Kapitel 2: Einführung komplexer Zahlen

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Kapitel 2
Einführung komplexer Zahlen
2.1 Historische Bemerkungen
Für die quadratische Gleichung
x(10 − x) = 40,
welche im reellen Zahlenbereich R nicht lösbar ist, gab im Jahre 1545 der italienische Mathematiker Gironimo Cardano folgende Lösungen“ an:
”
√
√
5 + −15 und 5 − −15 .
Bereits 1777 führte L. Euler die Notation
√
i := −1
ein, womit sich Cardanos Lösungen nun wie folgt schreiben lassen
√
√
5 + 15 i, 5 − 15 i.
√
Was bedeuten aber i = −1 bzw. i2 = −1? Hier zwei Beispiele.
1. Für das Produkt zweier komplexer Zahlen“ z1 = a + ib und z2 = c + id erwarten
”
wir natürlich
?
z1 · z2 = (a + ib) · (c + id) = ac + iad + ibd + i2 bd = ac − bd + i(ad + bd).
Dieser Multiplikationsregel“ werden wir tatsächlich gleich wieder begegnen.
”
2. L. Euler gab aber auch folgendes negative Beispiel:
−2 = i · (2i) =
√
√
√
? p
−1 · −4 = (−1) · (−4) = 4 = 2.
Beim Rechnen mit Wurzeln ist also Vorsicht geboten!
11
12
2 Einführung komplexer Zahlen
2.2 Definition komplexer Zahlen
Wir kommen sofort zu der
Definition 2.1. Eine komplexe Zahl z ist ein Objekt der Form
z = a + ib
mit dem Realteil Re z := a ∈ R und dem Imaginärteil Im z := b ∈ R.
An diese Definition schließt sich sofort eine weitere an.
Definition 2.2.
1. Zwei komplexe Zahlen z1 = a + ib und z2 = c + id heißen gleich genau dann, in
Zeichen z1 = z2 , falls gelten
a = c und b = d.
2. Für zwei komplexe Zahlen z1 = a + ib und z2 = c + id erklären wir ihre komplexe
Summe durch
z1 + z2 := (a + d) + i(b + d).
3. Für zwei komplexe Zahlen z1 = a + ib und z2 = c + id erklären wir ihr komplexes
Produkt durch
z1 · z2 := (ac − bd) + i(ad + bc).
Die Darstellung z = a + ib wird nach R. Descartes auch als kartesische oder algebraische Darstellung der komplexen Zahl z bezeichnet. Wir werden im Verlaufe
dieser Vorlesungen weitere Darstellungen kennen lernen.
2.3 Der Körper der komplexen Zahlen
Aus der Definition der komplexen Zahlen unter Verwendung der bekannten Rechenregeln aus R läßt sich leicht folgender Satz beweisen.
Satz 2.1. Für alle x, y, z ∈ C gelten
1. das Kommutativgesetz der Addition x + y = y + x
2. das Assoziativgesetz der Addition (x + y) + z = x + (y + z)
3. das Kommutativgesetz der Multiplikation x · y = y · x
4. das Assoziativgesetz der Multiplikation (x · y) · z = x · (y · z)
5. das Distributivgesetz (x + y) · z = x · z + y · z
2.4 Die Gaußsche Zahlenebene
13
Ferner gibt es ein neutrales Element bez. der Addition,
0 = 0 + i · 0 ∈ C,
und ein neutrales Element bez. der Multiplikation,
1 = 1 + i · 0 ∈ C.
Ist schließlich x = a + ib ∈ C mit x 6= 0, so läßt sich wie folgt das Inverse bestimmen
a
b
1
= x−1 = 2
−i 2
.
x
a + b2
a + b2
Wir berechnen nämlich
a
a2 + b2 −ab + ab
b
−1
x · x = (a + ib) · 2
= 2
−i 2
+ 2
= 1 + i · 0 = 1.
2
2
a +b
a +b
a + b2
a + b2
Dieses Inverse ist auch eindeutig bestimmt. Den Beweis hierfür überlassen wir dem
Studenten als Übung.
2.4 Die Gaußsche Zahlenebene
Komplexe Zahlen z = a + ib können in der sogenannten Gaußschen Zahlenebene
wie folgt veranschaulicht werden:
Im
z = a + ib
b
a
C
Re
z = a − ib
In diese Skizze haben wir neben z = a + ib einen weiteren Punkt z = a − ib eingezeichnet, der sich aus z durch Spiegelung an der x-Achse ergibt.
Definition 2.3. Es heißt
z := a − ib
die zu z = a + ib komplex-konjugierte Zahl.
Interpretieren wir also eine komplexe Zahl als Vektor in der Gaußschen Zahlenebene, wie in der Skizze angedeutet, so läßt sich bereits die Addition z1 + z2 als
gewöhnliche Vektoraddition veranschaulichen!
14
2 Einführung komplexer Zahlen
Definition 2.4. Es heißt die reelle Zahl
p
|z| := a2 + b2 ≥ 0
der Betrag der komplexen Zahl z = a + ib.
Der Betrag der komplexen Zahl z entspricht also der Euklidischen Länge des kom”
plexen Vektors“ z = a + ib in der Gaußschen Zahlenebene.
Satz 2.2. Seien x und y zwei komplexe Zahlen. Dann gelten
1. |x| = 0 genau dann, wenn x = 0
2. x · x = |x|2
3. (x) = x
4. x + y = x + y
5. x · y = x · y
6. |x · y| = |x| · |y|
Beweis. Wir beweisen nur eine Regel, die restlichen verbleiben als Übung:
|x · y|2 = (x · y)(x · y) = x · y · x · y = x · x · y · y = |x|2 |y|2 ,
was unter 6. behauptet wurde. ⊓
⊔
2.5 Die komplexe Exponentialfunktion
Definition der Exponentialfunktion
Im folgenden wollen wir wichtige Elemente der komplexen Funktionentheorie kennen lernen.
Definition 2.5. Für z ∈ C erklären wir die komplexe Exponentialfunktion gemäß
∞
exp(z) :=
zk
∑ .
k=0 k!
Eine grundlegende Identität aller unserer Untersuchungen wird mit dem nächsten
Satz diskutiert.
Satz 2.3. Für alle x, y ∈ C gilt die Funktionalgleichung der Exponentialfunktion
exp(x + y) = exp x · expy.
2.5 Die komplexe Exponentialfunktion
15
Beweis. Die komplexe Exponentialreihe ist in C absolut konvergent.1 Wir können
die Reihen also wie folgt ausmultiplizieren
!
!
!
k
∞
∞ ℓ
∞ k
xℓ yk−ℓ
y
x
· ∑
= ∑ ∑
exp x · expy = ∑
k=0 ℓ=0 ℓ!(k − ℓ)!
ℓ=0 ℓ!
k=0 k!
∞
1
= ∑
k!
k=0
)
k ℓ k−ℓ
=
∑ xy
ℓ=0 ℓ
(
k
∞
(x + y)k
k!
k=0
∑
= exp(x + y)
unter Verwendung des Binomialsatzes. Das war zu zeigen. ⊓
⊔
Diesem Satz entnehmen wir insbesondere
exp z · exp(−z) = exp(z − z) = exp 0 = 1.
Aus der reellen Analysis des vergangenen Semesters ist ebenfalls bekannt
Definition 2.6. Die Eulersche Zahl e ist definiert durch
∞
e := exp 1 =
1
∑ k! .
k=0
Bekanntlich kann diese Reihe wie folgt als Grenzwert dargestellt werden
1 n
e = lim 1 +
.
n→∞
n
Komplexer Sinus und komplexer Kosinus
Unter Verwendung der Potenzreihenentwicklung der komplexen Exponentialfunktion berechnen wir für reelles a ∈ R
∞ 1 k k
·i ·a
exp(ia) = ∑
k=0 k!
∞
=
∑
m=0
∞ 1
1
2m
2m
2m+1
2m+1
+∑
·i ·a
i
·a
(2m)!
m=0 (2m + 1)!
∞
=
1
∞
(−1)m 2m
(−1)m 2m+1
a +i· ∑
a
.
m=0 (2m)!
m=0 (2m + 1)!
∑
Ein Beweis hierfür verläuft im wesentlichen genauso, wie es in der Vorlesung Mathematik für
Physiker 1 für die reellwertige Exponentialreihe präsentiert wurde.
16
2 Einführung komplexer Zahlen
Hierin erkennen wir aber die folgenden Entwicklungen wieder
∞
∞
cos a =
(−1)m 2m
a
m=0 (2m)!
∑
und
sin a =
(−1)m 2m+1
a
.
m=0 (2m + 1)!
∑
Satz 2.4. Es gilt die Eulersche Identität
exp(ia) = cos a + i sina
für alle a ∈ R.
Motiviert von diesem Resultat kommen wir zur nächsten
Definition 2.7. Für alle z ∈ C erklären wir den komplexen Kosinus
cos z :=
sowie den komplexen Sinus
sin z :=
1
exp(iz) + exp(−iz)
2
1
exp(iz) − exp(−iz) .
2i
Ohne Beweis notieren wir den bereits im Reellen bekannten
Satz 2.5. Für alle z1 , z2 ∈ C gelten die Additionstheoreme
cos(z1 + z2 ) = cos z1 · cosz2 − sin z1 · sin z2 ,
sin(z1 + z2 ) = sin z1 · cos z2 + cosz1 · sin z2 .
Desweiteren gelten für alle z ∈ C die Duplikationsformeln
cos2 z − sin2 = cos(2z),
2 cos z sin z = sin(2z).
Schließlich sind für alle z ∈ C Sinus und Kosinus wie folgt phasenverschoben
π
π
cos
− z = sin z, sin
− z = cos z.
2
2
Periodiziät der komplexen Exponentialfunktion
Hilfssatz 2.1. Alle Lösungen der Gleichung exp z = 1 mit z ∈ C besitzen die Gestalt
z = 2kπ i,
k ∈ Z.
Beweis. Für den Beweis führen wir die übliche Abkürzung ein
ez := exp(z)
für alle z ∈ C.
2.6 Die Eulersche Polardarstellung
17
1. Sei zunächst ein z = 2kπ i gewählt. Dann haben wir nach der Eulerschen Identität
e2kπ i = cos(2kπ ) + i sin(2kπ ) = 1,
d.h. z = 2kπ i löst tatsächlich ez = 1.
2. Nun umgekehrt: Sei z = a + ib Lösung von exp z = 1. Der Funktionalgleichung
der Exponentialfunktion entnehmen wir
1 = ez = ea+ib = ea eib = ea (cos b + i sin b),
woraus wir
1 = ea |eib | = ea
bzw. a = 0
schließen. Damit gehen wir noch einmal in die erste Gleichung ein und erhalten
1 = eib = ei(b−2π k)
t:=b−2π k
=
eit = cost + i sint = cost,
da ja die linke Seite rein reell ist. Wir wählen k ∈ Z derart, dass −π < t ≤ π richtig
ist. Aus sint = 0 folgen dann t = 0 oder t = π , aber zusammen mit cost = 1 muss
t = 0 erfüllt sein. Wir gelangen also zu b = 2π k bzw. z = 2kπ i, was behauptet
wurde. ⊓
⊔
Satz 2.6. Die komplexe Exponentialfunktion besitzt die Periode 2π i, d.h. es gilt
exp w = exp z für zwei w, z ∈ C
genau dann, wenn w − z = 2kπ i mit einem geeigneten k ∈ Z.
Beweis. Wegen exp w = expz ist exp(w − z) = 1, und nach vorigem Hilfssatz ist
w − z = 2kπ i. ⊓
⊔
2.6 Die Eulersche Polardarstellung
Die vorigen Betrachtungen führen uns zu einer Darstellung komplexer Zahlen von
großer praktischer Bedeutung.
Satz 2.7. Jede komplexe Zahl z = a + ib mit z 6= 0 läßt sich schreiben in der Form
z = reiϕ = r(cos ϕ + i sin ϕ )
mit dem Radius r und Polarwinkel ϕ gegeben durch
r = |z| =
p
a2 + b2 ,
tan ϕ =
b
.
a
18
2 Einführung komplexer Zahlen
Beweis. 1. Sei zunächst z = a + ib im ersten Quadranten gelegen. Wir berechnen
a
b
b
a
≡ r(ξ + iη ) mit ξ :=
+i
, η :=
.
z = |z|
|z|
|z|
|z|
|z|
Beachte ξ 2 + η 2 = 1, woraus
η ∈ [0, 1] = sin 0, sin π2
folgt. Es gibt aber genau ein ϕ ∈ [0, π2 ] mit sin ϕ = η . Wegen
ξ=
q
p
1 − η 2 = 1 − sin2 ϕ = cos ϕ
erhalten wir bereits die gesuchte Darstellung.
2. Ein beliebiges z ∈ C, welches nicht im ersten Quadranten enthalten ist, läßt sich
dorthin transformieren vermittels einer Spiegelung am Nullpunkt
w 7→ −w = −reiϕ = eiπ · reiϕ = rei(ϕ +π )
und eventuell durch eine Spiegelung an der reellen Achse
w 7→ w.
Dann wird Punkt 1. des Beweis angewandt und schließlich wieder zurück transformiert.
3. Wir zeigen noch die Eindeutigkeit der Polardarstellung: Angenommen, es gibt
zwei verschiedene Darstellungen
z = reiϕ
und z = ρ eiω
mit r, ρ > 0, −π < ϕ , ω ≤ π .
Wir entnehmen sofort r = ρ , so dass eiϕ = eiω richtig sein muss bzw. ei(ϕ −ω ) = 1.
Wegen |ϕ − ω | < 2π liefert der Hilfssatz aus vorigem Paragraphen ϕ = ω . Damit
ist der Satz gezeigt. ⊓
⊔
Nochmals zur Gaußschen Zahlenebene
Im
z = a + ib
Die komplexe Zahl z = a + ib läßt sich wie in dieser Skizze unter Verwendung der Polarkoordinaten
r=
p
a2 + b2 ,
b
ϕ = arctan
a
in die Gaußsche Zahlenebene einzeichnen.
r
ϕ
Re
2.7 Die komplexe Wurzelfunktion
19
Geometrische Deutung algebraischer Operationen
Die Eulersche Polardarstellung erlaubt auch, algebraische Operationen zwischen
komplexen Zahlen geometrisch zu deuten.
1. Addition
Diese entspricht, wie bereits erläutert, der gewöhnlichen Addition von Vektoren.
2. Multiplikation
Für das Produkt zweier komplexer Zahlen
z = r1 (cos ϕ + i sin ϕ ) und w = r2 (cos ψ + i sin ψ )
berechnen wir
z · w = r1 r2 (cos ϕ + i sin ϕ )(cos ψ + i sin ψ )
= r1 r2 (cos ϕ cos ψ − sin ϕ sin ψ ) + ir1 r2 (cos ϕ sin ψ + sin ϕ cos ψ )
= r1 r2 cos(ϕ + ψ ) + irρ sin(ϕ + ψ )
= r1 r2 cos(ϕ + ψ ) + i sin(ϕ + ψ ) .
Mit anderen Worten: Radien werden multipliziert, Winkel addiert. Genauso sieht
man für beliebiges n ∈ N
zn = z · z · . . . z = rn cos(nϕ ) + i sin(nϕ ) bzw. zn = rn einϕ .
2.7 Die komplexe Wurzelfunktion
Die n-te Einheitswurzel
Um eine komplexe Gleichung der Form
zn = 1
nach z aufzulösen, benutzen wir die Polardarstellung z = eiϕ bzw. zn = einϕ und
verwenden oben bewiesene Aussage, dass alle Lösungen von ez = 1 gegeben sind
durch z = 2kπ i. Angewandt auf z = inϕ finden wir
inϕ = 2kπ i bzw. ϕ =
2π k
,
n
Auf Grund der Periodizität der Exponentialfunktion genügt es dabei, nur die Werte
k = 0, 1, . . . , n − 1 zu betrachten. Diese Methode entwickelte 1722 der französische
Mathematiker A. de Moivre.
20
2 Einführung komplexer Zahlen
Satz 2.8. Alle Wurzeln der Gleichung zn = 1 mit z = eiϕ sind gegeben durch
ϕ=
2π k
,
n
k = 0, 1, . . . , n − 1.
Sind beispielsweise alle Einheitswurzeln der Gleichung
z3 = 1
gesucht, so ermitteln wir zunächst unter Benutzung der de Moivreschen Formel die
Polarwinkel
ϕ1 =
2π · 0
= 0,
3
ϕ2 =
2π · 1 2π
=
,
3
3
ϕ3 =
2π · 2 4π
=
.
3
3
Damit erhalten wir die Einheitswurzeln
z1 = 1,
z2 = e
2π i
3
,
z3 = e
4π i
3
.
Wir tragen diese Lösungen auf dem Einheitskreis in der Zahlenebene ab:
Im
z2
z1
Re
z3
Wie skizziert, spannen sie ein gleichseitiges Dreieck auf. Dieses geometrische Verhalten findet man in jedem Fall auch unabhängig von n ∈ N.
Die allgemeine n-te Wurzel
Analog gehen wir vor, wenn alle Wurzeln der Gleichung zn = ρ eiψ gesucht sind.
Die zu bestimmenden Lösungen ergeben sich zu
zk =
√
n
ρ eiϕk
mit ϕk =
ψ 2π k
+
n
n
für k = 0, 1, . . . , n − 1. Der Ansatz z = reiϕ liefert nämlich
rn einϕ = ρ eiψ ,
√
und nach Vergleich erhalten wir r = n ρ sowie ϕ0 = ψn . Alle weiteren Winkel ϕk für
k = 1, . . . , n − 1 folgen aus der Periodizität der komplexen Exponentialfunktion.
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