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Zum Erwerb grammatischen Wissens - Einige Schlussfolgerungen
für die Therapie bei Dysgrammatismus
SAL-Bulletin Nr. 104
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Juni 2002
Priv.-DOz. Dr. Detlef Hansen
1.Einleitung
Universität Hannover
In diesem Beitrag geht es darum, anhand von Forsch Dysgrammatismus
mögliche Schlussfolgerungen für die Sprachförderung und für die
Sprachtherapie aufzuzeigen. Ich werde mich auf zwei Gruppen von
Klienten beziehen: auf die bislang in Theorie, Forschung und Praxis
vernachlässigte Gruppe der Jugendlichen mit Dysgrammatismus sowie auf
dysgrammatisch sprechende Kindern. Die Unterschiede in der Behandlung
dieser beiden Gruppen resultieren zu einem großen Teil aus theoretischen
Überlegungen zu spezifischen Erwerbsprozessen und psycholinguistischen
Forschungsbefunden. Sie haben nicht den gesamten Prozess des kindlichen
Spracherwerbs zum Gegenstand, sondern beziehen sich ausschließlich auf
den Erwerb der Grammatik. Für diese Perspektivenverengung bedarf es
selbstverständlich einer Begründung, die ich Ihnen durch einen sehr kurzen
Blick auf einige spracherwerbstheoretische Gesichtspunkte geben möchte.
Des Weiteren werde ich Ihnen einige Ergebnisse aus einer eigenen
Forschungsarbeit zur Vermittlung grammatischen Wissens vorstellen, um
die Schlussfolgerungen für die Sprachtherapie bzw. -förderung zu
konkretisieren.
2.spracherwerbstheoretische Überlegungen
Bekanntlich durchlaufen Kinder in den ersten Lebensjahren eine Vielzahl
sehr progredienter und nachhaltiger Entwicklungsprozesse. Zu den
herausragenden kognitiven Leistungen in der frühen Kindheit gehört sicher
der Erwerb der menschlichen Sprache. U.a. wird die unauffällige
Leichtigkeit, mit der dieser Erwerbsprozess vonstatten geht, dafür
verantwortlich sein, dass er in seiner Komplexität als Lernprozess meist
weit unterschätzt wird. So ist die weit verbreitete Vermutung, Kinder
lernten ihre Muttersprache allein durch Nachahmung, beredtes Beispiel für
eine Reihe typischer Fehleinschätzung.
Schon einige wenige Alltagsbeobachtungen stellen scheinbar Selbstverständliches in Bezug auf den kindlichen Spracherwerbsprozess in Frage:
Angesichts der Mühsal und des bescheidenen Erfolgs, den Erwachsene
beim Erlernen einer Sprache verbuchen, mutet es fast schon wie ein
Wunder an, dass Kinder dazu in frühester Kindheit, innerhalb weniger
Jahre und auf der Basis einer noch unvollständigen kognitiven Entwicklung
fähig sind. Darüber hinaus können Kinder unter entsprechenden
Bedingungen sogar mühelos mehrere natürliche Sprachen erwerben.
Die allgemeine kognitive Entwicklung und Fähigkeit kann für die
Leistungsdiskrepanzen zwischen erwachsenen Lernern und Kindern kaum
verantwortlich sein; im Gegenteil: ginge man von einem sehr engen
Zusammenhang zwischen Sprache und Kognition aus, müssten Erwachsene
aufgrund ihres kognitiven Entwicklungsniveaus und Leistungsvermögens
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sicher sehr viel besser abschneiden als Kinder im Alter zwischen 2 und 6
Jahren. Wenn man nun noch bedenkt, dass es sogar Kinder gibt, die trotz
geistiger Behinderung die komplexen Strukturen der Grammatik ihrer
Muttersprache perfekt erwerben, wird der Erklärungsnotstand vollends
deutlich.
Der Erwerb der Muttersprache weist offensichtlich einige Besonderheiten
auf, die ihn von anderen Formen menschlichen Lernens grundsätzlich
unterscheiden. Zu diesen Besonderheiten gehört seine partielle Unabhängigkeit von äußeren Einflüssen und sogar von intrapersonalen Lernvoraussetzungen und -bedingungen. Besonders deutlich wird diese partielle Autonomie beim Erwerb sprachlichen Regelwissens. Wie zahlreiche Untersuchungen zeigen, ist der Erwerb der Grammatik und des Lautsystems der
Muttersprache z.B. weitestgehend unabhängig von der Intelligenz des
Kindes, vom soziokulturellen Milieu, von Erziehungsstilen und vom
Interaktionsverhalten seiner Bezugspersonen, ja sogar von der Art, wie ihm
der muttersprachliche Input dargeboten wird. Ob Eltern mit ihren Kindern
viel oder wenig, direktiv oder nicht-direktiv, elaboriert oder eher in einer
einfachen Sprache kommunizieren - das Lautsystem und die Grammatik
ihrer Muttersprache erwerben im Regelfall alle Kinder gleichermaßen, und
die dabei auftretenden, unbedeutenden Zeitdifferenzen liegen quer zu den
genannten Faktoren.
Diesen Beobachtungen und weiteren Befunden aus der Kindersprachforschung tragen psycholinguistische Spracherwerbstheorien Rechnung.
Neben allgemeineren Prinzipien des Lernens und der Informationsverarbeitung beinhalten sie autonome, auf den Erwerb formalsprachlichen Wissens
spezialisierte kognitive Module, die für die Kompilation der eingehenden
Daten, des sprachlichen Input also, zu Strukturen höheren Wissens
zuständig sind. Mit anderen Worten, man geht davon aus, dass das Kind
die Sprache seiner Umgebung in höchst spezifischer Weise verarbeitet, und
dass es mit einem ihm angeborenen Erwerbsmechanismus ausgestattet ist,
der den Erwerbsprozess in der uns bekannten Form erst ermöglicht und die
präzise Gleichförmigkeit und die hohe Erfolgsrate über alle Lerner und
Bedingungen hinweg sicherstellt.
3.spezifische Sprachentwicklungsstörung . Dysgrammatismus
Dennoch kommt es beim Primärspracherwerbsprozess hin und wieder zu
Störungen, die sich manifestieren können und dann als so genannte
Sprachentwicklungsstörungen behandlungsbedürftig werden. Sprachentwicklungsstörungen können auf verschiedenen sprachlichen Ebenen
auftreten; liegen sie im Bereich der Grammatik, spricht man vom
Dysgrammatismus oder - in Anlehnung an die international gebräuchliche
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Terminologie - von Specific Language Impairment (SLI) oder "spezifischer
Sprachentwicklungsstörung" .
Das Wissen über die spezifische Sprachentwicklungsstörung ist in den
letzten Jahren enorm erweitert worden. Dazu hat vor allem die psycholinguistische Kindersprachforschung entscheidend beigetragen: In dem Maße,
in dem Gesetzmäßigkeiten des ungestörten Spracherwerbs entdeckt
wurden, gewann man auch neue Erkenntnisse über Funktions- und Entwicklungszusammenhänge bei Spracherwerbsstörungen.
Auch wenn die interdisziplinäre Grundlagenforschung auf diesem Gebiet
noch lange nicht abgeschlossen ist, haben die neuen Erkenntnisse zu einer
kritischen Revision der herkömmlichen Verfahren und Praktiken der
Sprachdiagnostik und -therapie und zum Teil schon zur Entwicklung neuer
pädagogisch-therapeutischer Konzepte geführt. Neue Wege der Sprachtherapie mit dysgrammatisch sprechenden Kindern wurden entwickelt und im
Rahmen von Therapiestudien empirisch überprüft (siehe z. B. Dannenbauer
1992; Hansen 1994, 1996).
Die anwendungsbezogenen Forschungsbemühungen richteten sich bislang
ausschließlich auf den Bereich der frühkindlichen Spracherwerbsstörungen.
Die Gründe dafür liegen auf der Hand: In der frühen Kindheit stehen dem
Kind jene, vorhin schon erwähnten, Spracherwerbsmechanismen zur
Verfügung, die ihm den mühelosen, gleichsam automatischen Erwerb einer
natürlichen menschlichen Sprache ermöglichen, und die psycholinguistische
Forschung hat gezeigt, dass auch sprachentwicklungsgestörte Kinder in der
Regel über die grundlegenden kognitiven Module verfügen.
Nun sind die Spracherwerbsmechanismen nur innerhalb einer begrenzten
Zeitspanne, nämlich in der so genannten sensiblen Phase, etwa bis zum 1012 Lebensjahr, wirksam. Danach ist das Sprachlernen wesentlich
aufwändiger und weniger erfolgreich, sodass dem pädagogischen
Grundsatz der Frühförderung bei Sprachentwicklungsstörungen ganz
besonders dringend zu folgen ist.
In neueren sprachtherapeutischen Ansätzen nutzt man diese Erkenntnisse,
indem man die im ungestörten kindlichen Spracherwerb wirksamen
Prinzipien durch ein gezielt aufbereitetes und entwicklungsangemessenes
Sprachangebot zu aktivieren versucht (Dannenbauer 1992; Haffner 1995;
Hansen 1994, 1996).
4.Dysgrammatismus bei Jugendlichen
Leider muss man davon ausgehen, dass die in der Phase der frühen
Kindheit und in der Grundschulzeit durchgeführten sprachtherapeutischen
Maßnahmen nicht bei allen Kindern mit spezifischen Sprachentwicklungsstörungen zum Erfolg führen. Auch wenn repräsentative Studien dazu
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fehlen; ein Blick in die schulische und außerschulische Praxis zeigt deutlich,
Schülergruppe zunehmend. Hinzu kommt, dass Texte, deren Inhalte nicht
dass viele der ehemals als 11 dysgrammatisch 11 diagnostizierten Kinder noch
allein aus der Bedeutung der Wörter und des Kontextes erschlossen werden
als Jugendliche Auffälligkeiten im Bereich der Grammatik haben.
können, sondern zusätzlich grammatische Dekodierungsleistungen
Über die Auswirkungen der Sprachauffälligkeiten auf die Persönlichkeits-
erfordern, von den dysgrammatischen Jugendlichen oft falsch oder gar
und Sozialentwicklung sowie auf das schulische Lern- und Leistungsverhal-
nicht verstanden werden. Das bezieht sich auf Sachtexte ebenso wie z.B.
ten ist bislang wenig bekannt. Dazu, wie auch zu rein deskriptiven
Aspekten des Sprachgebrauchs dysgrammatisch sprechender Jugendlicher,
auf schriftliche Arbeitsanweisungen.
Untersucht man die Sprache der dysgrammatisch sprechenden Jugendlichen
liegen es im deutschsprachigen Raum zurzeit lediglich die Studien von
genauer, so fällt auf, dass ihr Spracherwerb an einem bestimmten Punkt
Schöler und Mitarbeitern vor (vgl. Schöler 1992; Schakib-Ekbatan &
der Entwicklung in bestimmten Bereichen offensichtlich zum Stillstand
Schöler 1995a, 1995b).
gekommen ist. Davon sind u. a. die Wortstellung, insbesondere die
Hinsichtlich des Erwerbs grammatischer Fähigkeiten zeigen Schölers
Verbstellung, und in der Morphologie Genus- und Kasuszuweisungen, der
vergleichende Längsschnittstudien, dass die von ihm untersuchten
Gebrauch grammatischer Funktionswörter und die Beachtung der
dysgrammatisch sprechenden Jugendlichen in Teilbereichen der Grammatik
grammatischen Kongruenz (z. B. zwischen Subjekt und Verb) betroffen. Es
nicht einmal den Sprachstand sprachunauffälliger Grundschulkinder (7-8-
stellt sich also die Frage, wie und unter welchen Bedingungen dieser in
jähriger) erreichen. Die formalsprachlichen Defizite der Probanden werden
Teilen gleichsam fossilisierte Prozess des Grammatikerwerbs wieder
aktiviert werden kann.
auf Störungen des Aufbaus sprachlicher Wissens strukturen und gestörte
akustische Verarbeitungsprozeduren zurückgeführt (Schakib-Ekbatan &
Schöler 1995a).
5.Schlussfolgerungen für sprachtherapeutische Interventionen
Hinsichtlich der Auswirkungen der Sprachauffälligkeiten auf das schulische
Es dürfte klar sein, dass es hier zur Begründung sprachtherapeutischer
Lernen muss festgestellt werden, dass nach der Grundschulzeit offensicht-
Interventionen neben pädagogischer auch psycholinguistischer und
lich keine nenneswerten Verbesserungen im Lern- und Leistungsverhalten
mehr eintreten: Nach Kohorten-Sequenz Analysen von Schöler (1992)
sprachdidaktischer Erkenntnisse bedarf: Psycholinguistische Theorien und
verringert sich das Leistungsniveau dysgrammatisch sprechender Schüler
arbeitungsprozesse, Erkenntnisse aus der Sprachdidaktik und der
mit zunehmender Schulzeit signifikant; d.h. die Schulleistungsunterschiede
Sprachlehrforschung können nutzbar gemacht werden, um Vermittlungs-
zu sprachunauffälligen Kindern werden zunehmend größer (vgl. auch
methoden zu begründen. Es handelt sich also hier um ein interdisziplinäres
Schöler et aI.1998). Ein wesentlicher Grund dafür dürfte in der zunehmen-
Aufgabengebiet. Die folgenden theoretischen und empririschen Befunde aus
den sozialen und schulleistungsbezogenen Bedeutung eines auch formal
verschiedenen Wissenschaften sind hier relevant:
korrekten Sprachgebrauchs liegen.
Sprachliche Lernprozesse verlaufen bei Jugendlichen und Erwachsenen
Mit zunehmendem Alter wird die dysgrammatische Sprechweise der
Schüler sozial immer weniger akzeptiert und - oft zu Unrecht - mit
prinzipiell anders als bei Kindern. Wenn die universellen Spracherwerbsmechanismen, die den Erwerb der Grammatik in der frühen Kindheit stark
kognitivem Unvermögen gleichgesetzt. In den retrospektiven Selbstein-
unterstützen und steuern, nicht mehr wirksam sind, gewinnen kognitive
schätzungen sowie Elternbefragungen (Schakib-Ekbatan & Schöler 1995b)
Lernstrategien zunehmend an Bedeutung. Wie die Zweitspracherwerbs-
wird hinsichtlich der Schullaufbahn immer wieder betont, dass die
sowie die Sprachlehrforschung schon in den achziger Jahren zeigte, wird
formalsprachlichen Defizite, d.h. die dysgrammatische Sprechweise, der
der Lernprozess jenseits der sensiblen Phase des kindlichen Spracherwerbs
mehr und mehr vom kognitiven Leistungsniveau des Lerners einerseits und
wesentliche Grund für die zunehmenden sozialen und schulischen
Benachteiligungen gewesen seien.
Befunde geben Auskunft über Spracherwerbs- und Sprachver-
von der linguistischen Komplexität der zu erwerbenden Regeln und
Auch im Kontext der Sonderschule lassen sich die angesprochenen
Strukturen andererseits bestimmt (vgl. z. B. Felix 1980; Jordens 1987).
Probleme offensichtlich nicht ohne weiteres lösen: Auch hier transferieren
die spezifischen sprachlichen Schwierigkeiten dieser Schülergruppe auf alle
Bestimmte syntaktische Regeln z.B. lernen Erwachsene im ungesteuerten
Bereiche des schulischen Lernens: Durch die Orientierung am Curriculum
Zweitspracherwerb - im Gegensatz zu Kindern im Erstspracherwerb - oft
der Regelschulen übersteigen die schulischen Anforderungen an die
überhaupt nicht, weil sie von zu hoher formaler Komplexität sind und
ohne didaktische Unterstützung induktiv nicht ohne weiteres erschlossen
schriftlichsprachlichen Leistungen die grammatischen Fähigkeiten dieser
werden können (vgl. z. B. Clahsen et al. 1983). Ebenso wie bei Erwachse-
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nen, die eine Fremdsprache lernen, kann man auch bei den jugendlichen
Dysgrammatikern nicht mit der Wirksamkeit autonomer Spracherwerbsmechanismen rechnen. Ein Triggern, d.h. Auslösen von Erwerbsfortschritten durch einen spezifischen sprachlichen Input (Hansen 1994;
1996), dürfte bei Jugendlichen - anders als bei Kindern - nicht mehr
möglich sein.
Wie die moderne Sprachlehrforschung zeigt, führen insbesondere so
genannte kognitivierende Verfahren der Vermittlung metasprachlichen
Wissens zu einer Verbesserung der formal-sprachlichen und kommunikativ-pragmatischen Fähigkeiten von Schülern (vgl. Tönshoff 1992; 1995).
Kognitivierende Vermittlungsverfahren beruhen darauf, dass die Schüler
sprachliche Strukturprinzipien und Gesetzmäßigkeiten erkennen und somit
meta sprachliche Regelkenntnisse erwerben. Mit anderen Worten, sie
erwerben Wissen über Sprache. Diese metasprachliche Wissen ist der
explizite, dem Bewusstsein zugängliche Teil des deklarativen Sprachwissens. Neben dem impliziten Wissen, das primärsprachlich erworben und
nicht bewusst ist, kann auch das explizite, metasprachliche Wissen unter
Anwendung prozeduralen Wissens in Sprachverarbeitungsprozesse
eingehen. Voraussetzung für eine flüssige Verarbeitung ist ein hinreichender Operationalisierungs- und Automatisierungsgrad, was u.a. durch
häufigen Gebrauch der betreffenden sprachlichen Regeln und Strukturen in
geeigneten, motivierenden Kontexten erreicht werden kann (vgl. Börner
und Vogel 1994, De Florio-Hansen 1995).
Experimentelle Studien zur Wirksamkeit kognitivierender Verfahren im
Fremdsprachenunterricht zeigen deutlich, dass der Erwerb metasprachlichen deklarativen Wissens positiv auf den mündlichen und schriftlichen
Sprachgebrauch transferiert. Besonders groß ist der Lerneffekt, wenn das
Wissen (a) vom Lerner selbst aktiv, z.B. durch gelenktes Entdecken, und
induktiv erarbeitet wird und wenn er (b) zusätzlich Monitoring-Strategien,
die Kontrolle und Selbstkorrekturen bei der Sprachproduktion unterstützen, zur Verfügung hat (vgl. Tönshoff 1992).
6.Empirische untersuchungen
Unter Berücksichtigung dieser Erkenntnisse und Befunde aus der
Psycholinguistik und der Sprachdidaktik, genauer der Fremdsprachenlehrforschung und -didaktik, wurden Möglichkeiten der unterrichtlichen
Vermittlung metasprachlichen Wissen entwickelt und im Rahmen einer
empirischen Studie überprüft.
Die Ausgangshypothese lautet, dass der methodisch kontrollierte Aufbau
bzw. Ausbau metalinguistischen Wissens und die produktive Anwendung
der erlernten Regeln in motivierenden, für die Jugendlichen bedeutsamen
sprachlichen Handlungskontexten zu einer Verbesserung der spontanen
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mündlichen und schriftsprachlichen Leistungen im Bereich der Grammatik
führen.
Im Folgenden wird die Durchführung der Fördermaßnahmen in den
Klassen 7-10 einer Hauptschule für Sprach behinderte skizziert. Die
Maßnahmen wurden in den Sprachförderunterricht integriert und über den
Zeitraum eines Schulhalbjahres durchgeführt.
Anschließend werden die Ergebnisse über eine Gruppe von 12 Schülern im
Alter zwischen 14;5 Jahren und 17;7 Jahren, die u. a. wegen gravierender
sprachlicher Entwicklungsrückstände im Bereich der Grammatik diese
Schule besuchten, referiert.
6.1 Durchführung
1.
Mit Hilfe von COPROF (Clahsen/Hansen 1991) wurde eine
deskripte Analyse des Sprachgebrauchs der Schüler erstellt, um das
grammatische Regelwissen zu rekonstruieren. D.h. es wurden keine reinen
Fehleranalysen durchgeführt, sondern Fähigkeitsprofile erstellt.
2.
Abhängig vom diagnostischen Befund und der linguistischen
Komplexität wurden grammatische Zielstrukturen bestimmt. Die hier
relevanten Gesetzmäßigkeiten sollten vom Schüler selbst erkannt werden;
d.h. Regeln wurden nicht vorgegeben, sondern sollten erschlossen werden.
Als Methode wurde das gelenkte Entdeckenlassen gewählt, d.h. die Schüler
bekamen ein reichhaltiges, spezifisches Textangebot, das prägnant und
kontrastiv war und induktive Schlussfolgerungen hinsichtlich der zu
erkennenden grammatischen Regularitäten ermöglichte.
3.
Es wurden vielfältige Übungs- und kommunikative Verwendungsmöglichkeiten für den Gebrauch der neuerlernten grammatischen Regeln
geschaffen, um das Gelernte zu festigen und zu automatisieren (motivierende Schreib-/Redeanlässe; lebensnahe, handlungsrelevante Sprachverwendungssituationen und -kontexte).
4.
Auf der Basis mündlicher Spontansprachproben und schriftsprachlicher Leistungen wurden lernprozessbegleitende Evaluationen im Sinne
systematischer Lernzielüberprüfungen durchgeführt, um den Lernprozess
zu steuern und Daten für die wissenschaftliche Überprüfung der Methode
zu gewinnen.
6.2 Eingangsbefunde
Die diagnostischen Eingangsbefunde zeigten deutlich, dass die VerbsteIlung
offenbar ein zentrales Problem aller Probanden war: In der Spontansprache
stehen in mehr als der Hälfte der Fälle (ca. 57%) die Verben am Ende der
Äußerungen; in schriftlichen Texten beträgt der Anteil ca. 47%.
Geht man vom kindlichen Spracherwerb aus, ließe der Befund vermuten,
dass S-V-Kongruenz nicht systematisch beachtet wird (vgl. Clahsen 1988;
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Hansen 1996). Die Untersuchungsergebnisse bestätigen diese Hypothese:
Verben segmentiert, indem induktiv, durch Erkennen von Gleichheit und
Insgesamt weisen nur ca. 70% der Äußerungen S-V-Kongruenz auf.
Verschiedenheit nach (unverändertem) Verbstamm und varierenden
Soweit sind die Befunde vergleichbar mit den Befunden über Kinder im
Endungen unterschieden und entsprechende Paradigmen erstellt wurden:
Erstspracherwerbsprozess. Solange nämlich die Verbflexionsparadigmen
geh-ei geh-st; geh-ti geh-en etc. Die formale Abhängigkeit der Verbendung
unvollständig sind und das Prinzip der S-V-Kongruenz noch nicht erkannt
von grammatischen Merkmalen des Subjekts (Person und Numerus) wurde
ist, ist VerbsteIlung nicht festgelegt.
über weitere Textmanipulationen, die die Schüler durchführten (z. B.
Im Gegensatz zu Kindern in Erstspracherwerb verfügen die dysgrammatisch sprechenden Jugendlichen jedoch über alle regulären Verbflexionsformen und Suppletivformen, ohne dass dadurch die Verbzweitstellung
(V2) ausgelöst worden wäre. Das bedeutet, dass sie die funktionale
Bedeutung der Verbflexive nicht erfasst haben und keine Unterscheidung
+/- finit vornehmen. Man kann annehmen, dass die Jugendlichen
Dysgrammatiker die Verbflexionsformen zu spät, d. h. zu einem Zeitpunkt,
an dem der sogen. V-INFL-Parameter (Clahsen 1988) nicht mehr verfügbar
ist, erworben haben.
Aus den Eingangsbefunden leiten sich die folgenden Schlussfolgerungen ab:
(1)
Es sollte zunächst die funktionale Bedeutung der Verbflexive und
damit das Prinzip der Subjekt-Verb-Kongruenz vermittelt werden.
(2)
Anders als bei Kindern (vgl. Hansen 1996) wird dies nicht zum
Erwerb der Verbzweitstellungsregel (V2) führen. Deshalb ist die
zusätzliche Vermittlung metasprachlichen Wissens über die Verbstellung im Deutschen nötig.
Perspektivenwechsel der Erzählung), erkennbar. Damit die Schüler diese
abstrakten Zusämmenhänge und Regelhaftigkeiten anhand von prägnantem und kontrastivem Textmaterial auf dem Weg des gelenkten
Entdeckenlassens induktiv erschließen konnten, mussten individuell
abgestimmte Hilfen gegeben werden.
Nachdem das Prinzip der Subjekt-V erb-Kongruenz erarbeitet war, wurden
Übungen zur bewusste Kontrolle über Kongruenz (wegen des Zeitfaktors
zunächst in schriftlichen Texten) durchgeführt; z.B. Lückentexte, in denen
Verbformen unter Berücksichtigung von Person und Numerus des Subjekts
eingesetzt werden müssen. Auch hier wurden individuell bestimmte Hilfen
(z. B. durch Visualisierung der Beziehung zwischen Subjekt zum finiten
Verb mit Hilfe von Pfeilen; Unterstreichungen etc.) gegeben (siehe Beispiel
"Texta uszug Kriminalgeschichte" ).
Textauszug: Kriminalgeschichte
6.3 vermittlung metasprachlichen Wissens zur Subjekt·verb·Kongruenz
Daran (erkennen) ich doch sofort, dass etwas
Voraussetzung für die Vermittlung expliziten sprachlichen Wissens in den
angezielten Bereichen ist, dass die Schüler syntaktisch relevante Äuße-
Die Tür (sein) auf, und auch die Fenster (ste-
rungsbestandteile (Subjekt; Objekt; Verben) erkennen und benennen
hen) offen.
können. Dazu diente eine Unterrichtsphase strukturbezogener Textarbeit,
Außerdem (liegen) die Zeitung von Freitag auf
in der zunächst Satzteile durch Permutation, Substitution u. ä. Verfahren
dem Tisch,
ermittelt wurden. Vor allen funktionale und semantische Eigenschaften der
und der Hund (haben) sein Fressen nicht ange-
Satzteile bildeten die Grundlage für vorläufige Definitionen (z. B.: Subjekt
rührt.
nicht (stimmen):
=Agens einer Handlung), die erst später aufgrund kontrastiver Beispiele
Du (können) mir sagen, was du (wollen);
revidiert und erweitert wurden. Grammatikbezogene AufgabensteIlungen,
ich (rufen) jetzt die Polizei.
die in Schwierigkeitsgrad und Arbeitsform/-material an die individuellen
Lernvoraussetzungen der einzelnen Schüler angepasst wurden, sollten ein
sicheres Erkennen von Elementen und Strukturen ermöglichen. Zur
Vermittlung meta sprachlichen Wissens über die Subjekt-Verb-Kongruenz
im Deutschen sollten z. B. in speziell dazu erstellten Texten finite Verben
und Subjekte erkannt und herausgeschrieben/unterstrichen/ausgeschnitten
etc. werden. Wenn die Schüler diese grammatischen Kategorien sicher
erkannten, sollten die regelhaften Beziehungen zwischen dem Verb und
dem Subjekt herausgearbeitet werden. Dazu wurden zunächst die finiten
6.4 zwischenergebnisse
In der im Unterricht aufgezeichneten Spontansprache ging der Anteil der
Äußerungen, in denen die Subjekt-V erb-Kongruenz nicht beachtet wurde,
auf ca. 5% zurück, in schriftlichen Texten war dieser Anteil sogar noch
geringer; vermutlich weil den Schülern Monitoring-Strategien vermittelt
wurden, die im Schriftlichen aufgrund der der Sprachproduktion zur
Verfügung stehenden Zeit sehr viel besser genutzt werden können als in der
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spontanen mündlichen Sprache. Vor der Vermittlung der Subjekt-VerbKongruenz betrug der Anteil der Äußerungen ohne S-V-Kongruenz
immerhin 30%, sodass die Vermittlung metasprachlichen Wissens in
diesem Bereich als erfolgreich angesehen werden kann: Explizites
grammatisches Wissen und ein durch strukturbezogene Übungen erzielter
Automatisierungsgrad bei der Anwendung dieses Wissens haben zu einem
starken Rückgang der spezifischen grammatischen Fehlleistungen geführt.
Wie angenommen, waren die Befunde zu VerbsteIlung zu diesem Zeitpunkt
der Untersuchung unverändert; nach wie vor standen die finiten Verben in
den Äußerungen der Schüler in ca. 50-60% in Endstellung, wenngleich nun
fast immer mit den standardsprachlich richtigen Flexiven. Das heißt, dass
der Erwerb des Kongruenzprinzips bei den Jugendlichen - anders als bei
Kindern - nicht zum Erwerb der Verbzweitstellung geführt hat.
Die bewusste Anwendung und Kontrolle des Erarbeiteten und Gelernten
wurde ebenfalls durch schriftliche Übungen zur Satzbildung unter
Anwendung der Regel (z. B. Wortkarten zu Sätzen legen), durch
korrektives Feedback im mündlichen Sprachgebrauch, aber auch explizite
Korrekturen automatisiert.
6.6 Ergebnisse
Das Erkennen der syntaktischen Gesetzmäßigkeiten sowie die bewusste
und durch automatisierte Kontrolle über die VerbsteIlung führten zu einer
starken Reduktion der zielsprachlich nicht korrekten Verbendstellungsmu-
Ein weiterer Schritt bestand also darin, den Schülern auch die Stellungsre-
ster: Finale VerbsteIlung kam am Ende der Studie nur noch bei ca. 15%
(vorher bei 57%) der spontansprachlichen mündlichen Äußerungen und
nur noch bei weniger als 10% (vorher bei 47%) der Sätze in schriftlichen
Texten vor.
gularitäten für Verben in ihrer Muttersprache kognitiv zugänglich zu
machen. Das folgende Schema zeigt, wie anhand von Beispeilsätzen
zunächst eine einfache Regel abgeleitet und dann sukzessive präzisiert und
7.Schlussfolgerung
reformuliert wurde:
Interdisziplinäre Erkenntnisse zum Erwerb grammatischen Wissens und
6.5 vermittlung metasprachlichen Wissens zur verbsteIlung
grammatischer Fähigkeiten sind grundlegend für die Entwicklung und
Begründung sprachfördernder und sprachtherapeutischer Maßnahmen. Im
vorliegenden Fall hat es sich als nützlich erwiesen, sprachwissenschaftliche,
psycholinguistische und fremdsprachdidaktische Erkenntnisse zu
Beispielsätze:
Er trifft sich mit ihr.
Sie trägt eine blaue Jacke.
Sie gehen ins Kino.
•
Formulierung der 1. Regel:
Das Verb steht nach dem Pronomen.
(PRO V X)
Beispielsätze:
8.Literatur
Das Kino liegt am Rande der Stadt.
Markus und Anja fahren mit dem Bus.
Zwei Freunde begleiten sie.
•
Reformulierung der 1. Regel:
Das Verb steht nach dem Subjekt.
(S V X)
Beispielsätze:
Mit dem Bus fahren sie auch zur Schule.
Morgens ist er viel voller.
Den Weg kennen sie natürlich schon.
•
Reformulierung der 2. Regel:
Das Verb steht nach dem ersten Satzglied.
(X V S y)
berücksichtigen. Am Beispiel der Studie zur Vermittlung metasprachlichen
Wissens zeigt sich auch die Notwendigkeit der empirischen Überprüfung
von Therapie- und Unterrichtsmethoden, die nach Möglichkeit erfolgen
sollte, bevor sie Einzug in die Praxis halten.
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