Program as PDF - Staatskapelle Dresden

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SAISON 2015 2016
23. / 24. / 25.1.16
5. SYMPHONIEKONZERT
Robin
TICCIATI
KAVAKOS
Leonidas
»ALLE MENSCHEN
WERDEN BRÜDER«
D
ie berühmte Ode von Friedrich Schiller hat
seit jeher die Menschheit inspiriert. Sie ist,
nicht zuletzt durch Ludwig van Beethoven,
zu einem Fixpunkt im Wertekanon unserer
den Idealen des Humanismus verpflichteten
Gesellschaft geworden. Vollendet hat Schiller seine Ode
vor 230 Jahren im Weinberghaus der Familie Körner
in Dresden-Loschwitz. Die Sächsische Staatskapelle
Dresden und Christian Thielemann bekennen sich mit
Nachdruck zu diesen Werten. Die Geschichte der Staats-
kapelle wäre ohne diese nicht denkbar. Nicht Angst und
Ausgrenzung sollen unser Handeln bestimmen, sondern
Mitmenschlichkeit, Mut, Respekt und Toleranz.
In diesem Sinne wünschen wir Ihnen ein gesundes und
vor allem friedlicheres Neues Jahr!
CHRISTIAN THIELEM ANN, DIE MUSIKERINNEN
UND MUSIKER SOWIE DIE DIREKTION
D E R S Ä C H S I S C H E N S TA AT S K A P E L L E D R E S D E N
SAISON 2015 2016
23. / 24. / 25.1.16
5. SYMPHONIEKONZERT
Robin
TICCIATI
KAVAKOS
Leonidas
5. SYMPHONIEKONZERT
S A M STAG
2 3.1.16
20 UHR
SO N N TAG
2 4.1.16
11 U H R
M O N TAG
2 5.1.16
20 UHR
PROGRAMM
S E M P ER O P ER
DRESDEN
Robin Ticciati
Gustav Mahler (1860-1911)
Dirigent
»Blumine«
Symphonischer Satz – Andante allegretto
Leonidas Kavakos
Violine
Jean Sibelius (1865-1957)
Konzert für Violine und Orchester d-Moll op. 47
1. Allegro moderato
2. Adagio di molto
3. Allegro, ma non tanto
PAU S E
Maurice Ravel (1875-1937)
Klänge der Jahrhundertwende
Das von Robin Ticciati zusammengestellte Programm führt in die Zeit
des Fin de siècle. Mahlers Symphoniesatz »Blumine« ist eine romantische
Naturidylle. Weit stürmischer gibt sich bisweilen Debussys impressionistisches Meisterwerk. Und während Ravels »Valses« dem Vorbild Schubert
die Ehre erweisen, markiert Sibelius’ Violinkonzert einen Klassiker der
Gattung, der Leonidas Kavakos seit dessen preisgekrönter quellenkritischer Einspielung immer wieder zur Auseinandersetzung reizt.
Kostenlose Konzerteinführungen jeweils 45 Minuten vor Beginn
im Foyer des 3. Ranges der Semperoper
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»Valses nobles et sentimentales«
1. Modéré – très franc
2. Assez lent – avec une expression intense
3. Modéré
4. Assez animé
5. Presque lent – dans un sentiment intime
6. Assez vif
7. Moins vif
8. Épilogue. Lent
Claude Debussy (1862-1918)
»La mer«
trois esquisses symphoniques pour orchestre
drei symphonische Skizzen für Orchester
1. D
e l’aube à midi sur la mer – très lent
Morgengrauen bis Mittag auf dem Meer – sehr langsam
2. J eux de vagues – allegro
Spiel der Wellen – Allegro
3. D
ialogue du vent et de la mer – animé et tumultueux
Dialog zwischen Wind und Meer – lebhaft und stürmisch
5. SYMPHONIEKONZERT
Robin Ticciati Dirigent
A
usgebildet als Violinist, Pianist und Percussionist und als
Mitglied des National Youth Orchestra of Great Britain
wandte sich Robin Ticciati im Alter von 15 Jahren dem
Dirigieren zu. Zu seinen besonderen Förderern zählen
Sir Colin Davis und Sir Simon Rattle. Ticciati, der in
London geboren wurde, ist seit der Spielzeit 2009 / 2010 Chefdirigent
des Scottish Chamber Orchestra, mit dem er zahlreiche Tourneen in
Europa und Asien unternimmt. Schwerpunkte des Scottish Chamber
Orchestra in der aktuellen Spielzeit bilden die großen Werke von
Johannes Brahms, namentlich dessen Symphonien und »Ein deutsches
Requiem« sowie Kompositionen der Zweiten Wiener Schule. Die Zusammenarbeit mit dem SCO ist in mehreren CD-Aufnahmen dokumentiert,
u. a. mit Einspielungen von Berlioz’ »Symphonie fantastique«, »Les nuits
d’été« und »La mort de Cléopâtre«. Zudem liegen ein Doppelalbum mit
den Symphonien von Robert Schumann und eine jüngste Aufnahme mit
Haydn-Symphonien vor.
Seit Sommer 2014 ist Ticciati außerdem Musikalischer Leiter des
Glyndebourne Festival, wo er sein Engagement mit Richard Strauss’ »Der
Rosenkavalier« und Mozarts »La finta giardiniera« begann und ein Jahr
später mit der »Entführung aus dem Serail« und einem Doppelabend mit
Maurice Ravels »L’heure espagnole« sowie »L’enfant et les sortilèges«
fortsetzte. Neben Glyndebourne führten ihn weitere Opernprojekte an die
Mailänder Scala (Benjamin Brittens »Peter Grimes«), zu den Salzburger
Festspielen (Mozarts »Le nozze di Figaro«), an das Royal Opera House
(Tschaikowskys »Eugen Onegin«) und an die New Yorker Met, wo er mit
Humperdincks »Hänsel und Gretel« debütierte.
Robin Ticciati wirkt an renommierten Konzert- und Opernhäusern in Europa und Amerika, u. a. beim London Symphony Orchestra,
dem Royal Concertgebouw, dem Gewandhausorchester Leipzig, dem
Philadelphia Orchestra und den Los Angeles Philharmonic. Seine
Konzertdiskographie umfasst u. a. Hector Berlioz’ »L’Enfance du Christ«,
Antonín Dvořáks neunte Symphonie und Anton Bruckners Messe f-Moll
Nr. 3. Mit Beginn der Spielzeit 2017 / 2018 übernimmt er die Position des
Chefdirigenten und Künstlerischen Leiters beim Deutschen SymphonieOrchester Berlin.
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5. SYMPHONIEKONZERT
Leonidas Kavakos Violine
B
ereits als Jugendlicher gewann Leonidas Kavakos den Sibelius-Wettbewerb (1985), den Paganini- sowie den NaumburgPreis (1988) und erregte schnell internationale Aufmerksamkeit. Seine Virtuosität, Musikalität und künstlerische Integrität
machten ihn früh zu einem begehrten und gefragten musikalischen Partner. Kavakos’ zeitige Erfolge führten u. a. zur Tonaufnahme
von Sibelius’ Violinkonzert. Mit Orchestern wie den Berliner und Wiener
Philharmonikern, dem Royal Concertgebouw, dem London Symphony
Orchestra, den Münchner Philharmonikern, dem Orchestre de Paris, dem
Gewandhausorchester Leipzig und den großen amerikanischen Orches­
tern verbindet ihn eine enge künstlerische Freundschaft. Auch als Dirigent arbeitet Kavakos mit Ensembles von Weltrang: So leitete er u. a. die
Symphonieorchester von London und Boston, das Deutsche SymphonieOrchester Berlin, die Wiener Symphoniker sowie das Chamber Orchestra of Europe, das Orchestre Philharmonique de Radio France und die
Bamberger Symphoniker. Als Interpret kammermusikalischer Werke
ist er regelmäßig Gast auf den Festivals in Verbier, Montreux-Vevey,
Bad Kissingen, Edinburgh, Salzburg und bei den Dresdner Musikfestspielen. Als Initiator einer Kammermusik-Reihe in der Megaron Concert
Hall in Athen bleibt er seinem Heimatland seit 15 Jahren auch künstlerisch verbunden und verpflichtete so renommierte Namen wie Mstislav
Rostropovich, Heinrich Schiff, Menahem Pressler, Emanuel Ax, Nikolai
Lugansky und Gautier Capuçon. Zudem kuratiert er in Athen jährlich
stattfindende Meisterkurse für Violin- und Kammermusik.
Kavakos’ Einspielung aller Violinsonaten Beethovens mit Enrico
Pace wurde 2013 mit dem ECHO Klassik »Instrumentalist des Jahres«
ausgezeichnet und 2014 für einen Grammy nominiert. Es folgten Einladungen an die Carnegie Hall, zu den Salzburger Festspielen, an das
Concertgebouw in Amsterdam, nach Hongkong und Shanghai sowie zum
Beethovenfest Bonn. Nach Aufnahmen von Johannes Brahms’ Violinkonzert mit dem Gewandhausorchester Leipzig unter Riccardo Chailly 2013
und als Solopartner Yuja Wangs mit Brahms’ Violinsonaten war Leonidas
Kavakos Gramophone-Künstler des Jahres 2014.
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5. SYMPHONIEKONZERT
EINE »LIEBESEPISODE« IN
IDYLLISCHER LANDSCHAFT
Gustav Mahler
* 7. Juli 1860 in Kalischt, Böhmen
† 18. Mai 1911 in Wien
Zu Gustav Mahlers »Blumine«
»Blumine«
Symphonischer Satz
Andante allegretto
ENTSTEHUNG
BESETZUNG
Juni 1884
Marion von Weber,
Mahlers erste große Liebe
2 Flöten, 2 Oboen,
2 Klarinetten, 2 Fagotte,
4 Hörner, Trompete,
Pauken, Harfe
und Streicher
U R AU F F Ü H R U N G
DAU ER
23. Juni 1884 in Kassel im
Rahmen der Bühnenbegleitmusik zu »Der Trompeter von
Säkkingen«
ca. 8 Minuten
WIDMUNG
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I
m November 1884 bezieht Gustav Mahler während seines Engagements als zweiter Kapellmeister am Königlichen Theater in Kassel
sein Domizil in der Wolfsschlucht 13. Als Liebhaber der Werke
Carl Maria von Webers dürfte ihm die anschauliche Adresse nicht
gleichgültig sein, spielt doch die Wolfsschlucht in Webers »Freischütz« eine wichtige Rolle. Noch kann er freilich nicht ahnen, dass die
Familie Weber vier Jahre später mit emotionaler Wucht in sein Leben
treten wird. Die Kasseler Stelle, die er 1883 antritt, fordert von dem
23-Jährigen zunächst ein straffes Pensum. Als zweiter Kapellmeis­ter
muss er alles dirigieren, was der erste Kapellmeister nicht übernimmt
und ist außerdem für das Engagement von Aushilfsmusikern bei dem
von ihm geleiteten Vorstellungen verantwortlich, für die Bearbeitung
größerer Werke auf die Maßstäbe des Kasseler Hauses, was insbesondere das Reduzieren und Arrangieren des Orchestermaterials
bedeutet, und ist zudem für Zwischenaktmusiken in den Schauspielaufführungen zuständig. Im Juni 1884 verfasst er eine Begleitmusik zu
Joseph Viktor von Scheffels damals populärem Versepos »Der Trompeter von Säkkingen« und erledigt diese Aufgabe nach eigener Aussage
»binnen zwei Tagen«. Die Premiere dieser »lebenden Bilder« findet am
23. Juni 1884 kurz vor Saisonende in Kassel statt und erlebt weitere
Aufführungen in Mannheim, Karlsruhe und Wiesbaden. Beim Publikum
erfreuen sich die sogenannten tableaux vivants großer Beliebtheit – ganz
im Gegensatz zu Mahler, der nur einen einzigen Satz daraus an seine
weiteren Wirkungsorte Prag und vor allem Leipzig mitnimmt. Dieser Satz
erinnert mit seinem Trompetensolo zu Beginn und am Schluss an eine
Serenade oder ein Ständchen, das der Trompeter Werner seiner Angebeteten Margarete »in der Mondnacht nach dem Schlosse über den Rhein
hinüber geblasen« darbringt, wie es eine zeitgenössische Schilderung
weiß. Zur Trompete kommt der Gesang einer Oboe und macht im Duett
das Paar erkennbar. Es ist die Geschichte zweier Liebender, die einzig auf
wundersame Weise zusammenfinden können. Der Trompeter Werner und
die adlige Margareta lernen sich in Säckingen kennen, doch verhindern
5. SYMPHONIEKONZERT
die Standesschranken eine Ehe. Nach Jahren der Trennung macht ein
verständnisvoller Papst aus Werner Kirchhof einen »Marchese Camposanto« und damit zu einem akzeptablen Heiratspartner. Es scheint, als ob
Mahler den Namen »Camposanto« in erweitertem Sinne auffasst: aus dem
Kirchhof wird ein der Liebe geweihtes Feld. Und in der Tat trägt Mahlers
Stück Züge einer pastoralen Landschaft, in der sich zwei Liebende
verlieren. Dem Horn sind ebenfalls Solopassagen zugedacht, während
Streicher und Harfe den musikalischen Fluss zart umranken. Mahler
nennt das Ganze eine »Liebesepisode« – eine Liebesszene, so möchte
man hinzufügen, vor idyllischer Szenerie.
»Alles in mir und um mich wird! Nichts ist!«
Gustav Mahler zur Zeit der Entstehung seiner ersten Symphonie, 1888
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Auch Mahler steht in Flammen. Zum ersten Mal in seinem Leben befindet
er sich in einer leidenschaftlichen Affäre. Bald nach seiner Ankunft in
Kassel im Herbst 1883 verliebt er sich in die etwa gleichaltrige Koloratursopranistin Johanna Richter. Doch überschreitet die Beziehung, die ihm
mehr Schmerzen als Freuden bringt, offensichtlich nie das Maß an Gesittung. Erfüllung bleibt, nach allem, was man weiß, aus. Immerhin bringt
die Affäre die »Lieder eines fahrenden Gesellen« hervor, welche Mahler
als Zyklus im Dezember 1884 in der Kasseler Wolfsschlucht 13 schreibt
und, zumindest heimlich, Johanna Richter widmet. Das ist insofern von
Bedeutung, da Mahler zwei dieser Lieder vier Jahre später in seiner ersten
Symphonie zitiert. Im Frühjahr 1888 entstanden, arbeitet er an seinem
symphonischen Erstling innerhalb von nur sechs Wochen, wenn man
den Erinnerungen von Natalie Bauer-Lechner glauben will. Seit mehr als
1 ½ Jahren ist er nun Kapellmeister am Neuen Stadttheater in Leipzig
und lernt an der Pleiße die Familie Carl von Webers kennen. Carl von
Weber ist Hauptmann in einem Leipziger Regiment und Enkel Carl Maria
von Webers sowie im Besitz des kompositorischen Nachlasses seines
Großvaters. Zu Webers Gattin Marion, vier Jahre älter als Mahler und
Mutter dreier Kinder, entwickelt der Komponist eine heftige Leidenschaft.
Gegenüber Natalie bemerkt er: »Das musikalische, lichtstrahlende, dem
Höchsten zugewandte Wesen seiner Frau gab meinem Leben einen neuen
Inhalt. Auch die entzückenden Kinder waren mir – wie ich ihnen – aufs
innigste und heiterste zugetan, daß wir herzlich aneinan­der hingen.«
Weiter äußert er: »Als ich den ersten Satz [der ersten Symphonie] fertig
hatte – es war gegen Mitternacht –, lief ich zu Webers und spielte ihn
beiden vor, wobei sie, zur Ergänzung des ersten Flageolett-A, mir oben
und unten auf dem Klavier aushelfen mußten. Wir waren alle drei so
begeistert und selig, daß ich eine schönere Stunde an meiner Ersten nicht
erlebt habe. Dann ergingen wir uns noch lange beglückt im Rosental.«
5. SYMPHONIEKONZERT
Es ist nur eine Frage der Zeit, dass es zu Verwicklungen innerhalb der
Ménage a trois kommt. In einem Brief Anfang Januar 1888 redet Mahler in
vielsagenden Andeutungen: »Die wenigen Zeilen sind alles, was ich jetzt
aufbringen kann in dieser Trilogie der Leidenschaften und Wirbelwind
des Lebens! Alles in mir und um mich wird! Nichts ist!« Der 28-Jährige
plant eine Flucht mit Webers Frau, was diese jedoch ablehnt. Als im
Mai 1888 seinem Entlassungsgesuch aus dem Dienst am Leipziger
Theater stattgegeben wird, schenkt er Marion Abschriften seiner ersten
Symphonie mit dem ihr zum Geburtstag gewidmeten »Blumine«-Satz –
jenes Stück, das er aus Kassel mitgebracht hat. Die Symphonie wird am
20. November 1889 unter Mahlers Leitung in Budapest uraufgeführt und
trägt den Titel »Symphonische Dichtung«, sie beinhaltet fünf Sätze, mit
dem »Blumine«-Satz an zweiter Stelle. Für die Hamburger Aufführung
der Symphonie am 27. Oktober 1893 lässt Mahler im Konzertprogramm
ungewohnt detaillierte Hinweise abdrucken: »Titan«, eine Tondichtung
in Symphonieform. 1. Theil: »Aus den Tagen der Jugend«, Blumen-,
Frucht- und Dornstücke. I. Satz: »Frühling und kein Ende«. II. Satz:
»Blumine«. III. Satz: »Mit vollen Segeln«. 2 Theil: »Commedia humana«.
IV. Satz: »Gestrandet«, ein Todtenmarsch in »Callot’s Manier«. V. Satz:
»Dall’ Inferno«. Die Hamburger Version der Symphonie unterliegt einer
grundlegenden Revision, innerhalb derer auch der »Blumine«-Satz modifiziert wird. Eine weitere Überarbeitung erfährt das Werk für die Berliner
Aufführung 1896, wo der 2. Satz, also jenes »Blumine«-Stück, endgültig
entfernt wird. Das nunmehr viersätzige Opus heißt jetzt einfach nur
»Symphonie in D-Dur«. Zu einem der Gründe, warum Mahler »Blumine«
aus dem Werk herausgenommen hat, äußert er sich gegenüber Natalie:
»Wegen zu großer Ähnlichkeit der Tonarten in benachbarten Sätzen habe
ich hauptsächlich auch das Andante ›Blumine‹ aus der Ersten entfernt.«
So plausibel sich die Begründung liest, kommt sie doch von dem Verdacht
einer Irreführung nicht los. Denn wiederholt ist dem Andante-Satz nachgesagt worden, innerhalb des symphonischen Gefüges zu »trivial« zu
wirken. Erst als eigenständiges Werk wird er zum vollgültigen Seitenstück
einer floralen Schäferidylle. Mahler selbst hat die Spur gelegt, als er im
Hamburger Programm zum 1. Teil den Zusatz »Blumen-, Frucht- und
Dornstücke« hinzufügt. Er macht damit auf eines seiner Lieblingsbücher
aus junger Zeit aufmerksam, auf Jean Pauls »Blumen-, Frucht- und Dornstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs im Reichsmarktflecken Kuhschnappel«. Im Vorwort zur zweiten Auflage des Romans mit dem auffallend kauzigen Titel spricht Jean Paul von
einer Herbst-Flora, die zur »Herbst-Blumine« im Sinne der femininen
Wortform von »Blume« wird. Bereits in Heinrich Campes »Wörterbuch
zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen
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Der Trompeter von Säckingen, Ansichtskarte, ohne Jahr
fremden Ausdrücke« von 1801 steht »Blumin« als Ausdruck für »Flora,
die Blumengöttinn« und wird in Verbindung zur »Fruchtbringenden
Gesellschaft« gebracht, eine der größten deutschen Sprachakademien des
siebzehnten Jahrhunderts. Hier, in der Zeit des Barock, heißt es in Philipp
von Zesens autobiographisch gefärbtem Roman »Adriatische Rosemund«
von 1645: »Bluhminne stükt ihr kleid mit tulpen und narzissen«. Eine
Anmerkung erläutert und legitimiert die Verdeutschung: »In der 13. Zeile,
Bluhminne. Diese ward von den Römern unter dem namen Flora, oder
Chloris, als eine göttin der bluhmen verehret.« In welchem Sinne Mahler
›Blumine‹ versteht – ob als deutsche Variante für Flora oder gar als
Blumenstück / Blütenlese –, bleibt unklar. Mahler soll laut Natalie bezüglich der Komposition scherzhaft von einer »Jugend-Eselei« seines Helden
gesprochen haben. Der Zusammenhang mit einer weiblichen Personenbezeichnung liegt nahe, vielleicht sogar metaphorisch erweitert zu ›jugendlichen Blütenträumen‹, die sich dem jungen Komponisten in Zeiten emotionaler Verdichtung eröffnet haben.
Nachtrag: 1966 entdeckt der Mahler-Biograph Donald Mitchell
das Hamburger Manuskript der ersten Symphonie, welches James Osborn
der Bibliothek der Yale University gestiftet hat. Noch im gleichen Jahr
wird es von Carl Fischer zum Druck vorbereitet und veröffentlicht.
ANDRÉ PODSCHUN
5. SYMPHONIEKONZERT
DER TRAUM DES VIRTUOSEN
Jean Sibelius
* 8. Dezember 1865 in Hämeenlinna, Finnland
† 20. September 1957 in Järvenpää, Finnland
Konzert für Violine und Orchester
d-Moll op. 47
1. Allegro moderato
2. Adagio di molto
3. Allegro, ma non tanto
ZUM 150. GEBURTSTAG DES KOMPONISTEN
ENTSTEHUNG
BESETZUNG
1903 in Helsinki (erste Fassung);
1904 / 05 überarbeitet
(Endfassung)
Violine solo;
2 Flöten, 2 Oboen,
2 Klarinetten,
2 Fagotte, 4 Hörner,
2 Trompeten, 3 Posaunen,
Pauken, Streicher
WIDMUNG
dem jungen ungarischen Geiger
Franz von Vecsey
DAU ER
U R AU F F Ü H R U N G
am 8. Februar 1904 in Helsinki
(erste Fassung); Endfassung am
19. Oktober 1905 in Berlin
(Solist: Kárel Halir, KöniglichPreußische Hofkapelle,
Dirigent: Richard Strauss)
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ca. 30 Minuten
Zum Violinkonzert von Jean Sibelius
N
eben Gustav Mahler war Jean Sibelius derjenige Komponist, der es auf dem Weg ins zwanzigste Jahrhundert noch
einmal unternahm, die Gattung der Symphonie auf authentische Weise ins Zentrum seines Schaffens zu rücken.
Nur indirekt sind Gedanken aus einem Gespräch, das
die beiden 1907 führten, überliefert. Während Sibelius das Wesen des
Symphonischen in motivischer Einheit, in der Ableitung der verschiedenen Gestalten aus Urmotiven verwirklicht sah, vertrat Mahler ein
Weltbild des Widerspruchs: »Die Symphonie muss wie die Welt sein. Sie
muss alles umfassen.« Die Wahrheit der Naturphilosophie des späten
neunzehnten Jahrhunderts steht gegen die zerreißende Wirklichkeitserfahrung des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Die Kontroverse ist aber
noch in anderer Hinsicht interessant, macht sie doch auch verständlich,
warum Mahler niemals ein Solokonzert hätte schreiben können, während
Sibelius zwischen seiner zweiten und dritten Symphonie immerhin ein
einziges Mal auf diese Form zurückgriff. Und dabei verleiht er nicht
zuletzt gerade durch jene Vorstellung einer metamorphosenartigen motivischen Beziehungsdichte auch dem Prinzip des Konzertierens in seinem
Violinkonzert neue Glaubwürdigkeit.
Die eminente psychologische Spannung, die sich im Klanglichen,
Motivisch-Harmonischen, aber auch der Zeitgestaltung äußert, bezeugt
die Nähe des Werkes zum Symbolismus. Wie Debussy und Schönberg
war auch Sibelius fasziniert von Maurice Maeterlincks »Pelléas und Mélisande«, und im Abstand weniger Jahre entstanden dazu – in Nachbarschaft zum Violinkonzert – Schönbergs Symphonische Dichtung, Sibelius’ Schauspielmusik und Debussys Oper. Offensichtlich besaß aber die
Zeit, in der Sibelius’ Violinkonzert uraufgeführt wurde, für diese Feinnervigkeit kein Ohr, und das jugendstilartige Rankenwerk, das die virtuose
Seite mindestens zum Teil ganz eigenartig prägt, wurde ebenfalls nicht
in dieser Qualität wahrgenommen. Selten waren die überlieferten Reaktionen zunächst so einheitlich negativ, sowohl für die erste Fassung, die
im Januar 1904 in Helsinki uraufgeführt wurde, wie auch für die zweite,
wesentlich veränderte, die 1905 in Berlin zum ersten Mal erklang.
5. SYMPHONIEKONZERT
»Ich war zwölf und ein Virtuose«
Vom Violinvirtuosen zum Komponisten: Jean Sibelius, um 1900
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In einer Zeit, in der das Neue mit stärkeren Reizen auftrat, fiel Sibelius’
Stück als Virtuosenkonzert zunächst unter die Kategorie eines Nachläufers des neunzehnten Jahrhunderts und wurde so entweder unsinnigerweise zum Beispiel gegen Mendelssohns nur sehr äußerlich ähnliches
Konzert ausgespielt oder aber von vornherein als Relikt längst vergangener Zeiten abgelehnt. Wir wissen nicht, wie Richard Strauss, der als
Dirigent die Berliner Uraufführung der zweiten Fassung leitete, darüber
dachte. Aber in seinen eigenen konzertanten Kompositionen ging Strauss
bekanntlich Wege, die diese spielerischen, im weitesten Sinne neo-klassizistischen Kompositionen deutlich von dem symphonischen, sozusagen
progressiv-ernsten übrigen Teil seines Œuvres schieden. Die wirkliche
Erfolgsgeschichte des Sibelius-Konzertes begann erst in den dreißiger
Jahren, seitdem aber gehört es bis heute, zusammen mit dem gleichzeitig
entstandenen »Valse triste«, zu den meistgespielten Werken des Komponisten, ja, es ist wahrscheinlich das meistaufgeführte Violinkonzert des
zwanzigsten Jahrhunderts. Sibelius selbst schrieb kein weiteres Solokonzert, obwohl ihn zahlreiche Anfragen und Anträge für Auftragswerke
erreichten. Aber so sehr er noch zu Beginn des Jahrhunderts auf das
Geldverdienen mit dem Komponieren angewiesen war, so sehr konnte
er es sich zwei Jahrzehnte später bei fließenden Tantiemen leisten, nur
noch das zu machen, was er wollte. Es gab zwar Pläne für ein zweites
Violinkonzert, ein »Concerto lirico«, vollendet aber wurden lediglich noch
einige Folgen von Konzertstücken – Serenaden und Humoresken – für
Violine und Orchester.
In seinem Tagebuch, das erst vor einigen Jahren öffentlich
zugänglich wurde, notierte Sibelius am 2. Februar 1915 auf lapidare
Weise einen Traum: »Ich war zwölf und ein Virtuose.« Das Violinkonzert und die Wahl des Soloinstruments ist lebensgeschichtlich immer
wieder mit der gescheiterten Geigerkarriere von Sibelius in Verbindung
gebracht worden. Auf seine Art war er ein Wunderkind, denn bis zu
seinem 15. Lebensjahr hatte er sich das Geigenspiel nur mehr oder
weniger autodidaktisch beigebracht, dann lernte und studierte er bei
verschiedenen Lehrern in Helsinki, später in Berlin, ohne indessen, wie
auch als Komponist, einen formellen Abschluss zu machen. Das Ende
seiner angestrebten Laufbahn brachte das Scheitern eines Probespiels
bei den Wiener Philharmonikern 1891, Sibelius war 26 Jahre alt.
In seinen Jugendjahren war die Geige für Sibelius aber weniger
ein Instrument der Kammer- oder Konzertsaalmusik gewesen, sondern
ein Medium, um mit der Natur zu kommunizieren. Noch später erinnerte
er sich gern an jene Augenblicke des Glücks, in denen er mit der Geige
5. SYMPHONIEKONZERT
herumwanderte und mit den Klängen um ihn herum improvisierte. Auf
sein zehntes Lebensjahr datieren Sibelius-Forscher eine eigentümliche
kleine, klanglich experimentelle Komposition mit dem Titel »Wassertropfen«, die als Duo für Violine und Cello jenes Naturgeräusch in Musik
zu verwandeln sucht. Solche, in der Jugendzeit mit der Geige improvisierend und intuitiv umgesetzte Begegnung mit dem Klang der Natur
beschäftigte Sibelius aber sein ganzes Leben lang. Er war fasziniert von
dem ganz eigentümlichen Obertonspektrum eines Kornfeldes kurz vor
der Ernte, wie von den Stimmen der Vögel, besonders der Schwäne, die
in ihm bis in ihre Gestalt hinein musikalische Vorstellungen zu wecken
vermochten.
Parallele Traumwelten
Dennoch handelt es sich bei Sibelius’ Musik nicht um einen musikalischen Realismus, der Landschaftliches oder Lebensweltliches abbildet,
um es vor dem Hörer wieder erstehen zu lassen. Schon vom Material her
benutzt Sibelius erstaunlich wenig im strengen Sinne finnische Motive
und Themen. Und selbst der Anfang des Violinkonzertes, der in einzelnen
motivischen Zellen das ganze Stück hindurch präsent bleibt, und dessen
metrische Unbestimmtheit, frei schweifende Entwicklung und modale
Prägung sofort alle Klischeebilder nordischer Weite aufzurufen vermag,
trägt in sich eine Erinnerung aus ganz anderen Breiten. »Allegretto,
Glocken von Rapallo« lautet die Beschriftung auf einem in Italien entstandenen Skizzenblatt, auf dem zum ersten Mal Motive des Violinkonzerts
erscheinen, einige Jahre bevor Sibelius im September 1902 von den
finnischen Inseln als frisch Verheirateter seiner Frau schreibt, ihm seien
»einige herrliche Themen für das Violinkonzert eingefallen«. »Rapallo«
nannten Sibelius und seine Frau Aino dann auch den Obstgarten ihres
Landhäuschens, 25 Kilometer entfernt von Helsinki, dessen Bau 1903
begann, und in das sie 1904 einzogen.
So ist die Zeit der Entstehung des Violinkonzertes und der Umarbeitung seiner ersten Fassung verbunden mit einem Wechsel des Lebensmittelpunktes, mit mehr Distanz zur Bohème Helsinkis und einer neuen
Wendung zur Natur, wenn auch in Nachbarschaft einer Künstlerkolonie.
Und vielleicht kann man es gerade als besondere Leistung Sibelius’ in
seinem Violinkonzert sehen, dass es – im ersten Satz – genau solch ein
Lebensgefühl zwischen der Ahnung naturhafter mythischer Tiefe und
der Vorstellung erhitzter Gesichter im etwas schwülen Salon in dichtester
Weise miteinander verbindet, ineinander gleiten lässt, fast wie im Traum.
Das erinnert an die Parallelwelten auf den symbolistischen Bildern seines
Malerfreundes Akseli Gallen-Kallela (1865-1931). Und es synthetisiert
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»Symposium«, Ölgemälde von Akseli Gallen-Kallela (1894). Das Bild
verursachte bei seinem Erscheinen einen Skandal, zeigte es doch führende
Vertreter einer finnischen Künstler-Avantgarde (darunter Jean Sibelius,
rechts) – mit ins Leere starrenden Augen und vor halbleeren Weingläsern.
die beiden Pole seines Musikdenkens, die ansonsten im Jahr 1903 etwa
in den Klavierbearbeitungen finnischer Volkslieder und der eleganten
Melancholie des »Valse triste« in isolierter Weise Ausdruck finden.
Zu der traumartigen Anmutung, die Sibelius’ Musik hier, insbesondere im ersten Satz, erzeugt, trägt vor allem bei, dass vor dem Hintergrund einer traditionellen Sonatenhauptsatzform doch kein Moment
der völligen Identität existiert, vielmehr jeder einzelne Augenblick das
Vorangegangene prozesshaft in sich aufnimmt, und so auch da, wo Identität aufscheint, diese völlig verwandelt wirkt. Es gibt keinen Moment
der Wiederholung, immer ist etwas in irgendeiner Weise transformiert.
Sehr deutlich wird dies etwa in der Reprise des Hauptthemas. Steht es
zu Beginn in der Solovioline ganz nah und deutlich vor dem unbestimmt
wogenden Streichergrund, so erscheint es in der Reprise im Fagott wie
ein dunkler Schatten, der sich in den Schluss der Violinkadenz hineinschiebt. Das Identische erscheint hier als Abgespaltenes, in die Tiefe
und Ferne entrückt. In der Erstfassung stand an dieser Stelle noch ein
eher schematisch auftrumpfendes Streichertutti. Ähnlich verwan-
5. SYMPHONIEKONZERT
Foto: Matthias Creutziger
delt wirkt in der Reprise auch das zweite Thema, das hier nicht in den
Fagotten sondern den tiefen Streichern erklingt. Und es wird in den
Holzbläsern überlagert durch eine Ankündigung des dritten Themas,
das hier – bekannt aus der Exposition, wo es überraschend auftrat – als
bereits Bekanntes schon das zweite in seinen Sog hineinzieht, ja, es
sogar metrisch umformt. Die Reprise kennt beim zweiten Thema nicht
mehr den -Takt der Exposition, sondern bringt dies jetzt im -Takt in
triolischen Halben, in irrationaler Vergrößerung, bei der das, was vorher
die Zeit von sechs Vierteln füllte, jetzt (als sechs triolische Halbe) auf den
Zeitraum von acht Vierteln gedehnt wird.
Mehr als ein Virtuosenkonzert
Traumartig ist aber auch die überdeutliche Präsenz, die im Verlauf der
Entwicklung bestimmte, vorher schon vorhandene, aber ganz unscheinbare Details erhalten, die abgespalten, umgestellt, vergrößert und umgeformt werden. Eigentlich lässt sich das ganze Stück, insbesondere aber
der erste Satz, aus den motivischen Zellen des Anfangs ableiten, der so
auch etwas Doppeldeutiges gewinnt: Er steht einerseits für sich selbst
als erste von drei Themengruppen, andererseits bildet er das motivische
Reservoir, aus dem die folgenden Themen schöpfen. Das tänzerische
Abschlussthema greift sich den Quintfall heraus, und das elegische
zweite Thema wächst als Vergrößerung aus einem unscheinbaren,
dreitönig absinkenden Sekundgang hervor. Insbesondere dieses zweite
Thema leuchtet in vielfachen harmonischen Wandlungen mit sentimental
aufgeladenen Vorhalten immer wieder auf ganz unerwartete Weise auf.
Es bildet so eine mit den konstruktiven Höhepunkten nicht kongruente Dramaturgie, eine erzählerische Unterströmung, die sich auch im
zweiten und dritten Satz in Einblendungen bemerkbar macht und eine
unterschwellige Verbindung unter den ganz verschiedenartigen Oberflächen suggeriert.
Ursprünglich besaß der erste Satz zwei große Kadenzen, die beide
die Funktion einer Durchführung übernahmen, die erste für das erste
Thema, die spätere für das zweite. Dass Sibelius die an sich großartige,
eher ernste als virtuose zweite Kadenz in seiner Überarbeitung opferte,
bewirkte nicht nur eine bessere Ausbalancierung der Form. Es bewahrte
vielmehr diesem zweiten Thema auch seinen seltsamen, zwischen latenter
Anwesenheit und augenblicksartig aufscheinender Präsenz schwankenden
Charakter. Sibelius fand erst durch die Überarbeitung zu jener psychologischen Wahrhaftigkeit, die er suchte, und die das Stück weit über ein
bloßes Virtuosenkonzert hinaushebt.
20
Buchpräsentation in der Semperoper
Michail Jurowski –
Dirigent und Kosmopolit
Erinnerungen notiert von Michael Ernst (Henschel Verlag)
Buchvorstellung am 25. Januar 2016 um 14 Uhr
im Oberen Rundfoyer der Semperoper.
Michail Jurowski im Gespräch mit Michael Ernst.
Der Eintritt ist frei.
In Kooperation mit den Internationalen Schostakowitsch Tagen Gohrisch
MARTIN WILKENING
21
5. SYMPHONIEKONZERT
NOBLESSE UND SENTIMENT
Maurice Ravel
* 7. März 1875 in Ciboure, Frankreich
† 28. Dezember 1937 in Paris
Zu Ravels »Valses nobles et sentimentales«
»Valses nobles et sentimentales«
1. Modéré – très franc
2. Assez lent – avec une expression intense
3. Modéré
4. Assez animé
5. Presque lent – dans un sentiment intime
6. Assez vif
7. Moins vif
8. Épilogue. Lent
ENTSTEHUNG
BESETZUNG
Frühjahr 1911
2 Flöten, 2 Oboen,
Englischhorn, 2 Klarinetten,
2 Fagotte, 4 Hörner,
2 Trompeten, 3 Posaunen,
Tuba, Schlagzeug, 2 Harfen,
Celesta und Streicher
WIDMUNG
Louis Aubert
U R AU F F Ü H R U N G
9. Mai 1911, veranstaltet von
der Société Musicale Indépendante; 12. April 1912 Uraufführung der Orchesterfassung
unter Leitung des Komponisten
22
23
DAU ER
ca. 15 Minuten
A
ls Maurice Ravel 1911 seine »Valses nobles et sentimentales«
komponiert, tanzt ein ganzer Kontinent in feierseligem
¾-Takt. Nicht nur Richard Strauss’ »Der Rosenkavalier«,
uraufgeführt im Januar 1911, arbeitet mit deutlichen
Walzer­anklängen in anachronistisch gefärbter Wiener
Ausprägung. Auch Gustav Mahler verwendet ein Jahr zuvor in den
Toblacher Krisenmonaten Versatzstücke eines Walzers in den Skizzen
zum zweiten Scherzo in seiner unvollendeten zehnten Symphonie. Es
scheint, als ob der Walzer den Geist einer gesamten Epoche erfasst, die
am Vorabend des Ersten Weltkriegs in beschwingter Champagnerlaune
in die Abgründe der europäischen Zivilisation blickt. Betont unschuldig
und naiv taumelt man in eine Zukunft, von der man kaum zu ahnen
glaubt, schon bald in einer Katerstimmung aufzuwachen. Zu sehr ist
man mit dem Blick zurück beschäftigt, als dass man sich ablenken lässt
von düsteren Befürchtungen. Ein heftiger Materialrausch, vor allem in
der Musik, befördert einen Überschuss an Phantasie, der jene Zeit im
Nachgang golden schimmern lässt. Noblesse und Sentiment betreten
noch einmal die Bühne, bevor die Zeichen der Zeit weitreichende Änderungen ankündigen. Die Jahre um die Jahrhundertwende haben das
Zeug zu einem Epilog, der die Kraftlinien des neunzehnten Jahrhunderts
abschließend bündelt. Vor allem einer ist es, dessen Name immer wieder
fällt: Franz Schubert. So auch bei Maurice Ravel: »Der Titel der ›Valses
nobles et sentimentales‹ zeigt zur Genüge meine Absicht, eine Walzerkette nach dem Beispiel Schuberts zu komponieren. Auf die Virtuosität,
die ›Gaspard de la Nuit‹ zugrunde lag, folgt eine merklich abgeklärte
Schreibweise, die die Harmonik festigt und die Konturen hervortreten
lässt.« Nach einem Exkurs in die dunklen Seitengänge der menschlichen
Natur mit dem technisch äußerst anspruchsvollen »Gaspard de la Nuit«
gönnt sich Ravel die Hinwendung zu einer Gattung, die eine gewisse
Ungezwungenheit erlaubt, wie sie bei aller Empfindsamkeit bereits in
Schuberts »Valses sentimentales« op. 50 (1825) zutage tritt. Mit seinen
5. SYMPHONIEKONZERT
Walzern wollte Schubert »den schönen Wienerinnen« mit einem Lächeln
huldigen – eine betörend unschuldige Art der künstlerischen Erschaffung, die in gewisser Weise auch auf Ravel zutrifft. Der Widmung an
den Studienfreund Louis Aubert fügt er eine bezeichnende Bemerkung
hinzu: sein Spiel verfolge keine andere Absicht als das »köstliche und
immer neue Vergnügen an einer unnützen Beschäftigung«. Vor diesem
Hintergrund von einer »abgeklärten Schreibweise« zu sprechen, wie
Ravel es tut, lässt vermuten, dass er selbst am besten weiß, mit »Gaspard
de la Nuit« und den »Miroirs« in Bereiche der Extreme vorgestoßen zu
sein und dass eine künstlerische ›Festigung‹ nur durch Rückkehr zu
den Gefilden des Bekannten möglich ist. »Abgeklärt« muss dabei nicht
zwangsläufig gewöhnlich, uninspiriert oder handwerklich solide heißen.
Im Gegenteil, die »noblen und empfindsamen Walzer« offerieren in eindrucksvoller Weise eine Eleganz, die sich zwischen großer Geste und
zarter Zerbrechlichkeit bewegt.
Baudelairische Reize
Am 9. Mai 1911 veranstaltet die Société Musicale Indépendante (S.M.I.)
ein außergewöhnliches Konzert, bei dem die Namen der Komponisten
vom Publikum erraten werden sollen. Im Programm stehen die »Valses
nobles et sentimentales« an vierter Stelle, gespielt in der ursprünglichen
Fassung für Klavier von Louis Aubert, komponiert, so heißt es, von X. Als
viele Zuhörer ein »musikalisches Täuschungsmanöver« aus Dissonanzen
und falschen Noten monieren, macht Ravel ein unbewegliches Gesicht.
Erst als das Ergebnis der Umfrage bekannt gegeben wird, stellt sich
heraus, dass das gebildete Publikum einer musikalischen Avantgarde
nicht fähig ist, zwischen Debussy und Léo Sachs oder Ravel und Lucien
Wurmser zu unterscheiden. Wenngleich Ravel auch richtig erraten wird,
schreiben nicht wenige das Werk Satie oder Kodály zu.
Nur ein Jahr später macht die Tänzerin Natascha Trouhanova
Ravels Walzerkette zur musikalischen Grundlage für ein Ballettprogramm mit dem Titel »Adélaide oder die Sprache der Blumen«. Innerhalb
von zwei Wochen instrumentiert Ravel das mehrsätzige Werk, welches
nun die Handlung um eine Pariser Kurtisane in der nach-napoleonischen
Zeit orchestral begleitet. Am 22. April 1912 wird das Werk in der Orches­
terfassung aufgeführt. Ravel, der selbst am Pult steht, soll bekannt haben,
bei der Überlagerung von Zweier- und Dreiertakten im siebten Walzer
mit dem Stab »immer im Kreise« geschlagen zu haben. Neben einem
gewissen Grundvertrauen in die rhythmische Bewältigung – man könnte
auch von einem kalkulierten dirigentischen Abtauchen sprechen – treten
im Zeitalter der Moderne erweiterte Kreisläufe und kumulative Inno-
24
25
Maurice Ravel, um 1920
vationen auf den Plan, die eine Prozessform wachsender Asymmetrien
hervorrufen. In der Gleichzeitigkeit von Zweier- und Dreiertakten macht
sich ein Drang nach Ausdehnung bemerkbar. Doch ummantelt dieser die
rhythmische Expansion in geradezu selbstverständlicher Natürlichkeit.
Nach Ravels Phase einer aufsteigenden Spirale äußerer Virtuosität kommt
es nun zu selbstverstärkenden Abweichungen vom Erwarteten bis hin
zu einer intendierten Unterbietung aller Erwartungen an das virtuose
5. SYMPHONIEKONZERT
Wesen von Kunst. Roland-Manuel geht dem nach, wenn er fragt: »Wie
kann man eine so durchsichtige Schreibweise noch weiter auflockern,
ohne sie ärmlich zu machen? Wie diese so klaren Züge noch schärfer
herausarbeiten, ohne die feine Spitze abzubrechen?« An anderer Stelle
spricht Roland-Manuel von einer »etwas kühlen Sinnlichkeit«, die Ravels
Valses beseelt, von elektrischen Schauern, katzenhafter Geschmeidigkeit, Baudelairischen Reizen. Fragt man weiter nach der Besonderheit
der Valses, so bemerkt der Musikkritiker und Musikologe Hans Heinz
Stuckenschmidt: »Die Klangvisionen schaffen auf zauberische Art eine
Welt der chromatischen Nachbar-Harmonik. Es ist ein Ravel’scher Kunstgriff von höchster Verfeinerung, die Schwerkraft des Grundtons immer
wach bleiben zu lassen und dennoch diesen Grundton in jedem Takt,
jedem Akkord, fast jeder Note in Frage zu stellen. Ravels Akkordresultate sind von kühner Abstraktion, so dass der Hörer auf eine listige und
geistvolle Weise überredet wird, etwas als einfach zu akzeptieren, was in
Wahrheit sehr kompliziert ist.«
Repräsentativer Charme und feinperlige Verve
Mit Grandezza öffnen sich im ersten Walzer die Flügeltüren zu einer
bereits fortgeschritten ausgelassenen Gesellschaft. In frischem Schwung,
so scheint es, werden die Portale der Festsäle auf- und zugeschlagen,
in den Ecken reckt sich die Lust nach verlangenden Posen. Wirbelnd
künden die Faltenwürfe der Tanzenden von einem wogenden Leben.
Ganz anders der zweite Walzer. Empfindsam entzieht er sich, folgt
geheimnisvollen, versponnenen Wegen und rankt an ihren Rändern in
zarten Impressionismen empor. Auch der dritte Walzer bewegt sich auf
dünnem Eis. Zierlich und auf Zehenspitzen tupft er dahin, verströmt sich
zuweilen und erinnert in seiner Grazie an Tschaikowskys Ballettmusiken mit den sehnsuchtsvollen Blicken federnder Ballerinen. Aus dieser
Stimmung heraus entspinnt sich im belebteren vierten Walzer (»Assez
animé«) ein geradezu fliegender Tanz mit weit ausholenden Hebungen
und einer Schrittfolge, die die Weite des Raums ungehemmt nutzt. Man
hat das Gefühl, einem pas de deux beizuwohnen, dessen fließende Bewegungslinien den Horizont auflösen – schrankenlos, selbstvergessen und
unbegrenzt. Eine andere Perspektive auf die Gattung nimmt dagegen
der fünfte Walzer ein. Seine Arabesken erscheinen in sich noch einmal
ver­edelt, sodass man tatsächlich meint Gefahr zu laufen, in diesem
Geflecht dünngliedriger Verästelungen die »feine Spitze« abzubrechen.
Die Tanzparaphrase gewinnt Züge eines vornehmen, zurückhaltenden
Konversationsstils, der in gehobener Atmosphäre selbst zum Ausweis
dämmernder Dekadenz wird. Doch verblasst diese schnell und geht über
26
27
in einen sprudelnden Tanz, der
die Momente aufkeimender Ernsthaftigkeit rasch vergessen macht.
Der Sog reißt fort – auch im letzten
Walzer. Aufreizend tänzerisch
komponiert, entwickelt er einen
Schwung, der repräsentativen
Charme und feinperlige Verve gleichermaßen versprüht. Gleichwohl
arbeitet er mit Dehnungen und
Stockungen sowie mit metrischrhythmischen Überlappungen
und setzt den Orientierungssinn
der tanzenden Masse kurzzeitig
außer Kraft. Er spielt mit der
Trägheit des Körpers. Doch ist
dieser einmal in Schwung geraten
und wähnt sich im Gleichmaß mit
anderen bewegten Körpern, ist er
kaum aufzuhalten.
Ravel fügt mit dem Epilog
eine melancholisch gefärbte Rückschau hinzu – nachdenklich sinRavel als Soldat, 1916
nend und durchzogen von aufklarenden Erinnerungsschüben, in
denen die Vergangenheit für einen kurzen Moment greifbar wird. Es
ist ein leises, wehmütiges Abschiednehmen mit Spuren sanfter Bedrückung. Wie hinter einem Schleier tönt die Musik, deren Konturen ihre
Schärfe verloren haben und in einen Zustand der Auflösung münden.
Ravel wendet hier die Technik der Überblendung an, die später in der
Filmbranche als wichtiges Stilmittel eingesetzt wird. Im Übergang von
Ab- und Aufblende erreicht er einen Sprung der Zeiten, dem jegliche
Eindeutigkeit genommen ist. So könnte der Epilog auch ein Prolog für
aufziehende Zeiten sein, in denen der Bewusstseinsstrom in Wellen
von Wahrnehmungen und Empfindungen eine scheinbar ungeordnete
Folge von Bewusstseinsinhalten nach außen spült. Der Walzer in seiner
zivilisierten Form hat die Bewegung des Körpers in den Gesellschaften
des neunzehnten Jahrhunderts diszipliniert und ihn zum Gleichtakt mit
seinesgleichen erzogen. Was danach folgt, ist die Entfesselung eines
Sturms, in dem das Chaos selbst zum kreativen Element wird.
ANDRÉ PODSCHUN
5. SYMPHONIEKONZERT
ERINNERUNG UND EINGEBUNG
Claude Debussy
* 22. August 1862 in Saint-Germain-en-Laye, Frankreich
† 25. März 1918 in Paris
Claude Debussys »La mer«
»La mer«
trois esquisses symphoniques pour orchestre
drei symphonische Skizzen für Orchester
1. D
e l’aube à midi sur la mer – très lent
Morgengrauen bis Mittag auf dem Meer – sehr langsam
2. J eux de vagues – allegro
Spiel der Wellen – Allegro
3. D
ialogue du vent et de la mer – animé et tumultueux
Dialog zwischen Wind und Meer – lebhaft und stürmisch
ENTSTEHUNG
BESETZUNG
1903-1905
2 Flöten, Piccolo, 2 Oboen,
Englischhorn, 2 Klarinetten,
3 Fagotte, Kontrafagott,
4 Hörner, 3 Trompeten,
2 Kornette, 3 Posaunen,
Tuba, Pauken, Schlagzeug,
2 Harfen, Celesta und Streicher
U R AU F F Ü H R U N G
15. Oktober 1905 in den
Concerts Lamoureux unter der
Leitung von Camille Chevillard;
eigentlicher Premierentermin:
19. Januar 1908 in den Concerts
Colonne unter dem Dirigat des
Komponisten
28
29
DAU ER
ca. 25 Minuten
»D
ie Musik ist eine geheimnisvolle Mathematik, deren Elemente
am Unendlichen teilhaben. Sie lebt in der Bewegung der
Wasser, im Wellenspiel wechselnder Winde; nichts ist musikalischer als ein Sonnenuntergang! Für den, der mit dem
Herzen schaut und lauscht, ist das die beste Entwicklungslehre, geschrieben in jenes Buch, das von den Musikern nur wenig
gelesen wird: das der Natur.« So lautet Claude Debussys Credo. Musik als
Dämmerung, als Zustand eines Dazwischen, kaum greifbar, doch unmittelbar wirkend. Im Februar 1913, fünf Jahre vor seinem Tod, sinniert
Debussy über Fragen des Geschmacks und stellt fest: »Lassen wir die
Schönheit eines Kunstwerkes stets etwas Geheimnisvolles bleiben, so
dass man nie genau feststellen kann, ›wie es gemacht ist‹. Bewahren wir
um jeden Preis diese der Musik eigene Magie!« Sichtbar geht es ihm um
eine Atmosphäre, die absichtsvoll in der Schwebe hält, sich entzieht, wo
es den Menschen drängt, Dinge konkret anzusprechen.
Die Lust an der Entgrenzung
Wie schwer es ist, offen für die Empfindung eines Zaubers zu bleiben,
weiß Debussy seit frühen Kindertagen. Im hektischen, oftmals lauten
und unfreundlichen Paris ist es für den Heranwachsenden zuweilen eine
Herausforderung, sich eine magische Vorstellungskraft zu bewahren.
Ganz anders Cannes, wo Debussy zweimal im Jahr seine Patentante an
der französischen Mittelmeerküste besucht und in ein anderes Licht
eintaucht. Hier begegnet er nicht nur erstmals dem Wesen der Musik,
lernt Klavier spielen, sondern trifft auch erstmalig auf die unendliche
Weite des Meeres. Er unternimmt mit seiner Tante ausgedehnte Strandgänge und bemerkt, welch große Faszination das Meer auf ihn ausübt.
Intuitiv macht er die Erfahrung eines Kindes, das noch keine Abgren-
5. SYMPHONIEKONZERT
Claude Debussy, um 1908
30
31
zung zwischen Ich und Außen kennt. Die Lust der Entgrenzung ist ungebrochen und hält bei Debussy zeit seines Lebens an. Sigmund Freud
spricht einige Jahre später in Reaktion auf Romain Rolland von einem
»ozeanischen Gefühl« – einem Gefühl »unauflösbarer Verbundenheit«.
Das Meer wird nicht mehr als Bedrohung wahrgenommen oder als reine
Wasserwüste. Es steht für einen Zusammenhang mit dem Ganzen und
dient als Hort der Inspiration. So, wie Anregung immer Entdeckungen
mit sich bringt, ziehen wagemutige Seefahrer in der frühen Neuzeit aus,
um fremde Länder zu erkunden. Man reist über das Meer, um irgendwo
anzukommen – und sei es in den Weiten der Imagination. Als Debussy
1903 in den Anfängen seiner Komposition zu »La mer« steckt, schreibt
er am 12. September an André Messager, der 1902 die Uraufführung
seiner Oper »Pelléas et Mélisande« dirigiert hat: »Sie wissen vielleicht
nicht, dass ich für die schöne Laufbahn eines Seemanns bestimmt war
und dass nur die Zufälle des Lebens mich auf eine andere Bahn geführt
haben. Nichtsdestoweniger habe ich mir für sie (die See) eine aufrichtige
Leidenschaft bewahrt.« Die Zeilen stammen aus Bichain, wo Debussy als
Gast der Eltern seiner ersten Frau Rosalie Texier weilt. Der Komponist
fährt fort: »Nun werden Sie mir sagen, dass die Weinberge der Bourgogne nicht gerade vom Ozean umspült werden …! Und dass das Ganze
womöglich den im Atelier entstandenen Landschaftsbildern ähneln
könnte! Aber ich habe zahllose Erinnerungen; das ist meiner Meinung
nach mehr wert als eine Realität, deren Zauber in der Regel die Gedanken
zu schwer belastet.« Debussy trägt das Meer in sich. In der Gegenwelt
der burgundischen Rebhänge äußert sich die ozeanische Empfindung
in schöpferischer Weise. Abstand und Kontrast zum Gegenstand dehnen
die Phantasie und lenken den Blick durch drei programmatische Andeutungen in eine durchaus konkrete Richtung. Aus dem Burgund schickt
Debussy einen Brief an den Verleger Jacques Durand: »Mein lieber
Freund, was würden Sie hierzu sagen: La mer. Drei symphonische Skizzen
für Orchester. 1. Mer belle aux Îles Sanguinaires (Schönes Meer bei den
blutdürstigen Inseln). 2. Jeux de vagues (Spiel der Wellen). 3. Le vent fait
danser la mer (Der Wind lässt das Meer tanzen). Daran arbeite ich nach
unzähligen Erinnerungen und versuche es hier zu beenden.« Doch zieht
sich die Fertigstellung des Werkes hin. In den nächsten Jahren arbeitet er
immer wieder unterbrochen auf der Kanalinsel Jersey und dem französischen Seebad Dieppe an der Instrumentierung – unmittelbar am Meer.
Am 5. März 1905 liegt die Partitur beendet vor. Die Satz-Überschriften
existieren weiterhin, wenngleich in modifizierter Form. Noch kurz vor
Abgabe des Manuskriptes schreibt er am 6. Januar 1905 an Durand:
»Lieber Freund, ist der Titel, den ich Ihnen für das erste Stück von ›La
mer‹ angegeben habe, nicht ›Von der Morgendämmerung bis zum Mittag
5. SYMPHONIEKONZERT
auf dem Meere‹? Plötzlich bin ich mir dessen nicht mehr ganz sicher.«
Als poetische Andeutung ist die Bedeutung der Überschriften durchaus
anregend, auch wenn diese für die musikalische Form weitgehend unerheblich sind. Auf die Frage, welche Stelle des ersten Satzes die schönste
sei, wird Erik Satie die geistvolle Antwort zugeschrieben: »die gegen halb
elf.« Nicht nur besteht die Gefahr einer programmatischen Einengung, die
gern von gewitzten Denkern aufgegriffen wird, mitunter verselbständigen
sich auch die Erinnerungen und schlagen ihre eigene, oft unergründliche
Richtung ein. 1911 versucht Debussy einem Journalisten das Geheimnis
der musikalischen Komposition zu beschreiben: »Das Rauschen des
Meeres, die Kurve eines Horizontes, der Wind in den Blättern, der Schrei
eines Vogels rufen in uns vielfältige Eindrücke hervor. Und plötzlich, ohne
dass man das geringste von der Welt dazu tut, löst sich eine dieser Erinnerungen von uns los und drückt sich in musikalische Sprache aus. Sie trägt
ihre Harmonie in sich selbst.«
»Eine Art klingende Palette«
In Debussys Beobachtung könnte auch die Erklärung für den Untertitel von »La mer« liegen: drei symphonische Skizzen. Die Bezeichnung
schließt sich zunächst aus. Denn was symphonisch gestaltet ist, zeigt sich
in einer größeren, zusammenhängenden Form, ihr liegt eine gedankliche
Konzentration zugrunde, die den Bogen über entfernte Punkte zu spannen
versucht. Hingegen handelt es sich bei Skizzen meist um kurze Notate,
die Einfälle in lockerer, spontaner Reihenfolge festhalten. Wenn Debussy
sein großes, lang erwartetes Werk im Untertitel »Drei symphonische
Skizzen« nennt, so spielt er bewusst mit diesem Paradoxon. Es sind ausgearbeitete Skizzen, die in ihrer Instrumentierung weit in das Klangreich
des Impressionismus reichen. Durch die Macht der Phantasie gerinnen
Momente der Erinnerung zu Momenten der Eingebung. Debussy, so
scheint es, überträgt diesen Prozess auf den Hörer. Der Eindruck, den
ein Gegenstand hervorruft, setzt sich fest und bestimmt die Atmosphäre.
Andererseits könnten die drei »symphonischen Skizzen« ohne weiteres
mit Allegro, Scherzo und Finale bezeichnet werden und zusammen eine
mehrsätzige Symphonie bilden. Sie folgen ungefähr der symphonischen
Tonalitätenfolge und zeigen Spuren des Zyklischen, bleiben also trotz
ihrer formalen Eigenständigkeit durch thematische Bande miteinander
verknüpft. In den Ecksätzen erwächst eine pentatonische Reihe zur
Keimzelle der musikalischen Ereignisse, angereichert durch charakteris­
tische Instrumentenkombinationen. Die Verknüpfung von gedämpften
Trompeten und Englischhorn an einer Stelle im ersten Satz kehrt im
dritten wieder. Außergewöhnliche Verbindungen in der Instrumentation
32
33
bestimmen das Bild, unzählige
Abwandlungen in der Teilung
der Streicher, mitunter aufgespalten auf fünfzehn Stimmen,
zeugen von einer erstaunlichen
Mannigfaltigkeit, die eine erfindungsreiche Behandlung der
Harfen einschließt. Was Debussy
präsentiert, ist eine Fülle an koloristischen Einfällen, abgemalt dem
tausendfachen Schimmer, der sich
glitzernd über die Oberfläche des
Meeres legt. Der Programmredakteur der Concerts Lamoureux, wo
am 15. Oktober 1905 die Uraufführung des Werkes unter der
Debussy wählt ein Detail aus dem
musikalischen Leitung von Camille
Holzschnitt »Die große Welle vor
Chevillard stattfindet, glaubt in
Kanagawa« von Hokusai für die
Debussys Arbeit »eine Art klinerste Ausgabe von »La mer«, 1905.
gende Palette« auszumachen, »auf
der ein geschickter Pinsel seltene
und leuchtende Töne mischt, um in der ganzen Mannigfaltigkeit ihrer
Skala das Spiel des Schattens und des Lichts, das ganze Helldunkel der
schillernden und unendlichen Fluten wiederzugeben. Manche Ausbrüche
der Blechbläser gleichen Sonnenstrahlen, die plötzlich über die Wasser­
oberfläche gleiten und sie wie einen blendenden Spiegel funkeln lassen;
manche Streicherarpeggien sind wie die tiefen Unterströmungen der
treibenden Wogen, die sich am Strande brechen und die Luft mit ihrer
aufschäumenden Gischt peitschen. Zuweilen lässt ein einfacher Flötenlauf den Hauch einer Brise ahnen; mitunter erinnert irgendeine unruhige
Wendung der Bratsche an den reißenden Lauf der kleinen Wellen, die sich
in ihrem unaufhörlichen Geplätscher überrieseln.« Die Flut der Bilder
scheint im Programmheft nicht viel gebracht zu haben, die Reaktion auf
die Uraufführung ist auffallend geteilt – was vermutlich auch daran liegt,
dass die Wiedergabe der Musik nicht gerecht wird, glaubt man den zeitgenössischen Berichten. Oft wird daher der 19. Januar 1908 als eigentlicher
Premierentermin angegeben: An diesem Tag dirigiert Debussy das Werk
mit dem französischen Symphonieorchester Concerts Colonne. Es ist ein
Sonntag, der den Charakter einer Feierlichkeit trägt. Er bietet Gelegenheit,
sich in großem Stil über das Werk des Komponisten auszutauschen.
ANDRÉ PODSCHUN
5. SYMPHONIEKONZERT
5. Symphoniekonzert 2015 | 2016
Orchesterbesetzung
1. Violinen
Kai Vogler / 1. Konzertmeister
Michael Eckoldt
Thomas Meining
Jörg Faßmann
Volker Dietzsch
Johanna Mittag
Susanne Branny
Barbara Meining
Birgit Jahn
Wieland Heinze
Anja Krauß
Anett Baumann
Roland Knauth
Yoriko Muto
Ga-Young Son
Juliane Kettschau*
2. Violinen
Heinz-Dieter Richter / Konzertmeister
Reinhard Krauß / Konzertmeister
Matthias Meißner
Stephan Drechsel
Jens Metzner
Ulrike Scobel
Olaf-Torsten Spies
Alexander Ernst
Elisabeta Schürer
Kay Mitzscherling
Martin Fraustadt
Christoph Schreiber-Klein
Yewon Kim
Minah Lee
34
35
Bratschen
Sebastian Herberg / Solo
Stephan Pätzold
Anya Dambeck
Uwe Jahn
Ralf Dietze
Zsuzsanna Schmidt-Antal
Marie-Annick Caron
Susanne Neuhaus
Luke Turrell
Veronika Lauer**
Rainhard Lutter*
Henry Pieper*
Violoncelli
Friedwart Christian Dittmann / Solo
Martin Jungnickel
Uwe Kroggel
Bernward Gruner
Johann-Christoph Schulze
Jörg Hassenrück
Jakob Andert
Anke Heyn
Titus Maack
Kontrabässe
Christian Ockert* / Solo
Razvan Popescu
Helmut Branny
Christoph Bechstein
Fred Weiche
Reimond Püschel
Thomas Grosche
Paweł Jabłczyński
Flöten
Sabine Kittel / Solo
Dóra Varga
Diego Aceña Moreno**
Oboen
Céline Moinet / Solo
Andreas Lorenz
Michael Goldammer
Klarinetten
Robert Oberaigner / Solo
Jan Seifert
Fagotte
Philipp Zeller / Solo
Joachim Huschke
Andreas Börtitz
Hannes Schirlitz
Hörner
Jochen Ubbelohde / Solo
Manfred Riedl
Lars Scheidig**
Friedrich Kettschau*
Posaunen
Wolfram Arndt* / Solo
Jürgen Umbreit
Frank van Nooy
Tuba
Jens-Peter Erbe / Solo
Pauken
Thomas Käppler / Solo
Schlagzeug
Christian Langer
Simon Etzold
Jürgen May
Dirk Reinhold
Timo Schmeichel*
Simon Lauer*
Harfen
Vicky Müller / Solo
Astrid von Brück / Solo
Celesta
Hans Sotin
Trompeten
Mathias Schmutzler / Solo
Helmut Fuchs / Solo
Peter Lohse
Siegfried Schneider
Sebastian Böhner**
* als Gast
** als Akademist / in
5. SYMPHONIEKONZERT
Staatskapelle
li e
Vorschau
6. Symphoniekonzert
Zum Gedenken an die Zerstörung Dresdens
am 13. Februar 1945
S A M S TAG 13. 2 .16 2 0 U H R
S O N N TAG 14 . 2 .16 2 0 U H R
S E M P ER O P ER D R E S D E N
Christian Thielemann Dirigent
Camilla Nylund Sopran
Elisabeth Kulman Mezzosopran
Daniel Behle Tenor
Georg Zeppenfeld Bass
Sächsischer Staatsopernchor Dresden
Ludwig van Beethoven
»Missa solemnis« D-Dur op. 123
Aufzeichnung durch MDR Figaro
7. Symphoniekonzert
S A M S TAG 2 7. 2 .16 11 U H R
M O N TAG 2 9. 2 .16 2 0 U H R
D I E N S TAG 1. 3.16 2 0 U H R
S E M P ER O P ER D R E S D E N
Andris Nelsons Dirigent
Håkan Hardenberger Trompete
Benjamin Britten
Passacaglia op. 33b aus »Peter Grimes«
Bernd Alois Zimmermann
»Nobody Knows de Trouble I see«
Konzert für Trompete in C und Orchester
Dmitri Schostakowitsch
Symphonie Nr. 8 c-Moll op. 65
W W W.FACEB O O K .CO M / STA AT SK A PELLE.D R E SD EN
Kostenlose Konzerteinführungen
jeweils 45 Minuten vor Beginn im Foyer
des 3. Ranges der Semperoper
Aufzeichnung durch MDR Figaro
5. SYMPHONIEKONZERT
IMPRESSUM
Sächsische
Staatskapelle Dresden
Künstlerische Leitung/
Orchesterdirektion
Sächsische Staatskapelle Dresden
Chefdirigent Christian Thielemann
Spielzeit 2015 | 2016
H E R AU S G E B E R
Sächsische Staatstheater –
Semperoper Dresden
© Januar 2016
R E DA K T I O N
André Podschun
G E S TA LT U N G U N D L AYO U T
schech.net
Strategie. Kommunikation. Design.
DRUCK
Union Druckerei Dresden GmbH
ANZEIGENVERTRIEB
Juliane Stansch
Persönliche Referentin
von Christian Thielemann
Jan Nast
Orchesterdirektor
Tobias Niederschlag
Konzertdramaturg,
Künstlerische Planung
André Podschun
Programmheftredaktion,
Konzerteinführungen
Matthias Claudi
PR und Marketing
Agnes Monreal
Assistentin des Orchesterdirektors
Elisabeth Roeder von Diersburg
Orchesterdisponentin
B I L D N AC H W E I S E
Agnes Thiel
Dieter Rettig
Notenbibliothek
T E X T N AC H W E I S E
Der Einführungstext von Martin Wilkening
ist ein Nachdruck aus dem Programmheft zum
7. Symphoniekonzert der Sächsischen Staatskapelle Dresden im März 2012. Die Artikel von
André Podschun sind Originalbeiträge für
dieses Programmheft.
Die Gläserne Manufaktur von Volkswagen
Christian Thielemann
Chefdirigent
EVENT MODULE DRESDEN GmbH
Telefon: 0351 / 25 00 670
e-Mail: [email protected]
www.kulturwerbung-dresden.de
Marco Borggreve (S. 4, 7); Gilbert Kaplan,
The Mahler Album, New York 1995 (S. 10);
www.ansichtskarten-wenzel.de/product_info.
php?info=p4355_ak-trompeter-von-saeck
ingen--behuet-dich-gott---am-flussufer--pferd.
html (aufgerufen am 11.1.2016) (S. 13); Jean
Sibelius: Historisches Archiv der Sächsischen
Staatstheater (S. 16, 19); Arbie Orenstein,
Maurice Ravel. Leben und Werk, Stuttgart
1978 (S. 25, 27); Foto von Félix Nadar (S. 30);
www.expositions.bnf.fr/lamer/grand/121.htm
(aufgerufen am 11.1.2016) (S. 33)
Ein Stück Dresden.
Matthias Gries
Orchesterinspizient
Urheber, die nicht ermittelt oder erreicht
werden konnten, werden wegen nachträglicher
Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.
Private Bild- und Tonaufnahmen sind aus
urheberrechtlichen Gründen nicht gestattet.
W W W. S TA AT S K A P E L L E - D R E S D E N . D E
Besucherservice
+49 351 420 44 11
[email protected]
glaesernemanufaktur.de
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