SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Wissen Mahlzeit – Wie man gute Ernährung lernt Von Silvia Plahl Sendung: Samstag, 12.03.2016 Redaktion: Christoph König Regie: Autorinproduktion Produktion: SWR 2016 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Wissen können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/wissen.xml Die Manuskripte von SWR2 Wissen gibt es auch als E-Books für mobile Endgeräte im sogenannten EPUB-Format. Sie benötigen ein geeignetes Endgerät und eine entsprechende "App" oder Software zum Lesen der Dokumente. Für das iPhone oder das iPad gibt es z.B. die kostenlose App "iBooks", für die Android-Plattform den in der Basisversion kostenlosen Moon-Reader. Für Webbrowser wie z.B. 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O-Ton Katja Kröller Was für Emotionen vermittelt Essen beziehungsweise auch bestimmte Lebensmittel? Was geben sie einem? Also wir essen mittlerweile tatsächlich mehr aus Genuss. Aus Langeweile. Aus Frust. O-Ton Daniel Kofahl Da finden wir wahrscheinlich die einen, für die es nur darum geht, dass sie satt werden. Für die anderen, dass ihre Ernährung nach ökologischen Kriterien ausgerichtet ist. Andere wollen vor allen Dingen sublime Geschmackserlebnisse haben. Wieder andere stellen die Gesundheit in den Mittelpunkt ihrer Ernährung und so weiter und so fort. Ansage Mahlzeit – Wie man gute Ernährung lernt. Eine Sendung von Silvia Plahl. Atmo Apfelsaftpresse, Stimmen O-Ton Frau Jetzt wird grad die Maische, also der Apfel wird zu Apfelsaft gepresst. Das ist eine Obstpresse... Zehn, zwölf Liter kommen aus diesem gepressten Obst... Autorin Zwei Frauen kippen Eimer für Eimer in die Obstpresse. GalaRoyal, Prinz Albrecht von Preußen, Elise. Eine Kleingärtnerin überlegt, welche Apfelsorte sie hierher gebracht hat. O-Ton Kleingärtnerin Ich sag jetzt Jonagold (lacht). Ich lass pressen und ich mach aber auch noch Apfelmus... Autorin Frisch gepresster Apfelsaft gleich im Becher in die Hand – oder auf achtzig Grad erhitzt in Flaschen abgefüllt. So hält er ein ganzes Jahr lang. Die Anschaffung der großen Obstpresse hat sich gelohnt, der Vereinsraum der Kleingartenkolonie Grüne Aue ist voll. Atmo Vereinsraum O-Ton Mutter Ja ich find es ganz schön zu wissen, wo die Sachen herkommen. Und wie viel Arbeit es ist, die zu verarbeiten. 2 Autorin Die junge Mutter erzählt erfreut, viele Leute hätten vors Gartentor gestellt, was von der Apfelernte übrig war. Das habe ihr Freund dann eingesammelt. O-Ton Mutter Wir sind jetzt auch grade Mitglied geworden in so ner solidarischen LandwirtschaftsInitiative, so dass wir einmal die Woche ne Gemüsekiste abholen. Wo eben die Sachen dann von verschiedenen Höfen sind. Und alle schön krumm und schief, aber sehr schmackhaft! Da kenn ich mehrere, die da Spaß dran haben, und die Sehnsucht auch einfach haben, die Lebensmittel anzufassen und nicht nur im Supermarkt super abgepackt zu kaufen. Autorin Henry Dinter, Vorsitzender der Kolonie Grüne Aue seit 25 Jahren, hat mit seinem Verein diesmal die „Wertewochen Lebensmittel“ mitgestaltet. Zusammen mit Spitzenköchen in der Hauptstadt, mit Händlern und Erzeugern. Die Botschaft an Kinder und Jugendliche lautete: „Ich kenn mein Essen“. O-Ton Henry Dinter Dass man also wenn man spazieren geht, den Kindern da auch zeigt: Hier da oben is'n Apfel, oder ist das eine Birne oder ist das ne Pflaume? Gibt ja viele Parks, auch hier im Berliner Raum, wo Obstbäume stehen. Und wo die Leute sich und Spaziergänger bedienen können. Atmo Vereinsraum Autorin Unsere Ernährung – ist uns abhanden gekommen. Fast Food, billige Massenproduktionen und eine Nebenbei-Kultur haben das gute Essen nahezu im Keim erstickt. Gerade noch rechtzeitig wird jetzt kräftig gegengesteuert. Mit ständig erneuerten Gesundheitstipps. Mit groß vermarkteten Bewegungen – slow Food und super Food, low carb, low fat, vegetarisch und vegan. Und mit unzähligen Projekten und allerlei sympathischen Kleininitiativen: die interkulturellen Gemeinschaftsgärten, Kochpat*innen im sozialen Brennpunkt, die Prinzessinnengärten und das „Himmelbeet“, die GemüseAckerdemie und „Die Kuh und du“. – Der Ernährungssoziologe Dr. Daniel Kofahl: O-Ton Daniel Kofahl Der Stellenwert und das Bewusstsein für das Essen haben sich verändert in unserer Gesellschaft. Das hat damit zu tun, dass Essen nicht mehr allein dazu dient, um den Hunger zu stillen. Auch der Nachkriegsgeneration, die gegessen hat, weil sie einfach sich mal was gönnen wollte, weil sie auch Hungererfahrungen gemacht hat und einfach drauf los schlemmen wollte. Autorin Daniel Kofahl lehrt an den Universitäten in Köln und Kassel und leitet ein Büro für Agrarpolitik und Ernährungskultur. Er stellt fest: Was eine gute Ernährung ausmacht, ist absolut komplex und widersprüchlich geworden. 3 O-Ton Daniel Kofahl Sobald Ernährung nicht mehr nur dazu dient, den Hunger zu stillen, wird Ernährung so gut wie immer instrumentalisiert. Autorin Es gibt inzwischen mehr Ernährungsstile, als man pflegen kann. Daniel Kofahl ergänzt: Das Günstigste ist dann nicht immer das ökologisch Nachhaltigste, das ökologisch Nachhaltigste nicht immer das Leckerste, das Leckerste ist nicht immer das Gesündeste und so weiter. Atmo Tagung Autorin So bittet dann der Koch Jannis Manz bei einer Tagung ans Buffet O-Ton Jannis Manz Es gibt verschiedene Crostini, es gibt auch vegetarische mit Fenchelpürree...für die Fleischesser gibt’s Crostini mit geräuchertem Speck und Honig, und Pesto mit Parmesankäse. Dann haben wir ne Kürbissuppe mit orientalischen Gewürzen, wer möchte, kann gebratene Blutwurst da rein bekommen, wer nicht möchte, nicht. Und das vegane Dessert ist Glühweinsorbet Gelächter Aber es kann natürlich auch jeder alles essen... Autorin Du bist, was du isst, oder eben genau nicht zu dir nimmst. Die Kohlenhydrate weglassen, um sportlich fitter zu werden? Obst trotz Fruchtzucker essen? Ist fettarmer Joghurt schon und Sahnequark noch bio? „Esse abwechslungsreich und mäßig“, viel mehr als dieses Wissen aus der Antike ist auch heute in der Ernährungsforschung nicht dauerhaft gesichert. Doch die gesellschaftlichen Entwicklungen prägen auch unsere Esskultur – auf die Frage nach der guten Ernährung wissen viele kaum mehr eine Antwort. Atmo Kita „Machen wir einen Kreis alle zusammen...“ Autorin Die Kindertagesstätte „Zauberwald“ in Potsdam. Viktoria Gebhard bittet vier Mädchen und fünf Jungen zu einem kleinen Sitzkreis auf dem Teppichboden. Sie hat etwas mitgebracht. O-Ton Kinder/Viktoria Gebhard ... Wisst ihr denn noch, was das hier ist?... Eine Kiste!... kramen... Darf jetzt jeder mal wieder einmal reinfassen... Autorin Eine kleine Kiste mit verborgenem Inhalt wird reihum gereicht. Die Aufregung ist groß. Die Kinder fühlen. O-Ton Kinder/Viktoria Gebhard Mohrrübe!.... Mohrrübe?... Ja... dass da so Wellen sind... ein bisschen nass... weil da Vitamine drinne is... eine Spitze... dick ist die Mohrrübe, dick... und rund.... 4 Autorin Dann erzählen die Kinder, dass sie beim letzten Mal Gemüsesnacks geschnitten haben O-Ton Kinder Gurke, Tomate und Paprika...drei verschiedene Paprika... rot, grün, orange und gelb!... Wir mussten den Tuch bei die Augen binden, und dann musste einer ein Gemüse essen und der muss das dann … schmecken...(alle): Im Mund! Mit der Zunge! Autorin Viktoria Gebhard besucht die Kita-Kinder regelmäßig. Sie ist Masterstudentin in Psychologie und Mitarbeiterin im Projekt „Gemüse schmecken lernen“. Atmo Gang/Tippen Autorin In einem kleinen Raum gegenüber sitzen die Professorin Katja Kröller und die Psychologin Uta Lommatzsch am Computer. Sie begleiten das Projekt mit Tests am Touchscreen. O-Ton Uta Lommatzsch Und da können die Kinder dann immer draufdrücken, was sie lieber mögen von zwei Gemüsesorten Kohlrabi, und dann alle drei Sorten Paprika, dann haben wir Tomate... Und daraus machen wir dann sozusagen ein Ranking, so ne Rangfolge, was sie am liebsten mögen und was nicht so gerne. Autorin Die Kinder zeigen also, ob sie schon Vorlieben für bestimmte Gemüse entwickelt haben. Dann erheben die Psychologinnen, ob sich genau diese Gewohnheit auch verändern lässt. Katja Kröller O-Ton Katja Kröller Wir nehmen ein Gemüse raus, und gucken, inwiefern sich das steigert. Das heißt, die Kinder bekommen im Laufe der Woche auch regelmäßig Kohlrabi angeboten und die Frage ist, ob unser Training da noch was drauf setzen kann. Zusätzlich zu dem, dass die Kinder das Gemüse auch angeboten bekommen, da ne höhere Präferenz schaffen kann. Autorin Kohlrabi ist eine eher unbeliebte Knolle. Drei- bis Sechsjährige bekommen sie nun im Kindergarten vier bis acht Wochen lang dreimal die Woche zu essen. Dass es sich hierbei um etwas Gesundes mit Vitaminen handelt, ist eine Information, aber nicht die zentrale Botschaft an die Kinder. In den Projektstunden lernen sie das Gemüse ganz anders kennen. O-Ton Katja Kröller Auf ne sehr spielerische Art und Weise. Das heißt, sie geben den Gemüse Namen, sie dürfen sie anfassen, natürlich auch probieren oder mal riechen. 5 Autorin Der sensorische, haptische, der positive Kontakt zu Gemüse, erklärt Katja Kröller, beeinflusst das Geschmacksempfinden der Kinder. O-Ton Katja Kröller Man darf die ankucken, man darf sie vielleicht malen, man kriegt vielleicht Magnete, die man irgendwo hin stecken kann – dass das eben dazu führt, dass sich auch dieses Geschmackserleben tatsächlich verändern kann. Also wir lernen Geschmack eher. Autorin Eine generelle, angeborene Abneigung gegen Paprika zum Beispiel müsse man akzeptieren, sagt die Ernährungspsychologin. Bei allen übrigen prophezeit sie, werden die Vielfalt und der andere Bezug zum Gemüse ihre Wirkung zeigen. Die neue Freude an Radieschen und Co offenbart sich oft in der selbst erdachten Kindergeschichte. Sie ist Teil des Projekts, und in Potsdam wurden darin reitende Tomaten zu schwimmenden Helden. Atmo Malen am Tisch... Ich male die Tomate!... Ich mal die Mohrrübe! Stifte kramen Und wer malt die Paprika? … die reitende Tomate...Karotte... die schwimmende Paprika.... (Junge) Paprika schmeckt mir bestens lecker... Autorin Das Projektteam der Potsdamer Hochschule für Gesundheit und Sport, Technik und Kunst testet und trainiert 300 Kinder in Berlin und Brandenburg im „Gemüse schmecken lernen“. Eine Krankenkasse unterstützt die Studie. Sie soll sichtbar machen, dass für Kinder eine gute Ernährung wesentlich besser und effektiver erlernbar ist als etwa nur durch das Basteln der Nahrungspyramide oder auch die Kraft-Motivation mit dem Popeye-Spruch „Spinat macht stark“. Solche Faustregeln funktionieren einfach nicht langfristig, kritisiert auch der Fuldaer Ernährungspsychologe Professor Christoph Klotter. O-Ton Christoph Klotter Diese ganzen Empfehlungen sind nicht quasi hitzebeständig. Oder nicht von Dauer. Also vor zwanzig Jahren gab's diese Riesenkampagne „five a day“. Mittlerweile sagen die Experten: O mein Gott, die Fructose! Also streichen wir das Obst und nehmen nur das Gemüse. Autorin Eine Devise wie „fünf mal am Tag Obst und Gemüse“ sei sicherlich für manche als Ansporn hilfreich. Sie wirke aber wie eine Vorschrift und verhindere als solche die persönliche Ernährungsbildung, sagt Klotter. O-Ton Christoph Klotter Einfach so Schritt für Schritt vertraut werden mit dem Essen. Und die Neugierde dafür zu entwickeln. Also eben das Essen nicht als selbstverständlich betrachten als das, was Mutti auf den Tisch stellt. Sondern was ich mir selbst erarbeiten kann. 6 Atmo Familie vor dem Abendessen „Essenszeit? - Getreidebrei! - Das magst du normalerweise auch ganz gern - Was rümpfst du denn die Nase, Jona?“ - Jona protestiert Autorin Beim Essen im Elternhaus wird der Grundstock gelegt. Katja Kröller warnt hier ebenfalls vor zu viel Reglement. Sie spricht sogar von Angst- und Panikmache bei jungen Müttern. O-Ton Katja Kröller Diese Diktatur von: Wir fangen im sechsten Monat an mit ausschließlich Möhren und dann vielleicht irgendwann nach drei Monaten ein bisschen Kartoffeln dazu. Da sollte man tatsächlich gucken, dass man auf Vielfalt achtet, dass man auf das Kind achtet und von dem eigenen Essen probieren lassen. Autorin Erdnüsse sind natürlich anfangs verboten, aber mal am Eis lecken dürften die Kleinen schon, um auch die Kälte auf der Zunge zu spüren. Sowieso werden Süßigkeiten einfach gemocht – das muss man hinnehmen, sagt die Psychologin. Genauso wie die sogenannte Neophobie der Zweijährigen, die alles vermeiden was neu ist und am liebsten nur noch Nudeln essen. Gelassen bleiben, die anderen Dinge immer weiter anbieten, ohne zu thematisieren, dass diese ja viel gesünder sind, empfiehlt Katja Kröller, die selbst Mutter ist. Das Gleiche gilt später für Teenager. O-Ton Katja Kröller Find ich auch schwierig. Wenn ich Eltern berate, sage ich: gelassen bleiben und nichts mehr tun. Aber das Essen zuhause weiterhin so gestalten. Ich glaube, da ist Gesellschaft gefragt, um gesundes Essen cooler zu machen. Also es muss irgendwie etablierter sein. Atmo Markthalle Autorin Berlin, Europas „Veggie-Hauptstadt“. In einer Markthalle in Kreuzberg gibt es im Erdgeschoss Wild und Geflügel, frische Obstschalen und mediterrane Feinkost. Oben auf der Galerie stehen heute Suppen auf dem Speiseplan: Borschtsch und Chili con Tofu. Dazu Smoothies oder heißer Orangensaft mit Ingwer. Familien, junge Leute mit Laptop und auch zwei ältere Damen sitzen auf den Bänken. „Diese veganen Sachen schmecken einfach lecker“, sagen die beiden Rentnerinnen. Sie möchten ganz anonym bleiben. „Vegan“ ernährt sich Studien zufolge vor allem die junge Frau, 31 Jahre alt und gut ausgebildet. Vegan zu sein, auf tierische Produkte bis hin zu Honig zu verzichten, gehört zu einem gewissen Lifestyle. Es gilt als moralisch, ethisch und politisch korrekt, gesund oder einfach nur als urban und angesagt. O-Ton Daniel Kofahl Und wir wissen ja, was gestern noch essbar war, kann heute schon als nicht essbar gelten und morgen wiederum als Delikatesse serviert werden. 7 Autorin Der Ernährungssoziologie Daniel Kofahl spricht in einer kleinen Runde zum Thema „Wie das Essen unsere Identität bestimmt“. Viele essen keine Innereien, Hipster keine Dinkelkekse – heutzutage geht es vor allem um Tabus – also um das, was alles von der Nahrung ausgeschlossen wird. Kofahl zeigt ein Foto aus einer Buchhandlung. O-Ton Daniel Kofahl Und da sieht man schon, ja also es gibt einiges an No-Go-Essliteratur, Zucker, Kohlenhydrate, Basen, Milch. Was mich besonders überrascht hat, war auch noch Früchte und Gemüse (Gelächter) – stehen jetzt auch schon bei manchen auf der NoGo-Liste... Da unten in der Ecke aber auch noch Erlebnisberichte dazu, was passiert, wenn diese Verzichtsdiäten übersteigert werden... und die gehen weg wie warme Semmeln. Es scheint auch ein Bedarf auch da zu sein, sich darüber zu informieren oder zu reflektieren, was passiert, wenn dieser Verzichtsimperativ zu eigendynamisch wird. (blättert) Autorin Ein ernst zu nehmendes Phänomen. „Low protein“, „low fat“, „low carb“. Jeder Verzicht kann zu Mangelerscheinungen führen, und es wird viel diskutiert, ob die Esskultur des Weglassens bestimmter Inhaltsstoffe und Produkte am Ende noch gesund ist. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung warnt etwa bei veganer oder makrobiotischer Lebensmittelauswahl vor zu wenig Eisen, Calcium, Jod und Zink und den Vitaminen B12 und D in der Nahrung. Diese Nährstoffe müssten auf jeden Fall ergänzt werden, vor allem in der Schwangerschaft, bei Säuglingen und Kleinkindern – um zum Beispiel eine drohende Wachstumsstörung möglichst wieder auszuschließen. Atmo Markthalle Autorin Gleich neben dem veganen Café kann in der Kreuzberger Markthalle vegan eingekauft werden. Es gibt Gerstengraspulver, Kürbiskernproteinpulver, Birkenzucker. Die Regale sind bunt gefüllt, und ebenso die Einkaufskörbe. – Sich so gut zu ernähren, dass dies Gesundheit garantiert oder gar Krankheiten verhindert, ist allerdings grundsätzlich unmöglich. Denn all den laufend neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Trotz resümieren heute immer mehr Forscherinnen und Forscher: Was eine gesunde Ernährung ausmache, könne man seriöserweise nicht sagen. Atmo Diderot „Willkommen....“ Autorin Der Ernährungspsychologe Christoph Klotter begrüßt einige Gäste im neuen Berliner Restaurant „Diderot“, das er mit der Oecotrophologin Eva-Maria Endres eröffnet hat. Das „Diderot“ soll ein Ort für „Kultur und Essen“ sein. Ein Versuch, Theorie und Praxis der Ernährung zusammen zu bringen. Mit Weiterbildungen zur Ernährungserziehung, zum Thema Essen in den Medien, zu Gastlichkeit und Kommunikation. Klotter zitiert das altgriechische Wort Symposion, das mäßige gemeinsame gesellige Trinken, um miteinander ins Gespräch zu kommen, es aber 8 nicht zu übertreiben. Heute kommt im „Diderot“ auch Billy Wagner zu Wort, ein mehrfach ausgezeichneter Sommelier und der Besitzer des Edelrestaurants „Nobelhart und Schmutzig“. Er bricht die Lanze für mehr Souveränität bei seinen Gästen. Atmo (im Off) „Wo ich das Gefühl habe, dass da wahnsinnig viel Angst irgendwie ist vor Essen... Wir haben dort einen Fleischskandal, wir haben dort einen Dioxinskandal, wir haben dort hinten einen Glykol- und Methanolskandal. Und dann zu zeigen, was eigentlich alles schlecht ist... Autorin Im Herbst 2015 stufte die Weltgesundheitsorganisation den Verzehr von rotem Fleisch und daraus verarbeiteter Wurst als krebserregend ein. Vor allem Darmkrebs könne vermehrt auftreten. Pro 100 Gramm Fleisch am Tag steige das Risiko um 17 Prozent. Die Gefahr für den einzelnen Menschen ist demnach gering. Da jedoch in vielen Ländern die Mehrheit der Bevölkerung regelmäßig rotes Fleisch oder Fleischwaren verzehrten, beträfen die Ergebnisse vor allem die öffentliche Gesundheit, die sogenannte „public health“, schreiben die Autoren der Studie. Kurze Zeit später veröffentlichte ein Team aus israelischen Ärzten und Molekularbiologen eine Untersuchung, die zeigte, dass die Menschen ganz unterschiedlich auf verschiedene Nährstoffe reagieren. Die jeweils andere Zusammensetzung der Darmflora könne der Grund dafür sein, dass bei der einen Person ein Sushi-Gericht den Blutzucker in die Höhe treibe, bei der anderen die süße Eiscreme aber nicht. Diese beliebige Aneinanderreihung ließe sich beliebig fortsetzen. Bei so viel Irritation plädiert auch der Psychologe Klotter für einen harten Schnitt. O-Ton Christoph Klotter Wir müssen es relativieren und auf den Einzelfall schauen. Alle über einen Kamm zu scheren, ist völlig unangemessen. Autorin Einseitige Ernährungsweisen können ungesund sein. Und natürlich benötigen Kranke, vor allem chronisch kranke Menschen gesundheitliche Empfehlungen, die auch die Ernährung mit einschließen. Patientinnen und Patienten mit Zöliakie, einer entzündlichen Darm-erkrankung, müssen etwa auf Weizen, Roggen und Dinkel verzichten. Eine Zöliakie wird durch das Getreideeiweiß Gluten ausgelöst. Etwa 0,3 Prozent der Deutschen sind davon offiziell betroffen. Kinder und Jugendliche in Deutschland sind allerdings aktuell zu 0,9 Prozent gefährdet, an einer Zöliakie zu erkranken. Dies ergab 2015 eine Studie des Robert-Koch-Instituts – mit der Schlussfolgerung, dass die Glutenunverträglichkeit wahrscheinlich zu selten entdeckt und diagnostiziert wird. Ängste und der Versuch, alles richtig zu machen und keinen Warnhinweis zu übersehen, führen jedoch auch zu immer mehr Verunsicherung. Atmo Café O-Ton Christoph Klotter Es gibt ja den Erfinder der orthorexia nervosa, des übermäßig gesundheitsbewussten Essen, Steven Bratman. Der ist ja diesen Weg gegangen. Der dachte sozusagen, wenn er genau die richtige Ernährung hat, dann wird alles in seinem Leben bestens werden. Und das hat eben nicht funktioniert, der hat einen Zusammenbruch gehabt, 9 der geriet in die soziale Isolation. Weil er mit den anderen nicht mehr essen konnte. Weil der ständig über das Essen nachdenken musste. Und nichts mehr anderes tun konnte, als richtig zu essen. Der ist richtig in die Depression gefahren. Autorin Der amerikanische Arzt Steven Bratman und auch die Psychologin Wendy Mogel warnen vor einer Verbindung zwischen dem Anspruch, sich rundum gesund zu ernähren – und ernsthaften Essproblemen. O-Ton Christoph Klotter Dieses übermäßig Gesundheitsbewusste kippt auch in Schlankeitsideal um, das kann auch in Essstörungen umkippen, und das müssen wir mit berücksichtigen. Autorin Gesund gleich schlank ist insgesamt eine gefährliche Verknüpfung. Sie verursacht bei vielen körperliche und psychische Beschwerden und müsste im Grunde gesellschaftlich widerlegt werden, von Eltern, in Kindergarten und Schule, in der Werbung, in den Medien. Über dem Schlankheitsdogma schwebt aber immer noch der sogenannte BodyMaßIndex, der aus Körpergröße und Gewicht bestimmt, ob wir normal-, übergewichtig oder fettleibig sind. O-Ton Christoph Klotter Der BMI, den können wir eigentlich abschaffen. Der hat keine Aussagekraft. O-Ton Katja Kröller Dass diese Gewichtspolitik nicht zu sehr verfolgt wird. Also es geht nicht um einzelne Kilos, sondern es geht tatsächlich um ne Art Lebensstil. O-Ton Christoph Klotter Das heißt, wir müssen Adipositas neu bewerten. Adipositas kann ein Gesundheitsproblem sein, muss es aber nicht sein. Autorin Schlank und ungesund – dick und fit. All dies ist möglich. Untersuchungen in den USA haben gezeigt, dass Menschen mit dem BMI-Normalgewicht verstärkt von HerzKreislauf-Erkrankungen oder Diabetes bedroht sein können. Andererseits gelten viele der sogenannten Fettleibigen mit einem BodyMaßIndex über 30 als vollkommen gesund. Das Motto „low fat“, weniger Fett, weiter auszubringen, mache keinen Sinn mehr, so die Amerikaner. In Deutschland steigt die Zahl der über BMI-Normalmaß Gewichtigen seit mehreren Jahren. Dies schließt auch stark durchtrainierte Menschen mit ein, die viel Muskelmasse haben. Eine genauere Differenzierung verdeutlichte nun aber, dass vor allem die Fettleibigkeit zunimmt. Das Berliner Robert-Koch-Institut stuft darin bereits 24 Prozent der Deutschen ein. Die hohe Zahl scheint aber auch wiederum damit zusammenzuhängen, dass es mehr ältere Menschen gibt. Sie setzen zusätzliches Gewicht eher in Fett als in Muskeln an. Atmo Treppenhaus... Übergang zu Seminarraum Autorin 10 Die Deutsche Adipositas Gesellschaft warnt aktuell vor einer Epidemie in Deutschland. Vor allem Kinder und Jugendliche müssten vor Übergewicht und seinen Folgen geschützt werden. Adipositas bei drei- bis 17-jährigen hat auf jeden Fall soziale Ursachen, so die Experten. Eine Untersuchung in Baden-Württemberg mit über 1700 Kindern hat gezeigt: sie neigen verstärkt zu Gewichtsproblemen, wenn sie aus Familien mit geringem Haushaltseinkommen stammen. Auch ein fehlendes Frühstück vor der Schule trägt dazu bei. Ältere Kinder sind davon noch stärker betroffen als jüngere. Atmo Lale-Raum Autorin Und Kinder und Jugendliche aus Migrationsfamilien leben allgemein mit einem größeren Risiko, übergewichtig und adipös zu werden. 20 Prozent von ihnen sind von Gewichtsproblemen bedroht, wie mehrere Studien ergaben. Das nordrheinwestfälische Verbraucherschutzministerium startete daher bereits 2012 die Initiative „Lale – iss bewusst und sei aktiv“. Lale ist das türkische Wort für Tulpe – ein Symbol für Wohlbefinden und ein gesundes Leben. O-Ton Frauen/Ayse Özgenel Türkisch ... Jetzt sind wir bei den Kohlenhydraten ... vier Portion ... rascheln Haferflocken? … gehört dazu ... Bulgur ... Dinkelmehl ... Autorin Die private Realschule Boltenheide in Wuppertal. In einem Raum im Dachgeschoß sitzen neun Frauen um einen großen Tisch, fünf von ihnen tragen ein Kopftuch. Ernährungsberaterin Ayse Özgenel aus Düsseldorf bespricht mit ihnen Getreideprodukte. O-Ton Frauen/ Ayse Özgenel Buchweizen... erklärt … Autorin Wie viele Getreideportionen verzehren Sie am Tag? – fragt die Beraterin in die Runde. O-Ton Ayse Özgenel Kam eben als Antwort eben 'ganz viele Portionen' (lacht), Türkisch... Kekse... Sie hat grad gefragt, ob wir die Kekse auch dazuzählen sollen... Die Zwischenmahlzeiten, die werden immer so vergessen, da isst man natürlich auch immer irgendwie Getreideprodukte, und die werden gar nicht dazugezählt. O-Ton Nergiz Icme Wir haben ja alle die falschen Produkte benutzt. Zum Beispiel viel Fett, zum Beispiel Weizenmehl, wir sind jetzt umgestiegen in Dinkelmehl. Ballaststoffe. Und auf Süßigkeiten ist reduziert. Also unsere Esskultur ist ja schon ein bisschen anders. O-Ton Selvinaz Topal Beispiel wegen dem Mehl, wusste ich jetzt gar nicht, das weiße Mehl, das da so viel Kalorien drin ist (lacht). 11 Autorin Selvinaz Topals Tochter besucht diese Schule. Hier hat die Mutter von dem LaleKurs erfahren und trifft sich nun mit anderen Frauen, deren familiäre Wurzeln in der Türkei liegen, zu zwanzig Terminen mit Bewegung – Steptanz, Gymnastik – und dem Thema Ernährung. O-Ton Selvinaz Topal Meiner Tochter Beispiel kann ich das weitergeben, damit die das, was wir gemacht haben, damit die das nicht machen. Damit die jetzt schon anfangen, gesünder zu ernähren.(oben) O-Ton Lütfiye Dalgic Wir haben heute gelernt, dass es Kokosnussöl gesund ist zum Beispiel. Das hab ich noch nie gehört und probiert. O-Ton Ayse Özgenel Das ist zwar ein gesättigtes Fett, aber auch ein gesundes Fett, also das Kokosöl kann man hoch erhitzen. Und in der türkischen Küche wird eben ganz viel... Wenn man Reis zubereitet oder eben Bulgur zubereitet oder auch allgemein Gemüse einfach, das Olivenöl eben mit viel zum Beispiel Paprika also so richtig erhitzt. Und dadurch entstehen natürlich auch dann ungesunde Fette. Autorin Die Lale-Kurse picken kulturelle und religiöse Besonderheiten heraus, sagt Ayse Özgenel. Sie bespricht mit den Frauen, dass Essig ein wenig Alkohol enthält. Oder dass Speisefettsäuren heute meist aus Sojabohnen und nicht mehr vom Schwein hergestellt werden. Dass ein Hähnchen oder Fisch aus dem Backofen auch lecker schmeckt. So erreicht der Kurs schnell die ganze Familie. Hatice Kaya informiert stets ihre Eltern, ihre Schwester, ihren Mann und die beiden Töchter. Gerade bei den jungen Leuten möchte sie etwas verändern. O-Ton Hatice Kaya Kinder heutzutage, die ernähren sich falsch. Diese Fastfood und die frühstücken manchmal nicht richtig zuhause. Und dann wenn die dann in der Schule sind und nach Hause kommen, dann gehen die einfach in ganz schnell Kiosk oder Schokolade, weil sie dann hungrig sind und holen sich ungesunde Sachen. Und dann wenn die zu Hause sind, essen die dann auch nicht richtig. O-Ton Ayse Özgenel Und dann hab ich denen zum Beispiel vermittelt, wenn die Kinder nach Hause kommen, und wenn das Essen noch nicht fertig ist, könnte man eventuell zum Beispiel einen Rohkostteller schon mal vorbereiten. Oder einen Obstteller. Damit die Kinder eben nicht zu diesen Süßigkeiten greifen. Also wir zeigen verschiedene Wege. Und jeder muss dann gucken, welchen Weg der jetzt wirklich nimmt. Autorin „Lale – iss gesund und sei aktiv“ ist von den Krankenkassen als Präventionskurs anerkannt und hat in Nordrhein-Westfalen bereits über 300 Familien erreicht. Die Frauen treffen sich in entspannter Atmosphäre. Sie haben Spaß am Neuen und am 12 Miteinander und am gemeinsamen Zubereiten einer Quarkspeise mit Honig und Haferflocken, Cranberries und Walnüssen und Leinsamen. Atmo Quarkspeise zubereiten Autorin Das gemeinsame, achtsame Essen, das Gefühl sich etwas Gutes mit nahrhaften, nachhaltigen, gesunden Zutaten zu gönnen – all dies trägt zum Wohlbefinden, zur Zufriedenheit und am Ende zur Gesundheit bei. Manche sagen, es mache psychisch satt. Die Art, wie wir uns ernähren, kann einen hohen persönlichen Stellenwert einnehmen – nur sollte sie nicht umgedeutet werden. Die gute Ernährung ist keine Ersatzreligion und keine Therapie. Auch macht es wenig Sinn, einzelne Lebensmittel pauschal zum Sündenbock für das Ungesunde, das Krankmachende zu erklären. Jede Person muss selbst erkennen, was ihr gut oder weniger gut bekommt. Und Kinder sollten die Chance erhalten, Ernährung und Geschmack in ihrer Vielfalt für sich zu entdecken. O-Ton Daniel Kofahl Man kann mit Ernährung vernünftig umgehen, indem man sich zum Beispiel wissenschaftliche Fakten ankuckt. Und dann versucht, etwas auf sein eigenes Leben umzusetzen, das für einen auch praktikabel ist. Es macht keinen Sinn zu sagen: Ich möchte immer das beste, leckerste Essen essen, wenn ich das Geld nicht habe dafür. Es macht auch keinen Sinn zu sagen: Ich muss dauernd selber kochen, wenn ich alleinerziehende Mutter bin, die auch noch berufstätig ist. O-Ton Katja Kröller Dann bin ich überfordert damit, irgendwie beständig gesund zu kochen und auch noch für das Kind noch Dinge zuzubereiten und selbst noch arbeiten zu gehen. Man kann eben tatsächlich auch mit Fertigprodukten sich gesund ernähren. Da ist glaub ich Flexibilität dann auch gefragt. Autorin Es bleibt bei dem Wissen aus der Antike: Abwechslung und Maß garantieren die gute Ernährung. O-Ton Daniel Kofahl Man muss aber auch sagen, man kann auch mit Vernunft vernünftig umgehen. Und nicht immer vernünftig sein, auch manchmal unvernünftig sein. Man muss sich auch was gönnen, auch kleine Sünden. Essen ist die tolle Möglichkeit, etwas sehr Nützliches, nämlich die Lebenserhaltung mit was Sinnlichem zu verbinden. ***** 13 Links ° http: //wertewochen-lebensmittel.de/wertewochen/ ° http: //www.apek-consult.de/team/dr-daniel-kofahl/ Büro für Agrarpolitik und Ernährungskultur, Dr Daniel Kofahl ° http: //kinder-bewegenzukunft.amcmueller.ch/Uploads/Documents/kr%C3%B6ller%20mmmh%20lecker.pdf, Prof Katja Kröller: Die Entwicklung von Nahrungspräferenzen und Essverhalten ° http: //www.diderot-berlin.de/ Prof Christoph Klotter und Oecotrophologin Eva-Maria Endres ° https: //www.dge.de/wissenschaft/weitere-publikationen/fachinformationen/veganeernaehrung-saeugling-kindesalter/ Deutsche Gesellschaft für Ernährung ° http: //www.adipositas-gesellschaft.de/index.php?id=96 Deutsche Adipositas Gesellschaft ° http: //www.aerztezeitung.de/medizin/krankheiten/magen_darm/article/892813/neuestudie-zoeliakie-tritt-haeufiger-bisher-angenommen.html RKI Glutenunverträglichkeit ° http: //www.lale-nrw.de/ Lale – Iss gesund und sei aktiv ° https: //de.wikipedia.org/wiki/Orthorexia_nervosa Essstörungen aufgrund übermaßig gesundheitsbewussten Essens Literatur ° Daniel Kofahl: Die Komplexität der Ernährung in der Gegenwartsgesellschaft, Kassel University Press, 2014 ° Anna Jones: a modern way to eat, Mosaik-Verlag, 2015 14