B2 HUMBOLDT-UNIVERSITÄT DER TAGESSPIEGEL PHILOSOPHIE! Wie NR. 22 910 / SONNTAG, 16. OKTOBER 2016 über gesellschaftliche Zustände nachgedacht wird und warum Lieben zum Menschsein gehört Die Welt gerechter machen Die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer größer. Wie lässt sich mehr Gleichheit verwirklichen? Von Ljiljana Nikolic und Katja Riek Am Anfang ein Gedankenexperiment. Stellen Sie sich vor, Sie könnten sich in einen geistigen Zustand vor Ihrer Geburt versetzen. Wie würden Sie die Welt gestalten, in der Sie leben wollen? Allerdings wüssten Sie nicht, ob Sie in eine durchschnittliche deutsche oder in eine vom Krieg betroffene syrische Familie hineingeboren werden. John Rawls (1921 – 2002), Autor des modernen Klassikers „A Theory of Justice“ und „Vater“ des Gedankens, war sich sicher: Jeder würde wahrscheinlich eine Welt erschaffen wollen, in der größtmögliche Freiheit und Gleichheit herrschen. Zu groß wäre sonst das Risiko, in eine Position hineingeboren zu werden, in der man materiell und immateriell benachteiligt ist. Laut der Organisation Oxfam besitzen die 62 reichsten Menschen der Welt genau so viel wie die Hälfte der Weltbevölkerung – also etwa 3,5 Milliarden Menschen. Seit einigen Jahren wird die wachsende Einkommens- und Vermögensungleichheit auch in Deutschland intensiv diskutiert. „Besitz ist innerhalb von Staaten heute beinahe wieder so ungleich verteilt, wie es vor dem Ersten Weltkrieg der Fall war“, sagt Gabriel Wollner. „Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Vermögen größtenteils vernichtet, die Ausgangssituation war egalitärer, in den 50er, 60er und 70er Jahren erlebte Deutschland, aber auch Frankreich, England und die USA, eine Zeit abnehmender Ungleichheit.“ Ende der 70er fing die Schere zwischen Arm und Reich wieder an auseinanderzugehen. Gabriel Wollner kommt aus der politischen Philosophie. Er erforscht globale Wirtschafts- und Umweltgerechtigkeit – als Juniorprofessor am Institut für Philosophie und am Die Schere IRI Thesys der HU, geht seit den wo er eine interdisziplinäre Forscher1970ern gruppe leitet. massiv Warum wächst auseinander die Kluft zwischen Arm und Reich? „Ungleichheit hängt unter anderem davon ab, wie viel Reichtum in einer Gesellschaft angehäuft wird. Wenn die ohnehin Vermögenden an ihrem Reichtum stärker verdienen als die Volkswirtschaft insgesamt wächst, werden sie schneller wohlhabend als der Rest der Gesellschaft.“ Dabei spielen politische Faktoren und internationale Wirtschaftsordnungen eine Rolle, wie etwa das Ende des Bretton-Woods-Systems und die damit einhergehende Liberalisierung der Finanzmärkte oder die Fähigkeit von Staaten, angemessen zu besteuern. „Für große Unternehmen ist es viel zu leicht, sich einer gerechten Besteuerung zu entziehen. Jüngstes Beispiel dafür ist die Steuereinsparstrategie von Apple in Irland“, sagt der 34-Jährige. Ungleichheit fühlt sich für viele moralisch problematisch an, aber ist sie das auch? „Egalitaristen sind vom Wert der Gleichheit überzeugt und glauben, dass sie ein Erfordernis von sozialer Gerechtigkeit ist. Zudem hat Ungleichheit eine Vielzahl schlechter Konsequenzen und kann beispielsweise eine Gefahr für demokratische Institutionen darstellen. Dahinter steht die Vermutung, dass Menschen mit höherem Einkommen und größeren Vermögen stärkeren politischen Einfluss nehmen“, erklärt Wollner, der in Oxford und Harvard studiert hat und am University College London promoviert wurde. Zwei weitere, einfache Argumente gegen Ungleichheit: Wenn es Menschen materiell Leben in Armut. Milliarden Menschen leben weltweit in prekären Verhältnissen – während einige wenige Reichtümer ansammeln. So besitzen die 62 reichsten Menschen genauso viel wie die Hälfte der Menschheit. Foto: Colorbox.de schlecht geht, und gleichzeitig Menschen im Überfluss leben, heißt das, dass die Ressourcen zur Linderung von Not vorhanden sind und das Problem durch Umverteilen gelöst werden kann. Einen grundlegenden Einwand gegen Ungleichheit verdeutlicht das Gedankenexperiment des Harvard-Philosophen John Rawls. Dürfen demnach Zufälle wie Geschlecht, Hautfarbe oder soziale Herkunft Einfluss auf das eigene Fortkommen und wirtschaftliche Wohlergehen haben? Keinesfalls, sagt Wollner, ein großer Teil der heutigen sozialen Ungleichheit ließe sich auf Faktoren zurückführen, die aus moralischer Sicht nicht gerechtfertigt sind. Wie ließe sich eine Welt, in der mehr Gleichheit herrscht, verwirklichen? Eine enge Verknüpfung von nationalstaatlicher und globaler Perspektive ist vonnöten. „Hauptinstrument für mehr Gleichheit ist eine progressivere Einkommens-, Vermögens- und Kapitalbesteuerung.“ Es müsste beispielsweise über politische Reformen nachgedacht werden, die es vermögenden Unternehmen erschweren, sich Steuern zu entziehen. Auch eine globale progressive Kapitalsteuer, wie es der vielgelobte französische Ökonom Thomas Piketty vorschlägt, hält Gabriel Wollner für geeignet. „An erster Stelle müssen wir uns Gedanken darüber machen, ob und wie viel Gleichheit wünschenswert ist, an zweiter Stelle, in Zusammenarbeit mit Sozialwissenschaftlern, darüber nachdenken, wie Umverteilung und wohlfahrtsstaatliche Institutionen unter den Bedingungen von Globalisierung funktionieren können.“ Drittens müsse man sich darüber klar werden, wie sich solche Institutionen politisch auch gegen die Interessen derjenigen, die von Ungleichheit profitieren, umsetzen lassen. Kritiker des Egalitarismus messen der Gleichheit einen weitaus geringeren Stellenwert zu. Ökonomische und soziale Unterschiede stellen in einer liberalen Gesellschaft kein Problem dar, sondern gelten als Motor einer florierenden Wirtschaft und als ausschlaggebend für das individuelle Lebensglück. Eine Ausnahme besteht aber dann, wenn Ungleichheit aus unfairen Wettbewerbsbedingungen resultiert. Besonders gravierende Folgen hat dies im Bildungsbereich. „Bildung beeinflusst unser ganzes Leben – unsere be- ruflichen Möglichkeiten ebenso wie unser persönliches Wohlergehen. Deshalb ist es wichtig, die Weichen hier von Anfang an richtig zu stellen“, sagt Kirsten Meyer, Professorin für Praktische Philosophie und Didaktik an der HU. „Der Bildungserfolg hängt in Deutschland immer noch stark von der sozialen Herkunft ab, das ist hochproblematisch. Auch generell lässt sich nur schwer rechtfertigen, dass einige offenbar mehr von der staatlichen Bildung profitieren als andere.“ Was aber bedeutet es, dass alle ein gleiches Anrecht auf Bildung haben? Sollten alle Schüler gleich viele Ressourcen bekommen? Handelt es sich dabei dann um Geld, Zeit oder etwas anderes? Oder müssen die Ergebnisse gleich sein? Und würde es womöglich schon reichen, wenn alle gebildet genug sind, um an demokratischen Prozessen teilzunehmen? Politiker wie Philosophen fast jeder Couleur sind sich einig, dass alle die gleichen Chancen auf Bildung haben sollten. „Es verbergen sich allerdings so viele unterschiedliche, sich teilweise sogar widersprechende Konzepte hinter dem Begriff der Chancengleichheit, dass er ohne nähere Erläuterung nicht hilfreich ist“, sagt Meyer. Die Philosophie kann hier einen wichtigen Beitrag leisten, um die bildungspolitische Debatte zu ordnen. Chancengleichheit besteht für Meyer, wenn soziale Faktoren für den Bildungserfolg und für das Erreichen attraktiver Positionenkeine Rolle spielen. „DieSchwierigkeit besteht allerdings darin, dass Chancengleichheit, je weiter man sie fasst, faktisch kaum umzusetzen ist.“ Denn es gibt Unterschiede, mit denen man leben muss. Beispielsweise, dass manche Eltern ihren Kindernvorlesen,was Vorteile für den Bildungserfolg hat, während anderen Kindern nicht vorgelesen wird. Allerdings ist es eine offene Frage, ob ein liberaler Staat den Eltern vorschreiben darf, ihre Kinder in die Kindertagesstätte zugeben. Befürwortereiner Kitapflichterhoffen sich davon eine stärkere Annäherung an das Ideal der Chancengleichheit. Es würden dennoch Unterschiede in den Bildungsergebnissen bleiben. Deren vollständige Angleichungist kein vernünftiges Ziel, weil dies mit einer Angleichung auf einem niedrigen Niveau verbunden wäre. Auch die Gleichverteilung von Ressourcen führt zu keinem fairen Ergebnis, weil jedes Kind unterschiedlich viel Zeit braucht, um Dinge zu verstehen. „Man kann Kinder und Jugendliche auch nicht gänzlich für ihre Leistungs- und Motivationsbereitschaft verantwortlich machen. Um sie als gerechtes Verteilungskriterium einzusetzen, hängen sie zu stark vom Elternhaus und anderen Erfahrungen ab.“ Welche Möglichkeiten, die Chancen auf Bildung gerechter zu gestalten, bleiben uns dann aber noch? „Ausschlaggebend ist, dass sich Schulen in ihrer Qualität nicht zu stark unterscheiden dürfen, und dass mehr gemeinsam gelernt wird, um Segregation zu vermeiden“, betont Meyer. Insofern sei es gut, dass es in Deutschland keine allzu große Zahl von Privatschulen gibt, an denen Eltern einen erheblichen finanziellen Mehraufwand betreiben, um ihren Kindern Vorteile zu verschaffen. Es geht Meyer aber nicht nur um die Berufsaussichten. Als Professorin für Didaktik ist ihr noch etwas anderes wichtig: „Die Kindheit und Jugend ist ein prägender und besonderer Lebensanschnitt. Die Schule nimmt hier einen zentralen Platz ein, weshalb sie unbedingt ein Ort erfüllter Zeit sein sollte, wo Kinder gute Erfahrungen machen. Ich finde es wichtig, dass wir auch darüber nachdenken, inwieweit Schule glücklich machen kann.“ „Viel rankt sich um die Frage, ob Liebe Gründe hat“ Die Philosophin Nora Kreft über Romantik, Ersetzbarkeit von Partnern und Freundschaft – und die Fähigkeit zu lieben Frau Kreft, der Begriff „Liebe“ kann in vielen Kontexten verwendet werden. Ich kann meinen Partner lieben, meine Katze oder Schokoladeneis. Was bedeutet Liebe aus philosophischer Perspektive? Auch hier kann man die Liebe in verschiedenenHinsichten betrachten.Ich kannfragen: Was ist romantische Liebe? Was ist Freundschaft? Was ist Liebe in der Familie? Haben diese Lieben etwas gemeinsam, oder ist es Zufall, dass wir sie mit dem gleichen Wort benennen? Können wir letztlich nur Personen lieben? lieben wir uns in andere, wenn wir glauben, dass sie uns zum Guten verhelfen. Einer Interpretation zufolge meint sie mit dem Guten das für uns Gute, und das besteht ihrer Meinung nach in Weisheit. Demnach verlieben wir uns in andere, wenn sie uns bei unserem Streben nach Weisheit helfen können. Nein, es gibt nicht die Definition. Die Philosophie kämpft ja gerade um sie. Platons Dialog Symposion gehört zu den bedeutendsten Schriften über Liebe undErotik, darin äußern sich historische Personen. Eine dieser Personen ist Diotima. Im Symposion sagt sie, dass Eros das Streben nach dem Guten ist, das allem weiteren Streben zugrunde liegt. Eros findet viele Ausdrucksformen, eine ist die Liebe zu einer anderen Person: Laut Diotima ver- Foto: privat Also gibt es keine Definition? Nora Kreft ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Philosophische Anthropologie der Humboldt-Universität. In ihrer Dissertation hat sie die „zwischenmenschliche Liebe“ erforscht. Inwiefern sind diese antiken Konzepte für uns heute relevant? Gerade Diotimas Idee ist relevant für uns, weil die Kritik an ihr wichtige Debatten inspiriert hat, beispielsweise die Diskussion um Unersetzbarkeit: Wenn wir andere lie- ben, weil sie uns helfen, weise zu werden, warum würden wir unsere Geliebten dann nicht gegen Personen eintauschen, die uns genauso behilflich sein könnten? Aber die Idee ist auch an sich spannend: dass Liebe etwas mit dem Wunsch nach Verstehen der Welt zu tun hat. Aristoteles gab mehr auf die sogenannte philia, also auf Freundschaft und Zuneigung, statt auf eros, Erotik. Was unterscheidet die beiden? Aristoteles unterscheidet zwischen Tugendfreundschaft und Nutzen- oder Lustfreundschaft. In ersterer schätzen sich die Freunde um ihrer selbst willen, in letzteren „nur“ aufgrund ihrer nützlichen oder lustbereitenden Eigenschaften. Wahrscheinlich wollte Aristoteles betonen, dass echte Freundschaft keine instrumentelle Beziehung ist. Das heißt aber nicht, dass sie nicht nützlich sein kann, und erst recht nicht, dass sie nicht lustvoll ist. Was sind die bedeutendsten zeitgenössischen Ansätze in der Philosophie der Liebe? Viel rankt sich um die Frage, ob Liebe Gründe hat. Harry Frankfurt behauptet, dass Liebe keine Gründe hat, sondern Gründe generiert. David Velleman sagt, dass Liebe den gleichen Grund wie Achtung hat: das Personsein der Geliebten. Spielen hier Phänomene wie polyamoröse Beziehungsmodelle oder Dating-Portale eine Rolle? In diesen Debatten spielt das keine große Rolle. Den meisten Theorien zufolge ist es überhaupt nicht ausgeschlossen, dass wir mehrere Personen zur gleichen Zeit und in der gleichen Weise lieben und für unersetzbar halten können, selbst wenn wir über romantische Liebe sprechen. Es ist eine interessante Frage, warum romantische Liebe oft noch exklusiv und monogam gelebt wird. Hat das etwas mit dieser Art von Liebe zu tun: Hat sie die Tendenz zur Exklusivität „in sich“ oder ist es einfach kulturell bedingt und könnte leicht anders sein? Ist Liebe eigentlich gut? Ich glaube,ja. Die meisten Menschen würden ein Leben mit Liebe einem Leben ohne die Erfahrung von Liebe vorziehen, selbst wenn die Liebe unglücklich macht. Das gilt es näher zu untersuchen: Warum wünschen wir uns Liebe? Gehört sie zum guten Leben? Wenn ja, was heißt das für das Wesen des Menschen? Damit beschäftigten sich schon Platon und Aristoteles. Ist Liebe auch dann erstrebenswert, wenn sie abhängig, weniger autonom macht? Liebe macht wahrscheinlich immer in gewisser Weise abhängigund verletzlich,gerade weil die geliebte Person unersetzbar ist. Ein Verlust kann nicht aufgewogen werden, er kann nur mit der Zeit weniger wehtun. Aber diese Form von Verletzlichkeit steht der Autonomie der Liebenden nicht unbedingt im Weg. Kann jeder Mensch theoretisch lieben? Intuitiv würde ich sagen: ja. Die Fähigkeit, zu lieben, kann vielleicht zeitweise verschüttet sein, aber im Prinzip kann jeder lieben – und das scheint auch ein wichtiges Merkmal des Menschseins zu sein. — Die Fragen stellte Michael Thiele. Von der Pflicht zu helfen Gedanken zum Menschenrecht auf Flucht Viele europäische Gesellschaften nehmen die derzeitigen Flüchtlingsströme zum Anlass, um nach ihren moralischen Verpflichtungen gegenüber den in Europa Schutz Suchenden zu fragen. Einen Ausgangspunkt für eine ethische Auseinandersetzung stellen die universalen Menschenrechte dar, die neben ihrer juridischen eine moralische Dimension haben. Sie kommen jedem Menschen unabhängig von kulturellem Hintergrund, Herkunft oder beruflicher Ausbildung zu. Nach verbreiteter Vorstellung besteht die Funktion der Menschenrechte darin, die Grundbedürfnisse jedes Individuums zu schützen. Dazu zählen etwa ein Mindestmaß an Bewegungsfreiheit, die Abwesenheit von Hunger und starken Schmerzen, aber auch die Möglichkeit, soziale Kontakte zu haben. Unter einem Flüchtling soll nun jemand verstanden werden, dessen Grundbedürfnisse an seinem Herkunftsort bedroht sind, und der deshalb an einem fremden Ort Zuflucht sucht. Einerseits wird diese Begriffsbestimmung dem Umstand gerecht, dass Menschen, die ihr Herkunftsland aus weniger drängenden Gründen verlassen, nicht als Flüchtlinge, sondern als Migranten gelten. Andererseits ist sie weit genug, um auch der Rede von Armuts- und Umweltflüchtlingen einen Sinn abzugewinnen. Dann aber folgt, dass wir Hilfspflichten gegenüber jedem Flüchtling haben, gleichgültig, ob er vor Krieg, politischer Verfolgung oder Armut flieht. Aus den Hilfspflichten gegenüber Flüchtlingen ergibt sich nicht unmittelbar die Pflicht, Asyl zu gewähren, da die nötige Hilfe auf verschiedene Weise erfolgen kann. Beispielsweise indem Flüchtlinge in Drittstaaten untergebracht werden, die ihr Wohl tatsächlich gewährleisten. Solange aber keine andere Hilfe geboten wird, folgt daraus, dass wir jedem Flüchtling einen moralischen Anspruch auf Aufnahme zugestehen müssen. Doch auch wenn die Menschenrechte mit starken Gründen zu Hilfshandlungen einhergehen, so sind diese durchaus mit anderen moralischen Gründen abzuwä- Flucht aus dem Krieg – nach Berlin. Foto: dpa gen. Dies gilt schon deshalb, da es für einen einzelnen Akteur nicht immer möglich ist, all seinen Hilfspflichten auf einmal nachzukommen; zumal dann nicht, wenn sich andere hilfsfähige Akteure weigern, ihren fairen Anteil zu übernehmen. Den Hilfspflichten nachzukommen, kann aber auch dazu führen, dass das Wohlergehen des jeweiligen Akteurs (in diesem Fall der Bevölkerung europäischer Staaten) in unzumutbarer Weise herabgesetzt wird. Das wäre etwa dann zu befürchten, wenn durch die Aufnahme vieler Flüchtlinge die innere Sicherheit, die demokratische Ordnung oder der Sozialstaat gefährdet wäre. Wann das Wohlergehen in einem relevanten Maße beeinträchtigt und es moralisch vertretbar oder geboten wäre, weitere Hilfspflichten zu unterlassen, ist zum einen eine empirische Frage. Hier gilt es zu untersuchen, wie sich die Aufnahme von Flüchtlingen auf die gesellschaftlichen Teilbereiche auswirkt. Es ist aber auch eine normative Frage, wo die Grenze der Zumutbarkeit zu ziehen ist. Die Antwort liegt nicht einfach im eigenen Ermessen des moralischen Akteurs: Moralisch zu handeln heißt, sich an allgemein teilbaren Gründen zu orientieren und nicht an persönlichen Vorlieben. Vielmehr wäre daher zu fragen, an welchem Punkt auch die Flüchtlinge der Schließung der Grenzen vernünftiger Weise zustimmen könnten; oder: ob wir, die Bewohner Europas, ihr auch dann noch zustimmen würden, wenn wir selbst zu den Flüchtlingen gehörten. Ein aufrichtiges Einfühlen in die Situation der leidtragenden Personen sollte uns in dieser Frage als Korrektiv unserer häufig eigennützig-verzerrten Einschätzung der ethischen Sachlage dienen. Marcel Twele — Der Autor ist Philosophie-Masterstudent und hat den 2. Preis im Essay-Wettbewerb der „Gesellschaft für analytische Philosophie“ gewonnen. Der Text fasst sein Essay zusammen, das im Band „Welche und wie viele Flüchtlinge sollen wir aufnehmen?“ im Reclam Verlag erschienen ist.