre exzellente Raumakustik bekannt ist. Das viersätzige Concertino im klassischen Stil op. 3 zeigt Einflüsse der rumänischen Volksmusik, von Bartók und Enescu sowie vor allem auch von Bach (im 1. und 2. Satz). Die Sonatine für die linke Hand ist gänzlich von rumänischen Volksweisen durchdrungen und erinnert in starkem Maße an Bartóks rumänische Volkstänze (BB 68). Bei der Sonate d-Moll, die Lipatti im Alter von gerade einmal 14 Jahren schrieb, hört man gleich im ersten Satz deutlich den Einfluss der Romantiker, insbesondere von Chopin, im 2. und 3. Satz aber auch wieder Anklänge an die rumänische Volksmusik. Es folgen Lipattis Arrangement von Navarra, einer Komposition des Spaniers Albéniz, sowie zwei Nocturnes. Die zweite CD beginnt mit der Fantaisie für Klavier op. 8, die Lipatti seiner Frau gewidmet hat, und die aus fünf Sätzen mit jeweils ganz eigenem Charakter besteht. Diese komplexe und überaus abwechslungsreiche Komposition beginnt geheimnisvoll-melancholisch, doch ebenso wie die Sonatine für die linke Hand evoziert auch dieses rund 30-minütige Werk die rumänischen 2 Volkstänze von Bartók, vor allem im zweiten Satz. Im vierten Satz folgt verträumte Romantik mit einem Hauch von Rachmaninow. Die zahlreichen Harmonie-, Takt- und Tempowechsel verleihen der Fantaisie einen spätprokofjewschen-jazzigen Charakter, und man wird streckenweise an die mäandernden Soloimprovisationen eines Keith Jarrett erinnert. Die Aufnahme endet mit drei Bach-Transkriptionen aus Lipattis Feder: die von ihm häufig bei Auftritten gespielte Pastorale in F (BWV 590) und zwei Klavierübungen, die auf den Arien „Weil die wollenreichen Herden“ und „Schafe können sicher weiden“ aus der „Jagd-Kantate“ (BWV 208) beruhen. Diese wunderbar inspirierten Transkriptionen sind Verneigungen Lipattis vor der großartigen Musik seines Lieblingskomponisten Bach, die der große rumänische Philosoph Emil Cioran – ebenso wie die Kompositionen Mozarts – als Heilmittel gegen die Verzweiflung empfahl. Dinu Lipatti: Pianist von göttlicher Spiritualität Documents (Membran) Box-Set, 10 CDs Dinu Lipatti: Klavierwerke Luiza Borac, Klavier Academy of St Martin in the Fields, Jaime Martin Avie (Edel) 3