DER ORT DES TERRORS

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Herausgegeben von
Wolfgang Benz und Barbara Distel
Redaktion: Angelika Königseder
DER ORT DES TERRORS
Geschichte der nationalsozialistischen
Konzentrationslager
~
Band I
Die Organisation
des Terrors
CH. Beck
Inhalt
Gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes
und das Auswärtige Amt
7 Vorwort
Mit
12
Abbildungen
I I
Nationalsozialistische Zwangslager. Ein Überblick
30 Die Entwicklung des KZ-Systems
Wolfgang Benz
Angelika Königseder
43 Organisationsgeschichte der «frühen» Konzentrationslager
]ohannes Tuchel
58 Organisations- und Verwaltungsstruktur der Konzentrationslager
Günter Morsch
76 Die Verrechtlichung des Unrechts. Der legalistische Rahmen
der nationalsozialistischen Verfolgung Michael P. Hensle
91 Häftlingskategorien und Kennzeichnungen
I 10
Häftlingsgesellschaft
126 Bewachung
Annette Eberle
Kurt Pätzold
Karin Orth
141 Das SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt und die Expansion
des KZ-Systems
fan Erik Schulte
156 Masseneinweisungen in Konzentrationslager:
Für die deutsche Ausgabe
© Verlag C. H. Beck oHG, München 2005
Einbandgestaltung: Wunderamt + Roland Angst
Gesamtherstellung: Käse!, Krugzell
Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier
(hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff)
Printed in Germany
ISBN 3 40652961 5 für diese Ausgabe
ISBN 3 406 52960 7 für das Gesamtwerk
Aktion «Arbeitsscheu Reich», Novemberpogrom, Aktion «Gewitter»
Stefanie Schüler-Springorum
165 Medizinische Experimente in den Konzentrationslagern
RolfWinau
179 Zwangsarbeit: KZ und Wirtschaft im Zweiten Weltkrieg
Hermann Kaienburg
195 Frauen in nationalsozialistischen Konzentrationslagern­
www.beck.de
Opfer und Täterinnen
Barbara Distel
210
Die äußere Gestalt des Terrors. Zu Städtebau und Architektur der
Konzentrationslager Stefanie Endlich
Vorwort
23 0 Konzentrationslager als Tötungs- und Hinrichtungsstätten
für Oppositionelle, Behinderte, Kriegsgefangene
24 2 Selbstbehauptung und Widerstand
Willi Dreßen
Detlef Garbe
25 8 Die Tötungsanstalten des Euthanasieprogramms
Brigitte Kepplinger IHartmut Reese
274 Kunst im Konzentrationslager
Stefanie Endlich
29 6 Rückzug, Evakuierung und Todesmärsche 1944- 1945
Daniel Blatman
3 I 3 Die Befreiung
Robert H. Abzug / Juliane Wetzel
3 2 9 Zeugnisliteratur. Autobiographische Berichte aus den
Konzentrationslagern Mona Körte
345 Die juristische Aufarbeitung der KZ-Verbrechen
363 Quellen
Jürgen Matthäus
377 Anhang
379 Abkürzungsverzeichnis '
381 Personenregister
385 Orts- und Lagerregister
391 Die Autoren
Jürgen Zarusky
Zum Wesen nationalsozialistischer Herrschaft gehört das System des Terrors,
das in der Regie der SS ganz Europa mit einem Netz von Konzentrationslagern
überzog, das yon der britischen Kanalinsel Alderney bis zur Sowjetunion, vom
Baltikum bis Griechenland reichte. Insgesamt existierten 24 Hauptlager mit
etwa 1000 Außenlagern. Der Ausdruck «KZ» ist eine der Metaphern des
Schreckens, mit denen die nationalsozialistische Diktatur ihren universalen
Verfügungsanspruch über das Individuum - von dessen Demütigung bis zu sei­
ner Vernichtung - durchsetzte. Kaum einen Ort im deutschen Herrschafts­
bereich gab es schließlich, an dem nicht ein Lager existierte, das Bestandteil des
KZ-Systems war oder doch, unter Bezeichnungen wie Arbeitserziehungslager,
Sonderlager, Polizeihaftlager, Zwangsarbeiterlager, jugendschutzlager, Ghetto,
ganz ähnliche Funktionen erfüllt und die gleichen katastrophalen Haftbedin­
gungen geboten hat.
Die Landschaft der Lager, die zur Unterdrückung, Misshandlung, Ausbeu­
tung, Vernichtung von Menschen entstand, ist unübersehbar. Als politisch An­
dersdenkende oder entschiedene Christen, als Kritiker des Regimes, als Opfer
der Rassenideologie, als Mitglieder gesellschaftlicher Randgruppen oder unan­
gepasster religiöser, kultureller, politischer Minderheiten, als Widerstands­
kämpfer, als Eliten unterworfener Völker, als Kriegsgefangene der Roten Ar­
mee, als Arbeitssklaven wurden Menschen in nationalsozialistischen Lagern
ihres Lebensglücks und ihrer Gesundheit, ihrer Arbeitskraft und schließlich oft
der physischen Existenz beraubt.
Die Spuren vieler Orte dieser Lager sind getilgt, damit sind sie auch aus der
Erinnerung verdrängt, und ihre Existenz ist vergessen. Die Namen einiger gro­
ßer Konzentrationslager - Auschwitz, Dachau, Bergen-Belsen, Sachsenhausen
oder Buchenwald - wurden zum Synonym des Staatsterrors, viele sind aber
nach der Beseitigung ihrer Spuren in der Nachkriegszeit aus dem kulturellen
Gedächtnis verschwunden. Die historische Forschung hat sich des leidigen
Themas erst spät angenommen. Lange blieb die Historiographie der Verfol­
gung im Konzentrationslager ganz den ehemaligen Häftlingen überlassen.
Eine Form lokaler Abwehr besteht immer noch darin, dass Außenlager eines
KZ, wenn noch vage Kenntnis von ihnen besteht, marginalisiert werden. Mit
der Bemerkung, es sei doch nur ein «Arbeitslager» gewesen und keinesfalls ein
KZ, versuchen Honoratioren und Bürger, die die Realität nicht wahrhaben
wollen, die Existenz eines Gliedes des KZ-Systems in ihrem Heimatort zu
negieren. Wobei die Realität eines «Arbeitslagers», je nachdem welchen Typus
Entwicklung des KZ-Systems
Angelika Königseder
Die Entwicklung des KZ-Systems
Die Heimatschule Mitteldeutschland, die sich nur wenige Kilometer von Wei­
mar entfernt auf dem Flugplatz Nohra befand, beherbergte das erste Konzen­
trationslager des nationalsozialistischen Deutschland. Thüringen besaß bereits
seit August 1932 eine nationalsozialistische Regierung unter dem Vorsitz von
Fritz Sauekel, der später als «Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz»
für die Deportation und Ausbeutung von Millionen von Zwangsarbeitern aus
ganz Europa verantwortlich war. Das in den ersten Märztagen 1933 zur Inhaf­
tierung von Kommunisten und vor allem kommunistischen Funktionären aus
dem Freistaat Thüringen eingerichtete Lager unterstand dem Thüringischen
Ministerium des Innern; die Heimatschule stellte die Hilfspolizisten für die
Wachmannschaft. Schon am 12. März 1933 hatte Nohra mit 220 Häftlingen
seine maximale Belegstärke erreicht, insgesamt durchliefen nicht mehr als
260 Schutzhaftgefangene das Lager, das nur etwa zehn Wochen bestand. l
Unter dem Vorwand des Reichstagsbrandes und legitimiert durch die «Ver­
ordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat» vom 28. Feb­
ruar 1933,2 die den zivilen Ausnahmezustand begründete, führte vor allem die
SA, die im Januar 1933 über 427000 Mann starke «Sturmabteilung» der
NSDAP, mit größter Brutalität Hausdurchsuchungen durch und verhaftete
zahlreiche Kommunisten, linke Intellektuelle und Publizisten, bald auch SPD·,
Reichsbanner- und Gewerkschaftsfunktionäre. Zwischen März und April
1933 wurden mehr als 45 000 Menschen inhaftiert. Am 31. Juli 1933 befanden
sich mindestens 26789 dem Regime Missliebige in Schutzhaft,3 im gesamten
Jahr 1933 über 80000. 4 Die ~efängnisse und polizeilichen Haftanstalten wa­
ren bald restlos überfüllt. Daraufhin suchten einige regionale Polizeibehörden
selbst ihnen geeignet scheinende Örtlichkeiten, andere erhielten Weisung von
übergeordneten Instanzen, und einige Konzentrationslager richtete die SA
selbst ein. Meist waren es improvisierte Internierungslager für politische Geg­
ner. Bewachung und Trägerschaft waren uneinheitlich. Frühe Konzentrations­
lager wurden in aufgelassenen Fabriken, ehemaligen Gefängnissen, still geleg­
ten Zuchthäusern, Kasernen, leer stehenden Hotels oder Gewerbeanlagen,
Arbeitshäusern, SA- und SS-Sturmlokalen, sogar in einer ehemaligen Benedik­
tinerabtei (Köln-Brauweiler) oder auf einem alten Schleppkahn (Bremen-Och­
tumsand) eingerichtet. Insgesamt existierten 1933/34 in Deutschland mindes­
tens 70 Konzentrationslager und 30 «Schutzhaftabteilungen» in Justiz- und
Polizeigefängnissen. Manche bestanden lediglich ein paar Wochen, andere
mehrere Monate, nur wenige existierten länger als ein Jahr. 5
3I
Der Terror, den SA und SS nach dem Reichstagsbrand entfesselten, war vor
allem von Willkür geprägt. Er besaß noch keinen systematischen Charakter
und richtete sich hauptsächlich gegen die politischen Gegner, oftmals auch in
Form persönlicher Racheakte. Das typische frühe KZ gibt es nicht, da von
einer einheitlichen Struktur keine Rede sein kann. Trotz Ähnlichkeiten bei den
Haft- und Lebensbedingungen in den frühen Lagern waren die Unterschiede
beträchtlich. Die Trägerschaft reichte vom Polizeigewahrsam zur staatlich
sanktioniertef\.und initiierten Internierung bis zur Hoheit der Justiz. Die Ver­
anlassung von «Schutzhaft» gegen tatsächliche oder potenzielle Kritiker und
Feinde des Nationalsozialismus konnte willkürlich durch regionale Würden­
träger der Partei erfolgen oder durch paragraphengestützte Verfügungen von
Polizeiorganen oder Beamten. Ebenso gab es bei der Bewachung Unterschiede.
Neben der anfänglich in vielen Konzentrationslagern als Wachmannschaft
agierenden Polizei waren es Hilfspolizei, SA und SS. Gemeinsam war den frü­
hen Konzentrationslagern ihre vom Regime beabsichtigte abschreckende und
damit disziplinierende Wirkung auf die Bevölkerung. Zu diesem Zweck er­
schienen auch zahlreiche Presseartikel.
Um die Auswüchse der willkürlich durchgeführten Verhaftungen unter Kon­
trolle zu bekommen, erließ der Reichsinnenminister am 12. April 1934 einen
Runderlass (ergänzt am 26. April) «zur Abstellung von Missbräuchen».6 In
Preußen durften von nun an nur das Geheime Staatspolizeiamt, die Oberpräsi­
denten, die Regierungspräsidenten, der Polizeipräsident in Berlin und die
Staatspolizeistellen, in den übrigen Ländern die entsprechenden, von der Lan­
desregierung zu bestimmenden Behörden «Schutzhaft» verhängen. Die Voll­
streckung sollte ausschließlich in staatlichen Gefangenenanstalten oder Kon­
zentrationslagern stattfinden. Damit ist eine Tendenz zur Beendigung des bis
dahin geltenden Ausnahmezustands sichtbar. An der Rechtlosigkeit der Inhaf­
tierten änderte sich allerdings nichts.
Andernorts war in diesem Zeitraum konsequent ein Modell-Konzentra­
tionslager geplant und in die Realität umgesetzt worden, nämlich in Bayern,
wo in der Nähe von München am 21. März 1933 das von Beginn an als dauer­
hafte Einrichtung außerhalb des staatlichen Zugriffs konzipierte Konzentra­
tionslager Dachau entstanden war.? Wesentlicher Initiator war Heinrich
Himmler, seit 9. März 1933 kommissarischer Polizeipräsident von München
und seit 1. April Befehlshaber der politischen Polizei in Bayern. Damit war
Himmler als Polizeikommandeur für die Einweisung der Schutzhäftlinge
zuständig und fungierte als Reichsführer SS gleichzeitig als Vorgesetzter der
SS-Bewacher und -Kommandanten. 8 Für die Häftlinge hatte diese doppelte
Machtposition fürchterliche Konsequenzen. Mit dem Amtsantritt von Theo­
dor Eicke als Kommandant von Dachau am 26.Juni 1933 systematisierte sich
der Terror. Eicke führte in Dachau eine Organisationsstruktur ein, die in der
32
Angelika Känigseder
Folgezeit als Modell für alle anderen Konzentrationslager diente. Im Oktober
1933 entwarf er eine «Lagerordnung», die mit geringen Abweichungen im
Sommer 1934 in allen noch existierenden Lagern eingeführt wurde und bis in
die Kriegsjahre hinein ihre Gültigkeit behielt. Im Mai 1934 beauftragte Himm­
ler, der seit 20. April 1934 auch stellvertretender Chef der Geheimen Staatspo­
lizei in Preußen war, Eicke, die kleineren Konzentrationslager aufzulösen und
einige wenige nach dem Dachauer Modell zu organisieren. Am 29. Mai 1934
übernahm Eicke die Leitung des KZ Lichtenburg bei Prettin an der Elbe,9 reor­
ganisierte dann die Konzentrationslager Esterwegen im Emsland, Sachsenburg
bei Chemnitz sowie das Berliner «Columbia-Haus» und löste das KZ Ora­
nienburg auf. Seit 4·Juli 1934 durfte er offiziell seinen neuen Titel «Inspekteur
der Konzentrationslager» und «Führer der SS-Wachverbände» führen. Zu die­
sem Zeitpunkt rechtfertigte die Zahl der Schutzhäftlinge keinesfalls mehr eine
grundlegende Umstrukturierung der Konzentrationslager. Das Reichsinnen­
ministerium zählte am I. August 1934 2267 Schutzhäftlinge in Preußen, 21 56
in Bayern, 544 in Sachsen und II8 in Württemberg. lO Ganz offensichtlich
hatte sich das bayerische Modell, das von Beginn an Konzentrationslager als
ein dauerhaftes Instrument zur Bestrafung politisch oder gesellschaftlich ab­
weichenden Verhaltens vorsah, gegen die preußischen Konzepte durchgesetzt.
Alle Konzentrationslager unterstanden mit Wirkung vom 10. Dezember 1934
der «Inspektion der Konzentrationslager», die ihren Sitz in Berlin, ab 193 8 in
Oranienburg hatte.
Die Errichtung der ausschließlich unter Hoheit der SS stehenden Lager ab
193 6 , die jeweils für mehrere tausend Häftlinge geplant und erweiterungsfähig
waren, war die logische Konsequenz daraus. Dies war allerdings nicht von Be­
ginn der NS-Herrschaft an intendiert gewesen. Bis Frühjahr 1935 hatte Eicke
die Organisation der KZ nach dem Dachauer Modell zwar abgeschlossen, an­
dererseits existierten aber n~r noch fünf Lager - Lichtenburg, Esterwegen,
Sachsenburg, Berlin «Columbia-Haus» und Bad Sulza - mit insgesamt 3000
bis 3500 Gefangenen. lI Hitler selbst traf zu diesem Zeitpunkt die richtungs­
weisende Entscheidung, die Konzentrationslager unter der Herrschaft der SS
aufrechtzuerhalten bzw. auszubauen; er stimmte Himmlers Vorhaben zu, die
SS-Wachtruppen zu einem militärischen Verband zu machen und genehmigte
mit Wirkung vom 1. April 1936 die Finanzierung der KZ aus öffentlichen Mit­
teln.
Mit der Eröffnung von Sachsenhausen 12 in der Nähe Berlins im Sommer
193 6 entstand ein neuer, auf Dauer angelegter Lagertypus, der im Folgenden
als «Musterlager»13 fungierte. Erstmals war nach einem eigenen architektoni­
schen Konzept, abgeschottet von der Umgebung, ein neues Lager errichtet
worden, das Himmler zufolge «anstelle des s. Zt. in der ersten Revolutionszeit
gebauten einfachen Lagers [...] ein vollkommen neues, jederzeit erweiterungs-
Entwicklung des KZ-Systems
33
fähiges, modernes und neuzeitliches Konzentrationslager» darstellte. 14 Sach­
senhausen war ein Komplex, der das Schutzhaftlager, die Kommandantur,
Lagerwerkstätten, Kasernen der SS-Wachverbände - die seit März 1936 SS­
Totenkopfverbände hießen - und eine Wohnsiedlung für die Angehörigen der
Kommandantur umfasste. In unmittelbarer Nähe von Sachsenhausen war seit
August 1938 Eickes Stab, «Führer der SS-Totenkopfverbände und Konzen­
trationslager», untergebracht. Im ersten Kriegsjahr war Sachsenhausen das
größte Konze~trationslager, von dem aus einige neue Lager gegründet wurden.
Im Laufe des folgenden Jahres ließ Himmler die kleineren, der IKL unter­
stellten Konzentrationslager Esterwegen, Sachsenburg, Columbia-Haus und
Bad Sulza auflösen; von den Lagern der ersten Generation bestanden nun
nurmehr die Lichtenburg als zentrales Frauen-KZ und Dachau, das seit Som­
mer 1937 erheblich ausgebaut und erweitert wurde. Ebenfalls im Sommer
1937 entstand bei Weimar das KZ Buchenwald, im Mai 1938 in der Nähe des
oberpfälzischen Weiden das KZ Flossenbürg, im August 1938 in Oberöster­
reich bei Linz das KZ Mauthausen und im Mai 1939 das Frauen-KZ Ravens­
brück bei Fürstenberg in Mecklenburg. 15 Bei der Standortwahl der KZ Flos­
senbürg und Mauthausen war die unmittelbare Nähe zu Steinbrüchen, in
denen die Häftlinge arbeiten sollten, ausschlaggebend. 16 Im Gegensatz zu den
frühen KZ besaßen diese Lager eine einheitliche Organisationsstruktur - Kom­
mandantur/Adjutantur, Politische Abteilung, Schutzhaftlager, Verwaltung, La­
ger- oder Standortarzt sowie Wachtruppe - und waren der SS unterstellt, für
Einweisungen und Entlassungen war die Politische Polizei zuständig. Die Be­
dingungen in den KZ bestimmte die IKL.
Neben dem Ziel der Bekämpfung der politischen Gegner, dem die frühen La­
ger in erster Linie gedient hatten, kamen in den neuen Konzentrationslagern
«sozialhygienische», gesellschaftsbiologische und kriminalpräventive Kon­
zepte hinzu. 1937/38 wurden in mehreren «Aktionen» vornehmlich «Aso­
ziale», «Berufsverbrecher» und «Arbeitsscheue» in den KZ inhaftiertY Auch
Angehörige von Glaubensgemeinschaften, insbesondere Zeugen Jehovas, Ho­
mosexuelle und andere Minderheiten, die das Ideal der nationalsozialistischen
«Volksgemeinschaft» störten, waren zunehmend von diesen Maßnahmen be­
troffen. Vor allem durch den «Anschluss» Österreichs an das Deutsche Reich
im Frühjahr 1938 gerieten weiterhin politische Schutzhäftlinge in die Fänge
der SS. Die Zahl der KZ-Häftlinge stieg folglich von 4761 im November 1936
auf etwa 24000 Anfang November 1938.18 Nach den Novemberpogromen
1938 saßen vorübergehend mindestens 26000 Juden in den KZ ein, allein
I09II in Dachau.l 9 Damit stieg die Zahl der KZ-Häftlinge kurzfristig auf
über 50000 an. Die neu eingelieferten jüdischen Häftlinge wurden einer be­
sonders brutalen Behandlung unterworfen, was sich nicht zuletzt durch die
auffallende Zunahme von Todesopfern in diesem Zeitraum manifestiert. Bis
34
Entwicklung des KZ-Systems
Angelika Königseder
Ende 1938 war ein Großteil der jüdischen Gefangenen unter Auflage ihrer so­
fortigen Auswanderung wieder entlassen, es befanden sich noch 12921 Häft­
linge in den KZ, davon etwa 70 Prozent «Asoziale».20 Bis Kriegsbeginn stieg
die Zahl wieder auf 21 400 an. 21
Mit Kriegsbeginn expandierte das KZ-System. Bis 1942 richtete die IKL, die
seit November 1939 unter der Leitung von Eickes bisherigem Stellvertreter
Richard Glücks stand, sechs weitere Konzentrationslager in Grenzregionen
ein. Im Mai 1940 entstand etwa 30 km östlich von Kattowitz in Ostoberschle­
sien das KZ Auschwitz;22 die Standortwahl stand in engem Zusammenhang
mit den Siedlungsplänen Himmlers, der seit Oktober 1939 auch als «Reichs­
kommissar für die Festigung deutschen Volkstums» fungierte und in Ausch­
witz ein «Musterbeispiel für die Siedlung im Osten»23 demonstrieren wollte.
Bereits seit Dezember 1938 existierte in einer still gelegten Ziegelei in Neuen­
gamme, 20 km südöstlich von der Hamburger Innenstadt, ein Außenlager von
Sachsenhausen, das im Frühsommer 1940 zum eigenständigen KZ erklärt
wurde. 24 Wegen seiner geografischen Lage schien es als Internierungsort für
Häftlinge aus den skandinavischen Staaten, den Benelux-Ländern und dem
Nordwesten des Deutschen Reiches geeignet; allerdings stellten in der Realität
dann Russen und Polen vor den Franzosen die größten Häftlingsgruppen. Von
Beginn an wurden die Häftlinge zur Produktion von Baustoffen herangezogen.
Auch Groß-Rosen,25 etwa 60 km südwestlich von Breslau in Schlesien gelegen,
und Natzweiler-Struthof im Elsass entstanden im August 1940 zunächst als
Außenlager von Sachsenhausen. Zum einen dienten sie in den Grenzregionen
als Internierungsstätte für politische Gegner, gleichzeitig war aber die Wahl auf
diese beiden Orte gefallen, weil sie in der Nähe von Steinbrüchen mit hoch­
wertigem Granit lagen. Im Mai 1941 erklärte die IKL Groß-Rosen und Natz­
weiler zu eigenständigen KZ.Erst 1942 unterstellte Himmler auch das 1939
als «Zivilgefangenenlager» errjchtete Lager Stutthof bei Danzig der IKL.
Das KZ Niedernhagen bei Paderborn und das SS-Sonderlager Hinzert bei
Trier nahmen eine Ausnahmestellung innerhalb des KZ-Systems ein. Hinzert
wurde 1938 als Barackenlager für dienstverpflichtete Arbeiter für den Bau am
«Westwall» eingerichtet. Seit 1939 diente es als «Polizeihaftlager» für straffäl­
lig gewordene Arbeiter. Mit Wirkung vom 1.Juli 1940 unterstand das «SS­
Sonderlager» der IKL.26 Niedernhagen war ab Mai 1939 Außenlager des
KZ Sachsenhausen und von 1. September 1941 bis April 1943 eigenständiges
KZ; Zweck seiner Errichtung waren umfangreiche Baurnaßnahmen an der
Wewelsburg, die Himmler zu einer Kultstätte der SS ausbauen wollte,27
Die Zahl der Häftlinge war von 21400 im August 1939 auf etwa 70000 bis
80000 im März 1942 gestiegen. 28 Zwar hatte Himmler bei Kriegsbeginn auch
den Druck auf innenpolitisch vermeintliche oder tatsächliche Opponenten ver­
schärft und der Polizei mehr Handlungsspielräume verschafft, im Wesentlichen
1
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35
aber war diese Zunahme auf die verstärkte Einweisung in den eroberten Terri­
torien, vor allem von Polen, zurückzuführen. In West- und Nordeuropa waren
politische Gegner, Widerstandskämpfer und Saboteure betroffen. Des Wider­
stands Verdächtige wurden aufgrund eines Erlasses vom 7. Dezember 194 I bei
«Nacht und Nebel» nach Deutschland deportiert und großteils in Konzentra­
tionslager eingewiesen. Damit entstand die neue Kategorie der «NN-Häft­
linge». Bewusst sollte ihr Schicksal im Dunklen bleiben, um die Bevölkerung im
besetzten Westeuropa in Angst und Schrecken zu versetzen. In Osteuropa ver­
folgte die Besatzungsmacht von Beginn an nicht nur politische Gegner, sondern
setzte ihre rassistische Bevölkerungspolitik durch und rekrutierte Arbeits­
kräfte. Gezielt wurden dabei die Konzentrationslager als «Instrument der Be­
satzungspolitib eingesetzt. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni
1941 dienten die KZ in Osteuropa zudem als Internierungsstätten für sowjeti­
sche Kriegsgefangene. Zu diesem Zweck ließ Himmler in Majdanek bei Lublin
im Generalgouvernement ein eigenständiges Konzentrationslager errichten und
ordnete am 26. September 1941 den Ausbau von Birkenau, das bis November
1943 dem KZ Auschwitz unterstand, an. In vielen KZ entstanden zudem im
Herbst 1941 als abgetrennte Bereiche innerhalb des Schutzhaftlagers «Kriegs­
gefangenenlager» oder «Kriegsgefangenenarbeitslager», in denen die sowjeti­
schen Kriegsgefangenen aufgrund völliger Unterversorgung zu Zehntausenden
starben. 29
Durch diese Entwicklung veränderte sich die Zusammensetzung der «Häft­
lingsgesellschaft» grundlegend. Im Verlaufe des Krieges wurden die deutschen
Häftlinge zu einer Minderheit. Sie besetzten jedoch oftmals wichtige Positio­
nen in den Lagern, weil die SS sie als die Spitze der nach rassistischen und na­
tionalen Kriterien aufgebauten Häftlingshierarchie einstufte. Die mit Kriegs­
beginn einsetzende Verschärfung der Haftbedingungen durch zunehmende
Misshandlungen, Überbelegung, Arbeitseinsätze, Hunger und mangelnde me­
dizinische Versorgung wirkte sich auf die verschiedenen Häftlingsgruppen
unterschiedlich aus und differierte darüber hinaus auch in den verschiedenen
Konzentrationslagern. Am meisten gequält wurden Juden und Slawen. Dies
spiegelt sich auch in den Todeszahlen wider, die zwar generell steil anstiegen ­
im KZ Dachau etwa von vier Prozent im Jahr 1938 auf 36 Prozent im Jahr
1942 -, aber wiederum die verschiedenen Häftlingsgruppen unterschiedlich
betrafen. Obwohl die Konzentrationslager in der ersten Kriegshälfte nicht in
erster Linie als Instrument für die Durchsetzung der nationalsozialistischen
Judenpolitik dienten, lag doch die Sterblichkeit der jüdischen Häftlinge ekla­
tant höher als die anderer Gruppen.
Die seit dem 17. Oktober 1939 geltende Sondergerichtsbarkeit für alle
SS- und Polizeiangehörigen entzog der Justiz endgültig die Zuständigkeit für
Verbrechen in den Konzentrationslagern. In der Folge nutzte die Sicherheits­
•
36
Angelika Königseder
Entwicklung des KZ-Systems
polizei die Konzentrationslager der IKL während des Krieges als Hinrich­
tungsstätten. Im Jahr 194 1 fanden zudem zwei systematische Aktionen statt:
Zum einen sonderte eine Ärztekommission der mit der «Euthanasie» beauf­
tragten Tötungsorganisation «T 4» in der «Aktion 14 f 13" kranke und schwa­
che KZ-Häftlinge aus den KZ aus und ließ sie in die «Euthanasieanstalten»
Bernburg, Pirna-Sonnenstein und Hartheim bei Linz deportieren. Dort wurden
im Rahmen dieser Aktion zwischen 10000 und 20000 Häftlinge ermordet. 30
Nach dem Überfall auf die Sowjetunion tötete die SS infolge des «Kommissar­
befehls» in den KZ mindestens 34 000 zu «politischen Kommissaren» dekla­
rierte sowjetische Kriegsgefangene. Damit hatte die Gewalt in den Konzentra­
tionslagern eine neue Qualität erreicht. Im Laufe der zweiten Jahreshälfte
194 1 entwickelte die SS in den Lagern verschiedene Methoden _ etwa Gift­
injektionen -, um kranke oder unliebsame Häftlinge zu töten; der Gipfel die­
ser Experimente war die Einrichtung von Gaskammern. Erstmals wurde im
August 194 1 in Auschwitz Zyklon B zur Ermordung von KZ-Häftlingen ein­
gesetzt.
Seit der zweiten Jahreshälfte 1941 erfuhr das System der Konzentrations­
lager durch den zunehmenden Arbeitseinsatz der Häftlinge - zunächst in den
Siedlungs- und Bauprojekten der SS, dann in der Rüstungsindustrie _ eine wei­
tere Veränderung. Mit Wirkung vom 16. März 1942 unterstellte Himmler die
IKL in Oranienburg formal als «Amtsgruppe D» dem am 1. Februar 194 2 un­
ter der Leitung von Oswald Pohl entstandenen «SS-Wirtschafts-Verwaltungs_
hauptamt» (WVHA). Folglich war nun Pohl für den Arbeitseinsatz der KZ­
Häftlinge zuständig. Himmler war es damit gelungen, diesen Teil seines
Imperiums vor den Bestrebungen des am 21. März 194 2 von Hitler zum «Ge­
neralbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz» ernannten Fritz Sauckel zu ret­
ten, der tatsächlich nicht auf die KZ-Häftlinge als Arbeitskräfte zurückgriff. 31
Pohl beabsichtigte, die Rüstungsproduktion in die KZ zu verlagern und setzte
dafür dort zum Teil neues Füi.rungspersonal ein. Außerdem ließ er die Ermor­
dung der sowjetischen Kriegsgefangenen stoppen und erklärte die überleben­
den zu KZ-Häftlingen. Auch die Aktion «14 f 13» wurde erheblich einge­
schränkt. Als «Versuchsprojekt» für eine Kooperation zwischen WVHA und
Rüstungsindustrie richteten Himmler und Pohl bei dem Volkswagenwerk in
Fallersleben zur Produktion von Leichtmetallteilen im Frühjahr 194 2 für we­
nige Monate das KZ Arbeitsdorf ein. 32 Das Projekt scheiterte vor allem am
Widerstand von Albert Speer, der die Erweiterung des Machtbereichs-Himm­
lers fürchtete. Die Bedeutung des KZ Arbeitsdorf liegt deshalb in seinem Mo­
dellcharakter für die Errichtung von Außenlagern bei Rüstungsbetrieben, die
das KZ-System 1943/44 prägten. Dem ging im September 194 2 die Grund­
satzentscheidung von Hitler, Himmler und Speer voraus, KZ-Häftlinge an die
Rüstungsindustrie zu vermieten, die sie in ihren Produktionsprozess einglie-
37
derte. Ein männlicher Facharbeiter kostete sechs Reichsmark pro Tag, Hilfs­
arbeiter und weibliche Häftlinge vier Reichsmark. 33 Die SS transportierte die
Häftlinge in die Außenlager und war für Bewachung, Verpflegung, Bekleidung
und medizinische Versorgung zuständig. Die Unternehmen stellten die Unter­
künfte. Damit konnte mit dem Aufbau von Außenlagern bei Industrieunter­
nehmen begonnen werden. Ende 1942 existierten 82 Außenlager. Durch die
Übernahme von mehr als 12000 «Sicherungsverwahrten» und mehrere Ver­
haftungsaktionen, denen vor allem polnische und sowjetische Zwangsarbeiter
zum Opfer fielen, stieg die Zahl der KZ-Häftlinge von IIOOOO im September
1942 auf 203000 im April 1943, 224000 im August 1943 und 524286 im
August 1944. 34 Eine Verbesserung der Haftbedingungen war mit dem Funk­
tionswandel der KZ hin zu Arbeitskräftereservoirs allerdings nicht verbunden.
Die eingeführten Vergünstigungen kamen nur einem kleinen Kreis von Häft­
lingen zugute, die große Masse galt als jederzeit ersetzbar. In vielen KZ setzte
sich zudem das vom WVHA postulierte Primat des Arbeitseinsatzes nicht ge­
gen die ideologische menschenverachtende Politik der SS durch. Unter wirt­
schaftlichen Gesichtspunkten blieb der Arbeitseinsatz der Häftlinge bis 1944
allerdings nahezu unbedeutend.
Einerseits wurden die nichtjüdischen KZ-Häftlinge also ab 1942 verstärkt
zur Zwangsarbeit in der Rüstungsproduktion herangezogen, andererseits dien
ten zwei Konzentrationslager als Stätte für den Massenmord an den europäi­
schen Juden: In Auschwitz-Birkenau wurden etwa eine Million Juden 35 und in
Majdanek wenigstens 90 000 36 umgebracht. Die Vernichtungsstätten der «Ak­
tion Reinhardt» (Belzec, Sobibor und Treblinka) und Chelmno, in denen etwa
zwei Millionen Juden durch Gas ermordet wurden, unterstanden nicht der IKL
bzw. dem SS-WVHA.
Im Verlauf des Jahres 1943 expandierte das KZ-System nicht nur durch die
wachsende Zahl von Außenlagern, sondern auch durch die Übernahme von
«Lagern im Osten». Im Juni 1943 ordnete Himmler die Errichtung eines Kon­
zentrationslagers auf dem Gelände des nach dem Aufstand zerstörten War­
schauer Ghettos an. Die Häftlinge sollten die Trümmer beseitigen und einen
Park anlegen. Nach Beendigung dieser Aufgabe wurde das KZ Warschau im
Mai 1944 dem KZ Lublin-Majdanek unterstellt. Ebenfalls auf Befehl Himm­
lers übernahm das WVHA im Sommer 1943 die Lager Riga (Lettland), Kau­
nas (Litauen), Vaivara (Estland) und im Januar 1944 KrakaufPlaszow. Diese
Lager unterschieden sich jedoch strukturell von den im Deutschen Reich gele­
genen Konzentrationslagern. Vor allem die Lager im Baltikum - Riga, Kaunas
und Vaivara - dienten fast ausschließlich als Sammel- und Durchgangslager zu
den angeschlossenen Außenlagern.
1944 entstand mit den «Konzentrationslagern der Verlagerungsprojekte»
ein neuer KZ-TypusY Ihrer Gründung lag ein Beschluss von 1943 zugrunde,
~
38
Entwicklung des KZ-Systems
Angelika Königseder
die Produktion der Rakete A4 - der so genannten V-Waffe - in bomben­
geschützte unterirdische Stollen zu verlegen. Im August 1943 wurde deshalb
am Kohnstein im Harz das Buchenwalder Außenlager Mittelbau-Dora errich­
tet, das am 1. Oktober 1944 zum selbstständigen Hauptlager erklärt wurde.
Auch die Außenlager von Mauthausen in Ebensee und Melk, der Außenlager­
komplex «Riese» des KZ Groß-Rosen im schlesischen Eulengebirge oder das
Natzweiler unterstellte Außenlager Vaihingen/Enz waren für unterirdische
Verlagerungsprojekte eingerichtet worden. Der im März 1944 zur Erhaltung
und Steigerung der Jagdflugzeugproduktion gegründete Jägerstab, der aus Ver­
tretern des Rüstungsministeriums, des Luftfahrtministeriums und der Flug­
zeugindustrie bestand, initiierte den Bau halbunterirdischer Betonbunker als
bombensichere Fertigungsstätten für Jagdflugzeuge. In Kaufering und Mühl­
dorf am Inn entstand mit den für den Bunkerbau errichteten Lagern der größte
Außenlagerkomplex des KZ Dachau. Nahezu die Hälfte der fast 40000 haupt­
sächlich jüdischen Häftlinge starb. 38 Etwa die Hälfte aller etwa 480000 «ar­
beitsfähigen» KZ-Häftlinge waren Ende 1944 in Verlagerungsprojekten ein­
gesetzt. Die Todesrate unter diesen «Bauhäftlingen» war extrem hoch. 39
Die vorrückende Rote Armee erzwang im Sommer 1944 die Räumung des
KZ Lublin-Majdanek und der Lager im Baltikum. Damit existierten nurmehr
15 Stammlager. Mit der Evakuierung der Konzentrationslager Richtung
Westen und der Entscheidung Hitlers, entgegen aller ideologischen Bedenken
jüdische Arbeitskräfte im seit 1943 «judenfreien» Reich zuzulassen, gerieten
zu diesem Zeitpunkt wieder tausende jüdische KZ-Häftlinge, vor allem aus
Ungarn, aber auch aus dem Baltikum, in das Deutsche Reich. Stutthof etwa
hatte im Herbst 1944 ca. 47000 jüdische Häftlinge, die in dem riesigen Lager­
komplex mit mindestens 146 Außenlagern Zwangsarbeit leisten mussten. Die
<debensbedrohliche Chaotisierung der Lagerverhältnisse»4o durch die völlige
Unterernährung, Misshandlunpen, die verheerenden Arbeitsbedingungen und
die Überfüllung bewirkte eine ehorme Steigerung der Todesraten. Die Überfül­
lung kam zum einen durch zunehmende Inhaftierungen zustande - am 15. Ja­
nuar hatte die Zahl der KZ-Häftlinge mit 714 21 1 einen neuen Höchststand
erreicht4 1 - und zum anderen durch die Auflösung der Konzentrationslager in
deutsch-sowjetischer Frontnähe; die Insassen dieser Lager wurden in die im
Reichsinnern gelegenen KZ «evakuiert». Dort entstanden Sterbezonen oder
Sterbelager, in denen die geschwächten Häftlinge, unter ihnen überproportio­
nal viele Juden, nahezu ohne Versorgung dahinvegetierten. Das Sterbelager
Bergen-Belsen bei Celle, das im April 1943 als «Zivilinterniertenlagef» für aus­
ländische jüdische Geiseln gegründet worden war, wurde 1944 sogar zu einem
selbstständigen Konzentrationslager ernannt. Bergen-Belsen musste in den
letzten Kriegsmonaten zahllose Räumungstransporte und damit Tausende völ­
lig entkräfteter Häftlinge aufnehmen, für die die SS keinerlei Vorbereitungen
39
getroffen hatte. Durch die Überfüllung, die fehlende Versorgung und die da­
durch entstandenen katastrophalen hygienischen Bedingungen starben zehn­
II
~
tausende Menschen.
Im Verlaufe des letzten Kriegsjahres überstiegen die Häftlingszahlen in den
Außenlagern die der Stammlager. Ende 1943 hatten 186 Außenlager existiert,
im Januar 1945 bestanden mindestens 662. 42 Über 400000 KZ-Häftlinge ar­
beiteten 194'\"45 in der deutschen Kriegswirtschaft. 43 Zunehmend entwickel­
ten sich die Stammlager zu Drehscheiben für den Arbeitseinsatz der Häftlinge
in den Außenlagern. Meist waren die Außenlager, dem Territorialprinzip fol­
gend, dem nächstliegenden Hauptlager zugeordnet, von wo aus der Häftlings­
transport zusammengestellt wurde. Bis Herbst 1944 unterstanden alle Außen­
lager, in denen weibliche Häftlinge untergebracht waren, dem Frauen-KZ
Ravensbrück. Am 1. September 1944 ordnete das WVHA den Großteil dieser
Lager dem geografisch am nächsten gelegenen Stammlager zu. Im Stammlager
Buchenwald etwa, bei Kriegsende das größte Konzentrationslager, leb­
ten am 1.Januar 1943 90Prozent aller Häftlinge des Lagerkomplexes, am
44
15. März 1944 noch 50 Prozent und am 20. März 1945 nur noch 30 Prozent.
Mit dem Ausbau eines Netzes von Außenlagern in zahlreichen Städten, in der
Landwirtschaft und bei kleineren und großen Wirtschaftsunternehmen rück­
ten die KZ stärker in das Bewusstsein der Bevölkerung. KZ-Häftlinge gehörten
zum deutschen Alltag.
Die Räumung der Konzentrationslager verlief in drei Phasen: Zunächst wur­
den seit Frühjahr 1944 die Lager im Lubliner Raum und im Baltikum und im
September HerzogenbuschlVught in den Niederlanden und das Stammlager
Natzweiler «evakuiert». Die Außenlager von Natzweiler blieben jedoch noch
bestehen. Im JanuarlFebruar 1945 gab die SS die Lager in Auschwitz, Stutthof
und Groß-Rosen auf und trieb die Häftlinge in westlicher gelegene KZ. Die da­
durch eintretende völlige Überfüllung der Lager - allein aus Groß-Rosen er­
reichten im Januar und Februar 1945 etwa 12000 Häftlinge das KZ Flossen­
bürg _ verringerte die Überlebenschancen immens. Nachdem die Lager-SS die
«marschunfähigen» und «gefährlichen» Häftlinge getötet hatte, wollte sie in
den letzten Kriegswochen die KZ im inneren Reichsgebiet auflösen und trieb
deshalb Tausende von Häftlingen auf so genannte Todesmärsche. Die Häftlinge
aus Flossenbürg und Dachau wurden in Richtung Süden in die imaginäre «Al­
penfestung» geschickt, die aus Sachsenhausen, Ravensbrück und Neuengamme
Richtung Norden in die «Festung Nord». In diesem Inferno kurz vor dem Ende
des Krieges starben Schätzungen zufolge wenigstens ein Drittel, möglicherweise
45
auch die Hälfte der im Januar 1945 mehr als 700000 KZ-Häftlinge.
Wie viele Häftlinge in den Konzentrationslagern zu Tode kamen, ist auf­
grund fehlender Quellen, vor allem aber wegen der chaotischen Situation bei
der Räumung der Konzentrationslager, die eine exakte statistische Zählung
4°
~
Angelika Königseder
unmöglich machte, nicht genau feststell bar. Die in Auschwitz und Majdanek
getöteten Juden einbezogen, wurden in den Konzentrationslagern der IKL
bzw. des WVHA mindestens 1,9 bis 2 Millionen Menschen ermordet.46 Abge­
sehen von den Lagern Auschwitz und Majdanek, die seit 194 2 Schauplatz des
Völkermords an den europäischen Juden waren, kulminierte das Sterben in
den KZ in den letzten Kriegsmonaten. Der Großteil der Häftlinge starb durch
die mörderischen Arbeitsbedingungen, Seuchen, fehlende medizinische Versor­
gung, mangelnde Bekleidung und Unterbringung oder verhungerte.
i
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Anmerkungen
1 Udo Wohlfeld, Das Konzentrationslager Nohra in Thüringen, in: Wolfgang BenzlBar­
bara Distel (Hrsg.), Terror ohne System. Die ersten Konzentrationslager im National­
sozialismus 1933-1935, Berlin 2001, S. 10 5- 121.
2 Reichsgesetzblatt I 1933, S. 83· Bekannt wurde die Verordnung als «Reichstagsbrand_
verordnung» .
3 Klaus DrobischJGünther Wieland, System der NS-Konzentrationslager 1933- 939,
1
Berlin 1993, S.I34; Martin Broszat, Nationalsozialistische Konzentrationslager
1933 -1945, München 1967, S. 24.
4 Johannes TucheI, Organisationsgeschichte der «frühen» KZ, in: Wolfgang Benzl
Barbara Distel (Hrsg.), Instrumentarium der Macht. Frühe Konzentrationslager
1933- 1937, Berlin 2003, S.9-26, hier S. 11.
5 Vgl. neben der grundlegenden Studie von DrobischJWieiand, System: BenzIDistel, Ter­
ror ohne System; Wolfgang BenzlBarbara Distel (Hrsg.), Herrschaft und Gewalt.
Frühe Konzentrationslager r933-1939, Berlin 2002; dies., Instrumentarium der
Macht. Darin sind zahlreiche frühe Konzentrationslager ausführlich beschrieben.
6 Runderlass in: Bundesarchiv Berlin (BArch), R 22/14 67.
7 Zu Dachau vgl. Stanislav Zamecnfk, Das war Dachau, Luxemburg 2002.
8 TucheI, Organisationsgeschichte, S. 20.
9 Zur Lichtenburg: Stefanie Endlich, Die Lichtenburg 1933- 1939. Haftort politischer
Prominenz und Frauen-KZ, in: 'BenzIDistel, Herrschaft und Gewalt, S. I I -64.
10 Bayerisches Hauptstaatsarchiv, MA I06299/r. Schreiben des Reichsministers des In­
nern vom 5· 10.1934· Zit. nach Tuchei, Organisationsgeschichte, S. 25 ff.
I I Johannes TucheI, Planung und Realität des Systems der Konzentrationslager
1
1934- 93 8, in: Ulrich HerbertlKarin OrthJChristoph Dieckmann (Hrsg.), Die natio­
nalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur. Bd. I, Göttingen
1998, S. 43 - 59, hier S. 45) spricht von 3000 Gefangenen, Hermann Kaienburg (Die
Wirtschaft der SS, Berlin 2003, S. 100) von 3500.
12 Zum Aufbau von Sachsenhausen vgl. Kaienburg, Wirtschaft der SS, S. IJ2- 37 und
1
zur weiteren Entwicklung S. 502- 516.
13 Karin Orth, Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Eine politi­
sche Organisationsgeschichte, Hamburg 1999, S. 36. Die folgenden Ausführungen
stützen sich im Wesentlichen auf diese grundlegende Studie.
14 Falk Pingel, Häftlinge unter SS-Herrschaft. Widerstand, Selbstbehauptung und Ver­
nichtung im Konzentrationslager, Hamburg 1978, S. 62.
Entwicklung des KZ-Systems
41
Orth, System, S. 38f.; zu Ravensbrück vgl. Bernhard Strebei, Das KZ Ravensbrück.
Geschichte eines Lagerkomplexes, Paderborn 2003.
16 Kaienburg, Wirtschaft der SS, S. 100.
I? Vgl. dazu ausführlich: Patrick Wagner, «Vernichtung der Berufsverbrecher». Die vor­
beugende Verbrechensbekämpfung der Kriminalpolizei bis 1937, in: Herbert/OrthJ
Dieckmann, Konzentrationslager, S. 87-IIO; Wolfgang Ayaß, «Asoziale» im Natio­
nalsozialismus, Stuttgart 1995·
18 TucheI, Planung, S. 56.
19 Drobisch/Wieland, System, S. 282. Hermann Kaienburg, Wirtschaft der SS, spricht
gar von 36000 Juden, die infolge der Novemberpogrome in die KZ eingeliefert wur­
den.
20 Johannes TucheI, Konzentrationslager. Organisationsgeschichte und Funktion der «In­
spektion der Konzentrationslager» 1934-1938, Boppard 1991, S. JI 3.
21 Drobisch/Wieland, System, S. 339.
22 Vgl. dazu Sybille Steinbacher, Auschwitz. Geschichte und Nachgeschichte, München
2004.
23 So Himmler am 7.4.1941 laut Protokoll der Gründungssitzung des Werkes Ausch­
witz. Zit. nach Orth, System, S. 77.
24 Zu Neuengamme vgl. Hermann Kaienburg, «Vernichtung durch Arbeit». Der Fall
Neuengamme. Die Wirtschaftsbestrebungen der SS und ihre Auswirkungen auf die
Existenzbedingungen der KZ-Gefangenen, Bonn 1990.
25 Zu Groß-Rosen vgl. Isabell Sprenger, Groß-Rosen. Ein Konzentrationslager in Schle­
sien, Köln 1996.
26 Uwe Bader, Das SS-SonderiagerlKZ Hinzert 1939-1945, in: Wolfgang BenzlBarbara
Distel (Hrsg.), Terror im Westen. Nationalsozialistische Lager in den Niederlanden,
Belgien und Luxemburg, Berlin 2004, S. 249-274.
27 Vgl. dazu Kaienburg, Wirtschaft der SS, S. 139-148.
28 Ebenda, S. 387.
29 Orth, System, S. Iooff.; Steinbacher, Auschwitz, S. 71 -76.
30 Vgl. dazu ausführlich Orth, System, S. II4-122.
3 I Kaienburg, Wirtschaft der SS, S. 407 f.
32 Zu Arbeitsdorf vgl. Hans Mommsen/Manfred Grieger, Das Volkswagenwerk und
seine Arbeiter im Dritten Reich, Düsseldorf 1996.
33 Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter,
Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge, München 2001, S. 175; Broszat, Konzen
trationslager, S. II 3.
34 Herbert, Ausländerpolitik, S. 175; Broszat, Konzentrationslager, S. IJ rf.
35 Franciszek Piper, Die Zahl der Opfer von Auschwitz, Oswi~cim 1993, S.202; ders.,
Die Rolle des Lagers Auschwitz bei der Verwirklichung der nationalsozialistischen
Ausrottungspolitik. Die doppelte Funktion von Auschwitz als Konzentrationslager
und als Zentrum der Judenvernichtung, in: HerbertlOrthlDieckmann, Konzentra­
tionslager, S. 390-414.
36 Tomasz Kranz, Das KL Lublin - zwischen Planung und Realisierung, in: Herbertl
OrthlDieckmann, Konzentrationslager, S. 363-389.
37 Begriff von Karin Orth (System, S. 243).
38 Edith Raim, Die Dachauer KZ-Außenkommandos Kaufering und Mühldorf. Rüs­
tungsbauten und Zwangsarbeit im letzten Kriegsjahr 1944/45, Landsberg 1992.
42
I
f
!
Angelika Känigseder
39 Ausführlich dazu: Jens-Christian Wagner, Produktion des Todes. Das KZ MittelbauDora, Göttingen 2001.
40 Orth, System, S. 223.
4I Ebenda, S. 222.
4 2 Ebenda, S. 237.
43 Kaienburg, Wirtschaft der SS, S. 431.
44 Harry Stein, Funktionswandel des Konzentrationslagers Buchenwald im Spiegel der
Lagerstatistiken, in: Herbert/OrthIDieckmann, Konzentrationslager, S. 167- 9 , hier
1 2
S. 178 und 188.
45 Broszat, Konzentrationslager, S. 160; Zygmullt Zonik, Anus BelJi. Ewakuacja i Wyz­
wolenie Hitlerowskich Obozow Koncentracyjnych, Warszawa 19 8 8, S.6; Yehuda
Bauer, The Death Marches, January-May 1945, in: Michael M. Marrus (Hrsg.), The
Nazi Holocaust. Vol. 9 (The End of the Holocaust), London 19 89, S. 49 .
2
4 6 Vgl. Orth, System, S. 344 f t.
Johannes Tuchel
i
Organisationsgeschichte
der «frühen» Konzentrationslager
Gewalt und Terror waren grundlegende Bestandteile der Ideologie und des
Herrschaftssystems im NS-Staat. Die Nationalsozialisten ließen nie einen
Zweifel daran, dass sie bei einer Regierungsübernahme mit Gewalt gegen ihre
Gegner vorgehen würden. Der «Führer» der NSDAP Adolf Hitler kündigte
seit 1921 mehrfach «Konzentrationslager» für politische Gegner an: «Man
verhindere die jüdische Unterhöhlung unseres Volkes, wenn notwendig durch
die Sicherung ihrer Erreger in Konzentrationslagern.» 1 Dies war vor allem eine
Ankündigung, die im Gesamtzusammenhang des nationalsozialistischen Poli­
tikkonzepts zu sehen ist, noch kein konkreter Plan. Neben der Propaganda ge­
hörten die Konzentrationslager zu den wichtigsten Instrumenten der Macht­
eroberung und der Etablierung der Diktatur 1933/34.
Die Konzentrationslager dienten den Nationalsozialisten während des Jah­
res 1933 zur Festigung ihrer politischen Macht. Nachdem sie diese Funktion
erfüllt hatten, hätten wiederum die klassischen staatlichen Verfolgungsinstru­
mente an ihre Stelle treten können. Es entstand jedoch ab Mitte 1934 jene na­
tionalsozialistische Form des Konzentrationslagers, die noch heute als Syn­
onym für die Diktatur in Deutschland zwischen 1933 und 1945 verstanden
wird.
Die Forschung zur nationalsozialistischen Herrschaftsetablierung und zur
Frühgeschichte der Konzentrationslager kann sich mittlerweile auf eine reiche
Literatur stützen,2 vor allem auf drei Bände mit Studien zu den frühen Kon­
zentrationslagern3 und zwei wichtige Darstellungen der Gesamtproblematik. 4
Der folgende Überblick soll die Rahmenbedingungen der frühen Konzentra­
tionslager und ihren Einsatz als Instrument der Politik in den Jahren 1933 und
1934 schildern. Im Zentrum stehen dabei nicht die Lebenswirklichkeit der
Häftlinge und der direkte Terror in den Lagern, bewusst auch nicht das lokale
oder regionale Detail. Es soll vielmehr die Entwicklung der Konzentrations­
lager als Herrschaftsinstrument in den Jahren 1933 und 1934 aus der Sicht der
nationalsozialistischen Führung dargestellt werden. Dabei ist zu berücksichti­
gen, dass es zwar zentrale Ziele der nationalsozialistischen Machthaber gab,
im Detail die Entwicklung in den einzelnen Ländern und Regionen jedoch
durchaus unterschiedlich war.
Der kalkulierte und geplante Einsatz politischer Gewalt setzte im Februar
1933 unmittelbar nach der Regierungsübernahme ein. Aus Rücksicht auf die
deutschnationalen Partner kam es aber erst nach den Märzwahlen 1933 zu
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