Elternschaft und Persönlichkeitsstörung Auswirkungen auf die frühkindliche Entwicklung von Dr. Andrea Strohl-Westerkamp, Ambulanz für Säuglinge und Kleinkinder „Miniambulanz“ der KJPP Gliederung des Vortrags • Elternschaft • Bindung • Regulation • Frühe Kindheit und Borderline 2 Elternschaft • Erziehungsrecht und Erziehungsverantwortung • Bedürfnisse des Kindes zur gesunden Entwicklung • Temperament, Individualität und Kompetenzen des Kindes • Emotionsregulation und Aufbau von Bindung • Kindliche Entwicklung mit Übergängen und Krisen • Anpassung der elterlichen Führung an altersentsprechende Entwicklungsaufgaben (z.B. Autonomie im 2.Lebensjahr) • Aufbau und Stärkung von Elternkompetenzen 3 Frühkindliche Entwicklung • Entwicklung so schnell wie in keiner anderen Lebensphase • Wachstumsschub des Gehirns in ersten 12 Monaten von 400g auf 1000g • Frühe Reifung von Arealen der Emotionsregulation „Emotion vor Kognition“ • Emotionsregulation und Reaktion auf frühe Erfahrungen bedingt durch: Genetik, Epigenetik und der Prägung des Stresssystems (bereits pränatal) 4 Was ist Bindung? • Emotionale Bindung sichert das Überleben des Säuglings • Säuglinge von Anfang an fähige Interaktionspartner • Spezifische emotionale Bindung an eine Hauptbezugsperson (sicherer Hafen) • Trennung und Angst aktiviert das Bindungsbedürfnis • Sättigung von Bindungserfahrung beruhigt das Bindungsbedürfnis 5 Phasen des Bindungsaufbaus • Bindungsentwicklung verläuft in Phasen über die gesamte frühe Kindheit (Bowlby) • gesunde Entwicklung findet im Spannungsfeld zwischen Exploration und Nähebedürfnis statt. • Emotionsregulation durch die Fürsorgeperson beeinflußt Qualität der Bindung und bildet damit „Basisgeschehen“ (Rass, 2011) • „Frühe Erfahrungen prägen Bindung zwar tiefgehend, aber Plastizität des menschlichen Systems flexibel und veränderbar“ (Rass, 2011) 6 intuitive elterliche Kompetenz nicht bewußte elterliche Anpassung an die Kommunikation mit dem Säugling: • Beruhigung – Aktivierung • Modulation der Stimme, der Körpersprache, Halteposition • Folgen des Aufmerksamkeitsfokus Papousek & Papousek (1981) 7 Feinfühligkeit Emotionale Sicherheit abhängig von Fähigkeit und Bereitwilligkeit der Betreuungsperson, die Signale und das Verhalten des Säuglings • • • • • wahrzunehmen, richtig zu deuten (Affekt und Grund für Distress erkennen), prompt (entscheidend im Säuglingsalter), angemessen und feinfühlig zu reagieren. Mary Ainsworth (1977,78) 8 Normvarianten von Bindung Sicherer Typ „B“ (50-60%): Balance zwischen Sicherheit durch Nähe und Exploration unsicher-vermeidender Typ „A“ 30-40%: Exploration überwiegt zu Ungunsten des Bindungsverhaltens, Verbergen und unterdrücken negativer Affekte bei Trennung, bei Wiederkehr ablehnend, meidend unsicher ambivalenter „Typ C“ (10-20%): Verzweiflung bei Trennung mit Mischung von Angst und Ärger, da Bindung nicht steuerbar, kaum Beruhigung bei Wiedervereinigung Normvarianten sind keine pathologischen Abweichungen! 9 Pathologische Bindung • desorganisierter Bindungsstil (Main 1986) mit 5-15% als beginnende Pathologie: unvorhersehbare Verhaltensweisen mit Stereotypien z.B. sinnloses Kopfschütteln, mechanische Spielbewegungen; unvollendete Bewegungsmuster, Abwenden, Erstarren oder Erschrecken bei Rückkehr der Mutter; keine Strategie, um mit bindungsbezogenem Stress umzugehen • fließender Übergang in die Pathologie mit der Entwicklung einer Bindungsstörung (reaktiv F94.1 oder enthemmt F94.2) • Durch „Beziehungstraumata“ bei wechselnden Bezugssystemen, Beziehungsabbrüchen, Beziehungsverlusten, Deprivationserleben, Gewalterleben direkt oder indirekt 10 Bindungsaufbau durch Regulation Regulation ist Anpassung an körperliche und emotionale Zustände: Wachzustand/Schlafen, Tages-/Nachtrhythmus, Hunger/Sättigung, Reize, Aktivität • In erster Phase des Bindungsaufbaus regulieren die Bezugspersonen zunächst die Bedürfnisse des Kindes • Übergang zunehmend zu Selbstregulation – kindliche Fähigkeit das eigene Verhalten zu steuern und sich Anforderungen (kognitiv, emotional, sozial) anzupassen (Posner und Rothbart) 11 „Engelskreise“ Interaktion mit positiver Gegenseitigkeit: „Engelskreise“ (Papousek) entstehen durch: • Bedürfniserkennung, Regulierung, Kompetenzerleben der Eltern • größtmögliche Passung („fit“) zwischen den kindlichen Bedürfnissen und Anforderungen/ Unterstützung auf Elternebene (Chess/Thomas, 1984) • „good enough mother“ (Winnicott) • Krisenhafte Zuspitzung normal – Zugewinn an Kompetenzen und Selbstvertrauen auf beiden Ebenen 12 „Teufelskreise“ Interaktion mit negativer Gegenseitigkeit: „Teufelskreise“ entstehen durch (Papousek) • Schwierigkeiten des Kindes (Temperamentsfaktoren: reizoffen, irritabel, mangelnde Kompetenzen nach Erschöpfung, Krankheit) • Überforderung der elterlichen Koregulation durch psychische, körperliche, soziale Belastungen • Können dann zu Regulationsstörung im Säuglingsalter führen: exzessives Schreien, Fütter-, Schlafstörung, Störung der Emotionsregulation 13 14 Ursachen der Regulationsstörung • komplexe Wechselwirkung von: Beziehungs- und Interaktionsgestaltung zwischen Kind und Eltern vor dem Hintergrund der Kompetenzen und Temperamente auf Eltern- und Kindebene und den Ressourcen im Umfeld • die Ursachen und die Symptomatik sind vielfältig und sind keiner konkreten Pathologie bei den Eltern zuzuordnen – hängen aber in der Bewältigung maßgeblich von der feinfühligen Bedürfnisregulierung durch die Bezugspersonen ab 15 Frühe Kindheit und Borderline • Kinder brauchen: Beständigkeit, Kontinuität und Gleichförmigkeit (….) • Borderline: Unbeständigkeit, Unberechenbarkeit, übermäßige Intensität (Lawson, 2000) 16 Merkmale der Borderline-PS Charakteristisch sind plötzliche Stimmungswechsel der Mutter zwischen ausreichend feinfühliger Kompetenz in: • • • • • • • Wut - Ärger Ablehnung – negative,aggressive Zuschreibung Überstimulierende, erdrückende Zärtlichkeit Widersprüche im Affektausdruck Beziehungsabbruch Impulsivität Suizidalität (Lawson) 17 „Borderline Struktur“ der Mutter Es liegen oft keine ärztlichen Diagnosen bei den Müttern vor. • Familienstruktur oft „Multiproblemfamilie“: • hohe Kinderzahl, finanzielle Nöte • Arbeitsunfähigkeit • Probleme in Partnerschaften • Haushaltsdesorganisation (Hipp/Kleinz) Die BPS-Störung der Mutter kann sich auf die Bindungsentwicklung und Emotionsregulation des Kindes auswirken Kindliche Symptomatik im Kontext von Bindung und Emotionsregulation der jeweiligen Lebensabschnitte der Kinder zu sehen und individueller genetischer Vulnerabilität und Temperamentsfaktoren 18 Elternkompetenz und Borderline Die Eltern-Kind-Interaktion kann abhängig von Ausprägung der mütterlichen Störung von „hinreichend“ adäquat, feinfühlig und intuitiv kompetent (plötzlich) übergehen in entwicklungskritisch bis gefährdend und zu Vernachlässigung oder Misshandlung führen intermittierend Phasen von "Normalität" …und in Abhängigkeit eines co-regulierenden/korrigierenden Umfeldes 19 Leichte Ausprägung der BPS Überforderung, rezidivierende psychische Krisen defizitäre familiäre Strukturen – intermittierend stabilere Phasen Mutter-Kind-Beziehung: zeitweise nicht feinfühlig und responsiv, wechselhafte Verhaltensmuster in Interaktion Kindebene: Kein verlässlicher Halt, verunsichert in Bindungserfahrungen, ängstliches Verhalten, passiv-abwartend oder quengelnd-unruhig 20 Schwere Ausprägung der BPS erhebliche emotionale Instabilität, mangelnde Impulssteuerung große Probleme auf Paarebene und im sozialen Umfeld (soz. Isolierung) Mutter-Kind-Beziehung keine Verlässlichkeit in Beziehung zum Kind, intrusiv, emotional missbrauchend bis verwahrlosend Kindebene unsicher ambivalent bis desorganisierte Bindung, Entwicklungsstörungen bis hin zu schweren Bindungsstörungen, Deprivationssyndrom und/oder posttraumatischen Störung Übermäßige Wachsamkeit – Kontrolle z.B. zur Abwendung von aggressiven Übergriffen oder Suizidalität vordergründig „unauffällig“, angepaßt, parentifiziert, innerpersonell extrem hohes Stressniveau! 21 BPS und Säuglinge Säuglinge: brauchen prompte, feinfühlige Bedürfnisregulierung – Abhängigkeit von primärer Bezugsperson Regulationsstörungen entstehen dann bei Überforderung an die Kompetenzen zur Regulationsfähigkeit Babys insgesamt weniger interessiert an Interaktion mit Müttern, Abwenden bis Erstarren bei Still-Face-Situation Abwendung des Säuglings bei überfordernder, intrusiver Überreizung oder Hyperirritabilität und motorische Unruhe 22 BPS und Säuglinge • Schreien: Hilfl-/Schutzosigkeit des Säuglings, kann zu Trigger für traumatische Erinnerung werden, mütterlicher Stress kann zu „Flucht“ oder Aggression oder Abspaltung von Gefühlsreaktionen führen • Trinken/Stillen/Saugen: Projektion und negative Zuschreibung „saugt mich aus“, „frißt mich auf“, „beißt mich mit Absicht“ mit Vermischung Täter-Opfer-Ebene, Kind als Aggressor • Lieb – teuflisch: Baby wird nur polarisierend wahrgenommen Abspaltung von „Zwischentönen“, Idealisierung-Abwertung • Gefahr mangelhafter Versorgung und Kindeswohlgefährdung – insbesondere wenn keine Co-Regulierung durch soziales Umfeld 23 BPS und Kleinkinder mangelnde Bindungssicherheit schränken das Explorationsverhalten und die Neugier ein, Entwicklungshemmung im sozio-emotionalen Bereich oder hyperaktiv, distanzlos, wahllos in Bindungssuche überfordernde, intrusive (vereinnehmende) Verhaltensweisen der Mt. hemmen die Autonomieentwicklung (Selbstobjektfunktion des Kindes) Parentifizierung und/oder „Kontrolle des mütterlichen Verhaltens“ bis zu gefrorener Wachsamkeit, Schuldgefühle Unberechenbare Reaktionen und Affekte auf Verhalten des Kindes irritieren die Selbstwahrnehmung und Entwicklung von sozialen Kompetenzen, Risiko von Ängsten 24 BPS und Kleinkinder Interesse an Kontakt zu anderen Bezugspersonen (Triade): reaktiviert Verlassenheitsangst bei Kindesmutter, bedroht die Selbstobjektfunktion des Kindes für die Mutter, rivalisierende, konkurrierende Versorgungswünsche, Neid, Eifersucht Trotz, Austestung von Grenzen: kann vergeblicher Versuch sein die Mutter emotional zu erreichen aber auch Ausdruck von emotionaler Überforderung beim Kind sein; kann von der Mutter als ablehnend, aggressiv und als Trigger für mütterliche Traumatisierung erlebt werden (Verschiebung Täter-Opfer, Erwachsenen-Kind) und gleichzeitig Gefahr für körperliche Übergriffe sein 25 BPS und Stressregulation Fehlende feinfühlige Versorgung bewirkt Stress (beim Kind) Genetik - Epigenetik – frühe Erfahrungen: prägen gegenseitig Stresssysteme und übergeordnete Hirnstrukturen schon bereits vor lange vor Zeugung und Geburt des Kindes bestehende Störung auf mütterlicher Ebene: neurobiologische Beeinflussung der kindlichen Entwicklung pränatal: Stressbelastung des Fötus - (in Abhängigkeit der) mütterlichen Stressbelastung postnatal: Beziehung und interpersonelle Erfahrungen prägen Gehirnstrukturen 26 BPS und Stressregulation des Kindes Der Kreis schließt sich: „Selbstorganisation des sich entwickelnden Gehirns findet in Beziehungskontext statt“ (Schore 1996 in Rass S. 19), Traumatische (Beziehungs-) Erfahrung prägt „Furchtstruktur“, die wiederum ordnende regulierende Struktur in ihrer Ausprägung hemmt. (Ausreichend) Sichere Bindungserfahrung führt zur Ausschüttung von Oxytocin („Bindungshormon„) was Stressreaktion hemmt und fördert die Reifung des emotionalen Systems (N.Strüber) 27 Transgenerationale Weitergabe Genetisch erhöhtes Risiko einer BPS Prägung des Stress verarbeitenden Systems Bindungsrepräsentation der BPS-Mütter: unsicher ambivalent bis desorganisiert Mentalisierungsfähigkeit auf Elternebene entwickelt sich Abhängigkeit von Bindung zu eigenen Eltern und prägt wiederum die Feinfühligkeit und das Fürsorgeverhalten gegenüber den eigenen Kindern (Schechter, 2009) Transgenerationale Weitergabe von Bindungsmustern und Mentalisierungsdefizite: Engels- oder Teufelskreise werden von einer Generation zur nächsten weitergegeben (Strüber, 2016) 28 Zusammenfassung Vielfältige, altersabhängige Symptomatik auf Kindebene vor dem Hintergrund der Beziehungs- und Bindungserfahrungen ! Übermäßige Anpassung kann Ausdruck eines erheblichen Stressniveaus der Kinder sein ! Die plötzlichen Einbrüche der mütterlichen Psyche bergen schwierige Einschätzbarkeit des Kindeswohls und Kindeswohlgefährdung Die Prognose beim Kind abhängig vom: Schweregrad der mütterl. BPS, Genetik, Epigenetik und persönlichem Temperament des Kindes sowie des psychosozialen Umfeldes und ihre Ressourcen mit Möglichkeiten zu stabilen Bindungserfahrungen in familiären, sozialen Strukturen oder therapeutischen Netzwerken 29 Literatur Im Vortrag wurde auf eine detaillierte Angabe der Quellen während des Vortragens verzichtet. Im Folgenden werden Bücher und Artikel benannt aus denen zitiert wurde. Quellen: Manfred Cierpka, 2015: Regulationsstörungen (Springer) Ann-C. Lawson: Borderline Mütter und ihre Kinder (Psychosozial-Verlag) Nicole Strüber, 2016: Die erste Bindung (Klett-Cotta) Eva Rass, 2011: Bindung und Sicherheit im Lebenslauf (Klett-Cotta) Fernanda Pedrina, 2016: EKP bei psychisch kranken Eltern Ute Ziegenhain, GAIMH 2016: Indikation von beziehungsbezogener Begleitung, Beratung, Therapie bei Sgl. und KK ; Entwicklungspsychologische Grundlagen Hipp/Kleinz, 2014: Mütter mit BPS Deneke/Lüders, 2003: Besonderheiten in der Interaktion zw. psychisch kranken Eltern und ihren kleinen Kindern (Praxis der Kinderpsychologie und KP.52) Daniel Schechter, 2009: Wenn Elternschaft undenkbar wird (Journal of the American Academic child and adolescent psychiatry) Buck-Horstkotte: Mütter mit Borderline-Persönlichkeitsstörung (BELTZ 2015) 30