Louis Spohr Die letzten Dinge (1825/26) Louis Spohr (1784–1859) „Die letzten Dinge […] halten wir für eines der größten Musikwerke unserer Zeit. […] Dieses vorzügliche Oratorium wird seinen Ruhm immens vergrößern […].“ So pries 1830 ein englischer Kritiker (zitiert in Clive Browns Spohr-Biographie) das Werk und gibt damit wieder, welche Wertschätzung Louis Spohr in England, aber auch auf dem Kontinent erfuhr. Das bedeutendste seiner vier Oratorien war nach seiner Entstehung 1825/26 in Deutschland und vor allem in England weit verbreitet, bis es im Laufe der Zeit von Mendelssohns Oratorien verdrängt wurde. Entstehung Bereits 1812 unternahm Spohr im Rahmen des Oratoriums Das Jüngste Gericht einen Versuch, sich den Visionen des Weltuntergangs anzunähern. Das Werk hatte nur wenig Erfolg, es wirkte auf die Zeitgenossen opernhaft überfrachtet. Auch Spohr selbst bekundet in seinen Erinnerungen, dass er mit diesem ersten Versuch nicht zufrieden war. Nach 13 Jahren begann Spohr erneut mit Studien des Kontrapunktes und des Kirchenstils. Dadurch entwickelte er seine eigene Kompositionsweise für geistliche Werke und grenzte diese deutlich von der Oper ab. Die Gattung Oratorium beschäftigte Spohr in regelmäßigen Abständen: 1812 entstand Das Jüngste Gericht, 1825/26 Die letzten Dinge, 1835 das Passionsoratorium Des Heilands letzte Stunde und schließlich Der Fall Babylons, das 1842 in England uraufgeführt wurde. Sein Werk Die letzten Dinge basiert auf einer Textvorlage von Friedrich Rochlitz (1769-1842), der als Musikkritiker und Schriftsteller arbeitete und Spohr zum Schreiben eines weiteren Oratoriums anregte. Rochlitz schlug bei der Textgestaltung einen Weg ein, der im völligen Gegensatz zu Arnods Text zum Jüngsten Gericht stand: „Ich habe ein Oratorium nicht – gedichtet, […] sondern […] blos aus den erhabensten und (auch für die Musik) passendsten Stellen der heil. Schrift zusammengestellt“ i. Rochlitz hatte für seinen Text fast ausschließlich auf den originalen Wortlaut der Offenbarung des Johannes zurückgegriffen. Sein Vertrauen in Spohr war so groß, dass er diesen allein für fähig hielt, eine kongeniale Vertonung zu liefern: „Sie sind durchaus und zuverlässig der Erste, dem ich von der ganzen Sache sage: Sie werden wohl auch, selbst wenn Sie es nicht übernehmen, der Letzte seyn.“ ii Aufbau und Inhalt Der Einfluss von Rochlitz auf den Aufbau des Oratoriums kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Seine detaillierten Vorstellungen, auch in musikalischen Dingen, sind bemerkenswert und in der endgültigen Fassung des Oratoriums an vielen Stellen zu erkennen. Grundsätzlich rät er Spohr, auf „eigentliche Arien und sonst schwierige Soli“ zu verzichten und „begleitete Rezitative, kurze mehrstimmige Soli und vor allem Chöre“ zu bevorzugen iii. So vermied Spohr jegliches Moment der Virtuosität wie Koloraturen zugunsten kantabler, vom Orchester begleiteter Rezitative mit beseelter Melodik. Die Solisten fungieren zudem auch als Vorsänger. Weil der Sologesang also nicht isoliert steht, erreicht Spohr einen dichten, dramatischen Ablauf, der – auf die damalige Zeit bezogen – auf unkonventionelle und fantasievolle Art und Weise Abschied nimmt von der bisher vorherrschenden Reihung von Nummern und so fließende Übergänge schafft. Rochlitz nennt die so entstandenen Abschnitte „Szenen“, die dem Ganzen eine quasi durchkomponierte Großform geben. Wolfram Steinbeck ist uneingeschränkt beizupflichten, wenn er dem Werk eine „gattungsgeschichtlich eigentümliche, wenn nicht bis dahin einzigartige Anlage“ iv attestiert. Es fällt auf, dass Spohr und Rochlitz der Schilderung der endzeitlichen Schreckensvisionen wenig Raum geben. Um so stärker durchzieht das Werk eine positive, tröstliche und erwartungsfrohe Grundhaltung, die den Lobpreis Gottes und die Darstellung seiner Allmacht, Güte und Gerechtigkeit manifestiert. Darüber gerät die Handlung – der Vollzug der Apokalypse – fast zur Nebensache. Im ersten der beiden Teile (Nr. 1-12), der den Kapiteln 1 bis 7 entnommen ist, steht der Lobpreis Gottes im Mittelpunkt als Antizipation des Zustands nach dem Ende der Welt. Erst im zweiten Teil (Nr. 13-22) folgt nun knapp die Schilderung des Weltgerichts, gefolgt von der Bitte um Gottes Beistand. Den Abschluss bilden die Beschreibung des „neuen Himmels und der neuen Erde“ sowie ein weiteres Mal die Verherrlichung Gottes. Die Gattung Oratorium Spohr hat mit Die letzten Dingen ein Chorwerk geschrieben, das als eines der ersten romantischen Oratorien eingeordnet werden kann. Dass das deutsche geistliche Oratorium am Ende des 18. Jahrhunderts in eine Sinn- und Legitimationskrise geraten war, steht – zumindest aus heutiger Sicht – außer Frage. Die theologisch determinierte Beheimatung im Gotteshaus als liturgischem Ort der Aufführung, wo es als gesungene und musizierte Predigt gelten konnte, war verlorengegangen. Die Aufklärung als hinterfragende Gegenposition zu unkritischer Glaubenshaltung verstärkte diese Krise. Für viele Betrachter trat an die Stelle der festgefügten Ordnungen und Zuordnungen ein Vakuum. So verwundert es nicht, dass Joseph Haydns letzten beiden Oratorien Die Schöpfung (1797) und Die Jahreszeiten (1800) zugleich als Höhepunkt und Endpunkt dieser Entwicklung angesehen wurden. Es gibt aber auch eine andere, positivere Sicht der Dinge, bei der die Werke Haydns für das deutsche Oratorium den Beginn einer neuen Epoche markieren. „Die Idee einer Musik, die religiös ist, ohne liturgisch zu sein, war eines der zentralen Motive, die das ästhetische Denken der Epoche bestimmten.“ v Damit war die „Entkirchlichung“ der Gattung Oratorium vollzogen. Das Oratorium rückte im 19. Jahrhundert aus dem kirchlichen Rahmen in das bürgerliche Konzertwesen und wurde dort als Gegenstück der Sinfonie angesehen. Diese Säkularisierung kam auch durch die zunehmende Bedeutung bürgerlicher Singvereine und Musikakademien sowie durch die Abkehr der Bevölkerung vom Hof und von konfessionellen Bindungen zustande. Begünstigt wurde diese Veränderung durch das erstarkende Bürgertum, welches nach der Französischen Revolution den Zugang zum kulturellen Geschehen für sich reklamierte und sich in seinen Chorvereinigungen auch der Pflege großer geistlicher Werke annahm, allerdings mit veränderter Intention: Feudales und Klerikales trat in den Hintergrund; die Aufführungen waren öffentliche, konzertante Veranstaltungen, aus der gottesdienstlichen Gemeinde wurden Zuhörer, wurde Publikum. Der Komponist Louis Spohr (* 5.4.1784 in Braunschweig, † 22.10.1859 in Kassel) ist einer der bekanntesten Komponisten und Dirigenten, vor allem aber neben Paganini der berühmteste Violinvirtuose des frühen 19. Jahrhunderts. 1822 wurde der 38-jährige Louis Spohr – nach beruflichen Stationen in Gotha, Wien, Frankfurt und Dresden – als Hofkapellmeister des Kurfürsten Wilhelm II. von Hessen in Kassel angestellt, von 1848 bis 1857 war er dort Generalmusikdirektor. Die Hofoper entwickelte sich unter seiner Leitung zu einem der führenden Häuser in Deutschland. Spohr wurde weit über seine dienstlichen Verpflichtungen hinaus tätig: Bereits zweieinhalb Monate nach seinem Amtsantritt als Hofkapellmeister gründete er den Cäcilien-Verein, in dem er Adlige und Angehörige des höheren Bürgertums zum Chorgesang heranzog. Hier investierte er viel Kraft und Mühen, so dass er es schaffte, den Chor durch die Aufführung ganz unterschiedlicher Werke zu Höchstleistungen zu bringen. Neben Kompositionen Johann Sebastian Bachs werden auch Spohrs eigene Oratorien aufgeführt. Seine Bemühungen um den Chorgesang galten als Meilensteine der Kassler Musikkultur. Wirkung Spohr arbeitete mit großem Eifer an den Letzten Dingen, so dass der erste Teil des Oratoriums nach seiner Fertigstellung sofort vom Cäcilien-Verein mit Klavierbegleitung aufgeführt wurde, obwohl der komplette zweite Teil noch fehlte. Die Uraufführung der Letzten Dinge am Karfreitag (24. März) 1826 in Kassel, an der über 200 Mitwirkende beteiligt waren, kann als triumphaler Erfolg gelten. Dies lag vor allem natürlich an der Qualität der Musik, aber auch an der geschickt gewählten Inszenierung (verdunkelter Chorraum und ein mit 600 Glaslampen beleuchtetes, hängendes Kreuz), sowie daran, dass Spohr die beiden mitwirkenden Chorvereinigungen (Cäcilia und Singakademie) selbst einstudiert hatte und ihm mit der Hofkapelle ein Orchester von europäischem Spitzenrang zur Verfügung stand. So groß wie der Aufwand, den Spohr hier betrieben hatte, war auch der Erfolg des Werkes: Bis zu Mendelssohns Paulus galt es in Deutschland als das bekannteste Oratorium, und sogar in England befand sich im 19. Jahrhundert in vielen Haushalten ein Klavierauszug von Spohrs Die letzten Dinge. (Andrea Berreth) i Ernst Rychnovsky, „Ludwig Spohr und Friedrich Rochlitz. Ihre Beziehungen nach ungedruckten Briefen“, in: Sammelbände der Internationalen Musikgesellschaft (SIMG) 5, 1903/04, S. 264 ii Ebd. S. 265 iii Ebd. S. 264 iv Wolfram Steinbeck, „Eine edlere Apokalypse. Zu Spohrs Oratorium ‚Die letzten Dinge’“, in: Carmen Ottner (Hg.), Apokalypse, Symposium 1999, Wien/München 2001, S. 97 v Carl Dahlhaus, „Zur Problematik der musikalischen Gattungen im 19. Jahrhundert“, in: Wulf Arlt u.a. (Hg.), Gattungen der Musik in Einzeldarstellungen, Bern und München 1973, S. 884 Quellen: http://regiowiki.hna.de/Louis_Spohrs_Kirchenmusik http://regiowiki.hna.de/Louis_Spohr Schallhorn, Irene; Zeh, Dieter (2008): Louis Spohr, Chor-Partitur, Carus-Verlag Stuttgart, S. 2 Zeh, Dieter (2013): Booklet zu Louis Spohr, Die letzten Dinge, Carus-Verlag Stuttgart 2013 Scheideler, Ulrich: Die letzten Dinge, in : Silke Leopold; Scheideler, Ulrich (hrsg): Oratorienführer, S2. 680-682, Kassel 2001