Jenseits des Ra?alisierungsparadigmas

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Workshop 7:
Jenseits des Radikalisierungsparadigmas: ‚Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit‘, ‚Pauschalisierende Ablehnungskonstruktionen‘ & Co.
Nils Schuhmacher/Markus Textor
In der pädagogischen Debatte ist der Radikalisierungsbegriff seit einiger Zeit zunehmend präsent – meist im Zusammenspiel mit dem Begriff der ‚Deradikalisierung’, der
dem pädagogischen Arbeitsauftrag Richtung und Kontur geben soll. Es mangelt
allerdings an tragfähigen Definitionen und es mangelt auch an Differenzierung. Zu bedenken ist immerhin, dass sich der Begriff nicht allein auf (dann ja auch noch höchst
unterschiedliche) ideologische Angebote und ‚Abnehmer’ bezieht, sondern sich zuallererst an bestimmten Handlungs- und Verhaltensweisen festmacht. Zumeist ist hier
von Gewalthandeln die Rede. In den Blick genommen werden aber auch jugendliche und
jugendkulturelle Selbstinszenierungen, die entweder ‚radikal’ gemeint sind oder von
Regelsetzern, Regeldurchsetzern, Medien, Pädagogen und anderen als ‚radikal’ und
‚gewalthaft’ interpretiert werden.
Der Mangel an Definitionssicherheit und an Differenzierung birgt für die pädagogische
Praxis zwei Risiken: erstens können Haltungen Jugendlicher schnell – und außerordentlich bequem – als Ordnungs-, als Abweichungs- und damit eben auch als Randproblem
verhandelt werden. Zweitens kann es zu einer folgenreichen Vermengung der Figur des
‚gefährdeten’ Jugendlichen mit der Vorstellung des ‚gefährlichen’ Jugendlichen kommen,
gegen die alle Ansätze einer emanzipationsorientierten Pädagogik aus guten Gründen
angerannt sind und noch heute anrennen.
So gesehen geben Konzepte und Begriffe wie ‚Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit’
(GMF), ‚Pauschalisierende Ablehnungskonstruktionen’ (PAKO), thematisch beschränkt
auch rassismuskritische Ansätze, einen alternativen Weg vor. Bei allen Unterschieden
ähneln sie sich zumindest darin, Ablehnungshaltungen welcher Art auch immer nicht als
erstes mit ‚Radikalisierung’ und ‚Rand’ in Verbindung zu bringen, sondern mit dem Ort,
an dem das ‚Normale’ zu Hause ist: der so genannten ‚Mitte der Gesellschaft’.
Aber auch diese Konzepte müssen sich letztlich daran messen lassen, ob sie das erfassen,
was pädagogische Praxis als Problemlagen beschreibt. Diesem Ziel widmete sich der
hier in Inhalten und Verlauf vorgestellte Workshop in drei Schritten:
1. Frage: Wie heißt „das Problem“? Was umfassen die genannten Begriffe und
Definitionen? Wie werden sie verwendet? Mit was werden sie in Verbindung
gebracht?
2. Frage: Wie sieht „das Problem“ aus? Welche Dimensionen, Facetten, Träger und
Ausprägungen von ‚Radikalisierung’ und Ablehnungshaltungen traten in der
eigenen Praxis auf.
3. Frage: Wie ist mit „dem Problem“ umzugehen? Welche praktischen Herangehensweisen mit ‚Radikalisierungs‘-Phänomenen und Ablehnungshaltungen
existieren? Wie lassen sich Grenzen und Potenziale pädagogischer Intervention in
verschiedenen Themenfeldern und Kontexten benennen.
0. Formulierte Erwartungen
Die eingangs formulierten Erwartungen lagen auf drei Linien:
a) Klärung von Begriffen und Definitionen (Theorie)
b) Sammlung von Erfahrungswissen (Austausch)
c) Skizzierung und Systematisierung konzeptionellen Wissens (Praxis)
1.1 Assoziationen zum Begriff der ‚Radikalisierung’
In einem ersten Schritt wurden in freier Assoziation Begriffe gesammelt, die die Teil–
nehmenden mit ‚Radikalität’ und ‚Radikalisierung’ in Verbindung bringen. Die Begriffe
wurden gemeinsam vier von uns vorab festgelegten Dimensionen zugeordnet. In der
Zuordnung wurde darüber diskutiert, ob und aus welcher Perspektive sich bestimmte
Begriffe auch anderen Dimensionen zuordnen lassen.
Inhalte
Vermittlung/
Dazwischen
Aktivität
Vermittlung/
Dazwischen
Jugend/Subkultur
Vermittlung/
Dazwischen
Einschränkung
des Sichtfeldes
Entweder/Oder
Initiative
gegen
Flüchtlingsheime
Meine peer
group findet’s
geil
Punk
Leidenschaft
Gruppendynamik
No Fun
Überzeungung
und Lebensinhalt
Gewaltbereitschaft
GMF
Mediale
Überstrapazierung
Spaßfeindlich
Schwarz-WeißPerspektive
Mittel und Wege
der Zielerreichung
Organisiert
Gewaltbereit
Nach Syrien
gehen
Abgrenzung
Zocken @
home
Wunsch nach
Veränderung
Ursachen,
Hintergründe,
Erklärungsfaktoren
Kompensation
Frust, Enttäuschung,
Hoffnungslosigkeit
Gefahr (Angst)
Motive?
Wahrheitssuche
Organisiert und
geheim
Perspektivlosigkeit –
Perspektive
Fanatismus
Orientierungsweg/
Struktur
Egozentrisch
Dogmatisch
Ablehnnungserfahrungen
Interessen werden
durch Gesellschaft und
Politik nicht vertreten.
Ungerechtigkeitsempfinden
Nicht eindeutig zuzuordnen: Aspekt der Prozesshaftigkeit; Aspekt der Ausweglosigkeit (als Ausgangspunkt und Ergebnis von
‚Radikalisierung’)
Was fällt hier auf?
 Inhaltlich-ideologische Aspekte, Richtungen (Rechts, Links, Islamismus) und deren ‚Vertreter’ werden kaum benannt.
 Die meisten Begriffe lassen sich gleichzeitig verschiedenen Dimensionen zuordnen.
 Viele Begriffe liegen auf einer in der Diskussion eingeführten Vermittlungsebene
zwischen den Dimensionen.
 Eine Reihe von Begriffen ist nicht per se negativ konnotiert.
1.2 Input: Definitorische Annäherungen
Der Radikalitätsbegriff kann in mehrfacher Hinsicht ausdifferenziert werden.
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


Radikalität im wortwörtlichen Sinne: eine Sache an der Wurzel anpacken, aber
auch: „ein Ziel um der Sache willen verwirklichen zu wollen“ (Horkheimer), was
durchaus auch in einem realpolitischen Sinne verstanden werden kann.
Radikalismus, der sich inhaltlich und praktisch ausdrückt, weil er a) auf gesellschaftliche Veränderungen abzielt, die mit einem demokratischen Gesellschaftsverständnis nicht vereinbar sind und dessen Fundament b) eine diskursfeindliche, hermetische Weltsicht und Handlungsweise ist. Als Gesinnung führt er in
der Tendenz dazu, eine Haltung einzunehmen, ohne zu Konzession bereit zu sein
(Horkheimer). Dieses Verständnis entspricht im Kern dem Extremismus-Begriff
von größeren Teilen der Rechtsextremismus-Forschung.
Jugend- und popkulturelle Radikalitätsansprüche, -darstellungen und Umsetzungen
im Sinne eines „Muskelspiels der Bilder“, von Style Wars, Grenzüberschreitungen
und Entgrenzungen (‚Transgressionen’), die zwar politikbezogen sein können,
sich in das Bild von politischer Radikalität und Radikalismus nicht ohne Weiteres
einfügen.
Konstruktivistische Perspektive: Radikalität im Sinne der Überschreitung eines bestehenden Horizonts, indem gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten in Frage
gestellt werden.
An diese Differenzierung anschließend lässt sich dreierlei sagen:
1. Multidimensionalität: Radikalität besitzt einen mehrdimensionalen Charakter. Es
verbinden sich in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen:
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
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politische und jugendkulturelle Ansprüche und Logiken,
kognitive und affektive Momente,
einstellungs- und handlungs-/verhaltensbezogene Aspekte,
organisatorische und alltagsweltliche Einbindungen.
2. Prozesshaftigkeit. Radikalität ist kein ‚Zustand’, sondern ein Prozess der Aushandlung,
des Konflikts, der Gruppenbildung und der Abgrenzung. Zu ihr gehören damit ‚Verbündete’ und Gegner sowie weitere Interaktionspartner, die weder eindeutig das eine
noch andere sind.
3. Markierung: Wenn man den Begriff im Kontext von Interaktionen und Prozessen verwendet, dann folgt daraus: Radikalität und Radikalisierung sind nicht einfach objektiv
feststellbare Sachverhalte im Inneren der Subjekte, sondern auch Ergebnis von Zuschreibungsprozessen. Zuschreibungen vereindeutigen das Gegenüber. Zuschreibungen
gestalten aber auch den sozialen Raum, in dem das Gegenüber agiert. Art und Inhalte
der Zuschreibung wiederum ergeben sich daraus, welche Werte die Zuschreibenden
vertreten, welche Normen sie für besonders beachtenswert halten etc.
Verhältnis von ‚Mitte’ und ‚Rand’
Betrachtet man davon ausgehend das Verhältnis zwischen (Phänomenen der) ‚Mitte’
und ‚Rand’, so ergeben sich verschiedene Spannungsfelder, die die Stichhaltigkeit des
derzeit florierenden ‚Deradikalisierungs’-Diskurses in Frage stellen, zumindest die Notwendigkeit einer deutlichen Weiterentwicklung nahelegen.
Auf der einen Seite – am ‚Rand’ – kann ‚Radikalität’, wie oben bereits ausgeführt, unter
der Formel „Idee gegen Wirklichkeit“ mit Begriffen wie Kompromisslosigkeit, Rigidität,
Dualismus, Gründlichkeit, Dogmatismus, elitärem bzw. avantgardistischen Selbstbild
etc. in Verbindung gebracht werden.
Aber: diese Begriffe können sich, je nach Lesart von außen und Verständnis der Betreffenden, auf unterschiedliche Aspekte beziehen: auf die Art des sozialen Umgangs,
auf jugendkulturelle Positionen, auf politische Orientierungen. In Bezug auf letzteres
spalten sich diese Haltungen noch einmal entlang der vertretenen Inhalte auf. Zumindest muss ja in Rechnung gestellt werden, dass sich in den Haltungen der
Jugendlichen Perspektiven von Ungleichwertigkeit und des Rechts des Stärkeren, das
genaue Gegenteil, vor allem aber diverse Mischkonstellationen spiegeln können. Der
Zuschreibungsbegriff kommt an genau dem Punkt zum Tragen, wo durch Außenstehende (und darunter fallen auch Pädagog/innen) allzu grobe Vereindeutigungen und
Wertungen vorgenommen werden.
Auf der anderen Seite – in der ‚Mitte’ – zeigt sich, dass Akteure, auf die Begriffe wie
Kompromisslosigkeit, Rigidität, Dualismus, Gründlichkeit, Dogmatismus etc. ebenso gut
anwendbar sind, mit dem derzeit vorherrschenden Verständnis von Radikalität und Radikalisierung überhaupt gar nicht erfasst werden können. Man denke an Pegida und
ihre diversen regionalen Ableger, man denke an rechtspopulistische Sammlungsphänomene wie die AfD.
Kurios ist so im Resultat, dass ‚Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit’ auch anhand
dieser Akteure als Phänomen der ‚Mitte’ kenntlich gemacht wird (und damit gewissermaßen als Indikator für eine kritikwürdige ‚Normalität’ fungiert). Zeitgleich wird
aber ‚Radikalisierung’ (von Jugendlichen) als Bedrohung der Normalität verhandelt. Es
stünde also eigentlich an, in diesem Rahmen a) nach den Bezügen zwischen der ‚Mitte’
und dem ‚Rand’ zu fragen – und zwar nicht generell, sondern bezogen auf konkrete
Phänomene) und b) auch aus pädagogischer Sicht zu beantworten, was denn eine wünschenswerte Normalität ausmacht.
2. Ablehnungshaltungen in der eigenen Praxis
Auch wenn die Aussagekraft natürlich begrenzt ist: den Teilnehmenden begegnen in der
Arbeit weniger Phänomene, die sie mit dem Begriff der Radikalisierung belegen noch
konkrete und fundierte Ablehnungshaltungen in verdichteter Form. Im statistischen
Sinne ‚normal’ sind diffuse, flüchtig vorgetragene, in ihrer Substanz nicht immer leicht
erfassbare Vorbehalte, Vorurteile etc.
Gleichzeitig wurde aber auch geäußert, dass manche Ablehnungsfacetten, gerade Sexismus, aufgrund ihrer Alltäglichkeit nicht immer bewusst wahrgenommen werden. Als
praxisrelevant genannt wurden im Einzelnen:
 Ablehnungshaltungen gegenüber Asylsuchenden/Geflüchteten (zum Teil in allgemeiner Form, zum größeren Teil konkret gegenüber jugendlichen Flüchtlingen,
mit denen es im Alltag Berührungspunkte gibt). Als zentral wird in diesem Zusammenhang die Konkurrenzbasierung dieser Ablehnungshaltungen hervorgehoben. Konkret bilden sich Konkurrenzen um Güter aus, die durch politische Entscheidungen verknappt worden sind: um öffentlichen Raum, um Wohnraum (bei
Jugendlichen ohne festen Wohnsitz), um Ressourcen im Jugendzentrum. In die-


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

sem Zusammenhang stehen auch Reklamationen von Etabliertenvorrechten, in
denen sich Jugendliche als relativ etabliert aufstellen und Ansprüche noch
weniger Etablierter zurückweisen.
Ablehnungshaltungen gegenüber Studierenden, die interpretiert werden können
als Symbol für die Ablehnung von Privilegierten und sozial Bessergestellten),
aber auch Ablehnungshaltungen gegenüber sozialen ‚underperformern’, in denen
sich Ängste oder Befürchtungen vor eigener sozialer Deklassierung ausdrücken.
Antisemitismus im Konkreten, in primärer als auch sekundärer Form, aber vor
allem auch in Gestalt von israelbezogenem Antisemitismus und Verschwörungstheorien.
Homosexuellenfeindlichkeit, insb. gegenüber Schwulen und insb. bei Jungen.
Rechtspopulismus (als ein ganzheitliches Phänomen)
Sexismus (Ein stark repräsentiertes Phänomen, das allerdings oftmals aufgrund
seiner Allgegenwärtigkeit und vermeintlichen ‚Normalität‘ sowie der anderen
parallel laufenden Phänomene viel zu wenig thematisiert werden kann).
Es zeigt sich in den verschiedenen Berichten gleichzeitig auch, dass diese Ablehnungshaltungen oft gebrochen sind, in sich nicht konsistent, stark situationsabhängig und
damit entsprechend veränderbar. ‚Radikal’ in einem der oben genannten Sinne sind sie
nicht.
3. Strategien und Schwerpunktsetzungen des Umgangs
Es schließt sich die Frage an, was pädagogische Praxis, konkret die Aufsuchende Jugendarbeit über theoretische Verständigung hinaus braucht. Sie wird ja nicht umhin kommen,
zu klären,
 welchen Phänomenen sie sich aus welchen Gründen und mit welcher Dringlichkeit widmen will und kann,
 wie sie sich diesen Phänomenen dann konkret widmet.
Im Workshop konnten diese beiden Punkte aus Zeitgründen nur exemplarisch behandelt werden. Insbesondere die Berichte von Herausforderungen und Themen aus der
Praxis sowie die selber eingebrachten Erfahrungsberichte aus dem ‚Rückgrat’-Projekt1
haben aber deutlich gemacht: weil ein größerer Teil der Probleme offenbar jenseits von
Radikalisierungsphänomenen liegt, ist die Initiierung einer breit angelegten „Deradikalisierungs“-Pädagogik kaum das Gebot der Stunde. Damit treten andere Aspekte in den
Vordergrund:


Ablehnungshaltungen bei Jugendlichen sind kein Irrtum, sondern Ergebnis spezifischer Interpretation von Erfahrungen.
Damit könne sie auch nicht einfach mit rationalen Argumenten aus der Welt
geschafft werden, sondern nur über eine Neugestaltung von Erfahrungen. Diese
Neugestaltung besitzt zwei Ebenen:
Siehe zu dem Projekt: www.hs-esslingen.de/de/hochschule/fakultaeten/soziale-arbeit-gesundheit-undpflege/forschubg/projekte/laufende-projekte/rueckgrat.html; siehe zu Ablehnungshaltungen bei
Jugendlichen Kurt Möller, Janne Grote, Grote, Kai Nolde, Nils Schuhmacher, Nils (2016): „Die kann ich
nicht ab!“ Ablehnung, Diskriminierung und Gewalt bei Jugendlichen in der (Post-)Migrationsgesellschaft.
Wiesbaden: Springer VS.
1


Erstens: Die durch Pädagogik, hier Soziale Arbeit, geförderte Qualifizierung
individueller Verarbeitungen von Erfahrungen, vor allem durch Stärkung von
Sozial- und Selbstkompetenzen.
Zweitens: Die Veränderung der Art und Weise der Erfahrungsverarbeitung. Dies
kann auf verschiedenen Ebenen erfolgen:
o durch die Gestaltung von neuen, konträren, ggf. auch irritierenden Erfahrungen, weil dadurch Anlässe zur Thematisierung und zur Infragestellung
eigengruppenbezogener Selbstverständlichkeiten (wozu auch Ablehnungshaltungen gehören), geschaffen werden können. Je nach der
Adressierung von Ablehnung können Empathie und Reflexionsfähigkeit
bzw. -bereitschaft durch die gezielte Herstellung von Kontakten, durch die
egalitäre Gestaltung des Miteinanders, durch die Auseinandersetzung mit
eigenen Rollenbildern gefördert werden;
o durch Förderung der Wahrnehmung der Erfahrungen seitens der Jugendlichen, weil dadurch ein Bewusstsein über Erlebtes und dessen Deutung
geschaffen werden kann;
o durch die aktive Setzung eigener Werte und dessen Vorleben, weil Orientierungsbildung bei Jugendlichen in starkem Maße über Vorbilder erfolgt;
o durch die Fähigkeit zur Grenzsetzung und Auseinandersetzungsbereitschaft, um die eigene Position deutlich zu machen und um der Verfestigung von Durchsetzungshierarchien innerhalb der Klientel entgegenzuwirken;
o durch die Thematisierung oder gar Implementierung dieser Werte und
Praxen auch im Sozialraum und dessen Diskursen, da hier die Bedingungen für das Handeln der Jugendlichen strukturiert, Stimmungen,
Deutungsmuster und Selbstverständlichkeiten maßgeblich produziert
werden;
o durch parteiliches Eintreten für die Belange der Jugendlichen gegenüber
politischen Entscheidungsinstanzen.
Gleichzeitig ist kaum zu bestreiten, dass es mit dem – ‚deutschen’ – Rechtsextremismus
und dem – natio-ethno-kulturell heterogen strukturierten – revoltierenden Islamismus
zwei unterschiedliche Phänomenbereiche gibt, in denen Radikalisierungen stattfinden.
Auch für die pädagogische Praxis mit solchen Jugendlichen gilt allgemein gesprochen
das bereits Gesagte. Aber es ist auch auf den ersten Blick einsichtig, dass es spezifischer
Perspektiven, Herangehensweisen und Konzepte bedarf.

Zunächst einmal ist erneut darauf hinzuweisen, dass Radikalisierungsprozesse
im hohen Maße Interaktionsprozesse sind. Es kommt also immer auch darauf an,
die – oft als gegeben hingenommene – Spirale aufeinanderfolgender Fremd- und
Selbststigmatisierungen und Etikettierungen zu durchbrechen. Dies kann im
Wesentlichen geschehen:
o durch die Deeskalation sich abzeichnender Konfliktlagen;
o durch einen systemischen Zugang, der nicht allein die Jugendlichen als
Problemträger markiert;
o durch die Offenheit, auf der Grundlage klarer eigener Position in die
inhaltliche Auseinandersetzung zu gehen, die hier – anders als im obigen
Fall – von den Jugendlichen oft sogar eingefordert wird;
o durch klare Grenzziehungen gegenüber Einflussnahmen politisch
organisierter Akteure;
o durch die Berücksichtigung der unterschiedlichen Machtbeziehungen, die
in den beiden hier genannten Phänomenbereichen zum Tragen kommen.
Auch wenn sich hinsichtlich bestimmter Aspekte von Sozialisation Parallelen zeigen mögen, unterscheiden sie sich doch in einem Punkt
fundamental voneinander. Für den Rechtsextremismus geht es um die
Abwehr der Herausforderungen der (Post-)Migrationsgesellschaft,
überhaupt um die Abwehr der Einsicht, dass wir in einer (Post)Migrationsgesellschaft leben. Der revoltierende Islamismus speist sich
hingegen zu einem guten Teil aus den mit Migration in Verbindung
stehenden innergesellschaftlichen und globalen Diskriminierungs-erfahrungen und -narrativen. Ein weiteres Argument, ihre Bearbeitung nicht
vorschnell mit demselben Begriff zu belegen.
Dr. Nils Schuhmacher, Hochschule Esslingen, Projekt ‚Rückgrat’
Markus Textor, Regionale Praxisbegleitung Projekt ‚Rückgrat’
Tipps zum Weiterlesen
Breyvogel, Wilfried (1998): Der „gefährliche Jugendliche“ auf der „Bühne der Sichtbarkeit“. Sichtbarkeit
und Transparenz in der Mediengesellschaft, in: Ders. (Hg.): Stadt, Jugendkulturen und Kriminalität. Bonn:
Dietz Nachf., S. 84-111.
Feustel, Susanne (2014: Von der „Glatzenpflege auf Staatskosten“ zur Deradikalisierung als Konzept? In:
Kulturbüro Sachsen (Hg.): Politische Jugendarbeit. Vom Kopf auf die Füße. Zum anwaltschaftlichen
Arbeiten mit menschenrechtsorientierten Jugendlichen im ländlichen Raum. Dresden, S. 67-79.
Möller, Kurt/Grote, Janne/Nolde, Kai/Schuhmacher, Nils (2016): „Die kann ich nicht ab!“ Ablehnung, Diskriminierung und Gewalt bei Jugendlichen in der (Post-)Migrationsgesellschaft. Wiesbaden: Springer VS.
Paris, Rainer (2000): Schwacher Dissens. Kultureller und politischer Protest. In: Roth, Roland/Rucht,
Dieter (Hg.): Jugendkulturen, Politik und Protest. Vom Widerstand zum Kommerz? Opladen: Leske +
Budrich, S. 49-62..
Schuhmacher, Nils (2016): „Funktionale Äquivalente“: Für wen? Für was? Warum? In:
Arbeitsgemeinschaft Jugendfreizeitstätten Sachsen (Hg.): Dokumentation Fachtag „Funktionsfähig.
Adressat_innen der Neonazismusprävention und die Funktionalität ihres Verhaltens“. Broschur. AGJF:
Chemnitz, S. 13-19.
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