TU München Prof. P. Vogl Mathematischer Vorkurs für Physiker WS 2012/13: Vorlesung 1 Komplexe Zahlen Das Auffinden aller Nullstellen von algebraischen Gleichungen ist ein Grundproblem, das in der Physik immer wieder vorkommt. Es erfordert eine Erweiterung des Zahlenraums über die reelle Algebra hinaus. Die Einführung der komplexen Zahlen vereinfacht die Lösung vieler Bewegungsgleichungen der Physik dramatisch. Zunächst eine kurze Wiederholung aus dem einführerenden Vorkurs. Eine komplexe Zahl ist ein Gebilde der Form = + mit ∈ R und ist die "imaginäre Einheit". Komplexe Zahlen erfüllen die Rechenregeln Addition: ( + ) + ( + ) = ( + ) + ( + ) Multiplikation: ( + )( + ) = ( − ) + ( + ) Diese Regeln folgen direkt aus den üblichen Regeln der Algebra (Kommutativität, Assoziativität, Distributivität) — mit dem einzigen und entscheidenden Zusatz, dass 2 = −1 ist. Der Betrag einer komplexen Zahl = + ist definiert als p || := 2 + 2 Zu jeder komplexen Zahl = + gibt es eine komplex-konjugierte Zahl ∗ , die definiert ist durch ∗ = − Daher gilt mit den obigen Multiplikationsregeln ∗ = ( + )( − ) = 2 − 2 2 = 2 + 2 = ||2 Der Quotient zweier komplexer Zahlen ist wieder eine komplexe Zahl, − + + + 2 = 2 + + 2 + 2 Beweis: Erweitern des Bruchs mit − ergibt: + − + − − + − 2 = 2 + 2 = 2 2 2 + − + + + 2 heißt Realteil und heißt Imaginärteil von = + . Man schreibt auch = Re() bzw. = Im(). Es gilt: 1 ( + ∗ ) 2 1 ( − ∗ ) 2 Re() = Im() = Eine komplexe Zahl = + hat eine geometrische Interpretation. Sie kann durch einen Punkt der Ebene mit den Koordinaten ( ) dargestellt werden. 1 Es gilt = || cos = || sin wobei der Winkel zwischen der positiven x-Achse und der Strecke OP ist. Man kann also = + auch in der Form = ||(cos + sin ) schreiben (siehe Abbildung). Betrachten wir den Ausdruck cos + sin genauer. Wir behaupten, dass diese Funktion die Verallgemeinerung der Exponentialfunktion für komplexe Zahlen ist., wir also definieren können e := cos + sin Um diese sog. eulersche Formel plausibel zu machen, berechnen wir unter Benutzung des Additionstheorems für trigonometrische Funktionen, die wir weiter unten herleiten werden: e(1 +2 ) = = = = cos(1 + 2 ) + sin(1 + 2 ) cos 1 cos 2 − sin 1 sin 2 + (sin 1 cos 2 + cos 1 sin 2 ) (cos 1 + sin 1 )(cos 2 + sin 2 ) e1 e2 d.h. wir finden tatsächlich die charakteristische Eigenschaft der Exponentialfunktion (+) = () (). Damit kann man eine beliebige komplexe Zahl nun in der Form = ||e 2 schreiben (Polarform komplexer Zahlen). Aus dieser Darstellung ergibt sich eine einfache geometrische Interpretation der Multiplikation von komplexen Zahlen: 1 = |1 |e1 2 = |2 |e2 ⇒ 1 2 = |1 ||2 |e(1 +2 ) Das Produkt zweier komplexer Zahlen bildet man, indem man die Beträge multipliziert und die Winkel addiert. Die Darstellung der Winkelfunktionen mit Hilfe der e-Funktion lautet also ¾ ½ e = cos + sin cos = 12 (e + e− ) ⇒ 1 − = cos − sin (e − e− ) e sin = 2 Beispiele: e2 = cos 2 + sin 2 = 1 e = cos + sin = −1 e2 = cos 2 + sin 2 = . Additionstheoreme trigonometrischer Funktionen Mit Hilfe der eulerschen Formel lassen sich die sog. Additionstheoreme sehr einfach herleiten. 1. sin( ± ) = sin cos ± cos sin Beweis: sin( + ) = = = 1 (+) − e−(+) ] [e 2 1 [(cos + sin )(cos + sin ) − (cos − sin )(cos − sin )] 2 2 [sin cos + cos sin ] 2 2. sin cos = 12 [sin( + ) + sin( − )] Beweis: sin( + ) = sin cos + cos sin sin( − ) = sin cos − cos sin sin( + ) + sin( − ) = 2 sin cos 3. cos( ± ) = cos cos ∓ sin sin 4. sin 2 = 2 sin cos cos 2 = cos2 − sin2 q q 5. sin 2 = 12 (1 − cos ) cos 2 = 12 (1 + cos ) Komplexe Darstellung von harmonischen Schwingungen mit Hilfe der e-Funktion: Eine harmonische Schwingung ist z.B. () = cos wobei t die Zeit und die Frequenz ist. Dies beschreibt z.B. die Auslenkung der Masse eines einfachen Pendels. Auch eine Lichtwelle läßt sich mit diesem Ausdruck beschreiben, wobei dabei die Beziehung gilt = . Hierbei ist c die Lichtgeschwindigkeit und die Wellenlänge. Gemäß der Eulerschen Formel kann man dies als Linearkombination von zwei komplexen Exponentialfunktionen schreiben: () = 1 (e + e− ) 2 Die allgemeinste reelle harmonische Schwingung ist mit Konstanten () = cos + sin 3 und diese läßt sich nach dem Additionstheorem immer schreiben () = cos( + ) ( = Amplitude, = Phasenverschiebung), denn cos( + ) = (cos cos − sin sin ) = [ cos ] cos + [− sin ] sin Mit der Eulerschen Formel kann man alternativ den cos durch die Exponentialfunktion ersetzen und erhält: () = − − ∗ − = e + e e + e e e 2 2 2 2 wobei = e . Man kann also jede harmonische Schwingung als Linearkombination zweier komplexer Exponentialfunktionen schreiben. Diese komplexe Darstellung von Schwingungen hat gegenüber der Darstellung mit Winkelfunktionen erhebliche Vorteile, weil man zum Addieren von Frequenzen keine trigonometrischen Additionstheoreme benötigt, sondern nur Produkte von Exponentialfunktionen. Graphische Darstellung Die Kombination von Schwingungen zweier verschiedener Frequenzen bzw. Wellenlängen liefert eine Schwebung. Wir betrachten den Ausdruck = cos 1 + cos 2 und wählen nahe beieinander liegende Werte für die beiden Frequenzen, 1 = 2 und 2 = 22. Die Amplitude der zweiten Schwingung sei zunächst Null und dann ebenfalls 1. Im ersten Fall sehen wir eine Schwingung mit konstanter Amplitude 1. Wenn wir die beiden Schingungen linear überlagern, erhalten wir wieder eine Schwingung. Diese Eigenschaft nennt man generell Superpositionsprinzip. Im Gegensatz zur Erwartung wird aber die Amplitude nicht konstant doppelt so groß wie im ersten Fall, sondern es kommt zu Verstärkungen und Abschwächungen, die man modulierte Schwingung nennt. Wenn 1 2 = 1 2 (mit 1 2 ∈ N) rational ist, dann ist die modulierte Schwingung wieder periodisch mit der Periode = 21 1 = 22 2 . Diesen Effekt nennt man Schwebung. Im Beispiel ist 1 2 = 1011, d.h. = 2 ∗ 102 ≈ 30 Zum Beweis betrachten wir die komplex geschriebenen Schwingungen: es gilt e1 1 e21 = e1 (+ ) e2 = e2 (+ ) 21 22 = 1 2 = 2 1 2 = 1 = e22 Die Kombination von Schwingungen vieler Wellenlängen, die nahe beieinander liegen, liefert ein sogenanntes Wellenpaket, das in der klassischen Physik einen Lichtpuls und in der Quantenmechanik die Bewegung von mikroskopischen Teilchen beschreibt. Die Figur zeigt die Überlagerung von Wellen mit Wellenzahlen = 2 4 in der Nähe eines mittleren Werts (das Vorzeichen bestimmt die Phase im Ausdruck e ). 5