Die komplexen Zahlen Wir haben gesehen, dass die Menge R der reellen Zahlen einen angeordneten Körper bildet und dass für die Menge Q der rationalen Zahlen entsprechendes gilt. In beiden Körpern sind Gleichungen der Form xn = a nicht durchweg lösbar. In Q scheitern wir schon an der Lösung von x2 = 2. In R (und in Q) gibt es keine Lösung von x2 = −1. Diese “Defekte” beseitigt die Zahlbereichserweiterung zu den komplexen Zahlen. 1 Die Konstruktion von C Satz Die Menge R × R = {(a, b) | a ∈ R und b ∈ R} wird durch die Verknüpfungen (a, b) + (a0, b0) = (a + a0, b + b0) (a, b) · (a0, b0) = (aa0 − bb0, ab0 + a0b) zu einem Körper, dem Körper der komplexen Zahlen. Bezeichnung: C. Erinnerung: Eigenschaft Körper beinhaltet die Anforderungen (A1)–(A4) an die Addition, (M1)–(M4) an die Multiplikation und das Distributivgesetz (D). 2 Überprüfung der Anforderungen (A1)–(A4) Kommutativität und Assoziativität der Addition offensichtlich erfüllt. (0, 0) wirkt als Nullelement und (−a, −b) als additiv Inverses zu (a, b). (M1) Kommutativität der Multiplikation ist klar. (M2) Assoziativität: 0 0 = (a, b) · (a , b ) · (a00, b00) = (aa0 − bb0) · (a00, b00) = (aa0a00 − bb0a00 − ab0b00 − ba0b00, aa0b00 − bb0b00 + ab0a00 + ba0a00) 0 0 00 00 Ausmultiplizieren von (a, b) · (a , b ) · (a , b ) liefert dasselbe Resul- tat. 3 (M3) (1, 0) ist neutral hinsichtlich Multiplikation: (1, 0) · (a, b) = (a, b). (M4) Ist (a, b) 6= 0, so ist (wegen a, b ∈ R) die Quadratsumme a2 + b2 6= 0. Aus (a, b) · (a, −b) = (a2 + b2, 0) erhalten wir folglich a b = (1, 0) (a, b) · 2 , − 2 2 2 a +b a +b damit die Existenz von Inversen bezüglich der Multiplikation. (D) Das distributive Gesetz rechnet man nach dem Muster von (M2) nach. 4 Verabredungen Vermöge der Zuordnung R → C, identifizieren wir. a 7→ (a, 0) zugeordnete Elemente R wird dadurch eine Teilmenge von C, die sogenannte reelle Achse . Die Identifizierung führt zur Schreibweise (a, b) = (a, 0) + (b, 0) · (0, 1) = a + b · i, wobei i = (0, 1) als imaginäre Einheit von C bezeichnet wird. Offensichtlich gilt: i2 = (0, 1) · (0, 1) = (−1, 0) = −1. 5 Entsprechend ist die quadratische Gleichung x2 = −1 in C lösbar mit den beiden Lösungen i und −i. Wichtiger Kommentar zum Rechnen in C Für das Rechnen in C brauchen wir uns nicht die ursprünglichen Definitionen zu merken. Alles Weitere ergibt sich aus den folgenden Fakten: (1) Jede komplexe Zahl z besitzt eine eindeutige Darstellung z = a + b · i, mit a, b ∈ R. (2) C ist ein Körper, d.h. es gelten (A1)–(A4), (M1)–(M4), (D). (3) Es gilt i2 = −1. 6 Beispiel Sei z = a + bi 6= 0 eine von Null verschiedene komplexe Zahl. Dann ist (a + bi)(a − bi) = a2 − abi + bai − b2i2 = a2 + b2 6= 0 und folglich a − ib 1 = z a2 + b2 1 Für z = a + bi 6= 0 ist z −1 = 2 (a − bi) . 2 a +b 7 Die Gaußsche Zahlenebene Durch die Interpretation C = R × R der komplexen Zahlen als reelle Zahlenpaare wird die Veranschaulichung der komplexen Zahlen als Punkte der Ebene nahegelegt. z = a + bi bi Gaußsche Zahlenebene i 1 a q Mit |z| = a2 + b2 bezeichnen wir (Pythagoras) den Abstand vom Nullpunkt, und nennen ihn den Betrag von z. 8 Carl Friedrich Gauß (1777-1855) Gauß war der mit Abstand berühmteste Mathematiker seiner Zeit. Die komplexe Zahlenebene ist nach ihm benannt. Gearbeitet hat er auf allen Gebieten der Mathematik und ihrer Anwendungen. 9 Die Gaußsche Zahlenebene: Addition Die Addition von zwei komplexen Zahlen erfolgt — geometrisch gesehen — unter Anwendung des Parallelogrammgesetzes. ......... ............ ..... ............ . ............ ... ............ . . . . . . . . . . . . . . ... ... ............ .. ............ . . . . . . . . . . . . . . ..... ............ ... ............ ... ............ .. ............ ... ............ . . . . . . . . . . . . . . .. ........... ... ........... ... ... .. .. ... ... . . . . . ... ... .. .. ... ... ... ... . ... . . . . ..... . ............ ... ............ ... ............ ... ............ ............ .. . . . . . . . . . . . . . ..... .. ............ ... ............ ... ............ .. ............ ............ ... . . . . . . . . . . . . . . ............ ... ............ ... ................ ........... z1 + z2 z1 z2 Die geometrische Interpretation der Multiplikation in kartesischen Koordinaten ist unanschaulich. 10 Sinus und Cosinus Für einen im Bogenmaß gegebenen Winkel α sind sin α und cos α durch folgende Figur erklärt: p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p pp p p pppp p pp p p p p p p p p p pp pppp pp pp p ppp p p p p p p pp p pppp ppppp p p p pp p p p 1 ppp sin α pppppp p ppp pppp p p p p ppp p ppp pppp ppp pp ppp cos α p ppp pp ppp p p p pp p pp p p pp pp p p ppp p p p p p p p p p pp p p p p pp p p p ppp p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p ppp Wir lesen beispielhaft ab: sin2 α + cos2 α = 1 cos(α + π) = − cos α sin(α + π) = − sin α. 11 Additionstheoreme Ohne Beweis werden wir die folgenden Darstellungen der Winkelfunktionen für die Winkelsumme α + β verwenden: cos(α + β) = cos α cos β − sin α sin β sin(α + β) = cos α sin β + sin α cos β. Diese Formeln benötigen wir temporär , um die Multiplikation komplexer Zahlen geometrisch zu interpretieren. Später werden wir diese Formeln zweckmäßig aus leicht zu merkenden Eigenschaften der komplexen Zahlen zurückgewinnen. 12 Darstellung in Polarkoordinaten Zur geometrischen Darstellung der Multiplikation erweist sich die Polarkoordinatendarstellung einer komplexen Zahl als wichtig: pppp pp pppppp ppp p p p p p p p p pp pppp ppppp pppppp ppp p p p p p p p p pp pppp ppppp pppppp ppp p p p p p p p p r pppppp ppppppp ppppppp pppp p pppppp ppp p p p p p p p p pp p pppp ppppp ppppp pppppp ppp p p p p p p p p p pppp α ppppp pppppp ppp p p p p p p p p pp pppppppp z = r (cos α + i sin α) r sin α r cos α Die Zahl r = |z| misst in der Gaußschen Zahlenebene daher den Abstand zum Nullpunkt; um z festzulegen benötigen wir neben r noch den Winkel α. 13 Mit Hilfe der Polarkoordinaten (r, α) ergibt sich dann z als z = r · (cos α + i sin α) . Wir nennen α = arg(z) , 0 ≤ α < 2π, das Argument von z. Multiplikation in Polarkoordinaten Seien z1 = r1 (cos α1 + i sin α1) z2 = r2 (cos α2 + i sin α2) komplexe Zahlen in Polarkoordinatendarstellung so ist z1 · z2 = r1r2 [(cos α1 cos α2 − sin α1 sin α2) + i (cos α1 sin α2 + sin α1 cos α2)] = r1r2 (cos (α1 + α2) + i sin (α1 + α2)) Komplexe Zahlen multipliziert man durch Multiplikation der Beträge und Addition der Argumente=Winkel. 14 Konjugieren Sei z = a + ib, a, b ∈ R, eine komplexe Zahl. (1) a = Re(z) heißt Realteil, b = Im(z) heißt Imaginärteil von z. (2) z̄ = a − i b heißt die zu z konjugiert komplexeZahl. (3) Es gilt z · z̄ = a2 + b2 = |z|2. (4) Für z 6= 0 ist z −1 = |z|z̄ 2 . Diese Regel kennen wir schon! 15 Betrag und Konjugieren: Rechenregeln (1) z1 + z2 = z1 + z2, (2) z1 · z2 = z1 · z2, (3) z · z̄ = |z|2, |z̄| = |z|, (4) |z1 · z2| = |z1| · |z2|, (5) |z1 + z2| ≤ |z1 + z2| (Dreiecksungleichung). Beweis: Von (1)–(4) ist nur (2) nachzurechnen. (5) folgt. 16 Beweis der Dreiecksungleichung Schritt 1: Für z = a + bi gilt |Re(z)| ≤ |z|. Es ist nämlich |Re(z)|2 = a2 ≤ a2 + b2 = |z|2 . Schritt 2: Können z1 6= 0 annehmen, dann durch Multiplikation mit 1/z1, dass z1 = 1 gilt. Müssen daher |1 + z|2 ≤ (1 + |z|)2 zeigen. Bilden dazu die Differenz: (1 + |z|)2 − (1 + z)(1 + z̄) = 1 + 2 |z| + |z|2 − (1 + (z + z̄) + zz̄) = 2 (|z| − Re(z)) ≥ 0 17 Komplexe Zahlen vom Betrag 1 Die Menge U der komplexen Zahlen vom Betrag 1 sind gegenüber Multiplikation, Konjugation und Übergang zum multiplikativ Inversen abgeschlossen. Geometrisch bildet U die Peripherie des Einheitskreises. Für z1, z2 ∈ U folgt z1 z2 ∈ U. (Bilde den Betrag!) Insbesondere ist U gegen Potenzen abgeschlossen! Für z ∈ U gilt wegen z · z̄ = 1 die Formel z −1 = z̄ . Multiplikativ Inverse werden für Elemente aus U somit durch Konjugieren gebildet. 18 Die Moivresche Formel Diese ist ein Spezialfall der Multiplikationsdarstellung in Polarkoordinaten: Für z = r (cos α + i sin α) folgt für alle n ∈ Z z n = rn (cos nα + i sin nα). Durch Umkehrung erhalten wir für 0 6= z = r (cos α + i sin α) n verschiedene n-te Wurzeln, nämlich √ α + 2kπ α + 2kπ wk = n r cos + i sin , n n k = 0, . . . , n − 1. 19 Explizite Wurzelbestimmung Zu bestimmen seien die drei 3-ten Wurzel aus z = 3 + 4 i. Im ersten Schritt ist dazu z in Polarkoordinaten z = |z|(cos α + i sin α) darzustellen. Wir wissen, dass dann die 3-ten Wurzeln aus z als q α 2π α 2π wk = 3 |z| cos +k + i sin +k k = 0, 1, 2 3 3 3 3 gegeben sind. q Es ist |z| = + 32 + 42, also |z| = 5 und α = arg(z) dann aus den beiden folgenden Gleichungen zu gewinnen: cos α = 3 5 sin α = 4 5 20 Im Bogenmaß ergibt sich α ≈ 0.9273, somit α/3 ≈ 0.30901; ferner √ + 3 5 ≈ 1.70998. 2π Hiermit wk ≈ 1.70998 cos(0.30901 + k 2π 3 ) + i sin(0.3091 + k 3 ) Es w0 w1 w2 folgt ≈ 1.628937146 + 0.5201745023 i ≈ 1.264952906 + 1.150613698 i ≈ −0.3639842396 − 1.670788201 i (Vergleiche anschließende Rechnung in MuPAD.) 21 Der Fundamentalsatz der Algebra Wir haben gesehen, dass in C Wurzelziehen unbeschränkt möglich ist. Es gilt mehr, der Körper C ist algebraisch abgeschlossen: Fundamentalsatz der Algebra: Sind a0, a1, . . . , an komplexe Zahlen, an 6= 0, so ist die Polynomgleichung a 0 + a 1 x + a 2 x2 + · + a n xn = 0 in C stets lösbar. Ein Beweis für den Fundamentalsatz war schon Gauß bekannt. Er erfordert Hilfsmittel, die hier nicht zur Verfügung stehen. 22 Quadratische Gleichungen Es ist zwar Schulstoff; aber trotzdem: Wie löst man eine quadratische Gleichung (mit p, q ∈ C)? x2 + p x + q = 0? Das Lösungsverfahren verwendet quadratische Ergänzung: x2 + p x + q p 2 = (x + ) − 2 p2 4 ! −q Als Lösung erhalten wir v ! u 2 u p t p −q . x=− ± 2 4 Im Allgemeinen haben wir dabei zwei Lösungen (wann genau?) 23 Keine Ordnung auf C Die unbeschränkte Möglichkeit, Wurzeln zu ziehen und Polynomgleichungen zu lösen hat ihren Preis: Es gibt keine vollständige Ordnung ≤ auf C, welche mit Addition und Multiplikation verträglich ist, d.h. den Anforderungen (P1)– (P3) genügt. Beweis. Wie im Fall der reellen Zahlen müßte z 2 ≥ 0 für alle z ∈ C gelten. Wegen 12 = 1 und i2 = −1, wäre dann 1 > 0 und −1 > 0, Widerspruch. 24